Max Ermers: Unbehagen in der Kultur

Max Ermers: Unbehagen in der Kultur. Ein Alterswerk Freuds. (1930)

             Si[e]gmund Freud, der Altmeister in der Analyse seelischer Leiden, der zu Österreichs Ruhm im Ausland mehr beigetragen hat als alle unsere Schlachten und Heldentaten, hat uns im achten Jahrzehnt seines Lebens ein Buch der Altersweisheit geschenkt, das keiner, der seiner ganz inne wird, ohne Schwermut und Dankbarkeit lesen wird. Kein Buch, das so leichthin überblättert werden kann wie die allzuschnell fabrizierte psychoanalytische Literatur unserer Tage, die nach dem Schema iX-Ypsisolon-Zet aufgezogen wird und abläuft wie ein gut funktionierender Wortmechanismus: in Romanen, Psychographien, Künstlergeschichten und Neurosenbeschreibungen… In den kaum hundertdreißig Seiten umfassenden Büchlein, das der Internationale psychoanalytische Verlag zum neuen Jahr herausbringt, legt Freud nicht mehr und nicht weniger als unsere ganze Kultur mit all ihren glorreichen Errungenschaften auf den Sezier- und Krankentisch, um sie auf Herz und Nieren zu prüfen und um zu guter Letzt uns alle zu fragen, ob die Anstrengungen und Forderungen, die die Kultur an uns stellt, damit wir Kulturmenschen seien, überhaupt der Mühe wert seien.

             Mit anderen Worten, Freud stellt der Kultur die Schicksalsfrage der Existenzberechtigung. Er weiß, daß [es] die Hymniker der Zivilisation mit ihren geistigen, sozialen, seelischen und religiösen Segnungen gibt, weiß aber auch, daß die Philosophie- und Menschheitsgeschichte nicht wenige Pessimisten kennt, die diese Segnungen mit höchst gemischten Gefühlen betrachten und überzeugt sind, daß innerhalb dieser Kultur „alles, was entsteht, wert ist, daß es zugrunde geht“, daß die Anstrengung, ein Kulturwesen zu sein, nicht lohne. Ja, er stellt die Frage, ob nicht die ganze Menschheit unter dem Einfluß der Kultur „neurotisch“ geworden sei, ob diese selbst nicht eine „Gemeinschaftsneurose“ – schwer zu diagnostizieren, schwerer aber noch zu heilen –, darstelle. Beim einzelnen ist die Neurose ja noch relativ leicht erkennbar, schwieriger schon die Behandlung. Wer aber hätte die Autorität, der Menschheit als Masse die Therapie aufzudrängen?

             Urmenschheit und die angrenzenden Tierfamilien waren frei von Kultur, frei von den Schuldgefühlen, die das Leben des einzelnen und der Menschheit als Kulturwesen vergiften. Sie lebten heiter, sorglos, schuldlos und triebsouverän dahin, von keines Gedankens und Gewissens Blässe angekränkelt. Aus uns allen aber, die wir in den letzten Jahrtausenden leben, „macht das Gewissen Feige und Gehemmte“, die ihren Trieben und Urantrieben nicht mehr Folge leisten dürfen, weil die innere Stimme, das Gewissen, das Über-Ich, das ewige Reue- und Schuldgefühl in uns revoltieren läßt gegen ein robust und naiv dahingelebtes Leben, das allein Bürgschaft gäbe für ein unneurotisches Dasein.

             Das Gemälde, das Freud von Entwicklung und Schuldgang der Menschheit bis in die Gegenwart herein, von jenen Urtagen, da die Ödipustriebe noch zum Vatermord verlockten, bis in die heute triebgehemmte Situation hinein, entwirft, ist für den ungeübten Analytiker nicht überall leicht zu dechiffrieren. Dazu ist es noch ein Gemälde voll von Andeutungen und Übermalungen, die Farben an vielen Stellen zaghaft und voll Zweifel – jedenfalls aber mit höchster Vorsicht – aufgetragen. Freud selbst allerdings ist der Überzeugung – wohl eine Form des inneren Protestes gegen die konsequenzenvolle Schwermut seines Nachdenkens – daß er „bei keiner Arbeit so stark die Empfindung gehabt habe wie diesmal, daß er allgemein Bekanntes darstelle, Papier und Tinte, in weiterer Folge Setzarbeit und Druckerschwärze aufbiete, um eigentlich selbstverständliche Dinge zu erzählen…“ Anderseits aber fügt er dennoch am Schlusse seines Buches, fast entschuldigend hinzu, daß es seinen Lesern auf dem beschwerlichen Weg und Umweg „durch qualvolle Unsicherheit und rastloses Tasten“ „kein geschickter Führer gewesen sei.“ Goethes Harfner im Wilhelm Meister hätte all das, was Freud schwerfällig und doch nicht anders sagen zu müssen vermeint, in viel müheloserer Weise von den himmlischen Mächten, um die es sich diesmal dreht, gesungen: „Ihr führt ins Leben uns hinein, ihr läßt den Armen schuldig werden, dann überläßt ihr ihn der Pein, denn jede Schuld rächt sich auf Erden…“

