Marie Deutsch-Kramer: Die Befreiung der Frau durch den Sport

Marie Deutsch-Kramer: Die Befreiung der Frau durch den Sport. (1929)

Der große Aufmarsch der Frauen auf der Ringstraße am 14. April und die vielen großen Frauentagsfeiern in der Provinz haben wieder einmal recht gezeigt, wie stark die Frauenbewegung in der österreichischen Sozialdemokratie ist. Es ist eine wirkliche Freude, diesen raschen Aufstieg der Frauenorganisationen mitzuerleben.

             Der Umsturz hat den Frauen ihre

politische Befreiung

gebracht. Der Republik und der sozialdemokratischen Partei in erster Linie verdanken sie das Wahlrecht, dessen zehnjähriger Bestand jetzt überall gefeiert wird. Politisch sind die Frauen den Männern gleichgestellt. Ihre

wirtschaftliche Befreiung

müssen sie sich noch erkämpfen.

                           Die geistige Befreiung

der Frauen ist eine ungeheuer wichtige Sache für jedes Volk und jedes Land, ja für die Entwicklung der ganzen Menschheit. Die Frauen sind die Trägerinnen dieser Menschheit, sie sind Mütter und die berufensten Erzieherinnen der Kinder. Von ihrer geistigen Einstellung hängt die Entwicklung der Kinder ab und damit die Zukunft des ganzen Volkes.

             Aber mit der geistigen muß Hand in Hand

                           die körperliche Befreiung

gehen. Ein wirklich harmonischer Mensch soll nicht nur entwickelte geistige Fähigkeiten, sondern auch einen gepflegten, gesunden Körper haben. Es ist sicherlich kein Zufall, daß gerade in den letzten zehn Jahren

die Frauenmode

eine so große Veränderung erfahren hat. Die Mode ist, abgesehen von lächerlichen Auswüchsen, die es immer gegeben hat, sehr oft ein Abbild des Zeitgeistes. In der Zeit, da die Frau ihre geistige Befreiung er-// lebte, mußten auch jene äußeren Merkmale fallen, die die Frau zur körperlichen Sklavin machten. Das Mieder, die langen Haare, die Schleppe und die unförmigen Hüte mit den Spießen von Hutnadeln verschwanden, weggeweht von dem erfrischenden Sturme der Revolution.

             Unmöglich wäre heute im Straßenbild eine derart angezogene Frau, gefährlich wäre die Mode der langen Röcke im Hinblick auf die jetzigen Verkehrsmittel, unmöglich diese Hüte in der Straßenbahn und im Auto, unpraktisch und zeitraubend die langen Haare der Frau bei ihrer so mannigfachen Arbeit.

             Zugleich aber mit diesen Veränderungen im Frauenleben kam noch eine.

                           Der Frauensport

wuchs in den letzten Jahren zu ungeahnter Größe. Während früher der Sport fast nur eine Angelegenheit der Männer und da wieder bis in die letzten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts eine bürgerliche Angelegenheit gewesen ist, hat sich seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts der Arbeitersport und seit dem Umsturz der Sport der arbeitenden Frauen in ganz ungeahnter Weise entwickelt.

             Wir zählen heute in Österreich schon 35.000 Sportlerinnen, und immer neue Scharen strömen zu. Der jährliche Zuwachs der Frauen übertrifft den der Männer in einzelnen Sportzweigen, besonders im Turnen, oft um das Zehnfache.

             Man sieht daraus deutlich, wie rasch die Frauen erkannt haben, daß der Sport gerade für sie von der größten Bedeutung ist.

Der Wert des Frauensports

liegt darin, daß er den Körper stark macht, aber auch schön erhält. Eine Frau, die viel Sport betreibt, wird sich noch in den Jahren, in denen sie früher schon zu den alten Frauen gehört hätte, noch immer ein jugendliches Aussehen bewahren. Diese Art Schönheitspflege hat nichts zu tun mit der bürgerlichen Unart, die den Lippenstift und die Puderquaste als das Um und Auf der weiblichen Schönheit betrachtet. Als die wahre Ursache, daß bürgerliche Frauen sich ihre Anmut viel länger erhalten können als Proletarierfrauen, muß man vielmehr die Tatsache bezeichnen, daß sie ihren Körper viel mehr pflegen konnten als die arbeitende Frau.

