Jakob Rosenthal: Werdende Literatur

Jakob Rosenthal: Werdende Literatur. (1934)

An dem Tore der junghebräischen Dicht­kunst steht der hebräische Dichterfürst, der heute 61jährige Chaim Nachman Bialik, der größte lebende nationale Dichter der Juden seit der spanischen Hochblüteperiode des hebräischen Schrifttums. Bialik, dessen Dichtungen heute bereits in fast alle Kultursprachen der Weltliteratur übersetzt sind, ist gleichzeitig geistiger Führer und Symbol jener großen Teile des zeitgenössischen Judentums, deren Seelen von der großen Sehnsucht nach Erneuerung und Ausbau ihrer Volkshaftigkeit erfüllt sind.

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Die seelische und geistige Revolutionserneuerung des Judentums, insbesondere des ost­europäischen in den Neunzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, durch das Auftreten eines Geistesriesen, wie Achad Haam und des genialen Theodor Herzl fand in CH. N. Bialik ihren gewaltigsten, feurigsten dichterischen Interpreten. Vom ersten Augen­blick an, da er mit seinen Dichtungen noch als Talmudjünger vor die Öffentlichkeit trat, wurde er als das große Gnadengeschenk empfunden, welches das historische Schicksal dem Volke beschieden hat. Gleich sein erstes dichterisches Auftreten war der stärkste Ausdruck und Widerhall der Träume dieser Menschen und jeder seiner späteren Gesänge war das Echo der Hoffnungen, der Sorgen und der Zweifel seines Geschlechtes, der Übergangsperiode in der neuesten hebräischen Historie. Bialik wurde zum Sänger dieser ersten Kämpfer-Generation der modernen national-jüdischen Bewegung.

Heute ist Bialik das geistige Oberhaupt des national-arrivierten Judentums, des nationalen Zentrums der Juden, der Hohe­priester des modernen Jerusalems. Und es ist für den Geist des jüngsten, im Entstehen begriffenen nationalen Gebildes der modernen Geschichte von wesentlicher Charakteristik, daß der eigentliche geistige Führer des jung-jüdischen Palästina kein Politiker, kein Diplomat und kein Militärsmann, son­dern ein Dichter, ein lyrischer Sänger, ein Jehuda Ha-Levy des 20. Jahrhunderts ist. Denn das ist CH. N. Blalik, der erste und größte Klassiker der jung-hebräischen  Dichtkunst.

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An Freudentagen und festlichen Anlässen, wenn auf den breiten Boulevards Tel-Avivs orientalisches Treiben herrscht, wenn bunte Gruppen im Karnevalszug durch die Stadt ziehen, so ist ihr erstes Ziel, zum Hause des Dichterfürsten zu pilgern, ihn an ihrer Freude teilnehmen zu lassen. Wenn dunkle Kräfte gegen das mühsam zustande­gebrachte Werk giftige Pfeile schleudern, wenn der herrlich blaue Himmel Tel-Avivs durch dunkle politische Streifen verdüstert wird, dann ziehen wieder Zehntausende durch die Straßen der jungen Gartenstadt, stumm und traurig zu Bialik. Von ihm erhoffen und erwarten sie Trost und Erhebung.

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Das moderne hebräische Schrifttum in Palästina entwickelt sich ganz großartig, Theater und Kunst nicht minder. Und alles geschieht dabei in einem zähen Ringen. Jede der dichterischen Schöpfungen dieses alt-neuen Landes erzählt uns von den Sorgen und Leiden, vom Streben und Kämpfen einer jungen werdenden Gemeinschaft. Unerhört viel geistige Energie, unendlich starke Erlebnisfähigkeit werden dort auf dem schmalen Küstenstreifen am Mittelländischen Meere entfaltet. Der Zahl nach kaum mehr als die Einwohnerschaft einer mittleren Provinzstadt, leben die 250.000 Juden Palästinas ein geistig und seelisch reiches, ungemein differenziertes Leben.

Dort, wo stark pulsierendes Leben herrscht, ist Bewegung, Differenzierung, gibt es Rich­tungen, Meinungen und Strömungen, gibt es Kämpfer, die für die eine oder die andere Idee mit vollem Einsatz ihrer Persönlichkeit eintreten.

In der palästinensischen Literatur von heute spiegeln sich alle Probleme und Fragenkomplexe des stetig wachsenden und schaffenden Palästina wider. Spricht man von den junghebräischen Dichtern, die wohl weit von dem Heros Bialik entfernt sind, ja muß man in erster Linie die Kämpfergruppe Elieser Steinman, Abraham Schlonski und Uri Zwi Grünberg nennen. Wucht und schöpferische Fülle der Ideen, scharfes analytisches Denken bei dem einen, bestechende sprachliche Formschönheit, temperamentvolle Lebens- und Schaffens­lust bei dem anderen, tiefstes nationales Erleben und Aufgewühltsein bei dem dritten, lassen sie als die geistigen Exponenten der jungen Dichtergeneration erscheinen, die das neue, lebendige Palästina künstlerisch vertreten. Dem engeren Kreis Steinmann-Schlonski gehört auch der junge Schriftsteller Dr. Jakob Horowitz an, der Übersetzer und Bearbeiter von Hebbels Judith für das Hebräische Theater. Alles Sein und Geschehen in diesem Lande findet in den Schöpfungen dieser jungen Schriftsteller ihren Niederschlag. Zu Uri Zwi Grünberg, der, wenn auch politisch ein wenig exaltiert, in literarisch-künstlerischer Bezie­hung revolutionierend wirkt, gesellt sich noch der äußerst begabte Dichter Avigdor Hameiri, die beide durch ihr außer­ gewöhnliches dichterisches Talent der jungen Dichterschule neue Impulse und Ideen schenken.

