Hugo Steiner: Palästina und die Judenfrage

Hugo Steiner: Palästina und die Judenfrage. (1929)

Der nachstehende Artikel legt den Standpunkt der sozialistisch-zionistischen Arbeiter dar.

Angesichts der blutigen Vorgänge in Palästina, die wie ein Blitz in dunkler Nacht die Lage des jüdischen Volkes aufgezeigt haben, die vielleicht vielen sagen, daß Ahasver, der ewige Jude, noch nicht zur Ruhe gekommen ist, wurde überall viel über Palästina geschrieben. Aber die Palästinafrage kann nur im Zusammenhang mit der Judenfrage verstanden und erklärt werden. Erst dann wird klar werden, warum der jüdische Arbeiter nach Palästina und nur nach Palästina wandert, um dort aus dem heißen sandigen Boden die jüdische Heimstätte zu schaffen. Und nur die Kenntnis dieser Ideologie läßt die Taten und Opfer der jüdischen Arbeiterschaft verstehen und begreifen.

Der Zionismus der Chaluzim, der jüdischen Arbeiterpioniere, es geht von der Tatsache des jüdischen Lebens aus. Die wirtschaftliche Grundlage des jüdischen Lebens liegt in seiner Exterritorialität. Diese drückt sich darin aus, daß die Juden nirgends in die Grundpfeiler der Wirtschaft eingedrungen sind, daß sie überall nur in gewissen Teilen der Wirtschaft tätig sind. Der Typus des Juden in Polen und Amerika ist der proletarisierte jüdische Kleinbürger. Er lebt wie der ärmste Proletarier, fühlt sich aber nicht als solcher. Daneben gibt es das jüdische Proletariat: es trägt den gelben Fleck der Exterritorialität auf seinem Arbeitsgewand. Der jüdische Proletarier kämpft seinen Kampf nicht in den weiten Hallen der Fabrik, er hungert und darbt in den Schwitzhöhlen von Neuyork und Warschau. Das jüdische Proletariat kämpft seinen Klassenkampf nicht gegen das Großkapital, es kämpft gegen kleine Meister, die selbst nichts zu beißen haben. Der jüdische Arbeiter arbeitet in den Zweigen der Wirtschaft, die für die Wirtschaftslage des betreffenden Landes geringe Bedeutung haben, und daher ist auch die Entwicklung der jüdischen Arbeiterbewegung von vornherein durch objektive Bedingungen gehemmt. In ziellosem Radikalismus zu unfruchtbaren Kämpfen verurteilt, siecht das jüdische Proletariat dahin.

Das jüdische Kleinbürgertum, das sich wirtschaftlich in fast gleicher Situation wie das Proletariat befindet, unterscheidet sich von ihm nur durch das Bewußtsein. Innerhalb dieser Mehrheit des jüdischen Volkes gehen nun einige Prozesse vor sich: Produktivisierung und Wanderung. Die Söhne der jüdischen Händler wollen nicht mehr Händler werden, ihr Streben geht dahin, schaffende, arbeitende Menschen zu werden. Dieser gewaltige innere Umschichtungsprozeß, der dem jüdischen Proletarier die Grundlage seines Kampfes ändert, der die Nadel, das Symbol der jüdischen Arbeit von gestern, zum Hammer des jüdischen Arbeiters in Palästina wandelt, dieser Umwandlungsprozeß verbindet sich mit der zweiten großen Frage der jüdischen Massen, mit der Wanderung zu einer sozialen Bewegung: zur Chaluzbewegung.

Bestimmend für die Ideologie der Chaluzim ist der Umstand, daß hier Städter zu Bauern werden. Die Höhe der städtischen Kultur verbindet sich mit der Arbeit an Grund und Boden. Nur so ist die hohe gesellschaftliche Einstellung der jüdischen Arbeiterschaft in Palästina zu verstehen. Dies sind die objektiven materiellen Grundlagen der Chaluzbewegung. Das subjektive Wollen der Chaluzim, die sich jahrelang für Palästina vorbereiten, ist gerichtet auf eine freie, arbeitende Gesellschaft in Palästina. In Palästina erst kann der jüdische Arbeiter seinen Klassenkampf erfolgreich führen, denn hier ist der jüdische Proletarier in der Wirtschaft verwurzelt, hier baut er sich sein eigenes Land auf. Nur Palästina ist das Land, in dem sich das jüdische Proletariat emanzipieren kann. Ohne Palästina gibt es kein klassenbewußtes jüdisches Proletariat. Will das jüdische Volk aus seinem Volk von Händlern ein schaffendes Volk von Arbeitern werden, dann führt der Weg nur durch Palästina. Und es ist im Interesse des internationalen Proletariats, daß die Juden aufhören, Händler zu sein, daß sich die jüdischen Massen einreihen in die Scharen der internationalen Arbeiterschaft.

Nun zu Palästina. Es ist ein Land, das noch fast vollkommen unerschlossen ist. Was es an positiven wirtschaftlichen Werten in Palästina gibt, haben jüdische Arbeiter geschaffen. Was die arabischen Arbeiter an Erfolgen zu verzeichnen haben, konnten sie nur mit Hilfe der jüdischen Arbeiterschaft im Lande erringen. Der geringe Teil des Bodens, der urbar gemacht wurde, ist Eigentum der Essendis, der arabischen Großgrundbesitzer. Die palästinische Wirtschaft ist eine Feudalwirtschaft. Die einwandernden Juden beginnen das Land zu kapitalisieren und zu sozialisieren. Der Kampf, der jetzt in Palästina tobt, ist der Kampf der Feudalwirtschaft gegen die neuzeitliche Wirtschaft. Die Drahtzieher der Kämpfe, die arabischen Adeligen, wissen genau, daß das Eindringen der Juden in Palästina gleichbedeutend ist mit dem Untergang der feudalen Ordnung. Und so wie im Mittelalter in Europa alle Wirtschaftskämpfe im Gewand von Religionskämpfen ausgefochten wurden, so kämpfen die Araber unter der grünen Fahne des Propheten. Darum aber ist der Kampf in Palästina nicht der Befreiungskampf des arabischen Volkes gegen britischen Imperialismus, denn nicht ein arabisches Bürgertum – das es noch gar nicht gibt – drängt nach wirtschaftlicher Freiheit, sondern arabische Fürsten wollen die alte Ordnung gegen die Neuzeit, deren Träger die Juden sind, verteidigen. Der Kampf in Palästina ist der Kampf des Mittelalters gegen die Neuzeit.

Aber noch mehr: die Träger der jüdischen Aufbauarbeit ist die organisierte jüdische Arbeiterschaft. Der überwiegende Teil der Juden in Palästina sind organisierte Arbeiter. Dort, wo die Arbeiterklasse die Macht hat, ist die Wirtschaftsform nicht mehr eine kapitalistische, sie ist eine planmäßig sozialistische. Keineswegs soll geleugnet werden,, daß es viele Kräfte im Zionismus gibt, die gegen die Arbeiterwirtschaften Sturm laufen, aber die Praxis hat gezeigt, daß der Aufbau Palästinas abhängt von der Kraft der organisierten Arbeiterschaft in Palästina. Palästina steht und fällt mit der organisierten jüdischen Arbeiterschaft ebenso wie der Zionismus nur bestehen kann durch die Kraft der jüdischen Arbeiter.

Zweitausend Jahre wandert das jüdische Volk, sein Weg ist gekennzeichnet durch Blut und Jammer. In Palästina kämpfen Tausende jüdische Arbeiter um ihr Recht auf Arbeit und Brot.                                          

In: Arbeiter-Zeitung, 2.9.1929, S. 1-2.