Was soll man lesen? Umfrage der Bukum-AG 

Was soll man lesen? Umfrage der Bukum-AG (1924)

Die Bukum A.G. (vorm. Hugo Heller & Co.) hat ihrem diesjährigen Weihnachtskatalog eine interessante Rundfrage vorangestellt, deren Beantwortung sie iener großen Anzahl namhafter Schriftsteller überlassen hat. 

„Welches Buch des Jahres hat auf Sie den stärksten Eindruck gemacht? Wodurch ist dieser Eindruck nach Ihrer Meinung begründet?“

So lautet die Frage. Mit Bewilligung der Bukum A.G. veröffentlichen wir nachstehend einige der interessantesten Antworten, doppelt interessant dadurch, daß es ja selbst Schriftsteller sind, welche ihrer Ansicht hier Ausdruck geben. 

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Ich bin ein viel zu unpünktlicher Leser, als daß ich es wagen dürfte, das beste Buch des letzten Jahres zu nennen; schon ein rein subjektives Urteil wäre unfair gegen die vielen guten Bücher, die ich offenbar im letzten Jahr nicht gelesen habe. Hätten Sie mich nach dem schlechtesten Buch des Jahres gefragt oder nach dem Buch, das mir am stärksten mißfiel, dann hätte ich leichter antworten können: ich hätte, einem bewährten Instinkt folgend, unter den großen Schlagererfolgen des Jahres gesucht, und ich verrate Ihnen, obwohl Sie mich nicht gefragt haben, daß die Versuchung nahegelegen hätte, blindlings und ohne Wahl Ossendowskis verlogenes Buch über Tierische Menschen und Götter zu nennen. Wenn ich aber ein gutes Buch nennen soll, kann ich Ihnen höchstens sagen, daß unter allen Büchern, nicht des letzten Jahres, sondern der letzten Jahre, der Roman Babbit des Amerikaners Sinclair Lewis mich am stärksten angepackt hat – diese große Anklage gegen die Bourgeiosie nicht als soziale Klasse, sondern als Lebensform; ich denke an dieses Buch mindestens einmal am Tag, seitdem ich es gelesen habe. Ich liebe dieses Buch, weil es zugleich revolutionär und geduldig ist, weil es zugleich zu verurteilen und zu begnadigen weiß, weil der Autor, als der erste Dichter nach Thackeray, jenen höchsten Grad erlangt hat, den des tragischen Humoristen…

Aber Sie wollen ja, daß ich von einem Buch spreche, das vor höchstens zwölf Monaten erschienen ist. Ich unterdrücke eine Neigung, noch von dem Roman Goha le Simple der Ägypter Albert Adès und Albert Josipovia zu schwärmen (es erschien in Paris im Jahre 1922) – und beschließe resolut, Ihnen das meiner Meinung nach beste Buch dieses, wie mir scheint, nicht sehr reichen Jahres 1924 nicht zu nennen. Ich begnüge mich damit, ohne Vergleich, ohne Rangordnung, ohne sie anderen guten Büchern ungerecht vorziehen zu wollen, von zwei ausgezeichneten Büchern dieses Jahres die Titel herzusetzen: das erste, Andreas Reischks Buch über Neuseeland, wird in Ihrer Buchhandlung viel gekauft – die Leute mögen es, obwohl es ein scheues, schüchternes, eigentlich unscheinbares Buch ist – es ist herrlich, voll von einer Wanderlust, Natursehnsucht, Schlichtheit! – und das andere kauft niemand, der Autor, Josef Weinheber, ist noch nicht berühmt, und der Roman Das Waisenhaus auch nicht. Ich nehme an, die Durchschnittskunden Ihrer Buchhandlung werden dieses Buch noch einige Zeit nicht kaufen – und daher nicht erfahren, warum es so gut ist. 

Richard A. Beermann

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Welches Buch des letzten Jahres den stärksten Eindruck auf mich gemacht hat? Die Denkwürdigkeiten des Grafen Waldersee. Und weshalb? Weil sie ganze Bibliotheken selbst guter Romane an Anschaulichkeit, Interessantheit und Spannungsreiz aufwiegen. Wäre die deutsche Republik eine; sie würde einen Auszug aus diesen Denkwürdigkeiten – mehr als acht Druckseiten brauchten es nicht zu sein – in 60 Millionen Exemplaren anfertigen lassen und damit der nationalistischen Kriegsschuld- und der Dolchstoß-Legende für immer ein Ende machen. 

Siegfried Jacobsohn

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Ich bin mit der Nicht-Abfassung meiner eigenen Werke so intensiv beschäftigt, daß ich nicht die Zeit fand, irgend ein Buch des Jahres 1924 kennenzulernen. 

