Albert Ehrenstein: Vom deutschen Adel jüdischer Nation. (1923)
Jahrhundertelang hat man es den Juden übel genommen, daß sie sich auf die Abfassung des Alten Testaments beschränkten und, als ein neuer Messias kam, altgläubig genug, ihn nicht erkannten. Neuerdings haben sich die Dinge gewandelt und man wirft ihnen im Semi-Kürschner nichts öfter vor, als daß sie sehr gewandt seien, das Neue zuerst eindringend zu erfassen. Sie begnügten sich nicht mit dem gelben Fleck, waren vordringlich genug, mit einem Platz an der Sonne lieber vorlieb zu nehmen. Seit nun gar Heine und Börne von Verlegern der Klassikerausgaben mit jenem Heiligenschein versehen wurden, der wie Goldschnitt aussieht, hat die Emanzipation der Juden zu Zuständen geführt, die dem Professor Adolf Barteles und seinesgleichen den Vorsatz einflößten, die meisten Insassen der Literaturkataloge unbesehen im Semigotha einzuäschern. Wenn es einem Unbefangenen auch schwer fällt, dieses Gebot der christlichen Nächstenliebe zu befolgen, scheint doch eine kritische Betrachtung der Position, die das Judentum innerhalb der modernen deutschen Literatur einnimmt, längst an der Zeit zu sein.
Das Ghetto war eine deutsche Vorstadt mehr, in seiner Sprache: dem Jiddischen, sich mehr Reste des Mittelhochdeutschen konserviert, als in irgendeinem anderen deutschen Dialekt. Man muß es Europa hoch anrechnen, daß es endlich auf das Ghetto verzichtete: dort war die Judenschaft der Entgüterung und Pogromen jeder Art am leichtesten erreichbar. Von diesen Schranken befreit, kannte ihre Anpassungsfähigkeit keine Grenzen; da jedes Volk das andere haßt – mit jenen Anstandspausen, die von Augenblicks-Ententen, das heißt: gemeinsamen Geschäften herbeigeführt werden – ließ sich das deutsche Volk von den Assimilanten auf die Dauer nicht täuschen und setzte der nie allzu üppigen Freiheit seiner freigelassenen Knechte jenen nationalistischen Antisemitismus entgegen, der in seiner Gegenwirkung zu einer geistigen Europaflucht und Selbstbehauptung führte; es gibt nämlich auch Juden, die ostentativ zum Judentum übertreten: diese nennt man Zionisten. All dies[e] chauvinistische Erscheinungen, die umso drolliger sind, als es wohl eine deutsche Sprache, aber blutwenig Germanen gibt, und ein gewiegter Anthropologe unter den deutschsprechenden Juden eben so viel Rassen finden könnte, wie unter den deutschen: slawisch-germanisch-keltischen Wirtsvölkern. Der jüdische Habitus entspricht meist dem der mittelländischen Rasse, jener italisch-berberischen Mischrasse, die sich unter dem Vorwand, Römer und Karthager zu sein, bekanntlich so kannibalisch-kannibalisch zerfleischte. Man spricht so häufig von einer Konstanz der jüdischen Rasse, hervorgerufen von Diaspora, Ghetto, Inzucht und der religiösen Ausschließlichkeit des auserwählten Volkes. Mir scheint die somatische Einheitlichkeit weniger evident, wie die der Geistesrichtung. Jahrtausende einförmiger Erziehung, die Räubergeschichten des Alten Testaments spitzfindig beleuchtet vom Talmud, geistige Speisevorschriften, streng wie die Speisekarte des Proletariats im Krieg, schufen die Uniform, die noch nicht ganz gesprengt ist, eine historische Kontinuität, die sich noch mit keiner Erlösung und Ruhe beschwichtigt hat.
Was vor den europäischen Revolutionen sich im Ghetto als Wunderrabbiner, Talmudjünger und Irrlehrer aneinander aufgerieben hätte, offenbart sich nun seit einem Jahrhundert immer wieder als radikale Kunst. Aber was ist, was bleibt radikale Kunst? In ihrer Art souveräne Geister, wie Börne und Heine, entgingen nicht dem gelben Fleck des Klassikers; die nach 1890 mit Freud hochkamen: Schnitzler, Hofmannsthal, Beer-Hofmann – die jüdische Kritik Wiens und Berlins warf ihnen so lange perverse Erotik vor, bis ihnen der unausbleibliche Schutzkarton der Gesamtausgaben wie eine Mandarinenmütze der allgemeinen Hochachtung aufs kahlere Haupt gestülpt wird. Geister höheren Ranges: Peter Altenberg und Else Lasker-Schüler, noch immer dem Publikum und seiner marktgängigen Roman- und Dramenware siriusfern – auch diese makellosen Kinder des großen Geistes werden anläßlich eines dreißigjährigen Todestages gegen Monatsraten erhältliche Klassiker sein. Das befremdend Neue, das ihr Schicksal war, wird nie veralten – wie immer, wenn der Radikalismus der Form einem Genie des Inhalts, des Herzens dient.
Man hat viel von einer Verjudung der neuesten deutschen Literatur gesprochen. Es wäre schwer, Namen zu nennen. Die nationalistische Reaktion hat in Deutschland so sehr überhand genommen, daß mich ein Schriftsteller, dem ich öffentlich jüdisches Blut zuerkennen würde, recht wohl verklagen kann: Betriebsstörung, geschäftliche Schädigung usw. Ich kann also nur von mir – victrix causa dis placuit, victa Catoni – direkt behaupten, daß ich durch den nie neukatholisch korrigierten Zufall der Geburt Jude bin. Die Deckfärbung, die manche Exisraeliten in der opportunen Religion der Umwelt suchen, ist an sich weder löblich noch tadelnswert: man müßte die Motive des Übertritts zum herrschenden Islam kennen, ehe man einem Sabbatai Zewi Apostatentum vorwirft – wenn auch gewöhnlich jedes Renegatentum eher von Mode, Streberei, Feigheit diktiert wird als von tiefer Überzeugung. Auch jene Konterimitation, die vielleicht manchem Zionismus zugrunde liegt: der plötzliche Anschluß religiöse indifferenter, bestenfalls patheistisch-eklektischer Literaten an das Judentum, läßt die Frage nach der Ursache laut werden und den Zweifel, ob da nicht am Ende ein Schlaukopf im Gefühl seiner eigenen Schwäche, die an sich zu keiner prominenten Stellung führen könnte, eine ganze Partei in seinen Dienst gestellt hat? Jedenfalls haben meines Erachtens Zionisten unrecht, sich an der „Überfremdung“ der deutschen Literatur zu beteiligen; sie wären konsequenter, wenn sie ihre Schriften jiddisch oder hebräisch abfaßten.
