m.f.: Wer ist der Antichrist?

m.f.: Wer ist der Antichrist? (1933)

Die Herkunft der „Protokolle“
In der weiteren Erwiderung auf die ver­leumderische Schrift Das Judentum und die Schatten des Antichrist müssen wir vorder­hand die „ritterliche“ Person des Herrn Ritt­er beiseite lassen und uns etwas näher mit dem Werke befassen, das für ihn ein zweites Evangelium zu sein scheint und das er übri­gens in ganzen Kapiteln abschreibt: mit den Protokollen der Weisen von Zion. Ist die Echtheit der „Protokolle“ wirklich so unan­fechtbar, wie es Gaston Ritter[1] seinen Lesern einzureden versucht? Wir bezweifeln es, ja noch mehr: Wir können Beweise erbringen, die jedermann nachkontrollieren kann, daß die „Protokolle“ gefälscht sind. Sie sind die größte, wahnwitzigste, gemeinste Fälschung des Jahrhunderts.

In deutscher Sprache erschienen sie zum ersten Male im Jahre 1918. Ihr Herausgeber und Übersetzer war Gottfried zur Beek[2]. Dieser Herr erzählt über die Her­kunft der Protokolle folgendes: Sie wur­den im Jahre 1897 in Basel, in geheimen Sitzungen des ersten Zionistenkongresses ver­lesen. Davon hat die Außenwelt nichts erfahren, nur Zar Nikolaus II. hat Wind davon bekommen. Flugs hat er einen Agenten nach Basel geschickt, dem es gelungen ist, für schweres Geld eine Abschrift der Protokolle zu bekommen. Diese Abschrift wurde dann einem gewissen Sergej Nilus[3]übergeben, der sie ins Russische über­setzt hat.— Herr zur Beek beruft sich also auf die russische Originalausgabe, die im Jahre 1905 gedruckt wurde. Diese Jahreszahl muß stutzig machen. Die Protokolle sind doch an­geblich 1897 gekauft worden. Waren sie so unwichtig, daß man sie unveröffentlicht sieben Jahre in der Schublade liegen ließ?

Diese Tatsache allein ist schon unbegreif­lich. Aber nur Geduld: es kommt noch besser! Riluß erzählt folgendermaßen, wie er in den in den Besitz der Protokolle gekommen ist: „Alles dies wurde durch meinen Korrespondenten aus, dem gleichen Verlies der zionistischen Hauptkanzlei herausgeholt, die sich auf französischem Territorium be­findet.“ Da Basel bekanntlich auf schweizerischem und nicht französischem Territorium liegt, straft Nilus Herrn zur Beck Lügen. Er widerspricht sich aber auch selbst: Im Jahre 1911 erschien eine Neuausgabe der Protokolle und diesmal hat Nilus seinen Lesern folgendes Märchen glaubhaft machen wollen: Die Protokolle seien „eine getreue Kopie-Übersetzung der Originaldokumente, die eine Frau bei einem der höchsten und einflußreichsten Führer der Freimaurer nach einer geheimen Sitzung gestohlen hätte“. Also, nicht mehr Zionisten — Freimaurer sind es …

So weiß die rechte Hand des Verleumders nicht, was seine linke tut. Aber auch ein Übersetzer dieser Fälschung diskreditiert den anderen. Der Herausgeber der neuesten, deutschen Ausgabe der Protokolle, Theodor Fritsch[4], erzählt über deren Herkunft folgen­des im Vorwort zu seiner Übersetzung: „Die russische politische Polizei fand im Jahre 1901 bei einer Haussuchung in einer jüdischen Wohnung ein größeres Manuskript in hebräischer Sprache, dessen Übersetzung dem Orientalisten Prof. Nilus übertragen wurde.“

Was ist also wahr: das, was uns Beek, das, was uns Nilus oder das, was uns Fritsch erzählt? Wurden die Protokolle in Basel, in Frankreich oder in Rußland ge­funden? Und wann: im Jahre 1897 oder im Jahre 1901?

