Siegfried Schmitz: Jüdische geistige Not

Siegfried Schmitz: Jüdische geistige Not. (1920)

Das Wort von der Not des geistigen Arbeiters ist von den jedes sozialen Ethos baren Tagschreibern zum Schwatz über den Dozenten und die Waschfrau erniedrigt worden, in welchem das geistige Elend auf einen Vergleich der Einkommensziffer mit dem Arbeitstaglohn reduziert wird. Daß es der geistigen Not nicht abhilft, wenn der geistige Arbeiter so viel wertloses Papier gezahlt bekommt wie die Waschfrau, darüber nachzudenken fehlt es den Klugschwätzern an Ehrlichkeit. Die geistige Not besteht heute in Wirklichkeit darin, daß die Internationalität des Geistes sich als ein Ziel erwiesen hat, von dem die Welt noch weit entfernt ist. Die Haßkundgebungen der Männer des Geistes in den einzelnen Ländern haben es genügsam kundgetan, zu wie viel Lüge das wahrhaft große Wort von der „Internationale des Geistes“ mißbraucht wurde. Und trotz Krieg, Revolution und Frieden finden sich keine Ansätze, um die Internationale des Geistes in wahren Formen zu verwirklichen. Das und die Tatsache, daß heute das Schaffen der sogenannten geistigen Arbeiter in die engsten Grenzen der jeweiligen eigenen Staatlichkeit eingeschränkt ist, daß, abgesehen von Virtuosen, Tänzerinnen und Varieteegauklern, die Schöpfer geistiger Werte ihr Schaffen nicht über die Grenzen ihres sogenannten Vaterlandes hinaus auswirken lassen können, daß ferner das geistige Schaffen, in sozialer Verkümmerung gebunden, auch in seinem Wert verkümmert, das ist der Kern der geistigen Not. Das jüdische Volk, welches in allen Belangen durch das Unheil, das in die Welt gebracht wurde, am schwersten gelitten hat, hat auch die schlimmste geistige Not zu tragen. In den letzten Jahrzehnten begann verheißungsvoll der Anfang einer die traditionelle jüdische Kulturbasis verbreitenden weltlichen Kultur im Judentum Osteuropas aufzusprießen. In der allgemeinen Katastrophe, die das osteuropäische Judentum getroffen hat, ist das jüdische geistige Leben in Osteuropa zusammengebrochen. Die osteuropäische Judenheit, früher durch den Bestand eines großen Reiches und ziemlich gleichartiger sozialer Verhältnisse zu einer gewissen Einheit zusammengefaßt, ist heute zersplittert und jeder der abgesplitterten Teile ist von Not und Tod umdroht, hat den Kontakt mit den übrigen Volksgenossen lockern müssen und lebt in ungewissem Schicksal dahin. Damit hat das jüdische geistige Zentrum in Osteuropa aufgehört zu existieren. Die günstigere materielle und soziale Lage der Juden Amerikas hat sie in den Stand gesetzt, in den letzten Jahren auch einen jüdisch-kulturellen Aufschwung zu nehmen. Diesem fehlen jedoch die Tradition und die Kontinuität, welche früher durch den ständigen jüdischen Zufluß aus Osteuropa gewahrt waren. Kommt es tatsächlich zu der drohenden Absperrung Amerikas gegen die Einwanderung, so wird der kulturelle Aufschwung der amerikanischen Juden, die sozial und wirtschaftlich sehr an ihre Umgebung gebunden sind, bald vorüber sein.

Die Juden Mitteleuropas sind kulturell, wenn auch in anderem Sinne, isoliert. Ein Beispiel bieten Wien. Hier hat der Krieg mit dem Strom jüdischer Flüchtlinge aus dem Osten eine Welle jüdisch-geistiger Elemente herangespült durch die der jüdische Inhalt Wiens belebt wurde. Das politische Schicksal dieser Stadt hat das jüdische Schaffen in Wien von jeder Auswirkung in die Ferne abgeschnitten. Diese allenthalben hervorgebrachte Zersplitterung und Isolierung ist das Spezifikum der jüdischen geistigen Not. Sie vermindert auch die Hoffnung auf einen raschen Entwicklungsgang eines jüdischen Kulturzentrums in Erez Israel. Denn nur wenn Menschen mit gesunden Kulturanlagen ins Land kommen, kann dieses rasch das Wachstum dieser Keime fördern. So hat die Weltkatastrophe dem Judentum auch in geistiger Beziehung schwersten Schaden zugefügt.

