Innozenz: Des Bischof grüner Tisch

Innozenz [  ]: Des Bischof grüner Tisch. (1928)

Der interessante Fall ergibt sich, daß ein streitbarer Kirchenfürst, der durch seine Hirtenbriefe und theoretischen Überzeugungen in der letzten Zeit mit den Meinungen und Taten seiner eigenen Glaubensgenossen in argen Widerspruch geraten ist, in die Öffentlichkeit flüchtet und einer Wiener Lokalkorrespondenz eine moraltheologische Abhandlung übergibt, um vielleicht doch noch über den Weg der Presse das Ohr des großen Publikums zu finden, das auf dem Wege normalseelsorgerischer Tätigkeit anscheinend nicht mehr gefunden wird. Wir reden vom Linzer Bischof Johannes Gföllner, der für die nächste Woche das seltene Synedrion einer Diözesansynode in seine Stadt zusammen­gerufen hat, um wieder einmal engeren Kon­takt mit den anderen Seelsorgern seiner Diö­zese zu gewinnen, von jenem Bischof, über dessen Versetzung in ein römisches Ausgedingamt seit einiger Zeit so viel gemunkelt wird, der nun aber in einer Art Hilferuf an die Öffentlichkeit den Schwanengesang vorbereitet.

Das Thema der bischöflichen Ausführungen ist nicht gang neu. Es ist unter den großen Fragen, die heute an die katholische Kirche herantreten, auf die sie aber in ihrer Hilflosigkeit keine rechte Antwort mehr weiß: Krieg, soziale Frage, Körperkultur, nicht die unbedeutendste. Körperkultur ist nun einmal die Signatur unserer Zeit und noch stärker vielleicht der kommenden. Wir haben uns fast zweitausend Jahre verhäßlicht, geschwächt, verschmutzt und sind trotz intensivsten Seelenkults nicht um einen Deut moralisch weitergekommen. Nun will sich wenigstens der Körper aus Scholastik, Dogmatik und Intellektualisierung retten — und das ist der Sinn der neuerwachten Wanderlust, des Sportes, der Gymnastik, der Rhythmik, der Badekultur, des Weekends. So groß, so unwiderstehlich, so hinreißend ist die Bewegung, daß sich selbst die engsten Glaubensfreunde der Bischöfe ihr nicht mehr ent­ziehen können. Katholische Mädchen wandern mit katholischen Knaben, katholische Turnerin­nen üben und zeigen sich im Schauturnen neben katholischen Jünglingen, katholische Touristen klettern auf die Berge mit katholi­schen Touristinnen und müssen nicht selten gemeinsam auf dem Heulager nächtigen, katho­lische Bürgermeister errichten ausgezeichnete Strandbäder. Es ist ein Prozeß, der selbst in unserem kleinen Österreich schon Millionen er­faßt hat. Und katholische Mädchen machen voll Begeisterung die hygienische Mode der kurzen Haare und Kleider mit. Mit einem Wort: die Hirtenbriefe predigen ins Leere, die Bischöfe bleiben Rufer in der Wüste.

Es ist das tragische Schicksal der katholischen Kirche, die in einem tieferen Sinne ihre historische Mission noch nicht beendet haben müßte, daß sie gegenüber den Ereignissen, den Wissenschaften und den Forderungen des Tages stets um ein Beträchtliches zurück­ bleibt und erst allzuspät einlenkt. So war es vor Jahrhunderten mit der Entthronung der geträumten Sonderstellung der Erde im Weltmittelpunkt, im 19. Jahrhundert mit dem Entwicklungsgedanken, so ist es heute mit den praktischen Forderungen, die sich aus Pazifismus, sozialer Not und körperlicher Renaissance ergeben. Man weiß, die Kirche wird eines Tages nachhinken und die Forde­rungen der Zeit erfüllen. Man weiß aber auch, es wird zu spät sein.

