Grete Urbanitzky: Der wilde Garten
Grete Urbanitzky: Der wilde Garten (1927)
Als ich ein kleines Mädchen war und in das Lyzeum ging, damals, als ich mich weder gegen die Quälereien einer machtlüsternen Lehrerin noch gegen das so bitter empfundene Unverständnis der „Großen“ wehren konnte, damals, als ich in flüsternden, heimlichen Gesprächen mit Gleichaltrigen erfuhr, daß es keiner besser ging, damals, als jeder unsere eckigen Glieder, unseren unreinen Teint belächelte und keiner etwas mit uns anzufangen wußte, da tat ich einen Schwur. Erinnert ihr euch noch daran, liebe, scheue Mitverschworene, mit denen ich damals in dem verstecktem Winkel von meines Vaters Garten saß? Erinnert ihr euch? Wir hatten ein Buch der Marlitt — oder war es die Eschstruth? vor uns liegen und waren wild empört über die Schilderungen junger Mädchen. So sind wir nicht! riefen wir durcheinander. Weiß denn niemand etwas von uns? Damals schwor ich euch, nicht zu vergessen wie alle anderen, nicht wie alle anderen, groß geworden und selbst zur Macht über Unerwachsene gelangt, unsre Wirrnis und unsre Not an jenes verlegene Lächeln der Erwachsenen zu verraten: ach, damals waren wir töricht! Und damals schwor ich euch, einmal ein Buch zu schreiben, in dem dies alles gesagt würde, was die Bücher, die wir kannten, verschwiegen, was uns aber so sehr verwirrte und beschäftigte, von unserem Kampf gegen jene Großen, die uns allein ließen in jener Zeit, da diese Macht auf uns einstürmte, mit der auch die Erwachsenen nicht immer fertig werden: Eros.
Und so habe ich denn dieses Buch geschrieben und mein Versprechen gehalten. Ich habe das Buch Der wilde Garten genannt, weil jede Jugend ihm gleicht und jede der Freude und Liebe bedarf wie der Garten der Sonne. Und getreu meinem Schwur habe ich nichts verschwiegen und maskiert, woran sich Erwachsene sonst nicht immer gerne erinnern, von unseren törichten Träumen und Vorstellungen bis zu den Dingen, die wir einander nur im Dunkel erzählten und beichteten. Und vieles noch ist in dem Buche aufgezeichnet, was die Reifen und Erwachsenen nicht wissen oder nicht wissen wollen und was mir manche anvertraut, die noch dem wilden Garten angehört. So soll dieses Buch Schwester sein jener Bücher, die Männer, groß und reif geworden, eines Tages über die Wirrnisse ihrer Knabenzeit schreiben, nicht nur zum Gedächtnis, sondern mehr noch für jene, denen als Eltern oder Erziehern Jugend anvertraut wurde. Und so habe auch ich meinen Schwur nicht nur für euch gehalten, liebe, kleine Mitverschworene von einst, die ihr aus dem wilden Garten sicherlich schon in Heirat und sicheres Sein gefunden habt und voll lächelnder Nachsicht der wirren Zeiten der Pubertät gedenkt, sondern für sie, denen heute Töchter heranwachsen, die sich ebenso unverständlich rebellisch gegen manches geheiligte Gesetz der Sitte gebärden, wie wir es taten und wie es jede Jugend immer wieder tun wird. Die Erwachsenen vergessen so leicht, „wie es damals war“. Und doch sind auch wir nicht schlechter oder unmoralischer gewesen als die Altersgenossinnen unserer Mütter, die uns immer als leuchtendes Beispiel vorgehalten wurden. Nur anders. So wie jede Jugend eben anders ist…

