Paganus: Lichtbündlerischer Auftakt. Beginnende Nacktkultur in Österreich

Paganus [ ]: Lichtbündlerischer Auftakt. Beginnende Nacktkultur in Österreich. (1927)

Seit einiger Zeit mehrt sich auf meinem Schreibtisch – nein, auf dem Nebentisch – die sogenannte „Nacktliteratur“. Es scheint, daß die Autoren, Verleger und Propagandisten Österreich dieser für uns Terra incognita ent­deckt haben. Oder vielleicht haben sie nur entdeckt, daß ich ihre Nacktkulturei entdeckt habe und betrachten mich nun als Spezialreferenten des Blattes. Jedenfalls wimmelt es seither bei mir von Büchern, Broschüren, Einladungen, Nacktsanatoriumsprospekten, Sonnenbadbildern und so weiter. Großes Geschütz wird von Pro und Kontra aufgefahren. Es ist ein Kampf um Leben und Tod, um Schwimmhose und Epidermis.

Dabei hat die Bewegung schon ihre richtige Geschichte und Geschichtsschreiber, wie mich das im vorkämpferischen „Verlag der Schön­heit“ erschienene Werk Die Nacktkultur-Bewegung von I. M. Seitz belehrt. Und die Geschichte wieder hat neben den hygieni­schen und ästhetischen ihre religiösen, rassi­schen, metaphysischen, juristischen und ethischen „Belange“, was die meisten von uns wohl kaum geträumt hätten. Wer sich darüber – mit dem beruhigenden Imprimatur des erzbischöflichen Generalvikariats zu Köln – orientieren will, wird gut tun, sich die streit­bare Anti-Schrift des Jesuitenpaters Ph. Küble zu Gemüte zu führen, die der Jugendführungsverlag in Düsseldorf zu Nutz und Frommen des bedrohten katholischen Rheinlandes erscheinen lassen hat, ohne ver­hindern zu können, daß ein anderer „Theologus Christianus“ bei I. M. Seitz in München eine Anti-Antischrift drucken ließ, die haarklein, mit ebensoviel religiösen unethischen Argumenten aus dem Alten und Neuen Testament für das sogenannte Recht auf den nackten Leib eintritt. Nacktheit als Verbrechen nennt sich ein im Egestorfer Verlag Robert Laurer erschienenes, gut dokumentiertes, etwas kitschig illustriertes Buch, das die Leiden und Freuden der „Sonnenbündler“, soweit sie beim berühmten großen Nacktkultur-Prozeß zu Lüneburg erlebt wurden, in anklägerischer Breite erzählt und ein merk­würdiges Mentalitätsbild der deutschen Richter und Gerichte vom zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts enthüllt. Paul Isensfels wieder zeigt in seinen Getanzten Harmonien (Dieck & Co.) in prachtvollen Lichtbildern, daß die Nacktkultur als künstlerisches Akzidens bereits in großen Tanzschulen Deutschlands Eingang gefunden hat und nun dort ihren Kampf um die Daseinsberechtigung mit Hartnäckigkeit weiterkämpft. Therese Mühlhause versucht schließlich in ihrer Freien Lebensgestaltung (Verlag Laurer) das Recht auf Hüllenlosigkeit und Sonnenstrahlenmaximum in Weltanschauung und Familiendasein fürsorglich einzubetten, so daß der deutsche Spießbürger kaum mehr merkt, wie ihm geschieht.

Soweit von meinem Schreibtisch, respektive von seinem Nebentisch, dessen Rezensions­exemplare ihre pflichtgemäße Erledigung verlangen. Aber es erscheinen wohl hundertmal mehr Dinge am verlegerischen Nackthimmel Deutschlands, von denen sich Rezensent und Schulweisheit nichts träumen lassen.