Der qualitativ und quantitativ hohe Anteil, den das Judentum am deutschen Geistesleben hat, ist leicht erklärt. Ein Volk, dem durch viele Jahrhunderte das Wort, die Schrift heilig war, seit zweitausend Jahren in einer politischen Depression lebend, auf die Bibel und deren mystische und sophistische Kommentare als einzige Geistesquelle zurückgeworfen, vor jedem Studierenden Achtung hegend wie nur noch die Chinesen – ein solches Volk, durch Neigung, Erziehung und Zwang lange abgedrängt von allen militärischen, politischen Berufen und Staatsanstellungen, mußte in der Kunst die fast einzige Möglichkeit erblicken, sich gegen allen Rassenhaß, über Myriaden Hemmnisse und Erschwerungen hinweg, ehrenvoll Geltung zu schaffen. Die kritische Begabung, talmudher vererbt, trieb sie in die Redaktion; es ist kein Zufall, daß beste Kritiker und Essayisten Deutschlands und Österreichs jüdischer Herkunft sind, wenn auch die oft überhebliche Verehrung, die sie hauptsächlich und exklusiv ihren eigenen // Geistesprodukten weihen, dem Nachgeborenen unkritisch scheinen wird.
Daß jüdischen Rezensenten jüdischen Künstlern in parteiischer Weise weitergeholfen hätten, könnte man nicht behaupten. Die Nörgelsucht des unproduktiven jüdischen Kritikasters, sein gegen Glücklichere oder Fruchtbarere gerichtete Selbstzerfleischungsbetrieb feiert nie sadistischere Orgien, als wenn er auf scheinbar Gleichrassige stößt, die und deren Schwächen er besser zu erkennen und kennen meint. Vpn Cliquewesen kann also in dieser Hinsicht keine Rede sein.
Unter dem großen Außendruck ward jedenfalls in den deutsch-jüdischen Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts ein Absehen von der rauhen Wirklichkeit, eine romantische Weltflucht, eine Verklärung des Irdischen heraufbeschworen, wie sie der Diens am Wort bei Phantasten ohne Weltbesitz zeugen mußte.
Allerdings könnte man ebenso gut behaupten – von Grimmelshausen, Gotthelf, Keller, Reuter, Raimund und Nestroy abgesehen – habe kein deutscher Klassiker Werke geschaffen, realistisch genug, daß man aus ihnen ihr Milieu, ihre Zeit, ihre Gesellschaft wahrheitsgetreu rekonstruieren könnte. Seit Klopstock krankt die deutsche Dichtung am ästherischen Nebel, den die Grkrönten auf Jambenwolken durchfahren; frei von dieser falschen Idealisierung sind nur die vier Großmeister des realistischen Dialekts und ihre lebenden Enkel.
Nicht nur im Gedicht, im Drama, in erzählender und kritischer Prosa haben deutsche Juden Unverwelkliches geleistet, auch als Übersetzer und gewaltige Mittler haben sie ihren Mann gestellt, ihre Dankespflicht getan: So nenne ich die Namen Landauer, Werfel, Brod, Buber.
Viele wähnen, der Zionismus, die politisch-sportliche „Erstarkung“ und Abberration des Judentums würde sich wie die jüdische Dichtung überhaupt im palästinensischen Ghetto mit Wohlleben und Landbesitz verflüchtigen.
Aber die Welt ist nun nach dem Krieg, der uns in alle Abgründe der Menschheit schauen ließ, so beschaffen, daß ich alle Ruhmesblätter, die arischen oder semitischen Zeitgenossen auf den Kopf fallen, für hinfällig halte gegenüber den schwachen Klängen einer anderen Zukunftsmusik, die ich zu hören glaube. Dieser Erde kann nicht die Dichtung weiterhelfen, nicht das dem großen Volke leider immer noch unverständliche Wort. Roentgen, Ehrlich, Einstein wiegt ein Dutzend Sonettklassiker auf. Wer der Syphillis, der Tuberkulose, dem sozialen Unrecht ein Ende bereiten wird, durch ein Serum, Antitoxine, Maschinen das tausendfach beschnittene Leben gesünder, angenehmer, glücklicher gestaltet, hat mehr Anrecht auf den Dank der Menschheit als ein Schock prämierter Dramenbauer oder Romanbonzen aus Judäa oder Germanistan. Dichtung ist letztlich Krankenkost, ein Opium, ein Haschisch, dessen eine leidende, schmerzbetäubte Bevölkerung bedarf.
In aller jüdischen Dichtung finde ich ein Plus an Moral und Ethik, oft sorgfältig verborgen hinter einer übertrieben-zynisch witzelnden Maske. Der Stamm der alten Propheten lebt noch. Die Bibel ist nur ein Fragment. Altes und Neues Testament sehnen sich nach einer Ergänzung, nach einem tröstlichen Ende. Ich weiß, daß der große Führer, der kommende Messias nur ein Jude oder Slawe sein kann: Ein Asiate, ein Mensch aus dem ewig Ewiges zeugenden Osten.
In: Der Tag, 20.11.1923, S. 4-5.
Isaak Grünberg: Ein jüdisch europäischer Roman
Isaak Grünberg: Ein jüdisch europäischer Roman. Der Sohn des verlorenen Sohnes. (1937)
Von Soma Morgenstern.
Einen jüdischen Roman gibt es seit einigen Jahrzehnten. In der jiddischen Literatur hat ihn Mendele Mocher-S[e]forim geschaffen, in dessen Werken die jüdische Welt des Ostens von innen heraus gestaltet ist, sehr urwüchsig, aber nicht leicht zugänglich, nicht einmal für den Westjuden, geschweige denn für den Nichtjuden. Mendele war der „Großvater“ der jiddischen Literatur. Der „Enkel“, Schalom Asch, flirtet bereits energisch mit dem Westen. Er ist ein weitgereister Mann, viele Beziehungen verbinden ihn mit der europäischen, der Weltkultur. Aber das Wesentliche im Schaffen des „Enkels“ ist ostjüdisch. Der Westen, den dieser Schriftsteller erst als Mann erfahren hat, durchdringt nicht die tiefsten Schichten seines Werkes. Der jüdische Roman westjüdischer Autoren gestaltet eine peripherische, im wesentlichen nicht mehr jüdische Welt. Auch ein Buch wie Joseph Roths Hiob ist mehr künstlich, künstlerisch wiederbelebtes, als lebendiges Judentum.