Blicken sie auch alle in größter Verehrung zum Dichterfürst Bialik empor, so führt die junge Schriftstellergeneration dennoch einen Kampf gegen die Richtungen und Vertreter der an sich noch jungen hebräischen Literatur aus der Vorkriegsära. Der Kampf der jungen Schriftstellergeneration hat über das spezifisch Jüdische hinaus, seine Bedeutung. Es ist in diesem Zusammenhang von Interesse, zu hören, was die Exponenten dieser Gruppe Schlonski und Steinmann, gelegentlich ihres seinerzeitigen Besuches in Wien, über diesen Kampf sagten: „Wenn wir nach Europa kommen und über Palästina befragt werden, so haben wir stets dasselbe befremdende Gefühl: Man verbindet noch immer die Vorstellung von Palästina mit einem Stück Folklore, der man natürlich seiner Exotik wegen schon einiges Interesse entgegenbringt. Etwa so: Palästina – ja, das ist Klagemauer, Rahels Grab, weinende, betende Juden usw. Dies ist vor allem die Vorstellung des nicht natio­nal eingestellten Teiles des Judentums. Die Beziehung desselben zu Palästina erschöpft sich in der Vorstellung dieser Denkwürdigkeiten jüdischer Vergangenheit, und man ver­gißt fast ganz, daß dort ein Gemeinwesen in Bildung begriffen ist, bestrebt, das Beste der Kultur Europas und der alten Kultur des Morgenlandes in allen seinen sozialen und kulturellen Äußerungen zu einer neuen Schöpfung zu verarbeiten. Man vergißt an die Plantagen und Fabriken, an die Wasser­kraftwerke am Jordan. Und aus solcher Mentalität heraus fragt man: Wolkenkratzer? „In Jerusalem? Die haben wir doch in New York und Paris. Immer wieder verlangt man von uns, daß wir von der Exotik Pa­lästinas erzählen.“

Allerdings stehen wir in dieser Beziehung nicht vereinzelt da, diese jungen Schriftsteller Palästinas. Ging’s den Russen denn nicht ähnlich? Hat nicht etwa in der ganzen Welt Jahre hindurch das Wolgalied sich als der Ausdruck der tiefen russischen Seele für den Westen offenbart, während gleichzeitig Dostojewski, Tschechow und andere Schrift­steller ganz in den Hintergrund rückten?

Und gegen eine ähnliche Geistesausfassung glaubt diese junge Dichtergruppe auch im heutigen Palästina kämpfen zu müssen, da­gegen, daß der Geist der hebräischen Klassik, der immer nur von dem Gedanken des jüdischen Lebens und seiner Erforschung beseelt war, seltener aber den allgemein-menschlichen Problemen Raum gewährt, vorherr­schend bleibt. Die Kunst der Juden war wohl immer erfüllt von der Eigenart des Volkes und nicht von der Problematik des Individuums, was in der Geschichte der Galuth schließlich begründet ist. Diese junge Dichtergruppe aber kämpft bei aller selbst­verständlichen Betonung des Nationalen gegen ein neues quasi geistiges Ghetto. Der Losung „Fort aus dem Ghetto“ entsprechend, ging die hebräische Literatur des letzten Jahr­zehnts diesen Weg. Innerhalb einer unglaub­lich kurzen Zeit waren die bedeutendsten Werke aus der Weltliteratur von den altgriechischen Tragödien bis zu den Stücken moderner Autoren ins Hebräische übertra­gen. Die europäischen Vorbilder waren nicht nur ein Wegweiser für die Bildung und Ent­wicklung der literarischen Geschmacksrichtung der jungen Dichtergeneration, sondern vor allem dafür, daß in Palästina trotz der spezifisch Palästinensischen Note und Beibe­haltung des jüdischen Timbres, der Blick ins allgemein Menschliche, ins Kosmische nicht verloren gehe. Der Zug ins Kos­mische ist die Richtung dieser jungen Dichtergruppe, die auf eine Synthese

des jungen hebräischen Palä­stina mit der alten abendländischen Kultur hinzielt. Vom „Untergang des Abendlandes“ wollen diese jungen Geistespioniere nichts wissen. Was sie vom geistigen Europa verlangen, ist – um mit den Worten des tiefsinnigen Kritikers Steinmann zu reden –, daß es sie und ihre Be­strebungen ernst und zu – ihrem Schaffen kritisch Stellung nehme. Denn „sie wollen keine geistige Philanthropie“.

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Ob diese Richtung es vermögen wird, neue Werte in wirklich schöpferischer Synthese für die Zukunft palästinensischen Geisteslebens zu einer vielversprechenden Harmonie zu schaffen, oder ob sie nur den revolutionär­ dichterischen Niederschlag subjektiven Empfindens und Erlebens dieser jungen, in der abendländischen Kultur verwurzelten, an Europa glaubenden Schriftsteller bildet, wird wohl erst die Zukunft entscheiden. Jeden­falls steht jedoch heute schon fest, daß die Werke einzelner Vertreter der palästinensisch-europä­ischen Anschlußidee – wenn man das so nennen darf – wie Steinmanns, die ausgezeichneten Essayisten und tiefschürfenden Romanciers, und Schlonskis, des dichterischen Feuergeistes und Dramatikers, einen in der Gegenwart nicht mehr zu missenden lebensvollen Farbenreichtum in der palästi­nensischen Palette und eine in die Zukunft schwingende Klangfülle in der Symphonie des nach neuen Inhalten und Ausdrucksformen ringenden Palästina bedeuten.

In: Der Tag, 18.3.1934, S. 12.