Paul Keri: Die revolutionäre Literatur Ungarns.

Paul Keri: Die revolutionäre Literatur Ungarns (1926)

Nirgends in der Welt, wo eine Revolution den Krieg ablöste, spielte die Literatur eine so tiefe, be­deutsame Rolle in der Bewegung, war die Revolution so stark mit der Literatur verwebt wie in Ungarn. Das ist leicht erklärlich. In Ungarn schlug man sich mit einem halbmittelalterlichen Feudalismus, der heute wieder, zäher denn je, auf dem ungarischen Trümmerfeld festsitzt. In dem Kampfe, der Jahrzehnte vor dem Kriege anfing, mußte der linke Flügel der Bourgeoisie, meistens Intellektuelle, mit der Arbeiterschaft in einer Front gegen die Machthaber stehen, denn die Bürgerlichen waren kaum weniger rechtlos und unterdrückt als die Arbeiter. In Ungarn war und ist noch ein sehr großer Teil der bürgerlichen Revolution auszukämpfen übrig. Diesen revolutionären Kampf führten die Intellektuellen, und überall, wo die intellektuelle Bourgeoisie in Aufruhr steht, spielen Kunst und Literatur eine besondere Rolle im Kampfe.

In Ungarn wühlte eine latente Revolution schon lange vor dem Kriege. Der Dichter und geistige Führer dieser Bewegung, Andreas Ady, schrieb in einem seiner Gedichte, unmittelbar nach dem Umsturz, schon nach dem Tode Tiszas, an diese Zeiten mahnend: „In Revolution lebte er — der Ungar —, da brachten über ihn den Krieg, das Ungeheuer, selbst in ihren Gräbern tief verfluchte Schurken!“ … Diese revolutionäre Bewegung, an der die unzufriedene Bourgeoisie teilnahm, führte eine Blütezeit der ungarischen Literatur herbei, die ihrer klassischen — übrigens ja auch revolutionären — Periode in nichts nachsteht.

Diese neue ungarische Literatur ist vor allem künstlerisch revolutionär. Außer Ady, an dessen Instrument auch die Saite des Umstürzlers hell klang, ist diese Literatur gar nicht politisch. Und doch ist sie revolutionär in jedem Hauche, aufwühlend im Gebiet der Sprachkunst. Diese Literatur hat die ungarische Sprache umgeformt und sich wiederum von den wunder­baren Möglichkeiten der ungarischen Sprache befruchten lassen.

Die bezeichnende Note der russischen Literatur ist eine visionär vertiefte Psychologie. Die bezeichnende Note dieser neuen ungarischen Literatur ist eine sprachlich-musikalische. Das liegt wohl im Wesen der ungarischen Sprache. In ihrem Urzustand aus türkisch-tatarischen und finnisch-mongoloiden Elementen bestehend, stark mit Slawischem, Ottomanisch-Türkischem, selbst mit Persi­schem durchsetzt, rauschte der ganze Orient in ihr. Ihre Grammatik kennt keine Beugung, ihr Satzbau steht in scharfem Gegensatz zu den indogermanischen Sprachen. Eine barbarische Sprache, aber eine von höchster Kultur! … Die neue literarische Bewegung hat die leisesten und verborgensten Regungen des heutigen Kulturmenschen aus dieser Sprache herausgeholt, und trotzdem ist diese Sprache urwüchsig, formbar geblieben. Die ungarische Sprache wird — das liegt in ihrem Wesen — nie zu fertigen Formen gefrieren wie die großen westlichen: ein jeder Dichter und Schriftsteller, der da kommt, wird zuerst zur Arbeit an der Sprache gedrängt und findet dadurch ganz neue Töne und Nuancen der Zeitgedanken.