Hier muß Hilfe kommen. Hilfe von den Schaffenden selbst, welche gerade jetzt fühlen müssen, daß sie nicht bloß Exponenten ihres Schaffensgeistes sind, sondern auch Exponenten des Volksgeistes. Es muß sich darum handeln, daß die Schöpfer und Träger der Kulturinhalte sich ihrer sozialen Sendung bewußt seien, und diese ist: Die Aufhebung jener Zersplitterung und Isoliertheit des jüdischen Geistes, wie sie heute besteht, durch Zusammenschluß aller Träger und Schöpfer der jüdischen geistigen Welt. Dieser Zusammenschluß muß es ermöglichen, daß die geistige Not der Judenheit vielleicht rascher überwunden wird als die materielle. Für den materiellen Wiederaufbau der europäischen Judenheit wurde das Wort „Produktive Hilfe“ zum Leitmotiv gewählt. Für die Beseitigung der geistigen jüdischen Not ist es noch mehr am Platze. Die erste Voraussetzung aber ist der Zusammenschluß der Menschen des jüdischen Geistes. Er ist leichter zu bewerkstelligen als die Zusammenfassung der heute zersplitterten Judenheit in wirtschaftlicher und sozialer Beziehung.

Die jüdischen Gelehrten, Schriftsteller und Künstler, alle jüdisch Schaffenden, welche Richtung immer sie angehören, müßten sich zusammenschließen, um die kulturelle Einheitlichkeit, die uns fehlt, und deren Anfänge und Möglichkeiten das Chaos, das über die Welt gekommen ist, zerstört hat, aufzubauen, aufzubauen nicht bloß für den Augenblick, sondern gerade im Hinblick auf das Werk des Aufbaus in Erez Israel. Ohne ein starkes Judentum kann Erez Israel nicht erbaut werden. Auch der jüdische Geist, der in Erez Israel herrschen soll, erfordert geistige Einheitlichkeit.

In Zürich und Wien haben sich vor mehr als Jahresfrist solche Organisationen der jüdischen Gelehrten, Schriftsteller und Künstler unter dem Namen Haruach begründet; in Amerika gibt es Schriftstellervereine, ebenso in Wilna, Odessa und anderen jüdischen Zentren Osteuropas. Sie alle haben bisher nur lokale Wirksamkeit gehabt. Es geht aber um mehr: um die einheitliche Zusammenfassung aller jüdisch Schaffenden. Sie müßte geschehen, um die „produktive Hilfe“ für die jüdische geistige Not zu ermöglichen. Nicht durch Unterstützungen, sondern durch Förderung aller schöpferischen jüdischen Arbeit. Wenn über die Isolierung und Zersplitterung hinaus der jüdische Geist die Kraft hat, die Einheit zu bilden, so muß diese Förderung des jüdischen Schaffens durch die jüdische Gemeinschaft erfolgen. Es wäre daher Pflicht aller berufenen Faktoren, eine solche Vereinigung zu fördern, Pflicht aller jüdisch Schaffenden, an ihr mitzuwirken. Die schon bestehenden Organisationen wären auszubauen, neue zu gründen und alle zu vereinigen. Und in der jüdischen Gemeinschaft mußte dort wo sie materiell und geistig dazu fähig ist (heute vielleicht nur in Amerika und einigen jüdischen Zentren Europas, die noch nicht gebrochen sind), das Verständnis dafür obwalten, da ein Hinauskommen aus der geistigen Not neue Kraft für große Ziele bedeute.

In: Wiener Morgenzeitung, 21.12.1920, S. 1-2.