Gina Kaus: Die Kameradschaftsehe

Gina Kaus: Die Kameradschaftsehe. (1928)

             Die Kameradschaftsehe, meint Bertrand Russel, ist die einzige Lösung für die sexuelle Not unserer Jugend. Die Jahre zwischen sexueller Reife und materieller Unabhängigkeit sind erfüllt von dem sinnlosen Kampf, den die gesellschaftliche Heuchelei gegen das natürliche geschlechtliche Bedürfnis führt; dieses Bedürfnis, durch die Schwierigkeiten, die seiner Befriedigung entgegenstehen, gewaltig gesteigert, führt, vom geraden Wege abgedrängt, zu Ausschweifung und häßlicher, verlogener Promiskuität.

             Der gerade Weg aber, meint Russel, ist die Kameradschaftsehe. Sie soll sich dadurch von der landesüblichen unterscheiden, daß sie nicht für die Ewigkeit gedacht und deshalb im gegenseitigen Ein-//verständnis ohne weiteres lösbar ist, daß sie nicht zum Kinderkriegen da ist, und daß der Mann keinerlei Alimentationspflicht gegenüber der Frau hat.

             Praktisch läßt sich gegen diesen Vorschlag nicht das mindeste einwenden, um so weniger, als er praktisch bereits vielfach durchgeführt wurde, denn es gibt heute in allen Ländern eine Menge sehr junger Menschen, kinderlos, auf Termin und auf „geteilte Rechnung“. Es ist dazu gar kein legislatorischer Akt notwendig, bei gutem Willen von beiden Seiten kann die Kameradschaftsehe bequem durch die Maschen der bestehenden Ehegesetze schlüpfen.

Vor 20 oder 30 Jahren, in Wedekinds Tagen, schien die Erkenntnis, daß die Heuchelei schuld ist an der sexuellen Not der Jugend, unerschütterlich. Sie ist längst erschüttert, und die Beschmuser des Krantz-Prozesses immer wieder eine „Frühlingserwachen“ in der Steglitzer Tragödie sehen wollen, so sahen sie dies aus Blindheit. Denn hier waren Wedekinds kühnste Forderungen erfüllt, die Halbwüchsigen waren nicht nur sexuell aufgeklärt, sie waren auch sich selbst überlassen, betätigten sich wie sie wollten, und wenn sie trotzdem in tiefste Verwirrung gerieten, so zeigt dies, daß die Pubertätsnot auch durch einen passenden Beischläfer und günstige Lösung der Lokalfrage nicht gebrochen wird. Vor allem – diese Pubertätsnot wird nicht so einfach erlebt. Dem kühlen Beobachter auch der eigenen Jugend mag scheinen, daß aller Pein und Angst ein psychologisches Bedürfnis zu Grunde lag, dessen Befriedigung, wie sich später ergab, einfach und ungefährlich war. Er hat dann aber vergessen, daß dieses Bedürfnis, als es seine Adoleszenz verwirrte, nicht zielbewußt auftrat, wie das Bedürfnis nach Speise und Trank, sondern untrennbar verwoben mit den tiefsten und empfindlichsten Persönlichkeitsproblemen. Das ist nun freilich nicht in der Natur, sondern an der „Kultur“ gelegen, aber nicht bloß an jener, die einen Gänsefüßchentritt verdient, weil sie eigentlich Heuchelei heißt, sondern an all dem, was im Verlauf der Jahrtausende aus dem Männchen, das nach einem Weibchen verlangt, einen Mann gemacht hat, der im Weg zum Weib den entscheidenden Weg zum Du sieht, und mit Recht fürchtet, ihn zu verfehlen. Die übertriebene Bedeutung des Geschlechtlichen für den Halbwüchsigen liegt weit weniger am Mangel an Gelegenheit es auszuleben, als an der Angst vor dieser Gelegenheit. Nicht weil er kein Mädchen seiner Kreise findet, sondern weil er vor diesen Mädchen Angst hat, geht der Knabe zur Prostituierten. Es ist die Schülerangst vor einer Prüfung in einem Gegenstand, auf den man sich nicht vorbereiten kann. Es handelt sich um Liebe. „Bin ich ein Mensch, den man lieben kann? Werde ich, wenn ich meine Gefühle an einen anderen Menschen hänge, nicht grausam gekränkt, enttäuscht, verlassen werden? Und was wird die Liebe aus mir machen?“ Das sind //die Fragen, die, gleichzeitig mit dem Geschlechtstrieb auftretend, diesen gefährlich und beängstigend erscheinen lassen; und man müßte nicht nur jeden verschleiernden Puritanismus, man müßte neun Zehntel aller Kunst, Lied und Drama und Malerei von den jungen Menschen fernhalten, um sie daran zu hindern, dem ersten Zusammenstoß mit dem andern Geschlecht mit übertriebener Erwartung und mit Angst entgegenzusehen. Von dieser ängstlichen Erwartung ist ein weites Wegstück bis zum kameradschaftlichen Eheausflug. Eben jenes Wegstück, das so gefährlich ist und an allerlei Abgründen vorbeiführt. –

