Paul Federn: Die vaterlose Gesellschaft
Paul Federn: Die vaterlose Gesellschaft. Wien 1919
Nun wissen wir aus der Analyse der Schicksale Einzelner, daß unbewußte Bindungen dann entwurzelt werden, wenn sie den alten unbewußten Wunsch, der sie geschaffen hat, nicht mehr erfüllen. Dann aber verliert all das Wert und Macht, worauf die unbewußte Bindung übertragen worden. Eine solche Loslösung erfolgt mit starkem Unlustgefühl und bedingt oft eine psychische Erkrankung. Ich habe ausführlich den riesenhaften Eindruck, den das Kind von seinem Vater erhält und die innere Kettung des Kindes an den Vater geschildert. Das Kind hat das Verlangen, von einem geliebten Wesen abzuhängen, dessen Größe, Macht und Wissen ihm absolute Sicherheit und Schutz gewähren. Der Wunsch nach einem solchen Vater läßt eben den wirklichen Vater fallen und bleibt als Bedingung für die Wahl der Vatergestalten. Er schafft die Intensität der Verehrung und Abhängigkeit für die späteren Autoritäten, als letztes Abbild, für den König und Kaiser. […] Aber der Sturz des Kaisers, der Macht und Land verlor und jetzt keine Sicherheit mehr bieten konnte, hat ihm diese unbewußte Bindung entzogen. Und damit stürzten alle Ehrfurchtsgefühle vor der Staatsordnung, stürzte die sichere Sohnesstellung zusammen, und wenn auch das Verlangen nach einer Vatergestalt noch bei vielen Menschen erhalten blieb, so hatten diese keinen gemeinsamen, sie vereinigenden Halt mehr.[1]) So standen plötzlich in begreiflicher innerer Verwirrtheit eine Menge vaterloser Gesellen da, welche das gemeinsame Mutterland und die Not zur Schaffung einer vaterlosen Gesellschaft zwingt. //
Nicht alle waren durch den Sturz des Kaisers unvorbereitet vaterlos geworden.[2]) Für viele hatte schon die Kriegserklärung die Vaterbindung zerstört, weil kein imaginärer Vater seine Kinder töten läßt, wenn nicht in höchster Verteidigungsnot der Mutter, des Vaterlandes. Diese Partei der „Unabhängigen“ vermehrte der Krieg dadurch, daß zwar nicht die fernste Vatergestalt, aber die näheren, die ungezählten Vorgesetzten, Amtsstellen und Offiziere so viel eigensüchtiges Unrecht begangen und so viel unbefolgbare Befehle erteilt haben, daß die „Niederen“, die Arbeiter und Soldaten, schon während des Krieges dieselbe Enttäuschung an diesen Vätern erlebten wie einst in der Kindheit. Die Enttäuschung war so groß, daß sich bei vielen Tausenden die anhängliche Vatereinstellung noch nachträglich in eine haßerfüllte, oppositionelle verwandelte.
Der Sturz des Vatertums in dem kaisertreuen Volke war in Österreich durch die wenig zur Vatergestalt taugende Persönlichkeit des jungen Kaisers erleichtert. […] //
Mit dem Sturz des Kaisers mußte alles kraftlos werden, was von der ideellen Vatergemeinschaft getragen war. All dem nicht zu gehorchen, war jetzt innere Bereitschaft, fast innerer Zwang geworden. […]
Der Wirrwarr wäre noch größer gewesen, wenn nicht die organisierten Sozialdemokraten schon lange die freiwillige Einordnung in ihrer Partei gelernt und ihr ideelles Vaterbedürfnis schon lange am Führer befriedigt hätten. Daß in Deutschösterreich die Revolution ohne die Raserei haltlos gewordener Menschenrudel verlaufen ist, verdanken wir dem Glücke, daß Viktor Adler noch lebte und führte, den jeder Genosse fast bewußt als Vater empfand. Dem radikalen Teil der Partei, dessen Sohneseinstellung sich längst vom Obrigkeitsstaate, während des Krieges auch von den Parteiführern gelöst hätte, bot sich wiederum in der – man kann ohne Übertreibung sagen – heldenhaften Gestalt Fritz Adlers eine gemeinsame Vaterbindung. // Die Tat Fritz Adlers war darum von solch ideeller Bedeutung für die sozialdemokratische Partei in Österreich, weil sie der vehemente Ausbruch der Gegnerschaft gegen den alten Obrigkeitsstaat war, eine Gegnerschaft, die während des Krieges wie betäubt verstummt schien.
Auszüge, S. 13-16; online zugänglich unter: https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1112474994#page/n1/mode/1up)
[1] [Originalfußnote] Der Verlust des Landes hat auch darum eine besondere Bedeutung, weil im Unberwußten das Land Symbol für die Mutter ist, die Vaterlandsliebe aus der Liebe zur Mutter ihre unbewußte Stärke bezieht. Das Kind ist an den Vater durch Vermittlung der Mutter fixiert und der ist keine Vater, der die Mutter nicht retten konnte. (Siehe Dr. Ludwig Jekels. Napoleon. Imago 1914).
[2] [Originalfußnote] Es liegt der Hinweis auf die Verwaisung von Hunderttausenden von Kindern nahe. Nach den Erfahrungen der Psychoanalyse steigert meist der Tod des Vaters die Bindung des Sohnes an die Vaterreihe. Hingegen hat der Krieg durch die jahrelang andauernde Zerstörung der Familie die patriarchalische Einordnung auch unmittelbar vielfach erschwert.