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Oskar M. Fontana: Der Kampf um das Buch

Oskar M. Fontana: Der Kampf um das Buch (1928)

             Eine Zeitlang schien es, als sterbe der „liebe Leser“ in Deutschland langsam, aber unerbittlich aus, als bauten die Verleger am Bücherturm nur aus Gewohnheit weiter. Wer nicht Fußball spielte, tanzte. Wenn schon etwas gelesen werden mußte, weil man nicht einschlafen konnte, las man Magazine. Die vermehrten sich wie die Fliegen. Für ein Novellenbuch war und ist kein Käufer zu finden, aber für ein Magazin mit Kurzgeschichten, also auch Novellen, waren und sind tausende Leser zu finden.

             Es ist gesund und erfreulich, daß der Mensch endlich wieder einmal gemerkt hat, daß er einen Körper besitzt und daß er ihm ein Daseinsrecht geben muß. Aber es ist ungesund und unerfreulich, daß er darüber ebenso den Geist vergessen hat so wie ein früheres Stubenhockergeschlecht den Körper. Oberflächlichkeit ist ebensowenig ein Ziel wie Ästhetizismus.

             Was geschah von „Amts wegen“, um dieser drohenden Abwanderung der Heutigen ins belanglose Banale einer zu nichts verpflichtenden Magazinswelt zu begegnen? Nichts geschah. Der Staat hielt und hält ein paar Theater aus in der lächerlichen Überschätzung der Kulissen. Damit glaubt er seinen Verpflichtungen gegenüber der Dichtung und der Literatur erfüllt zu haben. Er deckt das Defizit, sorglos kann also „Alt Heidelberg“ oder „Das Duell am Lido“ gegeben werden. Denn die Theater, auch die Staatstheater, müssen gefüllt werden und so zahlt der Staat dafür, daß Publikumsstücke gespielt werden können. Deutschland gibt für seine fünf oder sechs Staatstheater jährlich 15 Millionen Mark aus. Diesen Millionen stehen 10.000 Mark gegenüber als jährliche Gesamtsumme der Aufwendungen für Literaturförderung.  (Österreich wiederholt dieses groteske Verhältnis im Kleinen.) Der Staat, mit den Repräsentationspflichten und Lasten des Theaters beladen, merkt gar nicht, daß das Buch und damit die geistige Spannkraft seines Volkes bedroht ist. Es kümmert ihn nicht.

             Merken es die Parteien? Kümmert es sie? Nicht im mindesten. Sie haben keine Zeit für solche „Kleinigkeiten“. Sie verurteilen die Kräfte, die innerhalb des Parteigefüges für eine Erhaltung des lebenden alten Schrifttums und einen durchsetzenden Vorstoß der neuen Autoren sorgen könnten, zur Einflußlosigkeit. Und so kommt es, daß eine Wiener sozialistische Wochenschrift für Frauen einen Roman von der Marlitt bringt. Widerspruchslos. Wo hört die Bourgeoisierung des Geistes auf? Wo beginnt sie?

             Die Not des deutschen Buches wird nur von den Verlegern bekämpft. Nicht aus Idealismus natürlich, sondern aus Wirtschaftsgründen. Sie kämpfen damit um ihre Existenz. Der Schriftsteller, als der ökonomisch Unselbständige, konnte diesen Kampf gar nicht aufnehmen, selbst wenn er ihn ahnte, außerdem blieb ihm der rettende Ausweg in die Zeitung offen. Der Verleger aber hat keine anderen Möglichkeiten, als die im Kapital und im Buch enthalten sind. Das Mißverhältnis zwischen beiden wurde in den letzten Jahren immer größer. Der Verleger begann das sehr heftig, sehr unangenehm zu spüren. Er mußte sich aus Selbsterhaltungstrieb dagegen zur Wehr setzen und wurde dadurch der einsame Schützer des Buches.

             Von der einen Seite her geht der Kampf um die Bewahrung der feinsten, gebrechlichsten und am „überflüssigsten“ scheinenden Literatur, das heißt um Lyrik und um jene Form von Epik die aus einem inneren Gesetz oder einem inneren Mangel – gleichviel – sich nur an wenige wenden kann und die doch das Recht hat, gehört zu werden, und der gegenüber die Gesellschaft die Verpflichtung hat, sie am Leben zu erhalten. Hans Martin Elster, der nicht nur Verleger ist (Horen-Verlag), sondern auch Schriftsteller, kommt diesem am meisten bedrohten Flügel der Literatur mit der Forderung nach seiner Schaffung einer Notgemeinschaft deutschen Schrifttums zu Hilfe. Er verweist als Beispiel auf die Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, die glänzend arbeitet und durch die Beistellung von Geldmitteln Publikationen ermöglicht, die sonst nicht hätten ediert werden können.