Seit dem Erscheinen von Soma Morgensterns Der Sohn des verlorenen Sohns gibt es den echten jüdischen und zugleich europäischen Roman. Eine ost-westliche Synthese ist in diesem Buch künstlerische Wirklichkeit geworden. Es ist kein Zufall, daß dieser jüdische Roman ein österreichischer Roman ist. Mendele hat mit den jüdischen Massen Rußlands gelebt, Schalom Asch ist mit einem Sprung aus dem Osten in den Westen gelangt, Roth hat den Osten früh verlassen, er ist für ihn eher Sehnsucht nach dem Land der Kindheit als bewußtes Erlebnis. Morgenstern ist zugleich Jude und Europäer. Das alte Österreich hat bis in den galizischen und Bukowinaer Osten gereicht, in dem die Juden noch in traditionsgesicherter Wirklichkeit gelebt haben. Es war für diese Juden eine natürliche Brücke nach dem Westen. Von dem großen Ziel Wien hat die Sehnsucht aller östlichen österreichischen Jugend geträumt. Kindheit und frühe Jugend hat Morgenstern in jener geschlossenen jüdischen Gemeinschaft verlebt. ln dem stärksten Eindrücken zugänglichen
Jünglingsalter ist er nach Wien gekommen, das ihm, geistig und seelisch, zur zweiten Heimat wurde. Von der alten Heimat des Kindes und Knaben zur neuen, der des Jünglings und Mannes, spannt sich der Bogen des Romanes, in dem einem Dichter die Gestaltung eines epischen Kunstwerkes, eines echten und bedeutenden jüdischen Romans in deutscher Sprache gelungen ist.
Morgenstern war vor dem Erscheinen seines Romanes durch seine in der „Frankfurter Zeitung“ (deren Wiener Feuilletonkorrespondent er war) erschienenen Arbeiten als sehr kultivierter Schriftsteller bekannt. In manchen Partien des Buches, besonders in den Schilderungen Wiens findet man den Meister blendender, geistvoller Pointierung wieder, den Europäer mit umfassender Kultur, als den man Morgenstern gekannt hatte. Überrascht lernt man aber nun einem Dichter kennen, der besonders in den Teilern des Buches, die im Osten spielen, eine epische Geschlossenheit erreicht, die an die großen russischen Erzähler erinnert. Und dieser Volljude schreibt ein Deutsch, das in seiner Reinheit, seiner Musikalität und seinem inneren Schwung hoch über dem Durchschnitt der üblichen deutschen Literatur steht.
Der verlorene Sohn ist einer jener jungen Juden, die zu Ende des vorigen und zu Beginn unseres Jahrhunderts nach Wien gekommen sind und hier, geblendet von der westlichen Kultur, abtrünnig wurden. Sein Sohn, der Held von Morgensterne Roman, besinnt sich wieder auf die alten Zusammenhänge. Hat sich der Vater taufen lassen, so will der Sohn wieder zum Judentum. Am Ende des Buches kehrt der junge Alfred mit seinem Onkel, dem frommen Welwel, in den Osten zurück. Ob die innere Rückkehr gelingen wird, und wie sie sich vollzieht, wird uns der Dichter in einem weiteren Buch erzählen. Er hat uns auf diese Entwicklung neugierig gemacht, denn wir sind im Laufe der Erzählung mit den geschilderten Personen vertraut geworden und wir haben einige von ihnen ins Herz geschlossen.
Einen Dorfjuden wie den Verwalter Jankel Christjampoler, haben wir bisher nicht gekannt: eine starke und originelle Schöpfung. Von einer Gestalt, wie dem gütigen und frommen Welwel Mohilewski mit seiner innigen Sicherheit und Tiefe zerfallen tausend verzerrte Vorstellungen von Juden und Judentum als Ausgeburten kranker oder verbrecherischer Hirne. Neben diesen östlichen Figuren stehen andere aus Wien, wie die des liebenswerten Ministerialrats Frankl oder die mit freundlicher Ironie gezeichnete Frau Fritzi. Morgenstern weiß nicht nur so andersgeartete Menschen mit gleicher Meisterschaft darzustellen, er baut auch grundverschiedene Geschehnisse, wie einen „Kongreß gesetzestreuer Juden“ und ein Mozart-Konzert im erzbischöflichen Palais mit der gleichen sicheren Kunst des meisterlichen Erzählers auf.
Am mächtigsten ergreifen in dem Buch die Schilderungen aus dem Osten. So reife, landschaftliche Gestaltungen, wie die der Fahrt durch die weiten östlichen Felder, sind in der zeitgenössischen Literatur kaum zu finden. Die Geschichte von dem Weißkleefeld, die Irrfahrt in einem Schneesturm und die tiefe, legendenhafte Erzählung von Rabbi Abba sind Schöpfungen eines reifen und begnadeten Dichters.
Wer die jüdische Welt des Ostens kennt, erlebt beim Lesen von Morgensterns Buch ergreifende Erinnerungen seiner Kindheit wieder. Der Westjude und der Nichtjude aber wird von diesem Buch eine hinreißende, künstlerische Gestaltung jüdischen Lebens finden, dessen Wirklichkeit and Sinn ihm hier in bestrickender Art erhellt wird.
In: Die Stimme. Jüdische Zeitung (Wien), 15. 1. 1937, S. 4.
Zygmunt F. Finkelstein: Vom sterbenden Chassidismus
Zygmunt F. Finkelstein: Vom sterbenden Chassidismus. (1922)
(Anläßlich einer Neuausgabe des Romans ›Das pojlische Jingele von Lienietzki‹[1]
Dieser Roman war einst ein Lehrmeister von Millionen. Es war der vollendetste Ausklang des sterbenden Chassidismus und dessen rücksichtslos entschleiertes Angesicht. Von der ganzen Flut der Romane und Erzählungen, die von den Mit- und Nachläufern Mendeles geschaffen wurden, ist es wohl das einzige Werk, welches noch heute durch den Hauch sprudelnden Lebens und herzerquickender Heiterkeit unvermindert fortwirkt. Freilich ist dieser Umstand auf das Kulturhistorische dieses Romans zurückzuführen. Es ist das urwüchsige chassidische Leben, welches in fabelhafter Plastik mit dem Geschick eines Judenjungen an der Wende von Jahrhunderten verwoben wird und durch das überlegene Lächeln eines Philosophen zur geschichtlichen Tragik emporwächst. Der Cheder, die Klaus, Jeschiwah und Talmud-Thora – all die Marksteine des jüdischen Leidensweges eines jungen Chassids , erstehen hier in schillernder Pracht eines glänzenden Epikers und über all das Romanhafte erhebt sich eine bunte, eigenartige Gemeinschaft, die durch eine unendliche Unzulänglichkeit des allmächtigen Zaddik zum Zerrbild jüdischen Geisteslebens herabgedrückt wird. Novellistische Kleinmalerei eröffnet eine berückende Fülle kulturhistorischer Probleme und durch den unwüchsigen Humor einer Künstlerseele zittert der Entsetzensschrei eines Geschlechts von Gotterwählten, die im Morast des Lebens versinken.
