Hugo Bettauer: Wie man einen Roman schreibt

Hugo Bettauer: Wie man einen Roman schreibt (1923)

             Es gibt Anleitungen zur Herstellung von Schuhen im Hause, es gibt Kochbücher und Broschüren „Wie schreibt man einen Film?“ Aber, es gibt noch immer keinen praktischen Wegweiser zur Erzeugung von Romanen. Und gerade das scheint einem dringenden Bedürfnis zu entsprechen, wenigstens wird jeder, der Romane schreibt, mehrmals täglich von seinen Bekannten gefragt, wie man das eigentlich macht. Ganz Kluge fragen, ob man das alles selbst erlebt habe, andere halten alles kurzweg für Schwindel, manche blinzeln mit den Augen und meinen: „Aha, da hat Ihnen jemand den Stoff gegeben?“ Man wird gefragt, wie lange man die Idee zu einem Roman mit sich herumtrage, wie viel Stunden täglich man schreibt und ein Mann mit einem blonden Vollbart sagte: „Nicht wahr, ein Roman kann man nur schreiben, wenn man täglich ein paar Stunden im Freien umherläuft?“ „Nein“, erwiderte ich, „dann kann man überhaupt nicht schreiben, weil man den Rest des Tages zum Essen verwenden müßte.“

             Aber wie schreibt man wirklich einen Roman? Ich kann die hundertzehn Rezepte hier nicht veröffentlichen, aber immerhin stelle ich eine kleine Auswahl zur Verfügung. Zuerst muß man sich entschließen, ob man einen historischen, humoristischen, phantastischen, einen aktuellen oder gar einen Konjunkturroman schreiben will. Vor historischen und humoristischen sei gewarnt, Sie sind langweilig und außerdem stellt sich nachher gewöhnlich heraus, daß sie schon ein anderer vorher geschrieben hat. Für den aktuellen gehört eine tüchtige Stenotypistin, weil er rasch fertig sein muß, der Konjunkturroman kann ein gutes Geschäft sein. Je nachdem, läßt man eine deutsche Frau im besetzten Gebiet von schwarzen Unholden ermorden oder man tritt gegen den Mutterschaftszwang ein, für die gleichgeschlechtliche Liebe, für oder gegen die Republik. Man muß eine gute Witterung haben, um immer zu erraten, was die Leute wünschen. Den Familienroman kann man momentan nicht schreiben, weil auf ihn die Courths-Mahler ein deutsches Reichspatent genommen hat. Hingegen findet der erotische Roman noch immer seine Abnehmer, vorausgesetzt, daß in ihm die Erotik sanft verteilt ist. Im erotischen Roman muß unbedingt eine Verführung, eine Vergewaltigung, ein dämonisches Weib, ein perverser Lüftling, eine Berliner Bar und eine ausgesprochene Kokotte vorkommen. Hauptsache sind viele – – – -, gerade dann, wenn etwas passieren soll, weil das die Phantasie der braven Hausfrauen und jungen Mädchen, die die Hauptkonsumentinnen erotischer Romane sind, am angenehmsten anregt.

             Flau ist das Geschäft für den phantastischen Roman. Er hat mit dem Golem seinen Höhepunkt erreicht, konnte dann noch einige Jahre den Büchermarkt belästigen und interessiert heute keine Katz mehr. Für den, der es doch versuchen will, sei hier eine kleine Anleitung gegeben: Man versetze in die reale, dreidimensionale Welt irgend etwas vollständig Unmögliches. So zum Beispiel läßt man jemanden eine Glaskugel bekommen, die ihm die Ereignisse des nächsten Jahres verrät oder einen Regenschirm, der alle Wünsche erfüllt oder eine Tante, die Funken sprüht, wenn man sie kitzelt. Und der Held des Romanes, der die Glaskugel, den Regenschirm oder die Tante besitzt, bekommt dadurch eine ungeheure Macht, viele Millionen (Friedenswährung), alle Frauen, die ihm gefallen, bis ihm – warum erfährt der Leser nicht genau – mies wird und er sich umbringt. Es gibt aber da tausende Varianten, auch ganz moderne, zum Beispiel könnte ich mir eine Schreibmaschine vorstellen, die immer das Gegenteil von dem schreibt, was man will oder einen Gänsekiel mit magischen Ausstrahlungen oder einen Hühneraugenring, der, wenn man ihn auf der kleinen Zehe dreht, einen unsichtbar macht.