             Mit Recht scheint ihm ein Zustand absonderlich und unwürdig, der wohl den über den Dichter Schreibenden schützt, den Dichter selbst aber für sich allein sorgen, also verkommen läßt. Eine Notgemeinschaft des deutschen Schrifttums kann, indem sie einen Teil der Herstellungskosten übernimmt, bewirken, daß wieder Lyrik, daß wieder sucherische oder abseitige Dichtung gebracht werden kann, und daß ihre Autoren wieder zu leben vermögen. Die Widerstände gegen eine solche Notgemeinschaft kommen von Beamten, von Administrativen, die ihre Schreibtische für wichtiger halten als eine ganze Generation von Schriftstellern. Dennoch scheint mir eine Notgemeinschaft des Schrifttums nicht mehr aufzuhalten. Sie ist notwendig. Sie wird sich durchsetzen.

             Von der anderen Seite wird der Kampf um das Buch mit der Idee der Demokratisierung des Buches geführt. Es ist zu teuer geworden, es steckt in seinen Kalkulationen, in seiner Produktions- und Verkaufsweise noch immer in der Postkutschenzeit. Auch das Verlagswesen hat erkannt, daß es „Massen“ gibt, und daß diese mit ihren eigenen Mitteln erfaßt werden müssen. Organisierung der Kaufenden versuchten die Buchgemeinschaften. Ihre Gefahr: Sattheit, Schwerfälligkeit, Zaghaftigkeit haben sie bisher nicht überwunden. Die Organisation wurde ihnen letzten Endes wichtiger als der Geist.

             Die Demokratisierung des Buches macht erst der Verlag. Th. Knaur Nachf. in Berlin zur Wirklichkeit. Er ging von dem Gedanken aus, daß das deutsche Buchwesen im Gegensatz zum französischen nicht auf Broschüren, sondern auf dem gebundenen Buch beruhe, daß also dieses zum billigsten Preis hergestellt werden müsse, wenn Deutschland wieder für das Buch erobert werden solle. „Die Romane der Welt“ begannen im Vorjahr in diesem Sinne zu erscheinen und jetzt läßt der Knaur-Verlag ihnen die Standard-Bücher folgen, das sind Romane und wissenschaftliche Werke dauernder, klassischer Art. Hier wie dort ist das auf gutem Papier klar gedruckte Buch in Ganzleinen gebunden und kostet einheitlich 2 Mark 85 Pfennig (nicht ganz 5 Schilling). Den Romanen der Welt konnte Ungleichheit des Niveaus und Favorisierung der Ausländer vorgeworfen werden (trotzdem: sie brachten Joseph Hergersheimer, O’Flagerty, Walter Mehring, Sinclair Lewis – mutige und kühne Werke). Die Standard-Bücher sind dem Streit der Meinungen entrückt. Sie bringen Ewiges wie Dante und Dostojewski, ein deutsches Volksbuch wie Freytags Bilder aus der deutschen Vergangenheit, sie versuchen Jakob Burckhardts Kultur der Renaissance, bisher nur unter den „Gebildeten“ berühmt und geliebt, auch unter die Massen zu bringen – es ist der erste Versuch, nach Haeckels Welträtseln, ein wissenschaftliches Werk zu popularisieren – ein sehr ernster Versuch, dem entscheidende Bedeutung zukommt.

             Die Standard-Bücher bringen auch den ganzen Konrad Ferdinand Meyer, der bisher auf dem Ehrenfriedhof des deutschen Buchhandels ruhte. Diese vier Einzelbände, deren erster den Jürg Jenatsch und Angela Borgia, deren zweiter die Gedichte Huttens letzte Tage und Engelberg, deren dritter die Novellen und deren vierter den Heiligen und die Versuchung des Pescara bringt, sind eine sehr große Leistung. Im Wirtschaftlichen: jeden der Bände dieser vorbildlichen Art zu dem billigsten Preis herauszubringen und ohne den Zwang, alle vier gleichzeitig abnehmen zu müssen. Im Geistigen: weil hier ein großer deutscher Schöpfer endlich die Stoßkraft erhält, die ihm gebührt.

             Der Verlag Th. Knaur Nachf. hat zur Verbilligung seiner Ausgaben von Ford das Produktionsprinzip des rollenden Bandes übernommen, aber auch die Grundidee. Dem amerikanischen Motto: „Jedem sein Auto“ entspricht hier: „Jedem sein Buch“. Amerikanismus, ins Deutsche umgebogen. Es ist dadurch bewiesen, daß Bücher von innerer und äußerer Qualität zu billigstem Preise hergestellt werden können und daß dann die Leser, die es fast nicht mehr gab, wieder da sind. Und das ist das sehr Wichtige an dem Versuch des Knaur Verlages. Daß 400.000 Bände seines Konrad Ferdinand Meyer innerhalb einer Woche vom deutschen Buchhandel und seinen Käufern verschluckt wurden, ist mehr als ein persönlicher Erfolg – der bekümmerte die Allgemeinheit kaum –, vielmehr der in der Wirklichkeit vollzogene Beweis einer bisher geleugneten billigen Herstellungsweise, und die Tatsache des Erfolges wird die deutschen Verleger zur Umstellung ihrer Produktion zwingen. Es gibt ihn wieder. Er ist da. Jede Schlacht um den Leser ist aber ein Sieg des Buches. 

In: Der Tag, 4.3.1928, S. 3.