Was von all dem wahr ist? Nichts! Alle haben sie gelogen: Beek, Nilus und Fritsch, und waren dabei noch so ungeschickt, sich einander zu widersprechen. Der wilde Eifer des Hasses hat sie blind gemacht. Sie rechneten wohl damit, daß unkritische Menschen die Daten und die Einzelheiten nicht nachkontrollieren werden. Sie haben Ieider nicht ganz unrecht behalten. Denn es finden sich immer wieder solche, die die Unverfrorenheit haben, zu behaupten, daß die Protokolle echt sind. Herr Pfarrer Gaston Ritter gehört auch zu denen.

Philipp Graves entdeckt die Fälschung

Jeder einsichtige, jeder vernünftige Mensch wird nach der Lektüre der Protokolle sie zweifellos mit einem Achselzucken beiseite legen: er muß, wenn er noch seine fünf Sinne beisammen hat und kein Hetzer ist, diese Schrift als eine Häufung von Lügen ansehen. Aber es gibt auch Beweise, klare, unzweideutige Beweise, daß die Protokolle gefälscht sind.

In Konstantinopel lebte im Jahre 1921 Philipp Graves[5], Journalist und Bericht­erstatter des größten englischen Blattes „Times“. Er wurde mit einem aus Rußland geflüchteten zaristischen Offizier bekannt, der ihm einmal ein stark abgenütztes französisches Buch ohne Titelblatt als bibliophile Selten­heit interessanten Inhaltes zum Kaufe anbot. Graves, der dem armen Teufel helfen wollte, kaufte das Buch und als er las, entdeckte er dann zu seinem Staunen ganze Seiten lang dieselben Stellen, die er aus den Protokollen der Weisen von Zion kannte. Da das Titelblatt fehlte, wußte er nicht, wie der Autor heißt und wie der Titel lautet. Nach Forschungen gelang es ihm, es zu ermitteln. Da stellte sich heraus, daß es sich um ein Buch aus der Feder Maurice Joly’s handelt[6], das unter dem Titel Zwiegespräch in der Unterwelt zwischen Macchiavelli und Montesquieu im Jahre 1865 erschienen ist. Das Werkchen des Pariser Advokaten Maurice Joly war ein verschleiertes Kampfbuch gegen die Politik des Napoleon III. Dieser Herrscher hatte den Ehr­geiz, die Fäden der Weltpolitik in seinen Händen zu vereinigen und Paris zum Hirn der Welt zu machen. Solche Pläne kosten Geld und da die französischen Steuerzahler sich das nicht gefallen lassen wollten, wurde die Preßfreiheit aufgehoben. Joly konnte es  unter diesen Umständen nicht wagen, offen gegen die ihm verderblich scheinende Politik Napoleon III. auszutreten und deshalb schrieb er seine Kampfschrift in der Form einer Vision aus dem Jenseits.

Philipp Grave begnügte sich aber auch nicht mit dieser Feststellung allein. Er unterzog die Protokolle einer ge­nauen vergleichenden Prüfung mit der Schrift Joly’s, und mühelos kam er zum Ergebnis, daß die Protokolle nichts anderes als eine Abschrift der Zwiegespräche des Maurice Joly sind, mit dem Unterschied allein, daß das, was Joly den Macchiavelli an Bösem und Rachsüchtigem sagen läßt, in den Protokollen als jüdische Äußerung und Plan erscheint. Um die Fälschung als solche anzuprangern, veröffentlichte Graves in der „Times“ am 16., 17. und 18. August drei große Aufsätze, die in der Öffentlichkeit der ganzen Welt Aufsehen erregten.

Die Fälschung ist also unzweideutig bewiesen. Und Herr Gaston Ritter kann eventuell, wenn er will, den Macchiavelli, wie ihn Joly sieht, als einen Anti­christ ansehen, aber hat gar kein Recht, das jüdische Volk zu verleumden. Er hat kein Recht, aber er tut es und nennt Lüge Wahrheit und Verleumdung Wirklichkeit. Und selbst nennt er sich Christ? Mit welchem Recht? Seine Schrift ist nichts weniger als von christlichen Motiven geleitet. Was noch in unserem Blatte zur Genüge bewiesen werden wird.

