Robert Neumann: Tollwut an der Börse. (Auszug aus: Sintflut) (1929)

{glossary-ignore]Robert Neumann[/glossary-ignore]: Tollwut an der Börse. (Auszug aus: Sintflut)

Die Riesenkrache an der New-Yorker und der Londoner Börse erinnern an eine Börsenszene aus Robert Neumanns erstem Werk, dem Inflationsroman „Sintflut“. Diese Szene, die ein packendes Bild des verrückten Börsenfiebers gibt, bringen wir nachstehend mit Erlaubnis des Verlages J. Engelhorns Nachf. zum Abdruck.

             Ein Diener ging durch den Saal und schnarrte: „Bauch! Karl Bauch! Karl Bauch, Telephon! Herr Bauch! Bauch! Herr Bauch!“ Die Sensale sperrten ihre Bogen und Bücher ein und kamen in die Kulisse herüber, Schlußkurse ermitteln, kaufen, geben für eigene Rechnung. Niemand dachte daran, den Saal zu verlassen. Die Nachbörse tendierte weiter nach oben. Was Klein anlangt, so stand er neben mir mit schiefer Schulter und hängenden Armen, blaß, matt. Wir zogen uns nach der Exotenkulisse. Pollak stand dort noch immer mit fünf, sechs anderen und handelte Abel. Sie waren auf 480 zu 520. Klein gab tausend Stück zu 510. Namen weniger bekannter Papiere schwirrten da durcheinander; kein Tag verging, daß nicht ein paar neuen aufgetaucht wären. Ein magerer, ärmlicher Mensch mit Bartstoppeln sagte: „Schweizer Glas. Ich gebe Schweizer Glas mit 210. Mit 210. Ich geb‘ mit 210.“ Niemand beachtete ihn. Er sagte: „Ich geb‘ Schweizer Glas mit 200.“ Klein horchte auf. „Ein Schweizer Papier?“ fragte er nah meinem Ohre. Ich hatte den Namen nie gehört. Er sagte: „Kaufen Sie.“ Ich bekam sie zu 195, hundert Stück. Klein sagte laut: „Ich nehme Schweizer Glas mit 230!“ Aus einem Winkel kam Ware. „240!“ Der Unrasierte brachte noch 200 Stück. Klein schrie: „Schweizer Glas! Ich nehm‘ mit 250! Mit 250! Mit 280!“ Ein Fetter, Haarloser sagte: „Mit 320 ist bei mir Ware.“ „Wieviel?“ „Tausend Stück.“ Klein warf die Hand hoch, schrie: „Tausend Schweizer Glas an mich mit 320!“ Das Geschäft in Hochdorfern war eingeschlafen. Um uns standen zehn, fünfzehn Menschen. Einer schrillte: „Geld auf Schweizer Glas 330! 340!“ Bei 360 kam Ware, fünfhundert Stück von einem kleinen Bankier. Weitere zweitausend nahmen die Käufer auf, die uns nachspielten. Klein ward die Hand hoch, gellte: „400! 400! 400!“ Er bekam zweitausend Stück. Um uns standen dreißig Menschen und schrien. Man kaufte zu 450 und zu 480. Die gaben, waren Agenten, kleine Bankiers. Dann schob Fischer seinen breiten Bau in eine Bresche, der Kontermineur stand da, tat den Mund nicht auf. Klein schmiß die Hand hoch, gellte: „480!“ Neben mir sprachen zwei. Einer fragte: „Was ist Schweizer Glas?“ Der andere sagte: „Klein weiß, was er tut. Man kann mitgehen.“ Einer kaufte mit Gebrüll bis 530. Klein hob sein Gesicht zu mir, sagte blaß: „Man jagt den Kurs hoch. Drüben steht Fischer und wartet. Wir müssen stabilisieren. Lassen Sie kaufen.“ „Wieviel?“ Er warf mir einen schrägen Blick zu und sagte knapp: „Soviel Sie bekommen werden.“ Ich fing mir Fenichel bei den Alpinen, gab Auftrag. Er stieß ins Gelände vor, mit kraftlosen Ellenbogen, warf Finger hoch, kreischte greisenhaft: „540! 540! Geld 540!“ Klein brüllte sehr vernehmlich: „Ich geb!“ Fenichel stand verblüfft und übernahm hundert Stück. „540!“ rief er noch einmal. Klein brüllte: „Ich geb!“ Fenichel notierte unruhig, offenen Mundes, und warf mir einen hilflosen Blick zu. „Ich geb!“ rief Klein. Viele lachten, Einer sagte sehr vernehmlich: „Ein Schwindler!“ Klein stand fleckigen Gesichtes. Die Hausse war gebremst. Die zwanzig, die uns noch umstanden, fanden sich nicht zurecht und warteten. Einer legte kleinlaut noch einmal Geld. Klein brüllte: „Ich geb‘ mit 540! Mit 530! Mit 520!“ Man lachte. Einer sagte: „Mahlzeit, ich geh‘.“ Da tat Fischer drüben den Froschmund auf und quarrte: „Ich geb‘ mit 500, – Ich geb‘ mit 480. – Ich geb‘ mit 460!“ Klein hob sein Gesicht zu mir: „Er konterminiert. Wo stehen wir?“ Ich addierte. „Wir haben siebzehntausendzweihundert Stück gekauft.“ Klein, mit zuckendem Mund: „Dann muß ich den Kurs halten.“ Fischer trompete drüben: „Ich geb mit 400.“ Klein kreischte: „An mich!“ Man merkte auf.

