Hugo Schulz: Dämon Alpinismus

Hugo Schulz: Dämon Alpinismus. (1926)

Wenn man vom alpinen Sport spricht, so empfinden das viele Bergsteiger als eine Beleidigung. Sie gestehen nicht gern zu, daß ihr erhabenes Vergnügen ein Sport sei. Übrigens bestreiten auch die eigentlichen Sports­leute, daß der Alpinismus im eigentlichen Sinne als Sport zu qualifizieren ist. Ihnen scheinen nämlich Leistungen körperlicher Kraft und Gewandtheit nur dann die Wesensmerkmale des Sports zu tragen, wenn sie ihre Vervollkommnung im Wettkampf suchen. Das Charakteristische des Sports ist nach dieser Auffassung, daß er Rekordleistungen schafft, die exakte Maßstäbe für die Bewertung des

sportlichen Könnens abgeben. Wenn man nun selbst diese Auffassung, gegen die sich gar vieles einwenden läßt, un­eingeschränkt gelten läßt, kann man dem modernen Alpinismus den Charakter eines Sportbetriebes nicht ab­streiten, denn er trägt das eigentliche Wesensmerkmal des Sports an sich wie irgendein athletischer Wettkampf. Auf keinem Sportgebiet ist das Rekordwesen so vielgestaltig wie beim Alpinismus, nur hat es da die besondere Eigenheit, daß es keinen exakten Ausdruck durch arithmetische Verhältnisformeln gewinnen kann. Die Qualität touristischer Leistungen kann nicht gemessen, sondern nur geschätzt werden, aber die Alpinisten haben aus der Erfahrung allmählich Einheitswerte gewonnen, auf die bezogen sie jede Besteigung vollkommen

zuverlässig sportlich klassifizieren können. Wenn zum Beispiel ein Alpinist hört, daß jemand ohne Führer die Kleine Zinne bezwungen hat, so weiß er sofort genau, welchen Rang er dieser Leistung zuerkennen muß. Er hat ein ganz bestimmtes Bild von den Anforderungen, die diese Tour an die sportliche Leistungsfähigkeit stellt, und ist auch in der Lage, das Bild jeder andern Tour zu diesem in Beziehung zu bringen. In der Vorstellung der Touristen hat sich auf diese Weise ein vollständiges Rekordschema ausgebildet, das sehr feine und sogar subtile Unterscheidungen ermöglicht.

Wenn man nun weiß, daß der Alpinismus ein Sport ist, so hat man ihn deswegen noch lange nicht begriffen. Die moderne Bergsteigerleidenschaft hat entschieden etwas Mystisches, das aller exakten Erklärung zu spotten scheint und das sich nur dem aufhellt, der entschlossen ist, des Rätsels Lösung in den Tiefen des menschlichen Trieblebens zu suchen. Das Bergsteigen ist wohl Sport, aber nur in seinem Betrieb und nicht in seinem innersten Wesen.

Um im Rahmen der Hochalpenwelt Sport zu treiben, braucht man nicht die aussichtsarme Fünffingerspitze zu erklimmen. Eine scharfe Ruderfahrt über den Königssee leistet dem Körper und bei stürmischem Wetter auch der Seele ganz dasselbe wie eine schneidige Gipfeltour, ohne auch nur halb so anstrengend zu sein wie diese. Die Tatsache, daß auch beim Bergsteigen Naturfreude und Sport­freude einander durchdringen, vermag allein den besonderen Charakter des Alpinismus nicht zu begründen – die merk­würdige Lust, inmitten erhabener Schönheit Pfade des Todes zu wandeln, muß viel verborgenere Quellen haben.

