Jakob Fingermann: Die Jüngsten. Bemerkungen zur neuen deutschen Moderne

Jakob Fingermann: Die Jüngsten. Bemerkungen zur neuen deutschen Moderne (1919)

In den Achtzigerjahren des verflossenen Jahrhunderts kommt ein kleiner Kaufmann aus dem Osten nach Berlin. Er hat wenig Geld, aber desto mehr Spürsinn und den glühenden Wunsch, Berlin zu erobern. Er versucht sich in verschiedenen Geschäften, die mißlingen, bis ihm eines Tages die entscheidende Idee aufblitzt. Er mietet ein schmales Lädchen und ein bescheidenes Schild kündet die Etablierung des Verlages S. Fischer an. Einige junge Dichter, die eben ihren Sturmlauf gegen die alten Literaturgötzen begonnen haben und denen die alten, wohlfundierten Verlagsanstalten ihre Pforten verschließen, finden in dem kleinen, unscheinbaren Mann einen kühnen, jede Erfolgsmöglichkeit behend ausnützenden Verleger, der bei alledem für ihre Menschlichkeiten ein humor- und hilfswilliges Verständnis zeigt. Die Stürmer und Dränger von 1890, um nur einige aus der großen Schar zu nennen, Hauptmann, Dehmel, Bahr, Wassermann, Hofmannsthal und die Brüder Mann. Es sind die heute Fünfzigjährigen, die neuen Klassiker der deutschen Literatur, die Erfüllung einer Epoche, die mit dem Weltkriege abschließt.

                                                           *

Neunzehnhundertneunzehn – der […] meiner Männer setzt an. Ein besiegtes Land zeigt sich geistiger Gärung voll. Aus den Ruinen zusammenbrechender Weltanschauungen, aus den Kratern sozialer Umwälzungen sprießt in schillernder Üppigkeit eine neue Moderne und kündet sich die Fanfarentönen an: „Wir sind!“ Wieder ist es S. Fischer, der die Jüngsten unter seine Fittiche nimmt. Diesmal heißen sie: Johannes R. Becher, Georg Kaiser, Adolf von Hatzfeld, Emil Alphons Rheinhardt, Ernst Toller, Paul Kornfeld, Ludwig Meidner, Gottfried Köhwel, Kurt Heynicke – eine lange Liste, die sich fortsetzen ließe. Ein Trommelfeuer von Lyrikbänden, Dramen und Novellenbänden überschwemmt den Büchermarkt und zwingt zur Stellungnahme.

Thomas Mann, einer der feinsten Köpfe des schöpferischen Deutschland, hat jüngst in einer dänischen Zeitung mit einem gewissen Pessimismus von der Zukunft der deutschen Dichtung gesprochen. Alfred Kerr hingegen sieht in ihr den Aufstieg und die Erfüllung. Er erwartet sich von ihr das Glühende und Ewige und begeistert sich an ihrem Aktivismus. Meinung wider Meinung zweier Persönlichkeiten, deren Blick vielleicht tiefer als der unsere sieht; aber die Frage, ob hier neue Kräfte zu walten beginnen oder nur Erscheinungen des Tages am Werke sind, bleibt dennoch offen.

                                                                       *

Zur rechten Zeit erscheint ein Sammelbuch des neuen Kreises[*], welches charakteristische, bisher noch unveröffentlichte Arbeiten enthält. Wenn man es gelesen hat, ist man leicht geneigt, mit einem harten Urteil abzuschließen, sich selbst zu mißtrauen, sich zu sagen; daß doch etwas daran sein müsse, nochmals zu lesen, um wiederum unbefriedigt, sich selbst zürnend, dem Gedanken Raum zu geben: Diese sind die Rechten nicht! Sie gehen mit der Zeit und deren Schlagworte liegen auf ihren Lippen. Ihre Zungen sprechen: „Brüder!“ ihre Worte malen das Grauen, aber die große Liebe, die sie künden, ist nicht in ihnen. Je mehr sie mit Gefühlen hantieren, je tiefer sie in den Wunden der Menschheit wühlen, je heftiger ihr Schrei Liebe, Erbarmen, Beglückung fordert, ein umso kälterer Hauch strahlt von ihnen aus. Etwas Dumpfes und Unwahres ist in ihnen, ein Lallen Erdgebundener, denen der Flug in die erlösende Unendlichkeit versagt bleibt.

                                                                       *

Gefühlsüberschwang rührt oft von innerer Verarmung her. Ihnen allen ist dieses Stigma aufgedrückt. Einer verarmten Zeit Ersatzdichter. Sie bauen Wortphalanxe zum Sturm, wühlen in absurden Bildern, häufen rhetorischen Schwall, zeigen ihre Muskeln gleich Athleten, sind kühn, erfahren, altersweise und jugendwild, so und so, in allen Sätteln gerecht, ein Bräu von Schiller, Büchner und Wedekind und doch wieder anders. Sie haben die Literaturen abgegrast, die Franzosen und Russen schlecht verdaut und geben ihre Überflüsssigkeiten mit vulkanischem Getöse von sich.

Die neue deutsche Literatur? Man möchte es, der großen Vergangenheit eingedenk, verneinen. Übergangsprodukte…

In: Wiener Morgenzeitung, 4.5.1919, S. 2.


[*] „Die Erhebung“, Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung, herausgegeben von Alfred Wolfenstein, Verlag S. Fischer, Berlin.