Kurt Schuschnigg: Das Kulturprogramm der Vaterländischen Front

Kurt Schuschnigg: Das Kulturprogramm der Vaterländischen Front (1935)

In einer vom Kulturreferat der Vater­ländischen Front veranstalteten Kundgebung hielt Bundeskanzler Dr. Schuschnigg vorgestern, nach einleitenden Worten des Kulturreferenten Dr. Rudolf Henz, einen Vor­trag über die kulturellen Aufgaben der Vaterländischen Front. Er führte zunächst aus, seine Darlegungen seien nicht der Polemik gewidmet und sagte dann u. a.:

Derjenige, der mit ganzem Herzen und mit Stolz und mit Freude sich als Österreicher bekennt, der läuft bisweilen Gefahr, in historischen Reminiszenzen stecken zu bleiben. Es ist meiner tiefsten Überzeugung nach mit eine Hauptwurzel des ungeheuren geistigen Elends und der geistigen Kümmerlichkeit, der man hierzulande manchmal begegnet, daß man an­derthalb Jahrzehnte lang aus Furcht, als Reaktionär verschrien zu werden, nicht den Mut hatte, dieses historische Gedankengut zu pflegen. Es war eine Sensation in Österreich, als der leider zu früh verstorbene Wild­gans in seiner großen berühmten Rede daran erinnerte, da wir das viele Große und Schöne, das wir besitzen und dessen wir uns rühmen, Erbgut der Vergangenheit ist, dessen wir mit Stolz und Dankbarkeit zu gedenken haben, und daß wir keine wie immer geartete Ursache haben, es zu verleugnen, und daß dessen volle und konsequente Pflege allein die Brücke schlagen kann in das Heute und Morgen.

Und doch, wer von uns wüßte nicht, daß es zu wenig wäre, nur dem nachzutrauern, was gestern war. Jeder geistige Mensch muß die innere Kraft haben, in aller Objektivität sich ein Urteil bilden zu können über Sinn und Bedeutung des heutigen Staates, des neuen Österreichs, wie er nun einmal ist, in den wir hineingeboren sind, der uns Heimat und Vaterland bedeutet.

Freilich, es ist gerade für den, der sich in seinem Bewußtsein die großen Werte der Bedeutung österreichischer Vergangenheit bewahrt hat, etwas ganz Besonderes um das Wissen der besonderen Bedeutung jenes deutschen Staates österreichischer Prägung, der das neue Vaterland sein will.

Es handelt sich einmal um die Auffassung vom Staat überhaupt:

Das neue Österreich, womit ich immer das Österreich der neuen Verfassung meine, lehnt durch diese Verfassung selbst, durch seine ganze Ideologie den Gedanken ab, daß der Staat der letzte und einzige, der höchste aller Werte sei.

Die Tatsache, daß es versucht, völlig neue Wege der staatlichen Gestaltung zu gehen, die ständische Gliederung — ein unerhört schwie­riges Gebiet, Neuland, von niemandem noch bis zu Ende durchgegangen, von niemandem noch zur Gänze gelöst — die ständische Glie­derung eben besagt, daß die Auffassung, alle Lasten und alle Verantwortung, die Fülle der Macht und des Rechtes und der Ordnung nur dem Staat aufzulasten, nicht unseren Gedankengängen entspricht, daß vielmehr die Auto­nomie der Stände dazu bestimmt sei, den Staat von der Fülle seiner Aufgaben zu entlasten und dort, wo dies möglich ist, die autoritäre Ordnung durch organisierte Stände zu ersetzen.

Man sage nicht, das sei vorläufig ein Pro­gramm! Gewiß, wer vermöchte im Ernst die Anschauung vertreten, daß dieses ganz große und tiefe Konzept, dessen Gewaltigkeit auch der Gegner anerkennen muß, etwa in einem Jahr praktisch zur Vollendung herangereift und durchgeführt sein könnte? Wir sind am Wege zum Ziel!

Die autoritäre Führung des neuen Staates trägt gleichfalls und soll typisch österreichische Züge tragen. Diese autoritäre Führung soll nach unserem festen Willen und unserer Meinung niemals verwechselt werden können mit Willkürherrschaft. Die autoritäre Führung soll immer einzig und allein bestimmt sein von der Notwendigkeit, von der jeweils zeitgebundenen Notwendigkeit, in ihrem Um­fange und ihrem Inhalte. Die autoritäre Führung kann darum auch niemals nach öster­reichischem Begriff zu jener Toleranz, die mit zum edelsten Verwaltungsgut österreichi­schen Denkens und österreichischen Lebens gehört, in Gegensatz gebracht werden. Die autoritäre Führung darf und soll niemals dazu mißbraucht werden, dort Freiheit zu mindern oder gar zu erschlagen, wo Freiheit möglich und mit den Interessen des Volkes, mit dem Gemeinwohl vereinbar ist. Es ist daher unserer festen Überzeugung nach etwas durchaus Zeitbedingtes und Elastisches, um diese Führung im Staate.

Eine Schranke muß allerdings gezogen sein: Die Toleranz, auf welchem Gebiete auch immer, auch auf dem Gebiete der Wissenschaft und Lehre, auch auf dem Gebiete der Kunst, kann nur so weit gehen, daß die Ge­meinschaft, das Gemeinwohl nicht Schaden leidet.