*
Die idealisierende Art westjüdischen Literatentums verwirrt die Begriffe über den Chassidismus. Das Poetische überwuchert das Historische und durch einen falsch angebrachten Idealismus, der nur ein Ausdruck schöpferischer Unzulänglichkeit ist, wird die Lehre Balschemtows und seiner Jünger ins Abstrakte verzerrt, während die Wirkungen der chassidischen Lehre beinahe ausschließlich dem Alltag galten und im Alltag lediglich zu Blüte und Verfall gelangten. Nicht die chassidische Lehre, sondern das chassidische Leben scheint das Primäre zu sein und nicht eine Lehre schuf die chassidische Gemeinschaft, sondern überragende Persönlichkeiten, die mit wuchtiger Kraft die Menge um sich scharten und jeder Gemeinde einen oft grundverschiedenen- Charakter aufdrückten.
Es sind keineswegs Sektengebilde, die im Laufe von Jahrhunderten entstanden, sondern reale Verankerungen gemeinsamer Lebensbedingungen und Anschauungen, rings um eine zentrale Persönlichkeit, die aus einer Menge herauswuchsen und dann automatisch diese Menge zu einem Eigengebilde mit einem erblichen Zaddik schmiedeten. So gab es Heilige und Charlatane, Seelenfänger und Weltweise, Parasiten und Schöpfer. Je nach Geschlecht, Individualität und Bedarf und keineswegs je nach hergebrachter Lehre und Dogma.
*
Im Pojlischen Jingele erstarrt der blutwarme Alltag einer chassidischen Gemeinde zu einem monumentalen Gemälde von bleibendem Wert. Das chassidische Leben in einem polnisch-russischen Städtchen erblüht hier in tausend Farben und eine leichte, spöttelnde Art umweht dieses ganze Lebe mit einem Hauch leiser Melancholie.
Freilich ist es eine Gemeinde an der Wende zweier Epochen und zweier Geschlechter, die dem Verfall entgegengeht. Einerseits ist es die Haskalah, die um die achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts das chassidische Leben zu unterwühlen begann, andererseits der
stolze Rabbinismus, der die Chassidim mit wütendem Haß zu ersticken sucht.
Während bisher die chassidische Gemeinde eine abgeschlossene Welt für sich darstellte, brach durch Gordon, Mane und Lebensohn eine mächtige Kulturwelle ins jüdische Leben herein, die die Universalität des jüdischen Geisteslebens wiederherzustellen und die Tradition von Jahrtausenden mit dem Geist der Neuzeit zu verbinden suchte.
Das Geschlecht der Chassidim blieb auf dem Scheidewege stehen. Das Phantom zaddikischer Gottähnlichkeit zerfloß in nichts und die Enge des chassidischen Alltags lastete plötzlich zentnerschwer auf den Gemütern einer betörten und um die Realität des Lebens
betrogenen Jugend. Die einen rissen sich gewaltsam los, die anderen fluchten und fügten sich dem unentrinnbaren Schicksal.
Eine Zeit mächtiger Gärung, die eine aufblühende hebräische Dichtung befruchtete und aus der eine jüdische Volksliteratur beinahe unvermittelt hervorblühte. Während die erste mit prophetischem Pathos das Ganze des Volkes zu erfassen versuchte, riß die aus den
Tiefen der Volksmasse hervorströmende jüdische Literatur alle Schranken der Tradition nieder und entschleierte rücksichtslos die Fäulnis des jüdischen Volkslebens. Schon der erste Roman Mendeles setzte sich mit kühnem Schwung über die Autorität jüdischer Gemeindeführer hinweg und Linietzkis ebenbürtiges Werk wehte wie ein Sturmhauch über die chassidischen Gaukelspieler hinweg und entblößte rücksichtslos ein Zerrbild geschichtlicher Verkümmerung.
Der riesige Erfolg dieses Romans zeugt von seiner Bedeutung. Er zerschlug unwillkürlich Heiligtümer, indem er ihr wahres Antlitz aufdeckte. Er zeigte den Chassid als willenloses Werkzeug eines Zaddiks und zeigte den Zaddik als zehrenden Schmarotzer an der
jüdischen Volksseele.
Er enthüllte die unerhörte Marter einer Jugend, die verwüstet und öde nach neuem Leben lechzte, und zerpflückte den chassidischen Alltag in Atome von Genußsucht, Hohlheit, Laster und Heuchelei. Der zaddikische Volksführer wird zum drolligen Rattenfänger und seine aufgeblähte Gottesvermittlerei zum Gaukelspiel menschlichen Wahns.
Besaß noch die chassidische Gemeinschaft eines Balschemtow und seiner unmittelbaren Jünger den Schöpferdrang einer Erneuerung jüdischen Volkstums, so entartet hier die Einstellung des jüdischen Alltags in den Bereich göttlicher Inbrunst zu einer lächerlichen und umso gefährlicheren Tragikomödie hohler Selbstverherrlichung.
Der Zaddik, der verzückt die Augen stets gegen den Himmel rollt, indessen er gierig irdische Güter zusammenscharrt, wird hier vom Führer zum Nutznießer einer religiösen Patronanz herabgedrückt. Seine Inbrunst wird zur List und seine Macht zum Phantom einer unwissenden Menge. Tausende Menschen strömen jahraus, jahrein in die Residenz des Zaddik, Existenzen werden geopfert, ein erschreckendes Elend frißt des Volkes Kräfte auf, damit nur der Zaddik in Saus und Braus seine >Sudoth< halte: und während seine gut bezahlten Ratschläge für die Menge in allen Lebenslagen als göttliche Gebote gelten, frönt der pompöse Volksgötze tausend geheimen Lastern, die ans Verbrecherische grenzen.
Es ist der Niederbruch eines göttlichen Gedankens und ein Niedergang einer chassidischen Gemeinschaft, die Linietzki mit leiser, eindringlicher Satire, die voll verhaltener Tränen ist, dahinmalt.