Das hätte dann aber zur Folge, daß diese neuere, revolutionäre Literatur kaum übersetzbar ist. Wir konnten dem Ausland nicht einmal eine ungefähre Ahnung davon geben, was unser großer Dichter Ady eigentlich bedeutet. Die Übersetzungen, die erschienen sind, erscheinen fahl.[1] Einen Widerschein des Adyschen Wesens geben noch am ehesten Ludwig Hatvanys Übertragungen in rhythmischer Prosa, in seinem sonst sehr rhapsodischen, kulturpolitischen Buche Das ver­wundete Land.[2] Was Ady aber für Ausländer bedeutet, die ihn lesen können, das zeigt die neuere serbische und rumänische Literatur, die von dem Dichter der ungarischen Revolution stark befruchtet wurden.

Andre, die noch mehr im Sprachlichen wurzeln, wie Michael Babits[3], eine Zeitlang der Rivale Adys, der gelehrte Poet dieser Bewegung, lassen sich noch schwerer in fremde Sprachen übertragen. Gewisse feine Blüten dieser stolzen Zeit, wie der unbewußte Expressionist Desider Szomory und der die Sprache der Volkslieder und Volksmärchen in lebendigen Geistesblitzen sammelnde Ernst Szep, sind wieder gerade sprachlich so kühn und originell, daß nur sie selbst sich übersetzen könnten… Am ehesten ist noch der Erzähler dieser Richtung, der wuchtige Bauernschilderer Siegmund Moricz,[4] wiederzugeben.

Was war da für eine Kämpferschar um die Zeit­schrift Nyugat („Der Westen“) gesammelt! Ihr führender Publizist und Kritiker, selbst ein Dichter und Gestalter der neuen Sprache und des neuen Gedankens, war der jetzt in Wien in Verbannung lebende „Ignotus“.

Man fürchtete die Macht der Revolution im Schrift­tum so sehr, daß zuletzt, unmittelbar vor dem Kriege, Tisza eine Zeitschrift zur Bekämpfung dieser Richtung gründete und die Leitung persönlich übernahm… Zwanzig Jahre entwickelte sich, aus verlachten Anfängen, diese neue ungarische Literatur, unaufhaltsam, reich, mannigfaltig, bis zum Kriege. Das ganze Geistesleben, Zeitungswesen, der Buchverlag, das Theater nahmen einen Aufschwung, der fast unbegreiflich war bei einer zahlenmäßig so kleinen Nation. Das ist nun alles eine wehmütige Erinnerung… „Schwebe sacht und singe lange mir, sterbender Schwan, du, schöne Rückerinnerung“, sagt Petöfi.

Wenn man sich heute über den höllentiefen Unglücksschacht Ungarn beugt: Totenstille! Die Literatur ist mit anderem „revolutionären Schutt“ beseitigt worden. Kaum daß einige noch mit den alten Flügeln zu schlagen versuchen und wagen. Aber die alten Töne klingen nun anders, falsch… Die Ma-Richtung, Versuche einer kosmischen Erfassung der Welt, in der Technik des freien Verses, Nachahmung der dadaistischen Bestrebungen, der der Proletarierdichter Bela Revesz[5] schon lange vor­gearbeitet hat, hält sich in der Verbannung unter der Führung Ludwig Kassaks[6] hat aber kaum ein Hinterland. In der Muschel tönt das Meer nach! Die Literatur der Revolution gemahnt daran, daß eine Bewegung, die einmal einen solchen Überbau gehabt hat, nicht niederzukämpfen, daß sie eine eherne Notwendig­keit ist.

In: Arbeiter-Zeitung, 20.9.1926, S. 6.


[1] [Orig. FN]: Auf neuen Gewässern, deutsch von Franyo und Gerald (E. P. Tal-Verlag, Wien). Von der Ex zum Ozean, deutsch von H. Mahner (Moritz-Perles-Verlag, Wien).

[2] [Orig. FN]: E. P. Tal-Verlag

[3] [Orig.FN]: Der Storch-Kalif, deutsch von St. I. Klein. (S Fischer. Berlin).  

[4] [Orig.FN]: Gold im Kot (Ernst Rowo[h]lt-Berlag, Berlin).

[5] [Orig.FN]: Ringende Dörfer; Deutsch von St. J. Klein.

[6] [Orig.FN]: Ludwig Kassak: Ma-Buch, deutsch von Andreas Gaspar, mit einem Vorwort vom Übersetzer (Sturm-Verlag Berlin)