Die autoritäre Führung, und nur die autoritäre Führung vermag die Garantie dafür zu bieten, daß der Umbau des Staates, die Abkehr von gestern, zum Gelingen geführt wird.

Der deutsche Staat typisch österreichischer Prägung will und kann nicht anerkennen, daß Staats- und Kulturgrenzen gemeinsam seien.

Politische Formungen vergehen, aber der Geist bleibt. Hüter dieses Geistes zu sein, ist Österreichs Ausgabe. In diesem Geist sind die Kulturabkommen zu verstehen, die das neue Österreich teils geschlossen hat, teils zu schließen sich anschickt, deren letzter und tiefster Sinn es ist, daß unsere Kultur hinausgetragen und in ihrer Reichweite vergrößert wird, daß der Geist Goethes und Grillparzers auch andere erfaßt, auf daß sie in Ehrfurcht und Schauer zu ihm aufschauen und es erleben, was es heißt, Dante und Goethe in tiefster geistiger Beziehung — ich wage es zu sagen — vereint zu sehen im Geiste des Imperiums jenes Reiches, das Österreich vertreten hat und dessen letzte Stunde keineswegs geschlagen hat.

Wenn wir uns zum christlichen Staat bekennen, so meinen wir dies zunächst nicht konfessionell im engeren Sinne, sondern wir verlangen, daß, den Tatsachen der Realität Rechnung tragend, der christliche Geist, die christliche Grundauffassung von jedermann im Lande respektiert werde, und daß jeder, der noch Österreich kommt, von vornherein weiß, hier findet er ein Staatswesen, dessen äußeres Bild und inneres Denken nach den Gesetzen christlicher Weltanschauung geordnet ist.

Die christliche Grundanschauung, die der neue Staat seinem Werden zugrunde legt, bedingt zunächst die Anerkennung einer übernationalen Idee, die Anerkennung der Tatsache, daß diese übernationale Idee dem eigenen Volkstum nicht nur nicht schadet, sondern es unendlich befruchtet, und die Feststellung, daß es eine ungeheuerliche Verkehrung der wirklichen Lage wäre, aus dieser Anerkennung etwa auf Volksverrat oder auch nur aus ein minder intensives oder minder überzeugtes Betonen der Volkstumwerte schließen zu können.

All das bedingt die Anerkennung des Ethos, bedingt allerdings ober auch die Ablehnung einer Unterscheidung etwa von heroischer und duldender Moral. Diese Unterscheidung gibt es nicht. Es gibt vielmehr nur zwei Gruppen von Gesetzen, solche, die zeitgebunden sind, und solche, die jederzeit und überall in allen Kulturen gelten.

Die hohe Aufgabe des neuen Österreichs und der Vaterländischen Front im beson­deren ist es, die Ideologie, das Wissen um den tiefsten Grund des Werdens und des Kampfes, des so bitteren Kampfes und Opfers um das Vaterland zutiefst zu verankern und immer weiteren Kreisen zu­gänglich zu machen.

Die kulturelle Aufgabe des neuen Öster­reich ist es, dos kostbare Erbgut zu bewahren, aber nicht etwa sich damit zu begnügen, daß es einmal Generationen gegeben hat, die unerhörte geistige und künstlerische Werte schufen, von deren Ruhm wir zehren, sondern fortwirkend dafür zu sorgen, daß auch das neue Österreich auf dieser geistigen Bahn schreite und künstlerische Marke an sich trage. Es wird vielleicht mehr, als es bisher der Fall war, dafür zu sorgen sein, daß auch die geistige Fortbildung außerhalb des engen Schulbereiches Pflege finde, jene geistige Fortbildung, die verhütet, daß die der Schule Entwachsenen trotz der besten Schulbildung, die man ihnen geben konnte, ein Opfer der Propheten des Halbwissens und der Halb­bildung werden, jene Fortbildung, die es ermöglicht, eigene Meinung zu haben, die die Schulentwachsenen mehr, als es selbst im alten Österreich manchmal der Fall war, in innere Beziehungen zur Bedeutung der Be­griffe Vaterland und Volkstum im Vaterland bringt. Die Mittel, die hierfür aufgewendet werden — auch dazu braucht es der Privat­initiative und privaten Förderung — sind ge­wiß vom Gesichtspunkt des Gesamtösterreichertums nicht vergeblich ausgewendet. Es wird aller Mühe wert sein, zusammen mit denen, die um diese Dinge wissen und selbst schöpfende Künstler sind, nach Wegen zu suchen, um der modernen bildenden Kunst, lebender Musik in Österreich neue Lebensmöglichkeiten zu schaffen. Eine Voraussetzung allerdings ist, daß alle zusammen, jene, denen das Genie gegeben ist, und jene, die sich auf das Genießen beschränken müssen, sich ver­ständigen und verstehen, und daß es nicht zu lange braucht, daß wir uns auf die neue Kunst einstellen können.

Es kommt nur darauf an, ein bißchen Ehrfurcht vor dem Ewigen im Lande, Liebe zur Seele des Landes und Verantwortungs­gefühl gegenüber der Allgemeinheit zu haben. Die Vaterländische Front sei nicht nur ein Instrument der politischen Willensbildung, sondern auch Hüterin und Vorkämpferin österreichischer Kultur. Wir alle aber wollen deren Pioniere sein!

In: Der Tag, 25.5.1935, S. 4.