Mit prächtiger Plastik ersteht hier das bunte Gewühl einer chassidischen Kleinstadt mit all ihren Sorgen und Qualen, Kömödien und Tragödien. Der Dichter durchblickte seine Zeit, und da er am eigenen Leibe den Fluch der chassidischen Enge erlebte; brauchte er nur
wahrheitsgetreu zu schildern, um das Gespinst von Jahrhunderten von einem ganzen Geschlecht abzuschütteln. Und hier liegt Linietzkis geschichtliche Sendung: sein Roman war eine soziale Tat, die vielleicht das Pathos der ganzen maskilischen Literatur aufwiegt…
*
Es ist ein Meiserwerk und das einzige, welches Linietzki geschaffen hat. Man erkennt wohl auf den ersten Blick, daß es mit Herzblut geschrieben ist. Aus einer chassidischen Gemeinschaft hervorgegangen schrieb er seine eigene Lebensgeschichte, indem er den Werdegang des polnischen Jingels schilderte. Von der Wiege bis zur Reife. Und mit der Reife kam die Entscheidung. Diese wird jedoch in diesem Roman nur angedeutet. Das Leben dichtete sie hinzu. Es war ein Kampf der unsteten Hast und des ewigen Ringens ums Judentum. Linietzki hat die Brücke vom Chassidismus zum realen Leben zerschlagen, doch jetzt erst begann der eigentliche Kampf.
So ward Linietzki der erste Chassid, der zum Maskil heranreifte – und wohl der erste Maskil, der zu Ende seines Lebens eine Synthese fand zwischen Aufklärung und Tradition, die im nationalen Gedanken mündete. Im Jahre 1839 in Podolien geboren und 1920 in Odessa gestorben, durchkostete er das gewaltige Ringen dreier Generationen ums neue Judentum. Als er sein Meisterwerk schrieb, glotzte ihn die Fratze eines verzerrten Mystizismus an; der unter dem Deckmantel religiöser Inbrunst das jüdische Leben zerwühlte — und als er dahinging, da erstrahlte in hellem Glanze die Idee der jüdischen Wiedergeburt.
*
Das pojlische Jingele ist vielleicht der einzige volle, abgerundete Roma in der jüdischen Literatur. Ein Roman, der einen vollendeten Querschnitt einer Epoche darstellt. Während Mendeles Taxe, Wunschfingerle und die schier unendliche Zahl ihrer Nachahmungen eigentlich nur lose zusammenhängende Fragmente darstellen, die nur äußerlich zu einem Roman zusammengefügt werden, ist Linietzkis Pojlischer Jingele wie aus einem Wurf gegossen. Eine Autobiographie, die folgerichtig aufgebaut, von der Wiege eines Menschen an sein Schicksal in scharfen Zügen meißelt. Es sind keine Individualitäten, die hier zu Trägern der Geschicke werden, es ist kein Menschenbildner, der mit epischer Gestaltungskraft Menschenwesen aus der Eingebung schafft, es ist die Masse glattweg, die hier zum Leben erwacht, und die vielen Kleinkrämer, Schnorrer, Gelehrte, Schwärmer und Parasiten und obendrein der Zaddik erscheinen wie Marionetten, die halb in Romantik, halb in Narretei ihr Leben dahindämmern und in der Beleuchtung eines satirischen Meisterwerkes zum Niederschlag einer ganzen Epoche emporwachsen. Bei Mendele mag die Satire nur die Zwiespältigkeit des jüdischen Daseins hervorkehren, bei Linietzki ballt sich die Vielfältigkeit einer sterbenden närrischen Welt zur Tragik eines ganzen Volkes.
In: Wiener Morgenzeitung, 23.4.1922, S. 3-4.
[1] Kwall-Verlag, Wien 1922; mit einer Vorrede von M. Silburg (Orig. FN)
Albert Ehrenstein: Vom deutschen Adel jüdischer Nation
Jahrhundertelang hat man es den Juden übel genommen, daß sie sich auf die Abfassung des Alten Testaments beschränkten und, als ein neuer Messias kam, altgläubig genug, ihn nicht erkannten. Neuerdings haben sich die Dinge gewandelt und man wirft ihnen im Semi-Kürschner nichts öfter vor, als daß sie sehr gewandt seien, das Neue zuerst eindringend zu erfassen. Sie begnügten sich nicht mit dem gelben Fleck, waren vordringlich genug, mit einem Platz an der Sonne lieber vorlieb zu nehmen. Seit nun gar Heine und Börne von Verlegern der Klassikerausgaben mit jenem Heiligenschein versehen wurden, der wie Goldschnitt aussieht, hat die Emanzipation der Juden zu Zuständen geführt, die dem Professor Adolf Barteles und seinesgleichen den Vorsatz einflößten, die meisten Insassen der Literaturkataloge unbesehen im Semigotha einzuäschern. Wenn es einem Unbefangenen auch schwer fällt, dieses Gebot der christlichen Nächstenliebe zu befolgen, scheint doch eine kritische Betrachtung der Position, die das Judentum innerhalb der modernen deutschen Literatur einnimmt, längst an der Zeit zu sein.
Das Ghetto war eine deutsche Vorstadt mehr, in seiner Sprache: dem Jiddischen, sich mehr Reste des Mittelhochdeutschen konserviert, als in irgendeinem anderen deutschen Dialekt. Man muß es Europa hoch anrechnen, daß es endlich auf das Ghetto verzichtete: dort war die Judenschaft der Entgüterung und Pogromen jeder Art am leichtesten erreichbar. Von diesen Schranken befreit, kannte ihre Anpassungsfähigkeit keine Grenzen; da jedes Volk das andere haßt – mit jenen Anstandspausen, die von Augenblicks-Ententen, das heißt: gemeinsamen Geschäften herbeigeführt werden – ließ sich das deutsche Volk von den Assimilanten auf die Dauer nicht täuschen und setzte der nie allzu üppigen Freiheit seiner freigelassenen Knechte jenen nationalistischen Antisemitismus entgegen, der in seiner Gegenwirkung zu einer geistigen Europaflucht und Selbstbehauptung führte; es gibt nämlich auch Juden, die ostentativ zum Judentum übertreten: diese nennt man Zionisten. All dies[e] chauvinistische Erscheinungen, die umso drolliger sind, als es wohl eine deutsche Sprache, aber blutwenig Germanen gibt, und ein gewiegter Anthropologe unter den deutschsprechenden Juden eben so viel Rassen finden könnte, wie unter den deutschen: slawisch-germanisch-keltischen Wirtsvölkern. Der jüdische Habitus entspricht meist dem der mittelländischen Rasse, jener italisch-berberischen Mischrasse, die sich unter dem Vorwand, Römer und Karthager zu sein, bekanntlich so kannibalisch-kannibalisch zerfleischte. Man spricht so häufig von einer Konstanz der jüdischen Rasse, hervorgerufen von Diaspora, Ghetto, Inzucht und der religiösen Ausschließlichkeit des auserwählten Volkes. Mir scheint die somatische Einheitlichkeit weniger evident, wie die der Geistesrichtung. Jahrtausende einförmiger Erziehung, die Räubergeschichten des Alten Testaments spitzfindig beleuchtet vom Talmud, geistige Speisevorschriften, streng wie die Speisekarte des Proletariats im Krieg, schufen die Uniform, die noch nicht ganz gesprengt ist, eine historische Kontinuität, die sich noch mit keiner Erlösung und Ruhe beschwichtigt hat.
