Rudolf Olden: Egon Erwin Kisch, der Reporter

Rudolf Olden: Egon Erwin Kisch, der Reporter (1924)

Der rasende Reporter heißt ein neuer Band von 300 Seiten und enthält Berichte des Reporters Kisch. Warum „rasend“? Da das Buch kein Vorwort enthält, aus dem ich die Erklärung abschreiben könnte, so weiß ich es nicht. Dieser Reporter ist, scheint mir, gar nicht durch irgend welche besondere Raserei, Geschwindigkeit, Eile belastet. Er ist ein langsamer, genauer, breiter, sachlicher Erzähler des Geschehenen. Er sagt, ausführlich und Präzis, „was ist“. Höchstes Lob des Reporters!

Man muß, glaube ich, bevor man weiter redet, Mißverständnisse aufklären. Es gibt zu viele der Zeitung Fern- und Nahestehende, die den Reporter als einen Journalisten minderen Grades ansehen, als einen Vorzimmersitzer, Auskunfteinholer, Unterläufel, der die grobe Arbeit in der Zeitung verrichtet und dafür schlecht bezahlt wird. Diese Ansicht ist ebenso richtig wie sie falsch ist. Das heißt also: der Reporter ist allerdings manchmal äußerlich das, wozu man ihn macht. In Wahrheit aber ist er der König des Journalismus, der ihm erst den wahren Inhalt gibt. Die Herzen, die die Artikel und Feuilletons schreiben, tun das meist deshalb, weil es zu keinem Buch langt. Dem eigentlichen, wirk­lichen Zeitungszweck, den Zusammenhang zwischen Ereignis und Leser herzustellen, die Welt von gestern zu schildern, erfüllt einzig die Reporter.

Die Eigenschaften, die man von ihm ver­langt, sind zugleich minimal, und ungeheuer schwer zu erfüllen. Er muß sehen können, was vorgeht, und erzählen können, was er gesehen hat. Von jedem aufsatzschreibenden Bürgermeister, von jedem Ge­richtszeugen wird dasselbe verlangt. Es ist daher sehr merkwürdig, daß ein fähiger Repor­ter so schwer zu finden ist, einigermaßen häufig nur in den angelsächsischen Ländern vorkommt, und in deutscher Sprache geradezu eine Seltenheit bildet. Ich kenne einen, den man unbedingt anerkennen muß. Das ist eben Egon Erwin Kisch. Vielleicht gibt es mehr Re­porter, aber sie sind keine Journalisten. Unter diesen leben fast nur Dichter, Philosophen und Politiker. Wenn sie eine aufgerissene Straße, einen überfahrenen Hund oder eine über­schwemmte Wiese schildern sollen, so schreiben sie von der Unfähigkeit der Regierung, vom Marxismus oder von ihrem Liebesleben. Sie machen das so, man weiß nicht recht, ob weil sie nicht sehen können; oder weil sie nicht schreiben können, was sie gesehen haben; teils auch deshalb, weil sie sich es so schuldig zu sein glauben. Es ist also schließlich doch kein solches Wunder, das Mißverständnis über den Reporter.

Nun noch etwas. Es gibt auch sehr viele Menschen— ein großer Teil des Lesepublikums —, die meinen, erdichtete Geschichten seien interessanter als erlebte, geschehene. Dieser Irrtum hängt mit der Vernachlässigung des Reporterberufes eng zusammen. Kisch ist nicht nur der erste Reporter deutscher Zunge, sondern auch ein Propagandist seines Gewerbes. Er betreibt seine Propaganda auf die vorzüglichste Art dadurch, daß er seine eigenen Reports gesammelt herausgibt. Sie sind geschrieben, um am anderen Tage durch die Rotationspresse zu laufen. Und dabei sind sie heute, nach zehn Jahren oder nach einem Jahre, noch so frisch, so interessant, so fesselnd, wie sie nur am Tage nach dem Erleben ge­wesen sein können. Man trennt sich nur mit Schmerzen von dem Band und greift gleich wieder danach, wenn eine freie Viertelstunde kommt. Und dabei ist da kein anderer Faden als die offenen Augen des Reporters, die so verschiedene Dinge gesehen haben, wie etwa: die Obdachlosen von Whitechapel, die Ver­haftung des Einbrechers Sternickel, Venedig vom Erkundungsflugzeug aus, das in Brand geschossene Skutari, slowakische Auswanderer­ in Le Havre, Wien bei Nacht vom Stephans­turm aus, das Begräbnis einer alten Zimmervermieterin in Kopenhagen, Schweineschlachten am Roeskilde-Fjord, Hopfenpflücken in Saaz, den Kampf zwischen Reichswehr und Hakenkreuzlern in Küstrin — hundert bunte Dinge der Welt, die nichts mit­einander zu tun haben; die durch nichts ver­bunden sind als durch die Sachlichkeit, Lauterkeit, Helläugigkeit, die Klarheit,  Knapp­heit, Wahrhaftigkeit des Reporters Kisch.

Der Reporter, auch schließlich der mangel­hafte, ist der wahre Lehrer des Volkes. Was, darüber muß man sich klar sein, würden wir eigentlich von der Welt und von unserer Zeit wissen, wenn uns nicht jeden Morgen, Mittag, Abend tausend fleißige Männer erzählten, was sie gesehen haben? Niemand möge einwenden, er lese keine Zeitung. So erfährt er durch Erzählen, was die Reporter geschrieben haben. Die Kinder erfahren es von den Lehrern und Eltern, die Historiker schreiben es in die Bücher — gesehen hat es der Reporter. Aber keiner, der deutsch schreibt, sieht besser als Kisch. Er hat einen anderen Sammelband herausgegeben unter dem Titel Klassischer Journalismus. Er hätte auch diesen, mit eigenen Werken gefüllten so nennen können.

In: Der Tag, 21.11.1924, S. 4.