N.N.: Judentum und Völkerbund

N.N. [Leitartikel]: Judentum und Völkerbund. (1924)

Die erste Werbeversammlung des jüdischen Völkerbundliga.

             Gestern fand im Festsaale des Ingenieur- und Architektenvereins eine zahlreich besuchte Versammlung der jüdischen Völkerbundliga statt, zu der als Gast und Hauptredner der Präsident der österreichischen Völkerbundliga, Botschafter a.D. Dr. C. Th. Dumba, geladen war. Unter den vielen anwesenden Persönlichkeiten bemerkte man insbesondere den österreichischen Gesandten in Berlin Riedl.

             Der Vorsitzende, Oberrabbiner Dr. Chajes, führte in seiner Begrüßungsansprache die Gründe an. die die Juden bewogen haben, eine eigene jüdische Völkerbundliga zu schaffen. „Es ist unser Bestreben gewesen,“ sagte er, „die jüdische Sache durch eigene jüdische Vertreter beim Völkerbunde vorbringen zu lassen, ferner veranlaßte uns hierzu die Erwägung, daß gerade wir es sind, die das größte Verständnis für die Vorzüge und Schwächen der anderen Volker haben, weil wir uns durch unsere jahrtausendelange Knechtschaft an ihre kulturellen Verhältnisse anpassen mußten. Der dritte Grund für die Schaffung der jüdischen Völkerbundliga soll der sein, daß wir als prägnantestes Beispiel in der Weltgeschichte dafür zeugen, wie wenig brutale Kraft und Unterdrückung auszurichten imstande sind. Wir wurden geknechtet, wie kein anderes Volk und stehen immer noch völlig ungeschwächt da. Der vierte Grund“, schloß Redner, „ist, daß gerade das Judentum es war, das als erster durch seine Propheten den Gedanken der Völkerversöhnung verkünden ließ“.

             Der Präsident der österreichischen Völkerbundliga, Dr. Dumba, dankte für die herzliche Begrüßung und führte aus, daß die Grundlage der Schaffung des Völkerbundes auf zwei Gedanken basiere. Es soll die Wiederholung einer solchen Katastrophe, wie sie der Weltkrieg heraufbeschworen hat, in Zukunft hintangehalten werden, und zweitens sollen die wirtschaftlichen Fäden, welche durch die willkürlichen Friedensverträge zwischen den einzelnen Staaten zerschnitten wurden, wieder angeknüpft werden. Hierauf gab der Redner einen kurzen historischen Überblick über die Entwicklung des Völkerbundes, der, wenn auch unleugbare Fehler, so doch andererseits wieder ungeheure Vorteile habe. Vor dem Kriege bestand das System der Allianzen und des europäischen Gleichgewichtes, das aber in dem Moment gestört wurde, als England sich auf Seite Frankreichs und Rußlands stellte. Dies führte unaufhaltsam zur Katastrophe. Während des Krieges war Sir Edward Grey der erste, der den Gedanken der Völkerversöhnung offiziell aussprach und dann Wilson, der in seinen 14 Punkten die Gedanken aufgriff, die die Vertreter der kriegsführenden und neutralen Mächte im Haag anregten.

                                                      Fehler des Völkerbundes

liegen darin, daß er ebenso wie der Diktatfriede in Versailles gestiftet wurde und daß ihn nur sehr viele, stark einschneidende Kompromisse möglich machten. Nach einer kurzen Darstellung der Konstruktion des Völkerbundes kam der Redner auf seine Aufgaben zu sprechen. Eine seiner Hauptausgaben sei die allgemeine Abrüstung, der er wenigstens schon soweit gerecht wurde, daß die Weiterrüstungen eingestellt wurden. Wohl die wichtigste und schwerste Aufgabe des Völkerbundes sei der Schutz der nationalen und religiösen Minderheiten und gerade in dieser Hinsicht habe er den Juden vieles zu bieten. Aber auch auf wirtschaftlichem und finanziellem Gebiete hat der Völkerbund hohe Funktionen zu erfüllen. Seine erste Tat sei die Sanierung Österreichs. Heute stehen noch drei große Mächte außerhalb des Völkerbundes, Amerika, weil es den Vertrag von Versailles nicht anerkennt, Deutschland und Rußland. Gelingt es auch diese für ihn zu gewinnen, dann wird an Stelle von Allianzen der Verbund seine segensreiche Tätigkeit entfalten können.

Oberrabiner Dr. Chajes dankte dem Vortragenden für seine klaren Darstellungen, die van den Zuhörern mit lautem Beifall belohnt wurden und erklärte, es mute sonderbar an, daß gerade diejenigen, die den Mi­noritätenschutz am stärksten in Anspruch nehmen, die Juden am meisten unterdrücken.

In: Wiener Morgenzeitung, 22.5.1924, S. 1-2.