Was vor den europäischen Revolutionen sich im Ghetto als Wunderrabbiner, Talmudjünger und Irrlehrer aneinander aufgerieben hätte, offenbart sich nun seit einem Jahrhundert immer wieder als radikale Kunst. Aber was ist, was bleibt radikale Kunst? In ihrer Art souveräne Geister, wie Börne und Heine, entgingen nicht dem gelben Fleck des Klassikers; die nach 1890 mit Freud hochkamen: Schnitzler, Hofmannsthal, Beer-Hofmann – die jüdische Kritik Wiens und Berlins warf ihnen so lange perverse Erotik vor, bis ihnen der unausbleibliche Schutzkarton der Gesamtausgaben wie eine Mandarinenmütze der allgemeinen Hochachtung aufs kahlere Haupt gestülpt wird. Geister höheren Ranges: Peter Altenberg und Else Lasker-Schüler, noch immer dem Publikum und seiner marktgängigen Roman- und Dramenware siriusfern – auch diese makellosen Kinder des großen Geistes werden anläßlich eines dreißigjährigen Todestages gegen Monatsraten erhältliche Klassiker sein. Das befremdend Neue, das ihr Schicksal war, wird nie veralten – wie immer, wenn der Radikalismus der Form einem Genie des Inhalts, des Herzens dient.
Man hat viel von einer Verjudung der neuesten deutschen Literatur gesprochen. Es wäre schwer, Namen zu nennen. Die nationalistische Reaktion hat in Deutschland so sehr überhand genommen, daß mich ein Schriftsteller, dem ich öffentlich jüdisches Blut zuerkennen würde, recht wohl verklagen kann: Betriebsstörung, geschäftliche Schädigung usw. Ich kann also nur von mir – victrix causa dis placuit, victa Catoni – direkt behaupten, daß ich durch den nie neukatholisch korrigierten Zufall der Geburt Jude bin. Die Deckfärbung, die manche Exisraeliten in der opportunen Religion der Umwelt suchen, ist an sich weder löblich noch tadelnswert: man müßte die Motive des Übertritts zum herrschenden Islam kennen, ehe man einem Sabbatai Zewi Apostatentum vorwirft – wenn auch gewöhnlich jedes Renegatentum eher von Mode, Streberei, Feigheit diktiert wird als von tiefer Überzeugung. Auch jene Konterimitation, die vielleicht manchem Zionismus zugrunde liegt: der plötzliche Anschluß religiöse indifferenter, bestenfalls patheistisch-eklektischer Literaten an das Judentum, läßt die Frage nach der Ursache laut werden und den Zweifel, ob da nicht am Ende ein Schlaukopf im Gefühl seiner eigenen Schwäche, die an sich zu keiner prominenten Stellung führen könnte, eine ganze Partei in seinen Dienst gestellt hat? Jedenfalls haben meines Erachtens Zionisten unrecht, sich an der „Überfremdung“ der deutschen Literatur zu beteiligen; sie wären konsequenter, wenn sie ihre Schriften jiddisch oder hebräisch abfaßten.
Der qualitativ und quantitativ hohe Anteil, den das Judentum am deutschen Geistesleben hat, ist leicht erklärt. Ein Volk, dem durch viele Jahrhunderte das Wort, die Schrift heilig war, seit zweitausend Jahren in einer politischen Depression lebend, auf die Bibel und deren mystische und sophistische Kommentare als einzige Geistesquelle zurückgeworfen, vor jedem Studierenden Achtung hegend wie nur noch die Chinesen – ein solches Volk, durch Neigung, Erziehung und Zwang lange abgedrängt von allen militärischen, politischen Berufen und Staatsanstellungen, mußte in der Kunst die fast einzige Möglichkeit erblicken, sich gegen allen Rassenhaß, über Myriaden Hemmnisse und Erschwerungen hinweg, ehrenvoll Geltung zu schaffen. Die kritische Begabung, talmudher vererbt, trieb sie in die Redaktion; es ist kein Zufall, daß beste Kritiker und Essayisten Deutschlands und Österreichs jüdischer Herkunft sind, wenn auch die oft überhebliche Verehrung, die sie hauptsächlich und exklusiv ihren eigenen // Geistesprodukten weihen, dem Nachgeborenen unkritisch scheinen wird.
Daß jüdischen Rezensenten jüdischen Künstlern in parteiischer Weise weitergeholfen hätten, könnte man nicht behaupten. Die Nörgelsucht des unproduktiven jüdischen Kritikasters, sein gegen Glücklichere oder Fruchtbarere gerichtete Selbstzerfleischungsbetrieb feiert nie sadistischere Orgien, als wenn er auf scheinbar Gleichrassige stößt, die und deren Schwächen er besser zu erkennen und kennen meint. Vpn Cliquewesen kann also in dieser Hinsicht keine Rede sein.
Unter dem großen Außendruck ward jedenfalls in den deutsch-jüdischen Dichtern des neunzehnten Jahrhunderts ein Absehen von der rauhen Wirklichkeit, eine romantische Weltflucht, eine Verklärung des Irdischen heraufbeschworen, wie sie der Diens am Wort bei Phantasten ohne Weltbesitz zeugen mußte.
Allerdings könnte man ebenso gut behaupten – von Grimmelshausen, Gotthelf, Keller, Reuter, Raimund und Nestroy abgesehen – habe kein deutscher Klassiker Werke geschaffen, realistisch genug, daß man aus ihnen ihr Milieu, ihre Zeit, ihre Gesellschaft wahrheitsgetreu rekonstruieren könnte. Seit Klopstock krankt die deutsche Dichtung am ästherischen Nebel, den die Grkrönten auf Jambenwolken durchfahren; frei von dieser falschen Idealisierung sind nur die vier Großmeister des realistischen Dialekts und ihre lebenden Enkel.
Nicht nur im Gedicht, im Drama, in erzählender und kritischer Prosa haben deutsche Juden Unverwelkliches geleistet, auch als Übersetzer und gewaltige Mittler haben sie ihren Mann gestellt, ihre Dankespflicht getan: So nenne ich die Namen Landauer, Werfel, Brod, Buber.
Viele wähnen, der Zionismus, die politisch-sportliche „Erstarkung“ und Abberration des Judentums würde sich wie die jüdische Dichtung überhaupt im palästinensischen Ghetto mit Wohlleben und Landbesitz verflüchtigen.
