Julian Sternberg: Die Judenfrage im Roman
Julian Sternberg: Die Judenfrage im Roman (1922)
Rudolf Hans Bartsch: Seine Jüdin oder Jakob Böhmes Schusterkugel.
Das neue Buch Rudolf Hans Bartsch zeigt auf dem Titelblatt das Kreuz und den Stern Davids in inniger Verschlingung. Das Kreuz, wohlgemerkt, nicht das Hackenkreuz. Dieser Roman ist keine Tendenzschrift. Philosemiten und Antisemiten dürften ihn mit gleicher Entschiedenheit ablehnen, und sein Dichter, den bisher die linden, schmeichelnden Wellen der Publikumsgunst auch dort sanft und wohlig umspülten, wo er, sicher gemacht durch seine Erfolge, selbst davor nicht zurückschreckte, Unfertiges und Unreifes zu bieten, wird in Zukunft von Partei wegen gleichermaßen in den Proskriptionslisten der Judenknechte und der Judenfresser geführt werden. Derart hat Bartsch eine gewiß nicht gering zu schätzende Probe von Mut und Bekennertreue erbracht. „Seine Jüdin“ ist kein Pamphlet und weder von den einen noch von den anderen als Propagandaschrift zu gebrauchen. Leider ist der Roman deswegen kein Kunstwerk geworden. Wer „Seine Jüdin“ geschrieben hat, mag meinetwegen Anspruch erheben dürfen auf Tapferkeitsmedaillen aller Grade, aber nicht auf ein Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft. Der Dichter hat das richtige Empfinden gehabt, daß sich eine uralte Frage dringlicher und gebieterischer aufrichte als je zuvor; aber er hat keine Antwort auf sie gefunden. Und hier ist mit dem Gemeinplatz wenig gedient, daß keine Antwort unter Umständen auch eine Antwort sei. Weil der Generalstabsoffizier Christoph Hebedich, der aus Schlesien stammt, aus Jakob Böhmes, des sinnierenden und weltverbessernden Schusters, versonnener Heimat, sich mit seiner Jüdin nicht auf die Dauer finden konnte, ist keineswegs bewiesen, daß zwischen Arier‘ und Semitentum für alle Zeiten unüberbrückbare Abgründe gähnen. Bartsch läßt es selbst zweifelhaft, ob diese tiefen Schlüchte, über die auch der beschwingte Fuß erlesener und auserwählter Einzelwesen nicht hinüberzukommen vermag, den Juden von allem Nichtjüdischen abtrennen, oder ob nur der Deutsche, der Germane, dessen Seelenkurve sich wie eine Parabel mit ihren Enden im Grenzenlosen verliert, dem Juden unweigerlich wesensfremd gegenübersteht, dem Bartsch den gierigen Hiersein willen als schimpflichen Vorwurf ins Gesicht schleudert. Gretel, die Ausnahmejüdin, verläßt Christoph. Sie nimmt ihm die Kinder, die sie ihm geboren hat, und findet sich zu einem neuen Bund mit einem italienischen Offizier, der heiter ist wie ein italienischer Abend, der zu lachen versteht und anzbeten, dem der Rassenbegriff fremd ist, der keinen Unterschied macht zwischen Jud und Christ. Der Romane hat nichts als Menschentum, wo sich der Germane mystisch eingesponnen hat in wunderlicher Gotik.
