N.N.: Die neuen Staaten und die Judenfrage
N.N.: Die neuen Staaten und die Judenfrage (1918)
Der Zerfall Österreichs schreitet immer weiter vor. Die meisten der auf österreichischem Boden gebildeten Nationalstaaten haben sich bereits konstituiert und die Nationalversammlungen haben die Regierung und Verwaltung ihres Gebietes übernommen. Wenn so in allen Nationen an Stelle der gänzlich versagenden Staatsgewalt eine neue Instanz tritt, so sind die Juden bisher ohne jede Interessenvertretung. Es ist daher notwendig, daß der jüdische Nationalrat so schnell als möglich seine Tätigkeit aufnimmt. Sowie für alle Völker muß auch für das jüdische Volk eine Volksregierung geschaffen werden, welche die oberste Gewalt in allen jüdischen Angelegenheiten für sich in Anspruch nimmt und ihre Legitimation in dem Vertrauen der breiten jüdischen Massen hat. Allerdings ist bei uns gegenüber anderen Völkern der Unterschied, daß es sich nicht um die Verwaltung eines Territoriums handelt und daß das jüdische Volk in allen Gebieten vertreten ist und überall nur eine Minderheit bildet.
Es ist bemerkenswert, in welcher Weise die neuen Nationalstaaten zur Judenfrage Stellung nehmen. Eine eindeutige Erklärung liegt bisher nur vom ukrainischen Nationalrat vor. Die Ukrainer haben die jüdische Nation vorbehaltlos anerkannt und ihr nationale und politische Minderheitsreichte zugesichert. Der ukrainische Nationalrat hat an die Jüdischnationalen bereits die Aufforderung gerichtet, ihre Vertreter in die ruthenische Regierung Ostgaliziens zu entsenden. In mehreren Versammlungen haben ruthenische Redner bereits Erklärungen dieses Inhalts abgegeben. Die ostgalizischen Vertreter des jüdischen Nationalrates werden bereits in der nächsten Zeit ihre Entscheidung treffen müssen. Die Ukrainer, die jahrelang selbst eine unterdrückte Minorität in Galizien waren, werden in ihrem Staate gewiß den nationalen Minoritäten Rechte gewähren. Sie folgen damit dem Vorbild des russischen Bruderstaates, der Ukraina, welche bekanntlich nach ihrer Konstituierung den Juden volle nationale Autonomie gewährte, sogar ein jüdisches Ministerium schuf und erst nach dem durch den Einmarsch der deutschen Truppen herbeigeführten Umschwung wieder entzog. Da das deutsche Intermezzo in der Ukraine bald beendet sein dürfte, so werden die Juden zweifellos auch dort ihre nationalen Rechte erhalten, da die Ukrainer selbst einsehen werden, daß die Erteilung der nationalen Autonomie an alle Minoritäten im Interesse des eigenen Staates liegt und auch für jedes neue Staatswesen der Prüfstein der Demokratie ist, was heute mehr bedeutet als eine bloße Prestigefrage.
Im tschechoslowakischen Staat bilden die Juden eine Minderheit, die aber keineswegs bedeutungslos ist. Es war immer der Ehrgeiz der Tschechen, daß ihr neues Staatswesen als eines der demokratischesten der Welt entstehe. Unser Prager Bruderblatt „Selbstwehr“ schreibt in seiner letzten Nummer:
„Wir glauben daran, daß die Tschechen in ihrem neuen Staate den anderen Völkern gegenüber Gerechtigkeit üben werden. Sie haben zuviel um ihre Selbständigkeit kämpfen müssen, sie wissen viel zu gut, daß ihr neuer Staat, der unter den Augen der ganzen zivilisierten Welt gegründet wird, das gleiche Recht für alle zur Voraussetzung hat, um dieses Recht nicht auch den Juden zuzubilligen.“
Wie wir an anderer Stelle berichten, hat der jüdische Nationalrat des tschechoslowakischen Staates dem tschechischen Nationalausschuß bereits ein Memorandum über die politischen und nationalen Forderungen der Juden überreicht. Die böhmischen Juden haben in ihrer Mehrheit bisher die deutschen Positionen in Böhmen gestärkt und ließen sich auch durch die Fußtritte der Deutschen nicht von dieser Politik abbringen. Wir haben die verderbliche Art dieser Politik stets gebrandmarkt und stets die Forderung aufgestellt, daß die Juden ausschließlich jüdische Politik treiben sollen und sich nicht in den Kampf der anderen Völker einzumischen haben. Wir haben schon damals darauf hingewiesen, daß die einzige wirklich ehrliche jüdische Politik, daher auch die einzige, zu der die anderen Völker Vertrauen haben können, die jüdischnationale ist. In diesem Augenblick, wo neue Nationalstaaten entstehen, gerät die Solidarität der Assimilanten ins Wanken. Denn was haben israelitische Deutschösterreicher, Tschechoslowaken, Polen, Ruthenen usw. noch für Gemeinsamkeit. Umso stärker erweist sich jetzt die Richtigkeit der jüdischnationalen Politik auch für das Judentum, da nur durch sie eine unverbrüchliche Einheit des Judentums der ganzen Welt geschaffen wird. Nur dann aber kann auch das jüdische Volk als politischer Faktor von einiger Bedeutung auftreten. Daß auch die anderen Nationen dieser Argumentation zugänglich sind, beweist die bereits in unserer letzten Nummer erwähnte Rede des Abgeordneten Klofatsch, welcher ausdrücklich sagte, daß die Tschechen sich dessen bewußt sein müssen, daß eine falsche Behandlung der Juden einen „empfindlichen Rückschlag“ auf die Position der Tschechen im Ausland haben könnte. Es ist nicht zu unterschätzen, wenn gerade von Seite der Tschechen, die doch über die besten Beziehungen im Ausland verfügen, der jüdische Einfluß in dieser Weise gewertet wird.