Aber die Welt ist nun nach dem Krieg, der uns in alle Abgründe der Menschheit schauen ließ, so beschaffen, daß ich alle Ruhmesblätter, die arischen oder semitischen Zeitgenossen auf den Kopf fallen, für hinfällig halte gegenüber den schwachen Klängen einer anderen Zukunftsmusik, die ich zu hören glaube. Dieser Erde kann nicht die Dichtung weiterhelfen, nicht das dem großen Volke leider immer noch unverständliche Wort. Roentgen, Ehrlich, Einstein wiegt ein Dutzend Sonettklassiker auf. Wer der Syphillis, der Tuberkulose, dem sozialen Unrecht ein Ende bereiten wird, durch ein Serum, Antitoxine, Maschinen das tausendfach beschnittene Leben gesünder, angenehmer, glücklicher gestaltet, hat mehr Anrecht auf den Dank der Menschheit als ein Schock prämierter Dramenbauer oder Romanbonzen aus Judäa oder Germanistan. Dichtung ist letztlich Krankenkost, ein Opium, ein Haschisch, dessen eine leidende, schmerzbetäubte Bevölkerung bedarf.
In aller jüdischen Dichtung finde ich ein Plus an Moral und Ethik, oft sorgfältig verborgen hinter einer übertrieben-zynisch witzelnden Maske. Der Stamm der alten Propheten lebt noch. Die Bibel ist nur ein Fragment. Altes und Neues Testament sehnen sich nach einer Ergänzung, nach einem tröstlichen Ende. Ich weiß, daß der große Führer, der kommende Messias nur ein Jude oder Slawe sein kann: Ein Asiate, ein Mensch aus dem ewig Ewiges zeugenden Osten.
In: Der Tag, 20.11.1923, S. 4-5.
Anitta Müller: Die jüdische Frau und die Politik
Die nächsten Tage sind zukunftsschwer. Sie tragen die Entscheidung in ihrem Schoße über Wert und Stellung der Parteien im neuen Staate. Dem Bilde im kleinen gesellt sich das Bild im großen; auf der Friedenskonferenz wird die Entscheidung fallen über Wert und Stellung der Völker.
Jüdische Frauen, wenn ihr mit dem bangen und ehrfurchtsvollen Gefühle, wie es uns vor großen, historischen Momenten überkommt, daran denkt, habt ihr bedacht, daß diese Tage und Wochen auch die Entscheidung über Wert und Stellung eures Volkes endlich bringen müssen? – Welches ist die Stellung des jüdischen Volkes im modernen Staatenbilde? Es wird als Volkseinheit geleugnet, wo man dem Volkstume Rechte zubilligen müßte; es wird als gesonderte Volkseinheit ausgerufen, wo immer man es mit Haß und Verfolgung bedroht.
An dem Wahlfieber dieser Tage nimmt zum ersten Male auch die Frau teil. Die Parteien umwerben sie, Plakate locken sie, Flugzettel schreien ihr Programme entgegen, laden sie zu Versammlungen. Es gilt, Volksvertreter zu wählen, welche über Wohl und Wehe, Leben und Größe, Rechte und Pflichten der Völker entscheiden sollen. Jede Partei zählt auf ihre Frauen. Auch das jüdische Volk zählt auf den Ernst und die bewußte Mithilfe seiner Frauen.
Die große Masse der Frauen ist politisch unreif. Sie hat sich erst seit viel zu kurzer Zeit mit den Fragen der Politik beschäftigt und steht darum fast ratlos vor einem Chaos, wo sich die Lager spalten, wo gleiche oder ähnliche Programme von mehreren Parteien auf einmal aufgestellt werden. Die jüdische Frau ist ihrer ganzen Wesensart nach zur leidenschaftlichen Teilnahme an der Politik geeignet. Sie hat einen lebhaften, beweglichen Geist, ist fähig, Ideale zu empfinden und sich ihrer Verwirklichung zu widmen. Die jüdischen Frauen wirken in allen Parteien, sie sind begeisterte Sozialdemokratinnen, Kommunistinnen, Demokratinnen. Die große Masse der jüdischen Frauen steht hinter den Führerinnen und ist verwirrt, denn auch sie zeigen keine einheitliche Richtung, keine Hingabe an die eine und einzige Sache. Und doch ist gerade für die jüdische Frau der Weg offen und klar. Die Plakate brauchen sie nicht zu locken, das Studium der verschiedenen Programme braucht ihnen kein Kopfzerbrechen zu verursachen; die jüdische Frau gehört ihrem Volke, sie hat nur für ihr Volk zu arbeiten und zu wählen.
Auch die jüdischnationale Partei stellt Kandidaten in den Wahlkampf. Für das jüdische Volk bedeutet der Ausfall des Wahlkampfes die Entscheidung über seine Existenz und seine Lebensmöglichkeiten auf viele Jahre hinaus. Jude sein, heißt immer und überall in der Minderheit sein. Bisher haben die Minderheiten von der Gnade der Majoritäten gelebt. Die Friedenskonferenz aber will für das Selbstbestimmungsrecht für volle Freiheit auch der Minderheiten eintreten. Endlich aber muß auch die endlose unerträgliche Unterdrückung des jüdischen Volkes zur Sprache kommen, und zwar in einer würdigen Form, die sicher ist, daß alle Klagen und Beschwerden auch Gehör finden. Blutige Pogrome, Antisemitismus, der Berufe verrammelt, Existenzen untergräbt, das ist Lohn und Dank für ein Volk, dessen Angehörige in treuer Kulturarbeit jedem Lande gedient, das sie aufgenommen. Die Vertreter eines starken seiner selbst bewußten Volkes, werden überall gehört werden müssen. In der ersten Nationalversammlung Deutschösterreichs werden Entscheidungen fallen, die von weittragender Bedeutung für das Leben der Juden in diesem Land sein werden. Von der Anzahl der Stimmen, welche die jüdischnationalen Kandidaten erhalten, wird es abhängen, ob in der Schicksalsstunde des jüdischen Volkes Männer seines Blutes, Männer, die von bewußter Liebe und Hingabe zu ihm erfüllt sind, die Entscheidungen werden mitbestimmen dürfen.
