Kurt Münzer: Diktatur der Jugend (1927)

Kurt Münzer: Diktatur der Jugend

Die folgenden Ausführungen Kurt Münzers stehen sicherlich nicht in Widerspruch mit den Bestrebungen, die eine stärkere Heranziehung und Förderung des wirklichen jungen Talents beinhalten.

Altern – einmal fast die Sehnsucht der Verständigen, selbst der Stürmischen – altern, also ernten, überblicken, resümieren: heut ist es Gespenst geworden. Die Frauen, einst ihren weißen Haaren, grauseidenen Roben, Enkeln und Lehnstuhl am Fenster glücklich entgegenalternd, kürzen heut mit jedem Jahrzehnt ihren Rock, halten entschwindende Wangenröte übertrieben fest, tragen die Haare à la Bubi, ziehen an, was den Töchtern zu jugendlich ist, flirten mit Fünfzig in Hotelhallen, auf Schiffdecks und Aussichtsterrassen. Sie lernen Black-Bottom und machen aus dem Schwiegersohn einen flotten jungen Herrn.

Künstler, einmal ihrer Reife froh, gesättigte Alterswerke gelassen vollendend, ihre Dichtung logisch zur höchsten Stufe der Entwicklung führend, ihre Bilder klassisch die Anfänge ihrer Jugend verklären lassend: heut fürchten sie, überwunden zu sein, altmodisch, abgeschmackt, von gestern. Sie lernen um, wo sie einst Lehrer ihrer Errungenschaften wurden. In den Jahren der Meisterschaft werden sie wieder Lehrlinge, sie bemühen sich um den neuen Stil, um die Mode des Jahrhunderts oder Jahrzehnts oder des Jahres, sie verleugnen ihre Götter und tanzen, dennoch altersschwach, um die Götzen des Tages, sie brechen mit sich selbst, brechen sich selbst die Treue, werfen sich in das Gewühl der Jugend, den Kampf der Werdenden, die Ekstasen der Dilettanten.

Man schämt sich, alt zu werden. Man fürchtet, erkannt zu werden als Generation von damals, als Traditioneller, als stetig sich Vollendender. Man marschiert unter fremden, andersweltigen Fahnen: die Menge läuft ja mit. Zurückbleiben? Warten, bis die Einsichtigen um uns wiederkehren? Was glauben sie, zu versäumen? Die Zeit… Ach, die Zeit! Ist das Werk nicht wichtiger? Und haben wir es nicht erlebt? Sie kehren um und wieder! Einmal geht die Sonne über den herrlichsten künstlichsten Lichtern auf, einmal verfault die Erfindung doch in der Glut organisch gewachsenen Seins. Alles zerstiebt, alle zerstreuen sich. Das Große, das Gewordene bleibt und zieht an.

Und dennoch: Wir laufen ihr nach! Ach, wie verirrt müssen wir sein, daß wir von der Jugend uns führen lassen! Und da es Jugend ist, ist es nur Verführung, übermütige Irreführung der Gutgläubigen, der Ratlosen. Niemand leugnet ihre historische Notwendigkeit, ihren schöpferischen Stachel, ihre revoltierende Aufrüttelung. Wir brauchen der Jugend alles enthaltendes Chaos, ihre stürmische Kritik, ihre anarchistischen Widerstände. Aber was nur ein Element der Zeit sein darf, ein Teil des Schöpfungsstoffes, macht sich zurzeit selbst zum allein gültigen schöpferischen Prinzip; und die alten Dichter und Weisen stehen frierend im Winkel.

Herrlich, Freunde, ist die Jugend, ihre Grausamkeit bezaubernd, ihr Übermut göttlich, sie ist zu lieben auch in ihrer Ausschweifung, anzubeten auch in ihren Stürzen Aber – darf sie uns Führer, Tyrann, Gott selbst sein? Bezaubernd sind ihre Unternehmungen, mögen sie sich in Kunstsalons, Theatern, auf Wiesen, Wanderungen, Festen abspielen. Bezaubernd fast noch ist selbst ihre Art, das Alte zu entthronen, ihre Frechheit, mit dem Ewigen abzurechnen, ihre Unbedenklichkeit, sich zu inszenieren, sich zu proklamieren, ihren Imperialismus unbeschränkt zu bekennen. Und haben sie nicht recht? Der Diktator, der sich durchsetzt, die zu dem sie schwören, ist im Recht. Hat er es auch nicht: die Menge gibt es ihm.

Seht euch um: Welcher Theaterdirektor wagt es, ein Programm ohne Zwanzigjährige zu gestalten? Welcher Verleger fürchtet nicht, ausgeschaltet zu werden, wenn er nicht stammelnde Unreife eines Abiturienten in Pappe, Leinen und nummeriertem Leder bringt? In Symphoniekonzerten, die sich zu Bruckner entschließen können, winseln atonale Halluzinationen von Lehrlingen und an den Wänden der Ausstellungen hängen gegenüber von Munch, Degas und Liebermann Kinderzeichnungen. Jugend wird zum Meister erhoben, Stilübung zum Werk; täppisches Lallen ist die neue, die vollendete Sprache, ungehemmte Klänge die neue Musik.