Der wichtigste von allen neuen entstehenden Staaten ist für das jüdische Volk zweifellos der polnische Staat, in dem drei Millionen Juden leben. Die Polen sind sich dessen bewußt, daß ihr Verhalten zur Judenfrage von entscheidender Bedeutung für ihre internationale Position sein wird. Sie glauben aber noch immer, die Welt täuschen zu können, indem sie schöne Proklamationen und Versprechungen über die „Gleichberechtigung der Juden“ machen, sogar dicke Bücher in allen möglichen Sprachen von Staats wegen herausgeben. In Wirklichkeit aber betreibt die neue polnische Regierung die alte Schlachzizenpolitik und zeigt sich jeder Forderung nach nationaler Autonomie für die Juden unzugänglich. Es wird gemeldet, daß die polnischen Juden ein Telegramm an den Präsidenten Wilson gerichtet haben, in dem sie ihn bitten, dahin zu wirken, daß das von den Polen in Anspruch genommene Selbstbestimmungsrecht auch den Juden in Polen gewährleistet wird. Es ist zweifellos, daß bei den internationalen Verhandlungen auch die Fragen der nationalen Minoritäten geregelt werden müssen. Nach der Auffassung des Präsidenten Wilson, der sich bereits alle Staaten angeschlossen haben, kann es in nationalen Fragen keine einseitige „innere“ Politik eines Staates mehr geben. Alle nationalen Fragen gehören vor das Weltforum und alle Streitfälle zwischen der nationalen Mehrheit und Minderheit eines Staates gehören vor den internationalenSchiedsgerichtshof des Völkerbundes. Die Polen werden zu derselben Einsicht kommen müssen, welche der Abgeordnete Klofatsch für die Tschechen ausgesprochen hat.
Dasselbe gilt aber auch für den neuen deutschösterreichischen Staat. Auch der deutschösterreichische Staat wird auf seine Stellung im Ausland Rücksicht zu nehmen haben. Soweit ein jüdischer Einfluß hiebei in Betracht kommt, ist bisher allerdings nicht viel geschehen, um diesen Faktor zu gewinnen. Deutschösterreich und insbesondere das christlichsoziale Wien gilt in der ganzen Welt als eine Hochburg des Antisemitismus und die antisemitischen Redeexzesse im Parlament und bei den deutschen Volkstagen haben noch in der letzten Zeit dazu beigetragen, dieses ungünstige Bild im Ausland zu verstärken. Wenn jetzt Deutschösterreich als Nationalstaat konstituiert wird, so wird es im eigenen Interesse die nationale Minoritätenfrage lösen müssen und hiebei auch den Wünschen des jüdischen Volkes Rechnung tragen müssen. Es liegt im beiderseitigen Interesse, daß das Verhältnis zwischen Deutschen und Juden auf nationaler Basis geregelt werde. Nur auf diesem Wege wird es möglich sein, die Reibungsflächen zu vermindern. Wir haben schon unlängst auf die Stellungnahme der „Reichspost“ hingewiesen. In ihrem Abendblatt vom 26. d. M. äußert sie sich wieder sehr zustimmend zu den Richtlinien des Bukowinaer Manifestes. Die deutschösterreichische Regierung, die in ihrer Note an Wilson mit so beredten Worten für den Schutz der deutschen Minoritäten eintritt, wird auch ihren Minoritäten dasselbe nicht versagen können und sie wird hoffentlich einsichtig genug sein, um der jüdischen Minorität den Appell an Wilson zu ersparen. Es kommt nur darauf an, daß alle Nationen einsehen, daß die Minoritätenfrage eine einheitliche ist und daß es nicht geht, auf der einen Seite zu fordern und auf der anderen nichts selbst gewähren zu wollen.
Alle neuen Staaten werden die Unterstützung des Auslandes, insbesondere Amerikas, nicht nur in politischer, sondern auch in wirtschaftlicher Beziehung nötig haben. In dieser Hinsicht könnten die Juden zweifellos große Dienste leisten, besonders auch dem deutschösterreichischen Staat, der mit seiner Hauptstadt Wien wirtschaftlich bei der neuen Lage außerordentlich gefährdet ist. Aber nur die nationalen Juden verfügen über diese Beziehungen. Die Assimilanten, welche die fremde Nationalität annehmen, zerschneiden dadurch ihren Zusammenhang mit der auf der ganzen Welt wohnenden einheitlichen jüdischen Nation. Es wird für alle neuen Staaten von großer Bedeutung sein, daß sie rechtzeitig die Tragweite einer richtigen oder falschen Judenpolitik erkennen. Sache des jüdischen Nationalrates ist es, die Völker nicht darüber im unklaren zu lassen, was das jüdische Volk fordert.
In: Jüdische Zeitung, Nr. 44, Wien, 1.11.1918, S. 2