Robert Müller: Die neue Erregung.

Robert Müller: Die neue Erregung. (Aktivismus) (1918)

Im Wesen der zeitläufigen Erregung liegt der unduldsame Trieb nach Vereinfachung. Man sucht nach klassischer Lebensführung. Der Mensch schüttelt wieder einmal alles ab, um sein Lebenshaus von Grund auf neu zu bauen, sich in die Mitte zu stellen und die Dinge nach dem Mittelpunkt seiner – Sternbewußtheit zu ordnen, ohne dem Dingzwang zu dienen. Was wir wollen ist die Schlichtheit, die Logik, die fühlbare Verbindlichkeit, die vom Leben selbst ausgeht. Diese Schlichtheit ist aber nicht Gemeinplätzigkeit, sondern sie ist das Schwerste für den ungeübten und vertrakten Bürger. Ob der Kunstausdruck solcher Schlichtheit ein Buch von Paul Adler oder ein Bild von Campendonck ist, wagt der Expressionistischste unter uns Allen am wenigsten zu entscheiden. Er bekennt sein Schlichtheits-Erlebnis und sich selbst in den ihm innensichtig dafür gewordenen Formen. Um einem Mißverständnis vorzubeugen, sei gleich erklärt, daß diese Schlichtheit als Formforderung nicht identisch ist mit Klischee oder Stereotyp, sondern das neue Formgebären aus der seherischen Einfalt herausgefordert.

             Die sichtbarste Form solcher Schlichtheit und Umweltbefreiung des neu gewonnenen Menschen ist der Wille, die Gesellschaft auf menschlichste Verkehrsimpulse zu zerlegen und neuerlich, nun nach dem Schlüssel: Mensch, zu gruppieren. Und damit sind wir bei den Aktivisten angelangt.

             Sie verwandeln die Erregung, indem sie auf die Straße, in das Kaffeehaus, auf den geistigen Markt eilen, in ein Pathos. […] Ihre Manifeste, Bücher, Essays sind lang, das ist noch ein Fehler, weil sie das Schlichte, es Unschlichten zu beweisen, oft verwickelt vertreten. In ihrer Absicht liegt die Komplikation nicht. Daß ihr Pathos ihre direkt eingreifenden Akte überwiegt, liegt an der Schärfe und Jugend des ganzen Ereignisses. Sie sind so vielversprechend exakt, gebildet und praktisch, daß sie in kurzer Zeit die prägsamsten Vertreter in die Legislaturen des Planeten gesendet haben werden. Die Tatsache ihres Pathos gibt ihnen Affinität zur politischen Einstellung des Romanen. Dessen gleichlaufende Erscheinung an ihnen abzumessen, wird eine unten folgende Konfrontation mit dem Futurismus ermöglichen.