Ihr habt die Jugend verwöhnt, wie ihr einen Meister verwöhnt habt. Nun ist sie abscheulich verzogen. Sie krittelt bis zur Dummheit, sie verwirft alles, was nicht von ihr kommt. Sie vergißt, daß sie auch im Wachsen ist, und macht – mit eurer begeisterten Zustimmung – die Flegeljahre zum Ziel der Entwicklung.

Durchgangstadien, die man früher scham- und rücksichtslos verschwieg, produzieren heut die Kunst des Tages. Alles ist verkehrt, auch das Schamgefühl. Einst redete man nicht von der Pubertät, man wartete das Ergebnis ihrer Krisen ab. Heut sind die Krisen in Büchern festgehalten, in Bildern gemalt, in Dramen ausgeführt. Die Qual, die Unappetitlichkeit, die Zwitterhaftigkeit und Peinlichkeit des Werdens ist künstlerisches Objekt, das Gereifte, Harmonische, Geklärte ist veraltet, lächerlich und fluchwürdig. Nicht mehr das Geborne, sondern die Geburt ist Sinn und Ziel, die Schwangerschaft wertvoller als die reife Frucht.

Ja, ich weiß wohl: Jugend ist das beste und einzige Mittel gegen die Verkalkung des Weltgeistes, der Herzarterien der Menschlichkeit. Aber sie ist nur ein Mittel. Jetzt läßt man es um seiner selbstwillen gelten und schlürft es wie himmlischen Trank.

Alte Weiber zeugen die besten Söhne. War Jugend jemals, kann Jugend in großem Sinne schöpferisch sein? Die Werke unserer Klassiker, die sie mit zwanzig schufen… Ach, ihr Lieben, das ist ja wohl das Merkmal des Genius, daß er schon in der Jugend die wunderbare Reife hat, daß schon die Jugendarbeit die Fügung der Altersweisheit und höchsten Kunsteinsicht hat, während die zwanzig Jahre dem vollendeten Ganzen nur den Flaum, den Duft geben.

Wo haben wir heute das Werk eines Jungen, das die Jünglinge von 1930 noch lesen werden? Ist nicht, was vor fünf Jahren den harmlosen Mitmenschen auf den Kopf stellte, heut schon vergessen, begraben? Über dem Brio eines Werkchens übersehen wir die Leere des Gehaltes. Im Tempo vergessen wir, daß das Thema ein Nichts ist. Das, was an einem Jugendwerk positive Leistung ist, ist immer über Jugend hinaus Gereiftes, ist Altersanwandlung, Vorglanz späterer Meisterschaft.

Sieht die Jugend die Welt nicht falsch an? Ausschließlich vom Standpunkt ihrer saftigen Beine, mit dem Kraftgefühl ihrer trainierten Arme, mit dem Lustgefühl ihrer erlaubten Sinneskräfte? Der Boxer ist Heros und der Ingenieur Weltüberwinder. Der Kanalschwimmer wird von Königen und Präsidenten begrüßt. Der Chauffeur bekommt Banketts und der Läufer Denkmäler. Und der Geist?… Motoren und Maschinen zermalmen ihn schnell. Die Tänzerin schreibt ihre Memoiren und der Filmstar bekommt seine Literatur, denn er kann nicht selber schreiben und zufällig hat er nicht, wie die Tänzerin, einen Dichter, der ihn liebt und ihm das Manuskript liefert. Alles dreht sich. Zurzeit stehen wir auf dem Kopf.

Sie hassen die Jugend. Glauben Sie mir: die meisten hassen sie. Sie sehen ein: auf die Dauer können sie doch nicht mit ihr mithalten. Man verleugnet sich; aber so was kann nicht Dauerzustand werden. Es kommt das Capua der Mitläufer. Oder: wird die Jugend noch früher innehalten, sich bewußt werden, einsichtig werden sich auf ihre Sonderrechte beschränken und höflich Platz machen vor grauen Haaren und wankendem Gebein? Wird sie?

Warum – o, warum, warum schämt man sich, alt zu sein? Innerlich ihr abgewandt – ach, wie unehrlich ist der öffentliche Mensch! – bekennt man sich zur Jugend um selbst noch zu ihr zu gehören. Man will sich nicht „alt“ schelten lassen. O, daß es ein Schimpf geworden ist, fünfzig zu sein! Ich – ich gebe für ein Buch Wassermanns die ganze Bibliothek unserer Zwanzigjährigen her und für ein Finale Bruckners, ein Scherzo Mahlers die ganze erdachte Musik unserer Komponistensäuglinge.

Nichts ist beglückender – und gerade für das Alter – als Jugend zu erleben, ihren Überschwang, ihren Übermut, ihre anfeuernde Torheit und Begeisterung, aber nicht ihre unverständige Tyrannis. Unser Schoßkind macht sich zu unserem Diktator. Und wir werden erliegen, wenn wir es nicht bald wieder in unseren Schoß niederzwingen. Holen wir die versteckte Rute hervor. Schämen wir uns nicht. Weisheit, geläuterter Wille, erprobtes Können, der größere Horizont, weitere Einsicht und also gereinigte Schöpferkraft ist nur bei den Älteren. Denn die haben das ewige Leben, die Jugend aber nur das unaufhörliche Erlebnis.

In: Neue Freie Presse, 15.5.1927, S. 31.