             Die „himmlischen Mächte“, die sich als gar nicht so himmlisch erweisen, ihre Art und Methode uns ins Leben zu führen, uns schuldig werden zu lassen, und in der Pein des Schuldgefühls zu verbrennen… sie stehen im Zentrum der Freudschen Abhandlung, die den Patienten Menschheit untersucht, als wäre er ein Einzelindividuum. Ausgangspunkt allerdings ist der einzelne mit seiner Libido – als Kraftäußerung des Eros verstanden, die von der Energie des Todestriebes gesondert werden soll – mit seinen primitiven Aggressionstrieben den lieben Nächsten, vor allem aber dem Vater gegenüber. Wenn die einzelnen sich zur Gemeinschaft zusammenschließen – zur libidinös verbundenen Gemeinschaft des Stammes, der Gesellschaft – dann beginnt der Kulturprozeß der Menschheit als Erziehung zur Triebhemmung… denn wir können nicht mehr in absoluter Triebfreiheit leben. Ein sozialer Erziehungsprozeß hebt an, der dem der Einzelmenschen parallel läuft. Das ursprüngliche Programm des uns alle beherrschenden „Lustprinzips“, die Glücksbefriedigung, wird zwar noch als Hauptziel festgehalten, die Einreihung in die Menschheit aber zwingt zu Triebbeschneidung und „altruistische“ Rücksicht auf die anderen. So entsteht ein Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft, in dem die letztere ein moralisches Über-Ich in den großen Führerpersönlichkeiten schafft, die strenge Forderungen stellen. Soweit wir diesen nicht gerecht werden – immer noch revoltieren die schlecht verdrängten, nie völlig sublimierten Urtriebe unserer seelischen Unterwelt – insoweit entsteht „Gewissensangst“, Ethik erscheint so nach Freud „als ein therapeutischer Versuch, als Bemühung, durch ein Gebot des Über-Ichs zu erreichen, was bisher durch sonstige Kulturarbeit nicht zu erreichen war.“ Jedes Individuum ist auf diese Weise der Gesellschaft und sich selbst gegenüber – gezwungen, sich ein eigenes Über-Ich, eine Zensurstelle, ein Gewissen anzuschaffen, daß bei Nichterfüllung der gesellschaftserforderten Triebbeschneidung mit Schuldgefühlen beantwortet… und mit Neurosen, die mit ihren Symptomen nichts anderes sind als Ersatzbefriedigungen für unerfüllte sexuelle oder Aggressionswünsche.

             Kultur wird so zu Triebverzicht. Sie reguliert vieles, aber versetzt jeden in einen inneren Zustand der Anklage, der nur schwer zu ertragen ist. Jeder von uns wird so zum Kampfplatz der Spannungen zwischen Trieben und Gewissenspflichten, die wir nicht immer befolgen können. Manchesmal werden sie uns zu schwer, dann flüchten wir in die schwere neurotische Krankheit. Aus dieser argen, nicht überbrückbaren Spannung in allen Menschen ergibt sich die allgemeine Unzufriedenheit, Depression, jenes beunruhigende Angstgefühl und Unbehagen, das wir trotz aller Daseinsfreude der Kultur entgegensetzen. Ein Unbehagen, das uns heute vielleicht stärker attackiert als jemals die Menschheit zuvor. Wird die Menschheit Mittel und Wege finden – in der Sublimierung der Triebe vielleicht? – um jenes Unbehagens, jener Bangigkeit Herr zu werden? Daß der Sozialismus diesen Weg darstellt, glaubt Freud nicht, obwohl er ihn an sich bejaht. Sicheren Trost, meint er, weiß er der Menschheit nicht zu bringen. „Die Schicksalsfolge der Menschenart scheint mir zu sein“, so schließt der alte Seher, der nicht Prophet sein will, sein aufwühlendes Buch, „ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden. In diesem Bezug verdient vielleicht gerade die gegenwärtige Zeit ein besonderes Interesse. Die Menschen haben es jetzt in der Beherrschung der Naturkräfte soweit gebracht, daß sie es mit deren Hilfe leicht haben, einander bis auf den letzten Mann auszurotten. Sie wissen das, daher ein gut Stück ihrer gegenwärtigen Unruhe, ihres Unglücks, ihrer Angststimmung. Und nun ist es zu erwarten, daß die andere der beiden „himmlischen Mächte“, der ewige Eros, eine Anstrengung machen wird, um sich im Kampf mit seinem ebenso unsterblichen Gegner zu behaupten.“

In: Der Tag, 1.1.1930, S. 14.