             Alle radikalen »Strömungen« beunruhigen ihr Blut, dessen Erregung durch keine dieser allein genügend befriedigt ist. Sozialismus, Mutterschutz, Eugenik, Schulreform, Körperkultur, Kapitalsabbau, Legierung der Nationen, Abrüstung, Friedensorganisierung, Weltrasse-Schöpfung, Neureligiosität, Kunstmehrung und Genußsteigerung, Verbesserung der für den Erdstern noch viel zu provinziellen Technik, Beseelung der Politik zugleich mit der Entsumpfung der materiellen Ordnung von Gefühlsmiasmen, all das ist Punkt in ihrem großen Programm. Sie sind nicht Bolschewisten, sie gehen darüber hinaus. Ist es ein fünfter Stand nach den Arbeitern: der der Geistigen? Kündet sich einfach eine neue Schichtbildung an? Dieser Schluß ist eine historische Unart, ein Gewohnheitsdenkerschwips. Die »Geistigen« sind kein neuer Stand. Sie setzen nicht die in der französischen Revolution begonnene lineare Entwicklungsgeschichte der Revolutionen fort. Sie sind keine arithmetische Errechenbarkeit, die einmal auch »Faktor« sein wird. Sie sind Dimension. Aus der Fläche des Bürgertums, die sich in dem Sozialismus fortgesetzt hat, knicken sie förmlich als ein Raum hervor. Die Geistigen sind Bürger, darüber laßt uns, so ohrfeigenhaft das klingt, hinwegkommen. Die Geistigen sind nicht Ultraproletarier. Sie sind nicht noch um ein Stückchen revolutionärer, Pünktchen oder zwei programmatischer. Die Arithmetik der französischen Revolution kann, wie Rußland beweist, fortgeführt werden. Dort taucht hinter einer Schicht immer eine andere auf. Die Geistigen sind nicht eine Originalrevolution. Sie führen durchaus den bürgerlichen Gedanken fort, sie sind sein Ausreifen. Das zu leugnen, sich dessen schämen zu wollen, wäre sentimental. Gerade weil sie die bürgerliche Epoche durch diesen Seitensprung viel gründlicher negieren als der Sozialismus, sei der der Trotzkys oder der englischen Gewerkschaften oder der anorganischen Massenerhebung des amerikanischen Proletariats unter Gompers zugunsten des Wilsonschen Staatswolkenkratzers, gerade draum haben sie ihren Ursprung im Bürgerlichen nötig. Mit dessen Produktivität, dem Individualismus, sind sei näher verwandt als mit dem kommunistischen Binnenstaat. Der Sozialist liegt in der Fläche des Bürgerlichen mehr als er denkt, siehe einmal den deutschen Staatssozialismus. In die Raummöglichkeit des Bürgers entsprang der Geistige. Taktisch hat der Geistige mit dem Proletarier viel gemeinsam, prinzipiell nur den Menschen.

             Der Aktivismus ist eine Partei, die noch keine Partei hat und nur eine nimmt; eine Partei, die noch keine gewählten, bloß geborene Vertreter und keine Körperschaften hat, in denen diese sprechen könnten. Um also von der Literatur in die forensische oder administrative Tat zu gelangen, wird der Aktivismus so ziemlich die gesamte bestehende Ordnung im Kern treffen müssen. Ob er es vermag, wird sich zeigen. Die Unsicherheit des Erfolgs ist für den Aktivisten keine Entschuldigung, den Versuch zu unterlassen.

             Der Aktivismus ist vorerst das Pathos zu einer Politik: er ist vorerst das Romanische zu etwas, das deutsch ausfallen soll.

             […]

             Die Aktivisten stellen sich der aktuellen Situation. Sie sind Journalisten mit Jahrhundert Wirksamkeit, nennen wir sie Säkularisten. Was am Tag Jahrhundert ist, bringt ihre Federn in Gang.

             Die Gegner des Aktivisten sind der Politiker und der Dichter. Der Dichter will das Subjekt ändern; er verzichtet auf die sofortige Änderung des Objektes. Der Politiker, der Sozialist oder Revolutionär etwa ändert nur das Objekt. Der Aktivist ändert das Objekt an Ort und Stelle, um die Änderung des Subjektes zu ermöglichen, zu beschleunigen. Der Zweifrontenkrieg reibt ihn auf. Viele geben ihm darum keine Chance. So muß er sie ergreifen. Wird er sich zum politischen Akt im gegebenen Momente bekennen?

             Verwandte Bewegungen laufen in Frankreich und Italien. Es hat keine die Höhe des Notwendigen erfaßt, wie der deutsche Aktivismus, sie sind alle politischer, aber sie sind ebenso menschlich stark. Das Futuristenorgan in Mailand „Italia Nuova“ stellt folgendes Programm auf:

             „Die politische Partei der Futuristen, die wir heute gründen, will ein freies starkes Italien, auf dem nicht mehr der Druck seiner großen Vergangenheit, des allzu sehr geliebten Fremden und der allzu sehr geduldeten Priester lastet: ein Italien, ohne Vormundschaft, in jeder Hinsicht eigener Herr seiner Kräfte, ein Italien, das stets den Blick auf seine große Zukunft gerichtet hat.“

