N.N.: Die Republik und die Juden

N.N.: Die Republik und die Juden. (1918)

             Gewaltige Hammerschläge haben das alte Gefüge des österreichisch-ungarischen Staates zertrümmert. Unter Schwierigkeiten und Kämpfen wurde die Republik Deutschösterreich ausgerufen, welche nun ihre Entwicklungen, welche nun ihre Entwicklung nehmen wird. Die 16. Stunde des 12. November 1918 war damit die Schicksalsstunde der habsburgischen Dynastie, deren letzter Monarch in einem bewegten Schreiben von den Völkern Abschied genommen hat. Was geschehen ist, ist am Webstuhl der Zeit nach den Regeln der Geschichte und den unerbittlichen Gesetzen der Logik entstanden und weder der Einzelne, noch kleine Gruppen konnten darauf einen nennenswerten Einfluß nehmen. Der große Kampf richtete sich nicht gegen Personen, sondern gegen Systeme, und auch die Feinde der Monarchie erkennen bei allem Willen zur Freiheit an, daß der Kaiser selbst gute Absichten hatte, aber die Entwicklung der feindseligen Ereignisse nicht mehr aufhalten konnte und ihnen deshalb zum Opfer fiel. Auch wir Juden erinnern uns trotz unserer alten Liebe zur Freiheit und unserer Entschlossenheit, dem neuen Staat als seine alten Bürger unser Bestes zu geben, dankbar an die Tatsache, daß Kaiser Karl nicht die Schuld daran trug, wenn wir ungerecht von Mächten verfolgt wurden, die stärker waren als er und ihn auch selbst schließlich ins Verderben stürzten.

             Jetzt schreiten auch wir Juden mit großen Hoffnungen in die neue Zeit hinein, welche große und schöne Grundsätze verkündet hat. Wir erwarten, daß auch für uns viele Sünden der Vergangenheit begraben werden, unter denen wir zu leiden hatten. Was wir verlangen, ist kein Vorteil, nicht einmal der Schatten eines Vorteils, ist etwas so Selbstverständliches, daß man eigentlich gar nicht davon reden sollte. Wir wollen nichts als Recht und Gerechtigkeit, als die Gleichheit vor dem Gesetz und das Urteil der Menschen. Hoffentlich verschwindet jetzt das eingewurzelte Verbrechen, uns als eine Gesamtheit zu betrachten, der man die Verbrechen Einzelner vergrößert und beschwert zur Last legt, während man alles Gute unterschlägt und übersieht. Man sieht in uns ein Volk des Nutzens und rechnet uns jeden habgierigen Kaufmann zehnmal an. Und doch ruft jetzt der erschütternde Tod des großen Arbeiterführers Viktor Adler der ganzen Welt ins Gedächtnis, wie viele und wie große opferbereite Idealisten unter den Juden leben. Nicht einige von diesen Führern zum Licht sind Juden, sondern zu Hunderten und Tausenden können sie genannt werden. Und nicht nur politische Idealisten haben wir in Massen, sondern auch von reinstem Feuer geläuterte Führer auf allen Gebieten des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens, der Wissenschaft, der Kunst, der Literatur, der sozialen Frage. Wird man diese Kräfte befreien und benützen oder sie wie bisher unfruchtbar verkümmern lassen und zurücksetzen?

             Das ist die große Frage, die wir Juden an die Zukunft, an den neuen Staat und seine Machthaber richten. Es fällt uns gar nicht ein, etwas Böses und Schlechtes in unserem Kreis zu schützen oder zu verbergen. Aber der Übeltäter mag allein büßen und wir nicht mit ihm. Wir anderen, die wir die überwältigende Mehrheit der Juden sind und nichts anderes wollen als ehrlich unser freies Leben für uns selbst zu bestreiten und für die die Öffentlichkeit alles Edle und Schöne anzustreben und unterstützen – wir wollen unter dem Schutz der für alle gültigen Gesetze, getragen von der Achtung für gute und redliche Arbeit, gestärkt von der Gerechtigkeit der Moral, frei und offen als Vollbürger die Schwelle der neuen Zeit und des neuen Staates überschreiten.

In: Dr. Bloch’s Wochenschrift. Zentralorgan für die gesamten Interessen des Judentums, 15.11.1918, S. 1.