Innerhalb der retardierenden Elemente der Kirche gibt es nun Persönlichkeiten, die stärker erkennen, wo in diesem oder jenem Punkte unsere Zeit der Schuh drückt, und andere, die gänzlich den Kontakt mit ihr ver­loren haben. So behaupten nun die Franzosen beispielsweise, daß ihr Pariser Erz­bischof Dubois ein durchaus zeitgemäßer Mann sei. Die Pazifisten und Kriegsgegner behaupten Ähnliches von unserem Professor

Ude. Sogar von katholischen Priestern hört man hie und da, die für die sozialen Notwendigkeiten unserer Generation volles Ver­ständnis aufbringen. Zu den anderen Persönlichkeiten aber, die blind durch ihre Epoche gehen und nur mehr wenig lernen können, gehört der Linzer Bischof, dem sogar die geist­lichen Musikkonzerte in den Kirchen ein Greuel sind. Hätte er sehende Augen und ein weises Herz, er hätte längst sehen können, wie // die Körperkultur unserer Tage – von weni­gen Ausnahmen und Übertreibungen abgesehen – und der Sport in unsere reineren Leiber neue, reinere Seele einziehen läßt, wie die Ferien vom Stadt-, Geschäfts- und Profitleben auch Ferien vom Herz- und seelenlosen Wirtschafts-Materialismus unse­rer Epoche bedeuten, wie neue psychische Qualitäten — Hilfsbereitschaft, Hochherzig­keit, Aufopferung, Ritterlichkeit, Heldentum – im gemeinsamen Kampfe mit Raum und Zeit und Widrigkeiten der Natur erwachsen. Hätte er sehende Augen…! Aber welcher dieser streitbaren Männer war je in den Felsen und Schutzhütten, in den Strömen und Strandbädern, bei Turn- oder Tanzfesten? Sie urteilen nur nach dem Hörensagen und sind daher zur Blindheit verdammt. Darf man sich wundern, daß dann die eigenen Schafe den Hirten nicht mehr vertrauen! Was soll ein katholischer Turner – der  täglich von sportlichen Wettkämpfen liest und sonntags mit Kind und Kegel selbst auf den Sportplatz als Zuschauer zieht – denken, wenn er hört, sein Bischof verlange, daß er Weib und Tochter zu Hause lasse? Daß das öffentliche Schauturnen „möglichst“ einge­schränkt, daß die gymnastischen Feste „tun­lichst“ nicht von beiden Geschlechtern gemein­sam veranstaltet werden? Im ganzen Leben spielt sich heute alles in gemeinsamer Arbeit von Mann und Frau, die mehr und mehr Kameraden werden, ab und gerade beim Turnen sollen die Geschlechter einander fliehen? Und was sollen übrigens in solch „seelenwichtigen Belangen“, wie sie Bischof Gföllner aufzählt, ein „tunlichst“ und „möglichst“ bedeuten? Wenn die Seele wirklich in Gefahr ist, da sollte es doch nur ein „Ent­weder – Oder“ geben! Und warum auf ein­mal – nur dem Badner oder Gmundner Bürgermeister und ihrer Gemeindekasse zu­liebe – die Konzession des gemeinsamen Badens von Männern und Frauen (bloß die Ankleideräume sollen getrennt werden!), nach­dem man jahrelang das Familienbad perhorresziert und anathematisiert hatte! Glaubt man denn wirklich, die Gläubigen vergessen so schnell? Glaubt man wirklich, die Vernunft sei uns allen schon so durchgegangen, daß nur etwas für Schwimmer, Badende und Strandflaneure bischöflich gutheißen lassen, aber für Gymnastiker und Rhythmiker mit dem Bann belegen?

Die katholische und die übrige Welt wird die Auslassungen Dr. Johannes Gföllners mit mehr als gemischten Gefühlen hinnehmen. Selbst wo sie Richtiges und Treffendes in ihnen entdecken wird— und bei gutem Willen wird man auch manches Vernünftige dort finden— wird sie beklagen müssen, daß es sich selbst entwertet und im Wust, zeitfremder Pseudodogmatik und Moraltheologie untergeht. Sie wird erkennen, daß die Ein­sichten am grünen Tisch des bischöflichen Palais entstanden sind und nicht im lebendi­gen Leben. Der grüne Tisch des Bischofs aber und die Sehnsucht der Welt nach Gesundheit, Kraft, Schönheit, Tatenlust und Natur­verbundenheit, das sind Dinge, die nicht mehr zur Deckung zu bringen sind. Und daher muß die Welt – auch die katholische – an den Produkten des zeitfressenden, grünen Tisches lächelnd vorübergehen.                                                                             Innozenz.

In: Der Tag, 17.8.1928, S. 1-2.