Jonas Kreppel: Deutschösterreich und die Juden

[Jonas Kreppel]: Deutschösterreich und die Juden. (1918)

             An Stelle des alten Österreich ist nun die Volksrepublik Deutschösterreich getreten. Die bewährte Loyalität der Juden verbietet es ihnen, denjenigen heute Steine nachzuwerfen, denen sie gestern in Treue und Anhänglichkeit zugetan waren. Eben diese Loyalität gebietet ihnen aber, dem neuen Staate dieselbe Treue und Anhänglichkeit zu bewahren sowie dessen Wohl zu wünschen und zu fördern. Deutschösterreich kann auf seine jüdischen Bürger jederzeit rechnen.

             Als demokratisches Element par excellence paßt sich die Judenheit der Neuordnung der Dinge an, die infolge der jüngsten Ereignisse eingetreten ist und sie wird sich bemühen, an der Konsolidierung und Stabilisierung der Verhältnisse mitzuwirken. Sie erwartet aber auch, daß der neue Staat seinem Namen und seinen Aufgaben gerecht werden und allen seinen Bürgern ohne jeden konfessionellen Unterschied alle Entwicklungsmöglichkeiten, Freiheiten und Gerechtigkeiten bieten wird.

             Freilich, wie bei jeder Gelegenheit, taucht auch schon jetzt in Deutschösterreich die Judenfrage in einer gewissen Form auf. Gelegentlich der Diskussion über das Gesetz betreffend das deutschösterreichische Staatsbürgerrecht, wurde diese Frage im Nationalrate gestreift. Die näheren Details der Vorlage sind nicht genau bekannt; aber aus dem Verhandlungsberichte ist beiläufig zu ersehen, um was es sich eigentlich handelt. Der diesbezügliche Bericht lautet:

             „Hierauf wird das Gesetz über das deutschösterreichische Staatsbürgerrecht in Verhandlung gezogen. Berichterstatter Dr. Ofner legt den Inhalt der Vorlage dar und empfiehlt, sie der Ausschußberatung zuzuweisen. Abg. Wolf beantragt, im § 1 statt der Worte „sich zur deutschen Nationalität bekennen“ zu setzen „der deutschen Nationalität zuzugehören“. Zu § 2 beantragt er folgenden Zusatz: „In die Zeit, durch deren Ablauf gemäß § 2 des Gesetzes vom 5. Dezember 1896 der Anspruch auf Zusicherung der Aufnahme in den Heimatsverband erworben wird, ist der Zeitraum [der] vom 1. August 1914 bis zur Kundmachung dieses Gesetzes nicht einzurechnen. Insofern zum Antritt oder zur Ausübung eines Gewerbes oder einer Beschäftigung die deutschösterreichische Staatsbürgerschaft erforderlich ist, muß die Zusicherung der Aufnahme in den Heimatverband jener Gemeinde erlangt werden, in welcher das Gewerbe oder die Beschäftigung ausgeübt wird.“ Berichterstatter Dr. Ofner verweist darauf, daß die Frage, welcher Nationalität jemand angehöre, wenn man das Bekenntnis ablehne, eigentlich in der Luft schwebe, Über einige vom Abg. Wolf gemacht Ausfälle gibt er dem Bedauern Ausdruck. Die Vorlage wird dem Justizausschuß zugewiesen.“

             Es ist klar, daß hierbei die Staatszugehörigkeit der in Deutschösterreich zur Zeit sich aufhaltenden Juden in Betracht kommt. Die Stellung Wiens als eines politischen und wirtschaftlichen Zentrums des Reiches brachte es mit sich, daß daselbst sehr viele Juden wohnen, die nach den anderen Kronländern der gewesenen Monarchie zuständig sind. Im alten Reiche fiel dieser Umstand wenig ins Gewicht und hatte höchstens für Wien die Bedeutung einer lokalen Frage. Nunmehr aber erhält die Sache ein anderes Gesicht. Alle diejenigen, die nach Galizien, der Bukowina, Böhmen, Mähren ec. zuständig sind, können formell als Ausländer gelten und wie es scheint, fehlt es im Lager der extremen Nationalisten nicht an Stimmen, diesen Juden gegenüber derart vorzugehen.

             In Wirklichkeit jedoch wäre dies eine himmelschreiende Ungerechtigkeit und sachlich kaum zulässig. Der deutschösterreichische Staat ist der Rechtsnachfolger der bisherigen Monarchie, deren Aktiven und Passiven er bis zu einem gewissen Grad übernimmt. Die in Wien lebenden Juden waren bisher österreichische Bürger, und hatten trotz ihrer lokalen Zuständigkeit mit den neu entstehenden Staaten nichts zu tun. Ein großer Teil derselben wäre kaum nach Wien gekommen, wenn diese Stadt nicht das eigentliche Zentrum des Staates wäre, dessen Bürger sie waren. Sehr viele unter ihnen sind ihrer eigentlichen Heimat ganz entfremdet und würden es geradezu als Unglück empfinden, dorthin zurückzukehren und sich unter ganz unbekannten Verhältnissen eine neue Existenz gründen zu müssen. Von Rechts wegen müßte also all diesen bisherigen österreichischen Bürgern das Optionsrecht für Deutschösterreich zugestanden werden. Wir wollen hoffen, daß der Nationalrat sich diesbezüglich von keiner kleinlichen Engherzigkeit leiten lassen und diejenigen in die Schranken verweisen wird, die die Schaffung des freien Volksstaates mit Ausnahmebestimmungen und konfessioneller Hetze diskreditieren wollen.

             Die Wolf und Konsorten mögen ihrerseits bedenken, welches Unglück sie mit ihrer nationalistisch-chauvinistischen Politik über ihr eigenes Volk gebracht haben und endlich einmal dieser Taktik entschlagen. Deutschösterreich soll und muß im wahren Sinne des Wortes ein Volksstaat sein.

In: Jüdische Korrespondenz, 14.11.1918, S. 1.