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Und nun zu Wien. Langsam, aber sicher vollzieht sich der Nacktkultur-Anschluß an das Deutsche Reich. Die Kämpfe mit Gendarmerie, Gericht, Geistlichkeit und Polizei, die ihr pflichtgemäßes Ärgernis nehmen muß, locken auch hier die Kampflustigen. Zu ihnen gesellt sich die Schar der Naturschwärmer, Natur­heiler, Gesundheitsapostel, Sonnenanbeter. Urzuständler, Weltanschauer, die glücklich sind, auf ein neues, unbekanntes, verheißungsvolles Evangelium schwören zu können. Und die noch größere Schar derer, die nichts wollen, als es auch einmal zu versuchen, wie hundert­prozentige Sonnenstrahlung wirkt, oder die sehen wollen – gemäß den Lehren der Lehre – wie die Nacktheit die zur Last gewordene Erotik abstumpft und naiv macht. Bedenkt man’s recht, man sollte sie ruhig nach ihrer unbekleideten Fasson selig werden lassen und nicht durch überflüssige Kämpfe aus Sektie­rern Märtyrer machen. Was in Rußland, in der Ukraine, in Schweden schon seit langem – ohne Ärgernis Brauch, – wird auch uns nicht in eine Revolution stürzen. Und die Tat­sachen der zahlreichen deutschen Nacktsanatorien, des jüngst beschlossenen Familien-Nacktbades der Gemeinde Berlin, des kürzlich eröffneten Nacktbadestrandes im Seebad Sylt zeigen, daß hier eine Bewegung im Entstehen begriffen, die sich einfach durchsetzen will, die neben vielen komischen Seiten und Auswüchsen aber auch einiges Gute mit sich bringen kann. Ob den nordisch-gymnastischen Neuhellenismus, von dem manche träumen, das allerdings sei heute noch dahingestellt.

Im kleinen Maßstab gibt es bei uns schon seit Jahren so etwas wie Nacktkultur, Sonnenbündlerei, Lichtfreundschaft, Freikörperkultur, die alle nur unterschiedene Varianten des­ selben Themas darstellen. Seit Jahren ziehen kleine Kreise Sonntags in die Donauauen, auf die Lobau, auf den Bisamberg, in ent­legene Täler des Wienerwaldes, um nackt zu schwimmen, zu rudern, Gymnastik zu treiben, die Epidermis zu Pigmentieren, zu spielen oder um den – je nach dem Grade der Kor­pulenz – mehr oder weniger ästhetischen Anblick gegenseitig zu genießen. Hie und da hat es eine der Gruppen schon so weit gebracht, für die Abendstunden ein öffentliches Schwimmbad, für die Feiertage ein abgesondertes Gelände mieten zu können. Im übrigen ist man deutschnational, hakenkreuzlerisch, sozialistisch oder jngendbeweglerisch. Nur christ­lichsoziale Gruppen fehlen noch. Die Öffent­lichkeit hat bisher wenig davon Notiz ge­nommen, das heißt, man ließ sie nicht Notiz nehmen und lebte zurückgezogen. Polizei und Gendarmerie benahmen sich taktvoll und diskret.

Die Jüngsten und Radikalsten der „Sonnen­freunde“ wollen nun den gegenwärtigen latenten Zustand in einen manifesten ver­wandeln. Was von ihnen bisher als in­dividuelle Wohltat genossen und empfunden wurde, wollen sie nun als „Ruf an Alle“ weitergeben, zu einer Volksbewegung um­schaffen. Und sie hoffen, daß wir bereits reif dazu sind.

Selbst der komische Mißerfolg des ersten Auftaktes hat sie nicht abgeschreckt. Die erste Vorbesprechung in einem großen Stadtcafe, die jüngst an einem Sonntag vormittags statt­fand, durfte nicht stattfinden. Nachdem die zu­künftigen Lichtbündler gegessen und getrunken hatten – nicht früher –, erklärte ihnen der erschreckte Cafetier kategorisch, daß es in seinem anständigen Lokal „keine Nacktkultur nicht geben derfe“ und schloß die noch nicht eröffnete Versammlung. Konsequenz: bei der nächsten Einberufung erschienen doppelt so viel Licht­bündler. Zu seinem Erstaunen sah man Ärzte, Professoren, Ingenieure, Advokaten, Künstler, Offiziere, Frauen, Mädchen …, sogar schöne und anmutige. Nach den Berichten aus Deutschland und den sonstigen usuellen Dis­kussionsreden beschloß man den Bund für Freilichtkultur zu gründen und die Statuten einzureichen. Statuten von einer gewissen Rigorosität, die die Allzuneugierigen und Unberufenen fernhalten sollen; zugleich aber beschloß man auch, den Arierparagraphen der Anderen zu stürzen.

Ein Beginn ist gemacht. Ein Stück Anschluß an Deutschland vollzogen. Die Mitglieder strömen, wie man hört, in Menge zu. Gymnastische Kurse sollen demnächst beginnen. Ein Winter-Schwimmbad soll gepachtet wer­ den. Eine Donauinsel für den Sommer. Volksversammlungen werden geplant… Mit einiger Neugierde und Spannung darf man nun auf die Stimme der Gegenseite warten.

In: Der Tag, 21.11.1927, S. 3.