Derart scheint mitten im Roman die Fragestellung nicht unwesentlich verschoben. Nicht mehr die Mischehen stehen zur Diskussion, sondern die Dichterhände suchen den Knäuel deutschen Wesens zu entwirren, von dem der kranken und siechen Welt so lange und mit so viel Selbstgefälligkeit die Genesung versprochen wurde. Was freilich Bartsch als des deutschen Wesens innersten Kern angesehen wissen will, scheint kaum als das geeignetste Heilmittel. Er erblickt den Fluch der Menschheit darin, daß sie an sich, und zwar an sich allein, glaubt. Dem Judentum kreidet er als Blutschuld an, daß es die große Lüge in die Welt gesetzt habe, der Mensch sei das Wichtigste, ja er sei alles. Diese Judenlüge habe an Jesus Christus ihren fortdauernden Anwalt gefunden, der als Unvollendeter, als Dreißiger ans Kreuz geschlagen wurde, bevor ihm die indische Weisheit aufgegangen war, daß Tier und Pflanze, Wolke und Stern unsere innigsten Brüder sind, uns völlig gleich und eines mit uns. Diese Auffassung verficht aber bei Bartsch jener Generalstabsoffizier, der sich nach Österreichs Zusammenbruch auf den Schusterdreifuß setzt, nach Jakob Böhmes Schusterkugel langt, ein Schuhmacher und Weltverbesserer dazu. Die Frau aber scheidet von dem Nachdenklichen und Schwerblütigen. Ihr genügt nicht die Versicherung, daß er nicht Feind ihres Blutes sei, nur Feind aller leidenschaftlichen und gehässigen Menschen aller Rassen. Man kann dies der Frau nicht übelnehmen, wenn er ihr den Peitschenhieb ins Gesicht schnellt: „Zwischen Mensch und Mensch könnt ihr euch Geschäfte machend schieben, zwischen ihn und die Erde nicht!“ Denn das verargen Bartsch und sein Held dem Juden am meisten, daß sie nicht eins zu werden vermögen, mit der Mutter Erde, daß sie die Natur nicht anders betrachten können, denn aus der Ischler Esplanadenperspektive.
Auch Gretel, die Ausnahmejüdin, ist Jüdin geblieben oder sie wird es vielmehr wieder im Laufe des Romans. Zu Beginn wird ihr zugestanden, sie sei keine Jüdin mehr, sei aufgesogen und arisiert. „Hunger nach arischem Wesen“ bilde den Grund zu ihrer Natur. Mädchenhaft wird sie genannt und oft beinahe traurig bescheiden. In der Ehe freilich ist sie eine andere. Nachdem sie sich den Mann und nebenher den christlichen Glauben erobert hat, hilft sie dem Gatten Emporsteigen auf der Leiter der Karriere. Bis der Krieg kommt und auch sie der Sensation, der Begeisterung, dem Soldatenzauber jener Tage völlig unterliegt. Da aber die Zeiten des Druckes und der dumpfen Trostlosigkeit nahen, klaffen die seelischen Gegensätze der beiden Ehegatten drohend auseinander. Die Frau schwört dem Erfolg zu, ihr ist es nicht gegeben, die Pfade des mystischen Schusters Jakob Böhme zu wandeln, die Pfade, die zu sich selbst führen und die ihr Gatte eingeschlagen hat.
Rudolf Hans Bartsch ist sichtlich der Überzeugung, daß er beiden Rassen gerecht geworden ist, daß vollgültige, unanzweifelbare Vertreter des Semiten und des Ariertums auf der Romanbühne stehen, die jetzt Strindbergsche Ehekonflikte, nur ins Konfessionelle übersetzt, durchleben müssen. Die Rechnung kann aber nicht aufgehen, weil sich der Rechenmeister bei der Aufstellung der einzelnen Posten geirrt hat. Christoph, der Eigenbrötler, ist durchaus nicht in jenem Grad die Verkörperung deutschen Wesens, wie es sein Dichter wahr wissen will, und gar erst Grete Lobes, diese Mischung von höchstem Raffinement und einem ins Salonmäßige übertragenen Süßenmädeltum, ist nicht allein unjüdisch, sondern unwirklich überhaupt. Darum ist es höchst gleichgültig, ob dieser Hans seine Grete findet, gleichgültig vor allem für die entscheidende Frage, ob jene Assimilierung möglich ist, die mit öder Gleichmacherei und Entwurzelung des einen oder des andern Teiles nicht verwechselt werden darf. Eines steht jedenfalls fest: Es wäre schlecht bestellt um die Zukunft des Deutschtums, wenn es, nicht nur bildlich gesprochen, in dumpfer Schusterwerkstätte auf die Entthronung des Menschen als Weltbeherrscher warten würde.