Robert Müller: Bilanz des Aktivismus

Robert Müller: Bilanz des Aktivismus (1920)

             Der Aktivismus hat natürlich keine Saison. Als praktisches Ressort unseres modernen Geisteslebens, zu dem er sich seit Jahren herausgewachsen hat, ist er aber an den Rhythmus des allgemeinen Geschäftsgangs angeschlossen und hat mit ihm die Cäsuren, Abschnitte, Pausen und Kulminationen gemeinsam. Es ist also nur geschäftstechnisch zu verstehen, wenn wir mitteilen, daß ein Arbeitsjahr abgeschlossen hat und wie es abgeschlossen hat; und daß wir, die Bilanz des Gelernten und Getanen ziehend, uns ein Motto und eine Strategie fürs Kommende zurechtlegen.

             Wort und erster bewußter Inhalt des Aktivismus stammen aus der geistigen Atmosphäre der ungeheuer intensiven, amerikanisierten, apparatlich vehementen Kapitale des neudeutschen Reiches, Berlin. Daß die Kontemplation der immerhin geistig bleibenden Europäers sich der Dynamik der sprengkräftigen, kochenden Großstadt nicht entziehen können werde, hatten einige von uns vorausgesehen; wir sahen es voraus, weil wir hofften, es war der Wunsch Vater der Erkenntnis. Wenn jemand sich der sogenannten Ruf-Hefte erinnert, die im Jahre 1913/14 in Wien von damals allerjüngsten Studenten, Schriftstellern und Künstlern herausgegeben wurden und zum erstenmal sensationell eine neue Generation nach der Gerhart Hauptmann-Hermann Bahrschen anzukündigen schienen, so wird er in ihnen vieles von dem geahnt und empfunden vorfinden, was heute daran ist, sinnliche Gestalt zu werden. Ungefähr zur selben Zeit erschien in Deutschland Kurt Hillers Buch Weisheit der Langeweile, das ebenfalls schon die aktivistische Klaue verrät. In den Weißen Blättern des René Schickele war dieselbe deutsch-europäische Erscheinung als selbstständiges Symptom zum Ausdruck gekommen.

             Inzwischen hatten schlagfertige, aber durch die Erleichterung eines Initiative-empfindlichen technischen Verkehrsapparats auch schlagkräftige Berliner die ersten Organisierungsversuche unternommen. Eine literarisch-kulturpolitische Partei war gegründet, sie nannte sich „Die Aktivisten“. Die motorische Kraft der Bewegung dürfte schon damals der phantastisch konzeptive Kurt Hiller gewesen sein. Die Genesis und den weiteren historischen Verlauf möge er selbst erzählen, er hat eine bedeutende Fähigkeit, Ordnung in aktuelle Zusammenhänge und Relationen zu bringen. […] //

             Möglich, daß sich ein Dutzend Programme des Aktivismus in den nächsten Jahrzehnten auf den Kopf stellt; die Köpfe selbst werden, dürfen nicht aus ihrer Lage geraten. Sie gewährleisten, daß Programm-Revolutionen nicht frivol, zusammenhanglos und antilogisch vor sich gehen; vielmehr; daß sich ein solches Programm in seine stete und stetige Verbesserung verkehre.

             Nur auf diesem Wege, nicht auf dem einer dogmatischen Gesinnungsgleichheit haben sich die heutigen europäischen Aktivisten unterwegs getroffen. […] In Wien war der Aktivismus wie anderswo latent in voraktivistischen Gemeinschaften und Strebungen vorhanden. Er war mit ein Grund, daß die Revolution ausbrach; allerdings keiner, daß sie so ausbrach und einbrach. Das synthetische Element, das die nicht durch Bedürfnis, sondern Hunger und Autoritätslosigkeit entstandene allgemeine Tagesbericht-Revolution mit fortschwemmte, als sei es eine reaktionäre Erscheinung, flüchtete sich in ihn. Die Aktivisten in Wien waren die ersten und gründlichsten Umordner, nicht Unordner; ihre Programme griffen so radikal zu, daß sich die Wirtschaftsrevolutionäre, Marxisten und Klassenkämpfer in den ursprünglich breit gesteckten Debatten dialektisch überhaupt nicht halten konnten, sie verloren, aus ihrem volksversammelten Wortschatz gerissen, den Atem und, feuerfeste Ideologen, die sie damals waren, überschütteten sie uns mit Mißtrauen in unsere auf Seelenumwälzung losgehenden Sachpläne. Damals entstand eine Spaltung zwischen den Materie-Ideologen (Marxisten) und den Ideo-Materialisten. Die ganz brutalen Marxisten blieben weg; die feinen, die landauernden Intellektuelle des Sozialismus, möchte man sagen, hielten ihre personelle Affinität zur aktivistischen Gemeinschaft selbst unterm Druck des Dogmatischen, dem sie verschrieben sind, aufrecht. Es bildeten sich die persönlichen Respekte und Sympathien, diese geistige Erotik (das ist nur eine Metapher), die für den Aktivismus charakteristisch geworden sind und sein historisches Schicksal formen werden, denn der Aktivismus besteht nur mit seinen genuinen Trägern, außerhalb ihrer, als Dogma, als Lehre, als Massen-Entzückung gar nicht.