In: Gerechtigkeit, 14.12.1933, S. 3.[7]


[1] G. Ritter (= Arbogast Reiterer, 1886-1956): Publizist, Priester des Deutschen Ritterordens in Südtirol. Die Schrift Das Judentum und die Schatten des Antichrist erschien 1933 im Styria Verlag (Graz) und 1938 (in 3. Aufl.) im Ulrich Mosers Verlag (Graz)

[2] G. v. Beek (= Ludwig Müller von Hausen, 1856-1926): deutschvölkischer Publizist, Verleger, Mitglied in verschiedenen völkischen und antisemitischen Vereinigungen bzw. deren Mitbegründer wie z.B. Verband gegen die Überhebungen des Judentums (1912ff.), Deutschvölkischer Schriftstellerverband, Germanenorden, Vorsitzender der Thule-Gesellschaft (berüchtigt für ihre Femeurteile und -morde). Erster Verleger der Protokolle der Weisen außerhalb Russlands. Vgl. dazu Elke Kimmel: Müller von Hausen, Ludwig [Pseudonym: Gottfried zur Beek] In: W. Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus, Bd. 2, Berlin: DeGruyter 2009, S. 566-567 bzw.: Reinhard Markner: Ludwig Müller von Hausen (1851–1926). In: Helmut Reinalter: (Hg.): Handbuch der Verschwörungstheorien. Leipzig: Salier 2018, S. 189-193.

[3] S. Nilus (1862-1929): russischer Jurist, Publizist und Antisemit. 1905 veröffentlichte er eine Schrift Das Große im Kleinen, dem erstmals als Anhang auch die Protokolle der Weisen beigefügt waren. Vgl. dazu: Michael Hagemeister: Sergej Nilus und die Protokolle der Weisen von Zion. Überlegungen zur Forschungslage. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Bd 5, Frankfurt a. M.- New York: Campus 1996, S. 127–14.

[4] Th. Fritsch (1852-1933): völkisch-antisemtischer Publizist und Verleger (z.B.: Hammer-Verlag, Antisemitische Correspondenz u.a.m.), Wegbereiter des Nationalsozialismus. Mitbegründer der Deutschen Antisemitischen Vereinigung (1886), Verfasser u, Hg. des Antisemiten-Catechismus (49 Auflagen bis 1945). Vgl. dazu Elisabeth Albanis: Anleitung zum Hass: Theodor Fritschs antisemitisches Geschichtsbild. Vorbilder, Zusammensetzung und Verbreitung. In: Werner Bergmann/Ulrich Sieg (Hgg.): Antisemitische Geschichtsbilder. Essen: Klartext 2009, S. 167-191; ferner Eintrag von Thomas Gräfe in W. Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd 6: Publikationen. Berlin: De Gruyter 2013, S. 193–196.

[5] Philip Graves (1876-1953): britischer Journalist und Sachbuchautor, der v.a. als Auslandskorrespondent der Times arbeitete und die Protokolle als erster als Fälschung entlarvte. Vgl. dazu den ersten Teil seiner entsprechenden Artikelserie unter dem Titel „Jewish World Plot“. An Exposure. The Source of the Protocolls. In: Times, 16.8. 1921, S.9; Original: http://tenc.net/antisem/first.pdf (Zugriff 1.11.2023)

[6] M. Joly (1829-1878): französischer Anwalt und Autor. Als sein Hauptwerk gilt der hier genannte Dialogue aux Enfers entre Macchiavelli et Montesqueui (1864, nicht 1865 wie angegeben), der als Vorlage für die Protokolle identifiziert wurde. Vgl. dazu: Michael Hagemeister: Die „Protokolle der Weisen von Zion“ vor Gericht. Der Berner Prozess 1933–1937 und die „antisemitische Internationale“. Zürich: Chronos 2017.

[7] Eine weitere Folge erschien in der Gerechtigkeit, 21. 12. 1933, S. 3, in der auch ein Beitrag unter dem Titel Gegen den Rassenhaß in der Kirchenpolitik (gez. Friedrich Jakonvic), ebd. veröffentlicht wurde.