Otto Abeles: Reinhardts „Mirakel“ im Zirkus Renz
Otto Abeles : Reinhardts „Mirakel“ im Zirkus Renz (1927)
Wie die neue Fassung von Reinhardts Mirakel über den großen Teich nach Wien kam? Das Programmheft gibt darüber Auskunft. Mehr als tausendmal war Mirakel (Kosten der Ausstattung 400.000 Dollar) in Amerika in Szene gegangen Da mußte man, trotzdem erst
vier Millionen Menschen Mirakel gesehen hatten, die Serie der amerikanischen Vorstellungen plötzlich abbrechen. Nämlich: Professor Reinhardt hatte den Wunsch geäußert, das Werk in der neuen Form in Europa und vor allem in Wien zu zeigen. So, meine Verehrten, kam das alt-neue Mirakel nach Wien…
Die dankbare Zirkusgasse hilft bei der Inszenierung des Vorspiels aus der Straße eifrig mit. Die Fußsteige dicht besät mit Neugierde und Hochachtung für die Massenauffahrt der Nobelautomobile. Smoking und Abendtoilette stehen geduldig im Zirkusvorraum, Kunstbegeisterung beziehungsweise Sensationsfieber bewirke, daß die Herrschaften geduldig auf den nach halbstündiger Verspätung gestatteten Einlaß in die Kirche warten.
An den äußeren Zirkusgängen haftet noch kräftiger Stallgeruch, aber drinnen im mystisch dunklen Riesenraum steigen Weihrauchschwaden, du spürst sofort, wo du bist. Dann stellen sich auch die Pupillen auf das Weihedunkel ein. Ragende Kirchensäule, Kirchenfahnen, Heiligenstatuen, zartester Kerzenschimmer, halbgeschlossene Loggien für die noblen Beter, Wendeltreppe zum Erker des Predigers und buntfarbige Kirchenfenster, vom letzten Abendschimmer überhaucht. In der Manege ein verzwicktes System von Podien und Freitreppen.
Der Referent, nicht unbefangen, da er sich in einer Kirche befindet, doppelt befangen, die Kirche in einem Zirkus zu wissen, dreifach befangen, weil in dieser Zirkus-
Kirche ein katholischer Gottesdienst zelebriert werden soll, kann gleiche Benommenheit bei dem einströmenden festlich herausgeputzten jüdischen Publikum nicht erkennen. Sie
nehmen mit „lh“ und „Oh“ in den Kirchenstühlen Platz und sind sofort zu Hause. Man hat Mühe, jedes Kirchendetail auf Stilechtheit fachmännisch zu prüfen, nicht ohne sich mit Erfrischungen einzudecken, die eifrig im Kirchenschiff angeboten werden. Dann haben sie genug vom Warten, Gaffen und wollen mit Händeklatschen, aber auch mit Füßetrampeln den Beginn der Vorstellung haben. Und schon läuten die Glocken, Orgelspiel keimt, die Messe beginnt.
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Ist dieser materialisierte Film nicht überholt? Wirken frommwandelnde oder ekstatisch erregte Massen, Aufzüge, Tänze, wirken Maienzauber und Gottes Wundertat an
seiner Kreatur auf der Leinwand nicht eindringlicher, glaubhafter?
Man weiß, das Madonnenbild dort an der Säule ist nicht aus Stein. Eine Frau aus Fleisch und Blut steht eine Stunde lang pagodenhaft starr. Man ist abgelenkt, bestaunt die Selbstzucht der Aktrice, bedauert sie und atmet auf, wenn sie endlich Leben kriegt.— Scheinwerfer fassen mit riesigen Fangarmen die junge Nonne und schleifen sie durch den Kirchenraum. Keine Sekunde darf die Kongruenz zwischen dem jagenden Lichtkegel und dem
laufenden Mädchen aussetzen. Der Katarakt der Statisten, welche die Stufen hinauf- und hinabeilen, wird durch die Angst vor Arm- und Beinbruch gehemmt. In: Gefühl des Zuschauers weit mehr, als bei den Ausführenden. Aber an den Treppenabsätzen ist auch der Schwarm der Nonnen, Bruderschaften, Chorknaben, Mönche und Bettler sehr vorsichtig.
Szenenwechsel muß durch massiertes, Litaneien singendes Volk kaschiert werden. Die herrliche Kirchensäule geht plötzlich in die Höhe, wie der Kristalluster im Josefstädtertheater. Die Phantasie, entdeckend, daß der Riesenpfeiler aus gotisch drapierten Tüchern besteht, fühlt sich verletzt.
Alle diese Notbehelfe, trotz der technischen Vollkommenheit Reinhardtscher Regie unvermeidlich, hat der Film nicht nötig. Noch ein Beispiel: Herr Wüllner, der Sprecher, muß stumme Pantomime machen und wäre, so bildet man sich’s ein, gottsfroh, endlich einen Vers orgeln zu dürfen. Solch peinigendes Mitgefühl befällt uns nicht, wenn wir Wüllner bloß auf der Leinwand begegnen.
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Das Schaustück mit Musik und Lichtzauber, Glockengeläute und Weihrauchwirbel kann als Werk der Kunst und Technik vor dem Film nicht mehr bestehen. Als Spezialität, wie etwa der Gummiradler mit edlen Rossen neben dem Auto letzter Schaffung, bleibt natürlich
das Reinhardt-Mirakel sehens- und hörenswert, ist großartiger, bunter, reicher geworden, seitdem es 1911 in der Rotunde vor sich ging und überdies durch die Mitwirkung zweier wundervoller Engländerinnen ausgezeichnet.
Diana Manners, eine engelhafte, verehrungswürdige Madonna, schwebt gewichtlos über dem Podium. Höchstes Lob für ihre Gestaltung der Gottesmutter: die Füße berühren den Boden der Zirkus-Kirche nicht. Die Madonna bleibt außerhalb, oberhalb der Sensationspantomime, schreitet, von der eigenen Glorie umflossen und geschützt, unberührt durch das Spectaculum. Die Nonne, welche dank der hilfreichen Madonna sich weltlicher Lust ergeben darf, ist die lilienschlanke Rosamond Pinchot, mit ungewöhnlicher Schönheit und köstlicher Naivität. begnadet. Beide Frauen find gleich bewundernswert als
Werk der Natur und Werk Reinhardts. Der großartige Tanzpantomimiker Ernst Matray als Spielmann überragt das Gewirr der Leiber, Töne, Lichter durch sein virtuoses Solo. Unvergeßlich die Szene der Gesundung des lahmen Bettlers, den Sokoloff mimt, rassig die Tänze der Katta Sterna, eine Augenweide die Gastmahlszene. Fabelhafte Prozessionen. Wunderschöner Kirchengesang. Magisches Intermezzo aus einem Glasparkett mit Beleuchtung von unteu. Scharfes Widerspiel von ekstatischer Frommheit und bacchantischer Lust, von Gier und Askese, Bedürfnislosigkeit und Völlerei. Hart stoßen sich betonte Schlichtheit und betontes Raffinement im Zirkus-Kirchen-Raum Reinhardts.
Und als aus diesen gewaltigen, prachtvollen, stilecht zubereiteten Augen- und Ohrenschmaus ein Endchen des Kinderliedes „Alles neu macht der Mai“ niederfiel wie ein wirklicher Tautropfen auf eine Papierrose, sagte ich mir: Es ist doch ein Riesenkitsch, dieses Reinhardt-Mirakel. Ich konnte nicht anders, Gott helfe mir. Amen.