             Dies alles ereignete sich mit den Umsturztagen – es war kein Umsturz, sondern eine Schwankung von rechts nach links – im „Bund der geistig Tätigen“, nachdem ein einschichter Versuch, ein Raritätenkabinett von Königen ohne Portefeuille, von Ministern ohne politisches Kleingeld zu bilden, an seiner wunderschönen kristallenen Einsamkeit verschollen war. „Die Katakombe“ hatte exklusiv begonnen, um sich, wenn möglich, dem pragmatischen Leben zu inkludieren. Aus der Zusammenarbeit sehr vornehmer Intellekte ergaben sich geistige Wohlstandsbulletins, die eine Unsumme von Philologität in sich aufgespeichert haben; Wortliebhaberei für die Sprachreiniger. Ich kann heute darüber gut gelaunt sein; aber ich muß gestehen, daß mir die geistige Alm, auf die wir uns verstiegen hatten und von der es dann Abschied nehmen hieß, damals, als die Weltanschauungsberge ihre Opfer forderten und einer nach dem anderen abstürzte, als ein vorbildliches Fiasko sehr zu Herzen ging. Es waren ihrer nicht viel; und das Aussterben ging schnell. Daß ich so heiter geworden bin: Man sieht schon, daß ich noch einen Rest Traurigkeit zu vertuschen habe. Ich begrabe einen Lieblingsplan.//

             Im „Bund der Geistigen“ ging es flott. Die Aktivisten genieren sich nicht, amerikanische Worte in den Mund zu nehmen. Es ging flott. Ihr seid dabei gewesen, Freunde. Es beginnt eine neue – Saison. Seid wieder dabei!

             Über das Ergebnis hat der „Strahl“ an anderer Stelle (Chronik) berichtet. […]

             Die Bedeutung des engen Verhältnisses Berlin-Wien zeigt sich in der europäischen Resonanz. Nachdem zwei Manifeste, die wir an Henri Barbusse und die nachmaligen Pariser Clartisten gerichtet hatten, unbeantwortet geblieben waren, […] erlangten wir, von Hiller unterstützt, den gewünschten Kontakt. Victor Cyril fordert uns auf, in Wien eine lokale Sektion der „Internationale de la Pensée“ zu begründen. Wir sind daran, diese ehrende europäische Aufgabe zu erfüllen.

             Wie in den verschiedenen Regionen deutscher Zunge spontan, gleichzeitig und voneinander unabhängig die geistvereinenden Ideen auftauchten, so entwuchsen sie auch der französischen Mentalität. Die Frage ist nicht mehr, ob „Aktivismus“ oder „Internationale de la Pensée“, sondern in welcher Struktur. Die Gegensätze sind keine Epigramme, der Kooperativ-Instinkt ist es, der seinen Triumph feiern will, und nicht Grundsätze, sondern Menschen mit einigermaßen berechenbaren Lebensäußerungen sind es, die sich finden wollen. „Clarté“, „Zieljahrbücher“ und „Der Strahl“ sind Instrumente des Verständigungsvorganges, den Europa in reinster und reichster Form erleben will.

             Es will es.

             Europa ist keine Landkarte, sondern eine Geistkarte.

In: Der Strahl, H. 2/1920, S. 5-10 (auch in KS, II, 425-428)