Paul Hatvani: Hermann Broch. Die Schlafwandler.
Paul Hatvani: Hermann Broch. Die Schlafwandler. (1932)
Mehr als jede andere Kunstform ist der Roman geeignet, den … „Stil“ der Zeit zu enthüllen; das epische Weltbild wird nachgerade zum Schema, dem wir unsere Welt-„Anschauung“ zugrunde legen… Gewiß ist zum Beispiel das Œuvre Thomas Manns ein geistiges Bildarchiv der bürgerlichen Welt im Zeitalter des Spätkapitalismus, und die psychische Revolution der letzten zwei Jahrzehnte ist in den Romanen des Marcel Proust und James Jyoce festgelegt. Unsere Epoche der Umwertung hat auch formal an den Roman gerührt; nicht mehr die kunstvoll aufgebaute „Handlung“ ist wesentlich, sondern die geistig-orientierte Durchleuchtung der Situation, die ins Denken gesteigerte Darstellung einer Wirklichkeit, aus der sittliche und künstlerische Erkenntnis quillt. Im Fieber des Expressionismus zeigten sich Ansätze zu dieser Wandlung; es sei hier an Carl Einsteins heute schon vergessenen Roman Bebuquin erinnert und an Sternheims Novellenzyklen. Der neue Stil im Roman ist aber eigentlich noch nicht da; wir ahnen seine Formen, wissen seine Ideen und erkennen bereits seine menschliche Sendung: das Weltbild dieser Gegenwart in eine deutbare Ordnung zu bringen… Das ganz außerordentliche Werk des Österreichers Hermann Brochgeb. am 1.11.1886 in Wien - gest. am 30.5.1951 in New Haven CT, USA; Schriftsteller, Kritiker, Industrieller, Exilant D..., das in diesem Zusammenhange als bedeutsam genannt sei, heißt mit tieferem Bedacht Die Schlafwandler (Die Schlafwandler, drei Bänder, davon zwei bereits erschienen: 1888, Pasenow oder die Romantik und 1903, Esch oder die Anarchie, beide im Rhein-Verlag, München). Es wird hier mit ganz ungewohnter Sachlichkeit versucht, die Tragik des deutschen Menschen zu schildern; nicht immer nur das äußere, also das politische Geschehen wiedergeben zu können –, sondern in einer erschreckend-überwirklichen Nachzeichnung der Gedanken und Gefühle. Hier ist nichts Symbol und alles Symptom. Hier geht es nicht gegen die „herrschenden Klassen“ und gegen die Köpfe; hier handelt es sich um Hirn und Herzen. Die Vorstellungswelt des deutschen Volkes seit 1888 ist wiedergegeben, mit einer Sachlichkeit, die jedes politisches Vorurteil endgültig ausschließt. Die Erkenntnis, daß nicht das Wirken der Sichtbaren, der „Prominenten“, das Schicksal der Nation bestimmt, ist gewiß banal genug, um unerwähnt zu bleiben; wo aber wird das alltägliche Leben, so wie hier, in den Kreis der Entwicklung eingeschlossen, um mit mathematischer Präzision den Weg der Geschichte zu weisen? Hermann Brochs Roman hat nur ganz wenige Figuren und es geschehen die große Dinge – Tod, Liebe, Verbrechen, Entsagung – nur ganz nebenbei. Wesentlich ist, was diese wenigen Menschen denken und fühlen und wie weit dieses Denken und Fühlen in die Realität zu wirken imstande ist. Oder eigentlich: wie es die Wirklichkeit verändert, verschiebt, verdrängt; was aus dieser höchst problematischen Wirklichkeit wird, wenn sie eben so (und nicht etwa mit der Unbeschwertheit romantischer Völker) erblickt und erlebt wird. Letzte, schwerste Konsequenz aus der volkstümlichen Verflachung, die Schopenhauers „Welt als Vorstellung“ im 19. Jahrhundert erleiden hatte müssen: in diesen Köpfen ist die Realität bereits ganz identisch mit dem eigenen Ich. Was geschieht, ist Fatum und der Verstand kann bestenfalls ordnen, erklären, warnen. So wird das Leben dieser überaus passiven Helden, Pasenow oder Esch, der pommersche Junker und der rheinländische Kleinbürger, den Gesetzen der Träume untertan; aber dieser Traum der Schlafwandler ist das Leben selbst. (Den halben Weg ging einst Alfred Kubin, der große Zeichner, in seinem Roman Die andere Seite!) Zu diesem Werk Hermann Brochs, der uns in das Jahr 1918 führen wird, [wird] noch manches zu sagen sein. Es steht aber schon heute fest, daß man es nicht wird übersehen können, wenn von der Art des neuen Romans die Rede ist: ich halte es für den entscheidenden Wendepunkt. Ein neues Ethos kündigt sich an; und vielleicht zum ersten Mal im deutschen Roman: die endgültige Überwindung jener Psychologie, die nicht aus der Seele, sondern von Dostojewsky stammt.