Helene Scheu-Riesz: Appell an die Jugend

Helene Scheu-Riesz: Appell an die Jugend. (1928)

Österreich hat noch kein Grabmal des unbekannten Soldaten. Dieses zerrissene, blutende, schwer heimgesuchte Land braucht kein äußeres Zeichen, um täglich und stündlich an den Krieg erinnert zu werden. Kein Marmorstandbild kann uns unsere Schuld so deutlich ins Gedächtnis rufen, wie sie in jeder Stunde in uns und um uns ist, auf jedem Schritt in die Straßen uns begegnet. Und dennoch klirren noch immer Waffen und Kriegstiraden. Dennoch wird sogar bei uns immer wieder zu irgendeinem inneren oder äußeren Krieg gehetzt und Zündstoff angehäuft, der sich unversehens zu einer Weltkatastrophe entladen kann.

             Ich wüßte ein besseres Denkmal für jenes erschütternde Symbol hingeopferter Jugend, den unbekannten Soldaten. Ein Denkmal, das sogar die Toten versöhnen könnte und die, die um sie trauern, Wenn alle Waffen in der Welt gesammelt und auf dieses Grab gelegt werden könnten an Stelle der welkenden Kränze, und wann man statt die hingegangenen Helden zu besingen, die Schwüre einlösen wollte, die ihnen mitgegeben hat: daß dieser Krieg der letzte sein werde, geführt, um die Institution des Krieges abzuschaffen und eine friedliche Organisation der Welt an ihre Stelle zu setzen. Die Diplomaten der Welt, ihre Regierungen, ihre Herrscher, Minister, Parteiführer und Presseleiter sprechen zuweilen von Abrüstung, der eine lauter, der andere leiser, der eine schüchtern, der andere zuversichtlich. Alle ehrlichen und einsichtigen Menschen geben zu, daß die Kriege die unmittelbare Folge der Rüstungen sind, und das alte „Si vis pacem, para bellum“ eine der gefährlichsten Lügen ist, die je ein Volk ins Elend gejagt haben. Und dennoch, wer entschließt sich, zu handeln? Es scheint, als ob die Generation, die diesen Krieg verschuldet hat, von allen guten Geistern verlassen wäre. Es scheint, als ob die neue Ordnung der Welt nicht beginnen könnte, solange noch irdendeiner von den zu ihr gehörenden etwas Entscheidendes zu sagen hat. Wenn es so ist, dann hilft nur ein Appell an die Jugend, an die Neuen, die im Krieg leidende und hungernde Kinder waren oder Sklaven oder Frauen, schuldlos gehetzte Opfer wie der unbekannte Soldat selber.

Heute findet, von der politischen Gruppe der „Internationalen Frauenliga“ und dem „Bund der Kriegsdienstgegner“ veranstaltet, eine Versammlung statt, in der über das Problem der äußeren und inneren Abrüstung gesprochen werden soll. Tausende Männer und Frauen Wiens haben Gelegenheit, in dieser Versammlung zu hören und zu sagen, was für den Frieden geschehen muß. In Genf waren die Russen die einzigen, die einen wirklich großzügigen und praktischen Vorschlag zur Abrüstung gemacht haben. Nun, die Welt hätte die Gelegenheit gehabt, sofort festzustellen, ob die Russen es ehrlich meinen oder nicht. Sie hätte den Vorschlag bloß annehmen müssen. Sie wird ihn eines Tages annehmen oder zugrundegehen. Ob das eine oder das andere geschehen soll, darauf hat jedes Volk Einfluß, das sich seiner Würde und Kraft besinnt, auch ein so armes und schwer geschlagenes Volk wie Österreich es ist. Es kann sogar vielleicht besser und leichter als ein anderes Volk zeigen, daß Würde und Kraft einer Nation nicht in den Waffen und nicht im Schwertrklirren liegen, sondern in der seelischen Bereitschaft und Entschlossenheit, sich einer neuen Zeit anzupassen, in der nicht die Gewalt, sondern das Recht herrschen wird.

In: Neue Freie Presse, 13.3.1928, S. 7.