Anton Kuh

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Unter den wenigen Büchern von allgemeinerem Interesse, die ich in diesem Jahr gelesen habe, möchte ich das Buch von Rolf Schott „Reise in Italien“ (Sibyllen-Verlag) herausheben. Rolf Schott ist Maler und Dichter zugleich, er schildert italienische Landschaften und südliche Gesittung mit einer so tiefen Kenntnis aller Kultur und einem so klaren Künstlerbild, daß diesem Buch nicht viele Reisebücher gleichgesetzt werden können. Ganz zarte Zeichnungen sind dem Text beigegeben. Niemand, der Italien kennt, wird dieses Buch lesen, ohne ihm dankbar zu sein. 

Emil Lucka 

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  1. Der kleine Peter von Anatole France.
  2. Durch die Zartheit, mit der das Problem der Kinderpsyche behandelt ist. 

Maria Mayer

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Von neuen Büchern hat mir zuletzt ein historisches Werk, Die Wiedertäufer in Münster 1534/35, – Berichte, Aussagen und Aktenstücke von Augenzeugen und Zeitgenossen, ausgewählt von Klemens Löffler, Jena bei Diederichs – großen Eindruck gemacht. Warum? Weil darinnen, im Bild eines politisch-religiösen Umsturzes, steht, was nicht alle Tage in Büchern zu finden ist: ein ganzes Bild menschlichen Lebens.  

Max Mell 

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Ich nenne lieber einige Bücher, aus verschiedenen Gebieten; denn Eindrücke sind durchaus nicht immer vergleichbar: 

Den im Verlag Die Schmiede erschienenen Gedichtband Sprung auf die Straße von Victor Wittner. Neuer Mann, Österreicher. Es sind Bildchen der Großstadtstraße, aus dem sechsten Stockwerk eines vielfenstrigen Hauskäfigs gesehen. Von einem, der hinabspringen möchte, um dabei zu sein, aber auch, aus, Gott weiß, welchen Gründen. 

Die bei Gunther Langes erschienene Erzählung Oskar Maurus Fontanas Die Insel Elephantine. Sie behandelt bildhaft, in einem Hotel am Nil, einen Niederbruch der Zivilisation im Zusammenstoß mit Naturkräften. Sie ist eine Parabel und das Entscheidende an ihr ist „der unendlich ferne Punkt“, zu dem hin jede Parabel deutet und sich wendet, was wir in der Geometrie gelernt, aber im Leben vergessen haben. Pessimismus und Erlösung, Zivilisation und Natur, unheilbare Widersprüche mögen sich dort schließen, das Buch selbst hat keinen Schluß: es flieht etwas hindurch, hinterläßt als Zeichen den wie aus Vogelfedern gewebten Stil des Dichters.

Eine bei E. Reiß erschienene Feuilletonsammlung Der rasende Reporter, weil der „Tagesschriftsteller“ Egon Erwin Kisch kein durchgefallener, sondern ein aus der Ewigkeitsschule davongelaufener Dichter ist. Er wurde lieber Pilot, U-Bootsmann, Reporter bei Mördern, Henker, Diplomaten, Taschenspielern und Hochöfen; alles nur für einen Tag oder ein Feuilleton, ungeduldig, witzig, essentiell; der Leser, der die Nase in dieses Buch steckt, sieht durch ein Periskop Gebiete der Welt (samt Beleuchtung), die er sonst nie kennenlernen könnte; diese Art der Reportage ist eine Zeitnotwendigkeit. 

Das Kuriositäten-Kabinett der Literatur, bei Paul Steegemann erschienen. Nicht nur, weil diese Essais Führer der zu wenig bekannten amüsanten oder wertvollen Erscheinung der Weltliteratur sind. Oder weil Franz Blei, ihr Dichter, einer der gescheitesten und belesensten europäischen Schriftsteller ist. Sondern auch, weil er einer der größten Kritiker ist, der sein Geschäft leider nie anders ausübt, als im Vorübergehen mit ein paar Bemerkungen.

Den Fall Elli Link von Alfred Döblin, welcher im Verlag Die Schmiede, Sammlung Außenseiter der Gesellschaft, erschienen ist, weil Döblin hier nackter als es in der Dichtung üblich ist, seine geistige Arbeit zeigt. Dieser im jüngeren Deutschland ganz vorne stehende, in Wein merkwürdig wenig bekannte Dichter ist Arzt, und seine Psychologie ist stark psychoanalytisch gefärbt, Doch kann man menschenpsychologisch zwar zerlegen, unmöglich ist es, sie aus solchen Elementen aufzubauen; es bleibt etwas übrig, das Ungesetzliche, Tatsächliche, die Art der Mischung, das Schicksal, das Zufällige und eben deshalb Individuelle: dafür hat Döblin in dieser kleinen Arbeit ganz sachlich und unsentimental ergreifende Ausdrucksmöglichkeiten gefunden. 

Nachtrag: Die bedeutende Drammaturgie des Films Der sichtbare Mensch von Béla Balázs, Deutschösterreichischer Verlag, habe ich nur deshalb aufzuzählen vergessen, weil ich gerade einen großen Essai über sie schreibe.

Robert Musil 

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Stärkster Bucheindruck dieses Jahres: Brandes, Voltaire

Arthur Schnitzler

In: Der Tag, 10.12.1924, S. 10.