Julius Löwy: Was wir wollen

Julius Löwy: Was wir wollen. (1919)

             Die schweren Kämpfe, unter denen sich jetzt ganz Europa windet, deuten an, daß wir uns an der Schwelle einer neuen Zeit befinden. Wenn einmal nach Jahrhunderten die Geschichte Europas geschrieben werden wird, so wird eine Änderung der Epocheneinteilung erfolgen müssen. Das Mittelalter wird nicht mehr reichen bis zur Entdeckung Amerikas, bis zum Fall Konstantinopels, bis zur Ausweisung der Juden aus Spanien, sondern es wird sich erstrecken bis zum Jahr 1918, das den Fall der letzten Bollwerke mittelalterlichen Denkens und Fühlens, der Zarismus in Rußland und der Militärmonarchien in Mitteleuropa brachte. Eine neue Zeit ist da, ein neues Ideal dämmert herauf, das der Selbstbestimmung der Völker, über das noch vor einem Jahre die mitteleuropäischen Staatsmänner gespottet und gelacht haben. All das Weh und Leid, das jeder Einzelne durchzumachen hat, soll einst reichlichen Lohn finden in dem Bewußtsein, zur Erreichung dieser Ideale beigetragen zu haben. Aus dem Leid der Völker soll sich das Glück der Menschheit formen, die sich aus einer Familie der Völker zusammensetzen soll.

             An das Tor, das zu dieser lichten Zukunft führt, pocht jetzt auch das jüdische Volk, das eine Phase seiner Geschichte vollendet hat. Es hat bisher versucht, die Frage seiner Emanzipation länderweise für seine einzelnen Glieder zu lösen. Dieser Versuch ist mißlungen. Kein Volk hatte bisher so sehr unter den Bedrückungen und den Ketten der mittelalterlichen // Auffassung zu leiden wie das jüdische Volk. In Österreich bis zum Jahre 1867 ausgeschlossen von allen politischen und wirtschaftlichen Rechten – von Freiheit und Gleichheit gar nicht zu reden – hatte es in den letzten fünfzig Jahren schwer zu kämpfen, um seine geistigen und wirtschaftlichen Fähigkeiten zu entfalten. Politisch konnte es als Volk überhaupt nicht zur Geltung kommen. Nicht etwa allein von den politischen Parteien, die sich Aufrechterhaltung der Vorrechte einzelner Klassen und Konfessionen zur Aufgabe machten, sondern von der Organisation des Staates selbst, von der „Allerhöchsten Stelle“ bis zum letzten Straßenräumer wurde die Ausschaltung des „jüdischen Einflusses“ als eine der wichtigsten Angelegenheiten betrachtet. Jüdischen Einfluß nannte man es, wenn der Jude seine Fähigkeiten in den Dienst der Allgemeinheit stellen wollte. Jüdischen Einfluß nannte man es, wenn die Juden an dem großen wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben wollten. Und daraus entspann sich ein unterirdischer Kampf zwischen den Kräften dieses so regsamen Volkes und seinen Unterdrückern. Das Judentum führt diesen Kampf nicht in geschlossener Front, nicht auf ein Ziel konzentriert, nicht von einem einheitlichen Willen beseelt. Die Juden nahmen anfänglich in dem dunklen Drange, sich politisch auszuleben, teil an den nationalen Kämpfen zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen Polen und Ruthenen, während sie in Ungarn ganz in das Lager des Magyarentums abschwenken. Mit der fortschreitenden Politisierung der Öffentlichkeit trat ein Teil der jüdischen Intelligenz in das sozialdemokratische Lager ein. An allem nahmen die Juden teil, nur nicht am jüdischen Leben; überall versuchten sie ihre Gleichberechtigung zu erzwingen, und wo dies nicht ging, beugten sie sich der aus dem Mittelalter überkommenden Auffassung, daß der Jude nur infolge seiner Konfession ein Fremder sei. Legten sie die Konfession ab, so waren sie voll- und gleichberechtigt. Die Taufseuche hat dem Judentum viele wertvolle und gute Kräfte genommen. Unerhörte Opfer an Menschen hat das Judentum fremden Interessen gebracht, es hat fast seine Kraft verzehrt. Am Ende des neunzehnten Jahrhunderts begann sich eine innere Wandlung vorzubereiten. Die jüdische Jugend erkannte, daß das Judentum, wenn es sich noch weiter als bloße Religionsgemeinschaft betrachtete, verdorren müsse, sie erkannte, daß die individuelle Emanzipation unmöglich sei, daß das Judentum als Nation seine Befreiung aus dem unwürdigen Sklavendasein fordern, erstreben und erkämpfen müsse.

[…]

             Wir haben oben gesagt, daß das Judentum den Kampf um seine Existenz ohne einheitlichen Willen führte. Aber seine traurige Lage wurde auch noch durch einen anderen Umstand mitgeschaffen: Durch die Verständnislosigkeit, mit der Staaten und Völker dem Judentum gegenüberstanden und noch stehen. Was weiß unsere Umgebung von uns? Wir sind ihr Fremde, die religiösen Gebräuche des Judentums erscheinen ihr bizarr oder mystisch, jedenfalls aber unerklärlich. Unsere Umgebung hat mehr Interesse für Eskimos und Azteken als für ein Volk, das in ihrer eigenen Mitte lebt. Und aus dieser Verständnislosigkeit, aus dieser Unkenntnis der jüdischen Art, der jüdischen Seele erklärt sich drei Viertel jener barbarischen Strömung, die man Antisemitismus nennt. Das letzte Viertel ist der Haß gegen das Fremde überhaupt.

             Wir wollen Achtung für unser Volk, Respekt vor seinen unleugbaren, großen geistigen Fähigkeiten. Wir wollen ehrliche, offene Aussprache mit allen, die eines redlichen Willens sind. Kein Volk und kein Staat hat mit dem „Hepp-Hepp“ etwas anderes erzielt, als daß der Kampf gegen die Juden sich schließlich zu einem Kampf der einzelnen Klassen erweiterte. Aus den Pogromen in Rußland – ist diese Lehre schon vergessen? – ist schließlich der Anarchismus und der Nihilismus geworden. Die Judenhetzen in Rumänien führten letzten Endes zu dem Bauernsturm gegen die Schlösser der Adeligen. Wenn sich die Völker und die Staaten mit uns auseinandersetzen, wenn sie uns das Recht zuerkennen, unser Schicksal selbst zu bestimmen, unsere Gemeinden in Volksgemeinden zu verwandeln, wenn sie unseren Anspruch auf Freiheit und Land anerkennen, dann wird es für sie und für uns besser sein.

             Das Judentum wird für sich arbeiten können, es wird im Bunde der Völker kraft seines Genies sicherlich nicht an letzter Stelle stehen – die Resultate seiner Arbeit werden eine Bereicherung der Menschheit sein.

 In: Wiener Morgenzeitung, 19.1.1919, S. 1-2.