             Nun wurde es ernst. Fischer gab zu tausend und tausend Stück. Klein nahm alles. Fischer gab zehntausend zu 380. Klein übernahm und legte Geld bei 410. Fischer gab zehntausend und bot zwanzigtausend zu 370. Klein übernahm. Dreißig, vierzig Leute umstanden uns, gaben leer ab, spielten Fischer nach bis 340, 330, 300. 295 kam neue Ware. Klein, heißer, weißen Gesichtes, die Krawatte aus der Weste gerissen, Schweiß auf der Stirn – Klein übernahm. Es half nichts. Der Kurs glitt auf 220, 200. Fischer trompete: „180!“ Klein keuchte mir ins Ohr: „Die Rechnung!“ Um Gottes willen – die Rechnung!“ Ich addierte dann leise: „Wir haben zweihundertvierundzwanzigtausendachthundert Stück Schweizer Glas gekauft. Durchschnittlich zu 385.“ Fischer trompete: „175! 170 ist bei mir Ware!“ Klein wankte leicht. Er lehnte sich an mich und flüsterte: „Zu Ende. Wir werden nicht zahlen können.“ Und laut// kreischend, losgelassen: „Ich kaufe! Ich kaufe zu 175! Zu 180!“

             Da kamen hinten zwei von den Telephonen, drei, vier. Einer rannte vorüber, schrie: „Der Londoner Schlußkurs! Die Krone 36.400!“ Einer rief, ein Fetter: „Von gestern auf heute die Hälfte!“ Vogel von Vogel junior zog die Brieftasche, nahm Geld in die Finger, schrie: „Dreck ist das! Dreck! Leeres Schreibpapier ist mehr wert!“ Einer lachte. „Leeres Klosettpapier!“ Groß von Bock in Budapest schrie: „Geld auf Rima!“ Er rannte. Einer mit einem Geierkopf schnarrte: „Man muß kaufen, was man bekommt.“ Da warf Samuel Klein beide Hände hoch und kreischte: „Ich nehm Schweizer Glas zu 200! Zu 250!“ Fischer blieb stumm. Einer schrie: „Ich kauf zu 280! 280! 280!“ Leute kamen herüber, drängten sich, Klein kreischte: „300 Geld!“ Man bekam keine Ware. Ein paar Schlüsse standen 320. Drüben tat Fischer das Froschmaul auf und sagte: „Ich seid alle verrückt.“ Einer kreischte ihm Unverständliches ins Gesicht. Ein Ziegenbart meckerte: „Er hat ihm nachgespielt.“ Man kaufte zu 350, 380. Einer drohte Fischer mit beiden Fäusten und schrillte: „Nicht ein Stück hat er! Er hat leer abgegeben!“ Fischer legte mit blassen Lippen 400 Geld. Man schrie, schmiß Hände hoch. Bei 520 wurde Fischer von seinem Schwiegersohn forgeführt. Der Ziegenbart kaufte noch bei 580. Hände flackerten. Eine Dogge bellte 600. Bei 610 gab Klein die ersten zehntausend Stück. Die Dogge brüllte 630. Klein gab. Der Geier hackte herüber und kaufte zwölftausend zu 610. Andere kreischten, Ibisse, Iltisse, Marder. Klein gab. Schweiß troff, ein Hemdkragen lag auf dem Boden, einer kletterte an einem anderen hoch und schrie. Der Geier krächzte 710, die Dogge geiferte 770. Klein gab. Eine Glocke bimmelte. Ein Diener schnarrte: „Bauch! Herr Bauch, Telephon!“ Einer stolperte mit Gebrüll. Einer faßte einen an der Schulter und spie ihm Ziffern, Ziffern, Ziffern aus dem aufgerissenen Mail um die Stirn. Eine Wasserleiche spreizte Finger und griff. Ich addierte. Wir hatten glattgestellt, mit wahnsinnigem Nutzen. Ich ergriff Klein am Arm und riß und schleppte ihn durch die Balgenden nach der Tür.

             Im Rauchsalon sank er um. Ich bettete ihn auf das Plüschsofa und gab ihm Schnaps. Der Reporter einer Börsenzeitung schoß herein und griff nach uns. „Was wissen Sie über Schweizer Glas?“ keuchte er. „Welche Informationen haben Sie über Schweizer Glas?“ keuchte er. „Es ist doch richtig,“ keuchte er, „daß das die Braxer Strickwarenfabrik Schweizer & Glas ist? Aber das Unternehmen steht doch, hör ich, vor dem Konkurs?“ Klein lachte schrill und lachte noch, als ich ihn ins Automobil hob.

In: Arbeiterwille, 1.12.1929, S. 7-8.