             Nun gibt es noch eine große Schwierigkeit zu überwinden. Wie werde ich breit? Was nützt einem der schönste Stoff, wenn aus ihm ein Feuilleton oder höchstens eine Novellette wird? Bücher sind heutzutage sehr teuer, der Käufer will für sein Geld etwas haben, 280 oder 300 Seiten sind das, was der Verleger von einem tüchtigen Romanschreiber verlangt. Es gibt da nun unter den Schriftstellern geradezu geniale Maßschreiber, die aus einem so kleinen Stoff einen so langen Roman herstellen können. Routiniers der epischen Breite. Ich kenne einen, der hervorragendes aus diesem Gebiete leistet. Aus einem Seufzer macht er eine ganze Seite, der kleinste Fehltritt wird zum Druckbogen. Hier ein Beispiel, aus dem man lernen kann:

             Man kann sagen: Adolf hatte mit Emmi um fünf Uhr Rendezvous. Da es erst vier Uhr war, ging er noch ins Kaffeehaus und schlug die Zeit mit der Lektüre der Hebammenzeitung tot.

             Der breite Epiker aber macht das so: „Adolf blieb stehen, knöpfte seinen Winterrock auf und zog seine Glashütte-Uhr, ein Geschenk seines Taufpaten. Die Zeiger wiesen auf vier. Also noch eine ganze Stunde. Volle sechzig Minuten mußte er warten, bevor er Emmi umarmen konnte. Was tun? Wie ekel ist doch das Leben, sagt sich Adolf und schlenderte langsam durch die Stadt, bis er zum Café Herrenhof kam. Zögernd überlegte er. Nur langsam entschloß er sich, das mit Menschen und Gerüchen erfüllte Lokal zu betreten. Er zwängte sich in die Drehtüre hinein, die ihm wie das Symbol der menschlichen Tretmühle erschien und stand unschlüssig inmitten des Stimmengewirres und Lichtermeeres. Adolf wählte einen kleinen Tisch in einer Ecke und klopfte nervös mit dem Siegelring, einem Geschenk seines verstorbenen Großonkels, der in Brünn einen Tuchhandel betrieben, auf die Marmorplatte. Einmal, zweimal, dreimal. Endlich kam der Kellner.“

             Weitere 2 Seiten vergehen mit der Schilderung der Bestellung, des Ankaufs einer Semmel für 520 Kronen (früher hat man einmal dafür zehn Ziegen und Shakespeare in Leder bekommen), endlich ist es beinahe fünf Uhr geworden und Adolf geht. Dies wird so geschildert:

             „Nervös erhob sich Adolf und griff nach seinem Hut. Bevor er ihn aufsetzte fuhr er mechanisch mit der Hand über den Filz, wobei er Emmis Bild vor sich sah. Dann nahm er den Winterrock vom Haken, schlüpfte behend in ihn hinein, zog die Handschuhe aus Antilopenleder an und verließ voll fröhlicher Erwartung das Kaffeehaus.“

             Macht man das so, so bekommt man unbedingt einen vollen, ganze Roman zusammen, einen Roman von 280 oder 300 Seiten, einen Roman, den man einen großen nennen kann.

             Lieber Leser, setz dich an den Schreibtisch, tue desgleichen, schreib einen Roman, aber schick ihn um Himmels Willen nicht etwa mir zur Beurteilung ein.

In: Der Morgen, 1.1.1923, S. 5.