             Die übermäßige Arbeit und der gänzliche Mangel an jeglicher Körperpflege ist schuld an der so rasch schwindenden Schönheit der Proletarierin.

             Dem abzuhelfen ist eine der wichtigsten Aufgaben des Frauensports.

             Er soll ein Teil der Erholung sein, die sich die Arbeiterin in der freien Zeit gönnen kann. Diese freie Zeit ist zwar heute noch karg bemessen. Der fortschreitende Sozialismus wird auch hier Besserung schaffen.

             Dann wird es sich auch zeigen, daß die arbeitende Frau ihrer bürgerlichen Geschlechtsgenossin an Schönheit und Anmut durchaus nicht nachsteht. Nur gesunde und starke Mütter können ebensolche Kinder zur Welt bringen. Darum ist der Frauensport auch vom Standpunkt der Volksgesundheit lebhaft zu begrüßen.

             Aber auch ein psychologisch wichtiges Moment ist beim Frauensport nicht zu übersehen. Die Frauen leiden im allgemeinen noch aus den Zeiten der Unterdrückung her an einem mangelnden Selbstbewußtsein.

             Sie fühlen sich häufig als minderwertig, was sich in der Scheu vor einem Auftreten im öffentlichen Leben ausdrückt. Gerade das aber ist für die Frau und ihre politischen Aufgaben von großem Nachteil. Auch hier kann der Sport helfen. Wer auf sportlichem Gebiet etwas leisten will, muß seine körperlichen Kräfte ständig üben, er muß aber auch geistesgegenwärtig sein und seine Gedanken konzentrieren können. Der Sport verlangt körperliche und geistige Disziplin.

             Gelungene sportliche Leistungen erzeugen aber in jedem Menschen// ein Gefühl der Befriedigung und steigern sein Selbstbewußtsein. So können sportliche Erfolge zur Überwindung des Minderwertigkeitsgefühls führen. Viele Frauen werden es an sich selbst erfahren, daß sie, wenn sie Sport betreiben, dann auch auf geistigem Gebiet mutiger und selbstsicherer werden.

             Bis vor wenigen Monaten hatten die Frauen im Verein für Arbeitersport und Körperkultur in Österreich (Askö) keine Vertretung. Nun hat sich aber ein

                           Frauenausschuß im Askö

gebildet, dem je eine Vertreterin jedes Sportzweiges, eine Sportärztin, eine politische und technische Leiterin angehören.

             Die Aufgaben dieses Ausschusses sind mannigfachig. Um nur die wichtigsten anzuführen, sei hier erwähnt:

  1. die Werbung möglichst vieler Genossinnen für den Frauensport durch Vorträge, Vorführungen und sonstige Propaganda;
  2. die Aufstellung eines Sportprogramms für die Frauen, das im Herbst auf dem Internationalen Sportkongreß in Prag vorgelegt werden soll; dieses Programm enthält alle Aufgaben, die der Frauensport erfüllen soll, und einen Hinweis auf jene Sportzweige, die den Frauen besonders empfohlen werden;
  3. soll auch eine gute Verbindung zwischen der Frauensportorganisation und der politischen Frauenorganisation hergestellt werden, damit auch alle Sportlerinnen politisch erfaßt werden können; zu diesem Zwecke entsenden die Bezirkskartelle des Askö je eine Sportlerin in die politischen Bezirksfrauenkomitees.

Es ist auf dem Gebiet des Frauensports noch Großes zu leisten, und es bedarf aller Anstrengungen, um die Frauensportorganisation in Österreich so auszubauen, daß sie der politischen Frauenorganisation entspricht. Mögen alle Genossinnen dazu beitragen, damit die geistige Befreiung der Frau Hand in Hand gehe mit der körperlichen durch die Hebung und Ausgestaltung des Frauensports.

In: Die Frau, H. 6/1929, S. 10-11.