Ich glaube, daß es mir gelungen ist. diesen Quellen näherzurücken, indem ich die Leidenschaft für schwierige Berg­touren aus einem Triebe erkläre, der bei vielen Menschen in stärkerem oder schwächerem Grade das Verhalten gegenüber ästhetischen Eindrücken bestimmt. Es gibt je nach dem Vorherrschen oder dem Fehlen dieses Triebes zweierlei Arten von ästhetischem Genuß; die beschauliche passive, die den Willen völlig auszuschalten vermag, und die begehrliche, bei der der Gegenstand des Genusses zugleich ein Gegenstand des Wollens ist. Der beschaulich Genießende gibt sich willenlos dem Eindruck des Schönen hin – „die Sterne, die begehrt man nicht, man freut sich ihrer Pracht“. Anderseits aber gibt es Menschen, die selbst beim Anblick des Sternenhimmels ihre Begierde, davon auf irgendeine Weise Besitz zu ergreifen, kaum zu zügeln vermöchten, wenn er nicht gar so unnahbar wäre. Das sind die Naturen, die das Schöne nicht anders genießen können, als indem sie zugleich unstillbare Sehnsucht nach dem Besitz hegen. Was ihnen gefällt, wünschen sie ihrem persönlichen Dasein einverleiben zu können, sei es als gemeines Eigentum, sei es als Erlebnis, sei es als Eroberung ihres erkennen­den Geistes. Das Schöne befriedigt sie nicht, solange sie es nicht ganz mit ihrer Persönlichkeit zu durchdringen, es zu gewinnen, zu meistern, von innen heraus zu begreifen oder auf irgendeine sonstige Art zu beherrschen vermögen. Die gemeinste Verkörperung dieses urmenschlichen Triebes sind jene Leute, die ein schönes Weib nicht sehen können, ohne danach zu begehren, seine höchste Verkörperung ist der gelehrte Forscher, der vor der Erhabenheit des Weltalls nicht in stummer Anbetung zusammensinkt, sondern in leidenschaft­lichem Erkenntnisdrang den Weg sucht, der zur Pforte des Allerheiligsten führt.

Wie wird nun der Anblick des Hochgebirges auf ein solcherart sehnsüchtig und schmachtend veranlagtes Menschenkind wirken? Der beschauliche Naturfreund wird sich in stummer, wunschloser Verzückung dem Eindruck hingeben und dann, des Gottes voll, von bannen gehen in seligem Frieden. Den kann nun der begehrliche Naturfreund nimmer finden. Je erhabener sich die Bergwelt vor ihm entfaltet, desto unruhiger wird seine Seele. Eine unsagbare Sehnsucht erfüllt ihn plötzlich, diese wilde Schönheit nicht bloß anzuschauen, sondern auch zu erleben. Eine rauhe Tatkraft erwacht in ihm und jagt ihn hinein mitten in die Wildnis, in das Labyrinth der Gletscherpracht. damit er sich da als Herr fühlen könne, dem all diese Pracht angehört als erworbenes und erobertes Eigentum seiner Persönlichkeit. Dieses Ziel ist unerreichbar, und daher kennt die Sehnsucht des echten Alpinisten keine Be­friedigung und kein Ende. Durch alle Poren sucht er in die Schönheit seiner geliebten Berge einzudringen und wühlt sich förmlich ein in sie, um sie ganz mit seiner Persönlichkeit zu durchsetzen. Auf den schwierigsten und gefährlichsten Pfaden fühlt er sich seinem Ziele am nächsten, er beweist seinen ge­liebten Bergen, daß er sie selbst dort, wo sie  am sprödesten tun, zu meistern vermag. Aber die verführerische Schönheit des Hochgebirges ist nicht auszuschöpfen, immer neue Probleme bieten sich dem wilden Erobererdrang des Ein­dringlings, der im Reich der Klüfte herrschen mochte. So wird das Bergsteigen eine Leidenschaft – eine erhabene Leidenschaft zwar, aber im Grunde doch wesensverwandt der erotischen jener Leute, die den verborgensten Rätseln des Geschlechtslebens nachspüren. Die Hochtouristen sind die Don Juans der Berge. Ihr Tun ist ein heißes Werben um die Gunst jener spröden Gewalten, die den Busen der Geliebten mit Eis und Stein gepanzert haben. Je schwerer der Sieg zu erringen ist, desto heftiger lodert die Sehnsucht. Gerade dort, wo die Hindernisse sich am meisten häufen, lockt am stärksten die Aussicht auf das Ziel des Strebens, sich einmal völlig eins fühlen zu können mit der inbrünstig geliebten Schönheit des Weltalls.

In: Arbeiter-Zeitung, 29.6.1926, S. 12.