             In den Einzelheiten des futuristischen Programmes steht an der Spitze das Problem der Erziehung. Sie soll vor allem patriotisch sein. Abgeschafft wird ein großer Teil der vielen unnötigen Universitäten sowie der klassische Unterricht. An seine Stelle tritt ein Obligatorium in technischen Fächern, Freilichterziehung, Sport ec. Der bisherige rhetorische Antiklerikalismus soll ersetzt werden durch einen Antiklerikalismus der Tat. Das Parlament soll umgewandelt werden im Sinne einer gleichmäßigen Anteilnahme der Industrie und der Handelswelt an der Regierung des Landes. Wählbar ist jeder Italiener, der das 22. Jahr erreicht hat, Möglichster Ausschluß der Advokaten (stets Opportunisten) und Professoren (stets „Rückblickler), Aufhebung des Senates. Wenn dieses vernunftgemäße und praktische Parlament sich nicht bewähren sollte, so ist eine technische Regierung ohne Parlament zu schaffen. Sie wird aus zwanzig, nach allgemeinem Stimmrecht gewählten Technikern bestehen. […]

             Dieses Programm nimmt hauptsächlich auf die bestehenden Verhältnisse Italiens Rücksicht, es will „Welt“ nach Italien bringen und die Fremden, auch die Bewohner früherer Jahrhunderte und ihre Wahrzeichen ausmerzen. Im Verhältnis dazu ist das aktivistische Programm elastischer und geistiger, es steht ohne Zweifel höher, aber es ist auch nicht so unmittelbar.

             Die Forderungen, die der Aktivist an Staat und Gesellschaft stellt, quellen aus den natürlichen menschlichen Bedürfnissen und haben keine Nation zur Voraussetzung, legen überhaupt kein Gewicht auf äußere Kraftentfaltung seiner Wunschgesellschaft, sondern allein auf deren Intensität. Sie verlangen persönliche Freiheit, eine Art Habeas-corpus-Akte für seiner Sinne Fähigen; freie Liebe und Ehereform; Rückführung der Erziehung auf die natürlichen Instinkte des Menschen; also kalokagathistische Ausbildung an Körper und Seele, das klassische Ideal; Abschaffung aller politischen Formalitäten, Weltstaatlichkeit, komplexe Menschheitspolitik, durch Bundesformen erreichbar; der politische Apparat müsse (ohne näher zu sagen, wie das geschehen kann) in die Hände der Auslese aus den Besten übergehen; also ein geistiger Aristokratismus. Verpönt sind Krieg, Wirtschaft um ihrer selbst willen, andererseits auch Ästhetizismus von nur Verfeinerten; die Gesellschaft soll möglichst so gebildet sein, daß sie ein Leben in geistigen Erregungen gestattet und fördert, weil nur auf diesem Wege der Mensch sich wesentlich ändern und hinaufbilden kann. […]

             Wir mußten historisch und genetisch vom Expressionismus ausgehen, um den Aktivismus erfassen zu können. Der Expressionismus ist eine Erregung; Aktivismus der letzte Effekt dieses endemischen Willens unter Geistigen, die Welt nicht mehr beschaulich zu zerlegen und zu bewissenschaften, sondern sie geistig zu bewirtschaften. Der Aktivismus ist Geistwirtschaft am Erdball. Die Parteinahme des postanalytischen schöpferischen Menschen gegenüber dem Gegenstande, dessen Ordnung nach einem Ausdrucksprinzip, das im Künstler liegt, hat notgedrungen zur Parteinahme gegenüber dem sinnfälligsten Totalgegenstand, unserer sozialen Umwelt, führen müssen.

Die Aktivisten haben eine Zeitschrift in Zürich, „Das Zeitecho“, herausgegeben von Ludwig Rubiner. In Leipzig steht ihnen der Verlag „Tätiger Geist“ zur Verfügung, in dem soeben das zweite der „Ziel“-Jahrbücher erschienen ist. Wenn ein gebildeter und objektiver Ausländer, sagen wir ein Engländer oder ein Amerikaner aus dem Wilsonkreis, sich über die Entwicklung der deutschen Mentalität unter dem jungen Geschlecht unterrichten wollte, müßte man ihm dieses Buch, das von den ersten Schriftstellern geschrieben ist, darunter auch Heinrich Mann, in die Hände spielen. Und man würde dort draußen sehen, daß man mit Deutschland noch immer als dem Mittelpunkt der geistigen Welt rechnen kann.

 In: Die Wage, 30.9.1918, S. 615-619;(KS, II, 214-218)