P. Haller: Neuere jüdische Erzählungskunst

P. Haller: Neuere jüdische Erzählungskunst. (1926)

Die jüdische Literatur war wie jedes ursprüngliche Schrifttum prägnantester Ausdruck der spezifischen Lebensformen jenes jüdischen Volksteiles, dem sie entsprang und dem sie galt. Form und Stoffgebiet waren in unvergleichlichem Maße Produkt dieser Lebensform, in sich alles einschließend, was diese einschloß. Die konkreteste jüdische Lebenswirklichkeit war ihr Element und ihre Beschaffenheit. Die Abnormalität der sozialen Struktur konnte für einen Mendele Mocher Sfarim

Triebkraft zu einer Kopierung geben, die sich zu höchster künstlerischer Präzision gestalten sollte, den Weg ebnend zu jener eigenartigen Verinnerlichung und Auslösung letzter schöpferischer Potenz eines Schalom Alejchem oder der im Jüdisch-geistigen basierenden Kraft eines Jizchok Lejb Perez.

             Von Mendele über Scholem Alejchem zu Perez (darin liegt kein Wertmaß, welches den dritten über die beiden anderen stellt oder umgekehrt) ist eine natürliche Entwicklung, wie auf A B und C folgen. Diese drei waren eine Einheit. Die jüdische Literatur jenes grundlegenden Abschnittes hatte alle Merkmale gesunder Entwicklung und fester Zielsicherheit, von der Skizze, die um der Tendenz willen da war, zur psychologischen Erfassung jüdischen Wesens, am Exempel jüdischen Lebens gezeigt. Die Reise Benjamins des Dritten (Mendale), Menachem Mendel und Toiwje der Milchmann (Schalom Alejchem), die chassidischen und volkstümlichen Geschichten (Perez) waren Gipfel künstlerischer Durchdringung eines Lebens, das war…

            

Die unausbleibliche Folge nach einer solchen Spitzenleistung bei der Statik jüdischen Lebens in Osteuropa schien entweder dürftiges Epigonentum oder revolutionäre Abkehr von der Wesensform und dem Stoffgebiet hervorrufen zu müssen, was ohne Zweifel das Todesurteil für die jüdische Literatur bedeutet hätte, angesichts einer notwendigen krassen Entfernung vom Volksganzen. Für die jüdische Literatur gab es keine Alternative. Mit dem Volk wie die drei, oder überhaupt nicht! Zu ihrem Glück ging die Revolutionierung nicht von ihr, sondern vom Volk aus, wie es ja auch Kraft der Eigentümlichkeit des Galuthdaseins und der abnormalen soziologischen Bedingung verständlich ist, daß nicht sie das Volk trägt, sondern vom Volke getragen wird. Der einsetzende Prozeß der Halbassimilation, der durch den Bruch mit dem religiösen Traditionalismus weite Kreise des Ostjudentums er­faßt hatte, schuf eine Stimmung der Gärung, die wohl der Dynamik entbehrte, aber in gewissen Grenzen einen neuen epischen Ansatz ermöglichte. Dessen Stoffgebiet mußte freilich die Konfrontation des Gewesenen mit dem Werdenden sein. Jene Schriftsteller, deren Werke diesen Gärungsprozeß zum Inhalt haben, sind nicht gering an Zahl. Gemein haben sie alle, daß sie die Brücke von der Form der sprunghaften Skizze oder des einer einheitlichen Fabel entbehrenden Romans zur europäischen Form der Novelle und des Romans mit konzentriertem Inhalt schlugen.

Die Revolutionierung der Form war ohne besondere Erschütterung der notwendigen Kontinuierlichkeit gelungen und einer neuen Emotion angepaßt. Der Gefahr, dem Einfluß anderer Literaturen völlig zu unterliegen, wurde vom Leben selbst begegnet, da die inneren und auch noch äußeren jüdischen Bedingungen immerhin anders waren, so daß die Beeinflussung im wesentlichen über das Formelle nicht allzu sehr hinausging.

L. Schapiro und David Bergelsohn sind die bedeutendsten Erzähler dieser für die neuere jüdische Literatur wichtigen Epoche, die mit den politischen Wirren in Rußland zu Anfang des Jahrhunderts beginnt und im großen und ganzen mit dem Ausbruch des Weltkriegs ihr Ende findet.

Beide Schöpfungen sind von dauerndem Wert in der künstlerischen Bewältigung der Probleme einer Übergangsepoche, die man für das seitdem Gewordene, die neue Formierung und neue Orientierung des jüdischen Volkslebens, nicht wegdenken kann. Der eine, L. Schapiro, entrollt machtvolle Bilder von der Wirkung der damaligen russischen Geschehnisse (Revolution und Pogrom) aus den jüdischen Menschen und vom Rückzug des letzteren von per Front der blinden Weltbeglückung zur Selbstbesinnung (die Novelle Der Zelem). In David Bergelsohns Roman Nuch alemen, in den Novellen Arim Wugsal und In a fargrebter schtut erscheint in einmaliger Plastik diese ganze gärende Stimmung einer irregewordenen Gemeinschaft, die wehmütig Abschied nimmt von jahrhundertelangen Lebensformen, deren Werte für sie keine Werte mehr sind, die sich nach Neuem, Anderem sehnt und das Neue, Andere fürchtet, deren Konflikt die absterbende Kultur ist, die ihre eigene war und einer neuen, fremden, ungewollt-gewollten Platz macht. Ihr Stempel ist die dumpfe Ungewißheit dessen, was kommt und die zermürbende Gewißheit, die letzten einer langen

Ahnenreihe zu sein. Bergelsohns wehmutumflossene, nie sentimentalen Menschen agieren als oder vielmehr sind passive Objekte von Erlebnissen, deren Konflikte die Konflikte einer Gemeinschaft sind. Sie, ihre Exponenten, sind mimosenhaft empfindsam und müssen am Milieu zugrunde gehen, weil das Milieu zugrunde geht.

Die in diesen Jahren vollzogene innere Umstellung der Ostjudenheit, das Sichanklammern an die Rettungsanker des politischen Nationalismus und des national-orientierten jüdischen Sozialismus, die, immer tiefer ins Volk dringend, Äquivalente wurden für einen brüchig gewordenen religiösen

Die in diesen Jahren vollzogene innere Umstellung der Ostjudenheit, das Sichanklammern an die Rettungsanker des politischen Nationalismus und des national-orientierten jüdischen Sozialismus, die, immer tiefer ins Volk dringend, Äquivalente wurden für einen brüchig gewordenen religiösen Traditionalismus, waren für die weitere Entwicklung der jüdischen Erzählungsliteratur von außerordentlicher Wirkung.

Der Verweltlichungsprozeß zog einen immer weiteren Kreis und erreichte während des Krieges und nach seinem Abschluß seinen Höhepunkt, so daß in der Struktur des inneren jüdischen Lebens eine Wandlung in der Richtung der Angleichung der geistigen Situation mit der der anderen Völker Platz griff. Es ist der Zeitpunkt für die Probleme eines Kulturkampfes gekommen, ähnlich dem der anderen Völker, verstärkt nur noch durch die Besonderheiten, die der Kampf um Sein oder Nichtsein des jüdischen Volkes mit sich bringt.

Dies und der allmähliche Eintritt des jüdischen Amerika in die Sphäre des jüdischen Kulturschaffens brachten eine neue Orientierung der jüdischen Erzählungskunst, von der eine Reihe beachtenswerter Talente Zeugnis ablegt.

In: Wiener Morgenzeitung, 16.3.1926, S. 3.