             Bleibt das Problem der Ehe. Für jeden nicht religiösen Menschen  kann ein würdiger Sinn der Ehe ausschließlich in der gemeinsamen Verantwortung für die kommende Generation bestehen. Von männlichen Mitgift- und weiblichen Alimentationswünschen abgesehen, kann nur der Gedanke an das Wohl erwünschter Kinder einen Sinn in das tolle Unternehmen bringen: Gefühle, von denen wir wissen, daß sie endlich und unwillkürlich sind, über ihr Ende hinaus unter die Zucht unserer Willkür stellen zu wollen. Junge Menschen haben aber nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, solange sie innerlich und äußerlich nicht imstande sind, sie zu tragen, die Verantwortung für die kommende Generation abzulehnen; wenn sie trotzdem nicht auf die Liebe verzichten wollen, so müssen sie irgendeinen Ausgleich mit der herrschenden Moral treffen, da es nun einmal nicht jedermanns Sache ist, auf die zu pfeifen.

             Also Kameradschaftsehe? Eine Interimslegitimation für die Jahre des Prüfens vor dem ewigen Binden, die Jahre des ungenügenden Einkommens und der möblierten Zimmer? Meinetwegen! Aber wissen, daß es eine Konzession an die alte Tante Heuchelei ist, ein Nachgeben vor dem Hotelportier oder der Zimmervermieterin und anderen obrigkeitlichen Instanzen. Und aufgepaßt, daß die alte Tante nicht den Ehrgeiz am provisorisch gedeckten Tisch einnimmt, denn die Legitimität hat’s in sich. „Diese Ehen sollen im gegenseitigen Einvernehmen leicht lösbar sein, ohne Gerichtsverfahren…“ Aber Herr Russel, bei gegenseitigem Einvernehmen ist jede Ehe leicht lösbar (sogar in Österreich, dem schwärzesten Winkel des Erdballs), das Gerichtsverfahren besteht, betreibt man es gemeinsam, in ein paar langweiligen, aber durchaus harmlosen Wegen zu vollkommen desinteressierten Beamten, und alle Scheußlichkeit liegt nur darin, daß eine Scheidung meist erfolgt, wenn das gegenseitige Einverständnis schon getrübt ist. Wenn auch eine solche Kameradschaftsscheidung durch keine Kinder- und Alimentationsprobleme kompliziert wäre, es bliebe dennoch die Hauptschwierigkeit, die Freigabe des einen durch den andern, nämlich es Nicht-mehr-Liebenden durch den Noch-Liebenden; denn die Liebe beginnt zwar meist bei beiden zugleich, und wenn bei dem einen etwas später, so ist // das kein Unglück; aber sie endet leider fast immer bei dem einen etwas früher, und das ist das Unglück.

             In diesem Augenblick wird der Liebesenttäuschte, was immer er vordem war, zum Legitimisten, er pocht auf seinen Schein, und das gegenseitige Einvernehmen kommt erst notdürftig zustande, bis in allerlei grausamen Verfahren der letzte Rest Kameradschaft totgetrampelt ist. Es ist ganz unverständlich, warum Herr Russel, wenn er schon die Legislatur bemüht, für seine Kameradschaftsehen, die nichts Drittes schützen sollen, weder ein Kind noch eine sittliche Idee, nicht verlangt, was die Menschenwürde unter allen Umständen gebietet: daß sie gelöst sind, sobald auch nur ein Teil die Lösung wünscht.

             Wäre dieser letzte Punkt durchzusetzen, so ließe sich, wie gesagt, nichts dagegen einwenden, daß zwei junge Menschen, um ungestört Weekend-Ausflüge mit erotischen Perspektiven machen zu können, die in Betracht kommenden Instanzen geziemend verständigen, und dafür von ihnen in Ruhe gelassen werden.

In: Das Tage-Buch, H. 10/1928, S. 401-404.