Jede Stimme kann ausschlaggebend sein. Deshalb muß jeder jüdische Mann, jede jüdische Frau in diesen Tagen sich ihrer nationalen Pflicht voll bewußt sein. Besonders an die Frauen wenden wir uns. Frauen sind die Trägerinnen des Gefühles. Der nationale Gedanke faßt nirgends so fest und tief Wurzel wie im Herzen der Frau. Wenn sich beim Manne im steten Daseinskampfe, in steter Berührung mit volksfremden Elementen das nationale Gefühl mindert oder doch in den Hintergrund gedrängt wird, in der Frau erhält sich, still behütet, das Bewußtsein der Volkszugehörigkeit wie ein Heiligtum. In ihm spricht sich die Liebe zu den Ahnen aus und die Zärtlichkeit für ihre Kinder und Enkel. Wir jüdischen Frauen, die wir mit sittlichem Ernste und gläubigen Herzen jüdisch wirken und jüdisch leben wollen, stehen zu unserem Volke in einer Art Pflichtverhältnis. Das Volk braucht uns heute und wir werden seinen Ruf aus der Not nicht ungehört verhallen lassen. Das kleine Volk, das überall verstreute, das, gedrängt und verfolgt, sich von Tag zu Tag seines Lebens wehrt, muß voll und ganz auf seine Angehörigen, auch auf seine Frauen rechnen können.
Das jüdische Volk erwartet, daß alle jüdischen Männer und Frauen für die von ihm aufgestellten Kandidaten stimmen werden. Beim heutigen Wahlkampfe dürfen nicht allgemeine Schlagworte gelten, nicht nur Welt- oder Klassenfragen: für den jüdischen Mann, für die jüdische Frau gilt es vor allem das Interesse und der Fortbestand des jüdischen Volkes.
Jüdische Frauen, die Entscheidungsstunde für das jüdische Volk soll beweisen, daß ihr euch als lebende Glieder eures Volkes, als Trägerinnen des jüdischen Nationalismus fühlt. Er ist kein engherziger Nationalismus, wir er nur zu oft als Deckmantel der Unduldsamkeit dient, er ist ein Nationalismus der Liebe und der Gerechtigkeit, aber auch der Notwehr. Arbeitet für die Ehre und das Ansehen eures Volkes, für das Glück und die Zukunft eurer Kinder:
Gebet eure Stimmen den Kandidaten der Jüdischnationalen Partei!
In: Wiener Morgenzeitung, 2.2.1919, S. 7.
Else Ehrlich: Brot setzt sich in Bildung um
Else Ehrlich: Brot setzt sich in Bildung um (1926)
Das ist das Tröstliche an der Gründung der Arbeiterhochschule, daß sie, da die sozialdemokratische Partei die Hammerbrotwerke nicht mehr halten konnte, die Riesensumme, die ihr der Verkauf brachte, dazu verwendete, jenen, denen sie nun nicht mehr das Brot des Lebens reichen kann, das geistige Brot zu bieten, das so manchem nicht minder nottut, wie jener Bissen, den er sich oft vom Munde abspart, um dieses zu erlangen.
In dieser Gründung ist ein neuer Zug zu bemerken, der sie über den Geist der Parteien hebt, der endlich einmal einigen intelligenten und künstlerisch veranlagten Menschen gestattet hat, ein Werk nach ihren eigenen Ideen, nach ihren eigenen Plänen, ohne Begutachtung durch Kommissionen und Behörden zu entwerfen und zu verwirklichen, ein Werk, das vorläufig nur auf zehn Jahre gedacht — für diese Zeitspanne wurde das Maria Theresien-Schlössel in der Sickenberggasse von der Gemeinde Wien in Miete genommen —, doch Ewigkeitsaspekte zeigt. Das alte Schlössel, dessen großer Festsaal — der Vorlesungssaal —, der mit Fresken von Altamonte geschmückt ist, das infolgedessen unter Denkmalschutz steht und keinen Privaten zur Wohnung überlassen werden kann, ist erst vor einem Jahr in den Besitz der Gemeinde Wien übergegangen. Anfang November aber erst begann der Direktor der Arbeiterhochschule, Josef Luitpold Stern, mit dem Umbau nach den Plänen des Architekten George Karau. Aus einem wüsten Durcheinander entstand in wenigen Wochen ein schmuckes Heim, dessen Aula drei großzügige Fresken von Rudolf Otto Schatz schmücken, das in seinen, ohne jeden Pomp und doch nicht als Armeleut-Wohnung eingerichteten Schlafsälen und dem gediegenen Speisesaal und Studienraum zweiunddreißig Menschen beiderlei Geschlechtes geistige und körperliche Nahrung und Wohnung zuträgt.
Jeder Lehrgang umfaßt sechs Monate. Zehn der Teilnehmer werden von der Gewerkschaftskommission, zwanzig von der Partei ausgewählt. Es sind darunter fast durchaus Arbeiter, die direkt aus den Betrieben kommen und nach vollendetem Lehrgang wieder in diese zurückgehen. Unter den zweiunddreißig Hörern sind sechs Mädchen und Frauen; sie allesamt genießen diese Ausbildung auf Kosten des Vereines Arbeiterhochschule, und jenen, die verheiratet sind, wird von eben dieser Stelle jene Summe zur Verfügung gestellt, deren ihre Familie zum Leben bedarf.
Um halb 7 Uhr morgens geht das Tagewerk an. Von 7 bis 8 Uhr wird in der Aula geturnt, dann kommt das Frühstück. Von ¼ 9 bis 12 Uhr sind, mit einer viertelstündigen Pause für das zweite Frühstück, Vorlesungen, um ½ 1 Uhr ist Mittagszeit. Bis 5 Uhr beschäftigen sich die Hörer mit der Verarbeitung und Wiederholung des Stoffes, wobei ihnen eine reiche Studienbibliothek zur Verfügung steht. Um sich diese Wiederholung und Verdauung zu erleichtern, sind die Hörer in sechs Arbeitsgemeinschaften geteilt, die den Lehrstoff gemeinsam erarbeiten. Von 5 bis 6 Uhr ist Seminar, um ¾ 7 Uhr Nachtmahl; dann kann jeder tun, wonach sein Sinn steht. Die Gemeinsamkeit hat sich aber so rasch herausgebildet, daß in diesen Tagen schon siebzehn von den zweiunddreißig sich zu gemeinsamem Theaterbesuch einten, während das Gros der anderen sich daheim zu Musikstudium und Lektüre gesellte. Jeder Hörer bat das Recht von Samstag bis Sonntag auf Urlaub zu gehen.
Der Lehrplan umfaßt Sozialpolitik und Arbeiterrecht, Schutztechnik und Genossenschaftswesen, Gewerberecht und gewerkschaftliche Wissenschaften, Gesetzeskunde — Einführung in die Hauptabschnitte der Rechtskunde, Familien- und Erbrecht —, kurz gesagt: wir sehen eine staatswissenschaftliche Fakultät entstehen. Der nachmittägige Seminarunterricht umfaßt ein volkswirtschaftliches und statistisches, ein journalistisches und rhetorisches Seminar.
Als Lehrer werden vorzugsweise Sozialisten gewählt, gewollt und gesucht, die gleichzeitig Forscher und Praktiker sind, also praktische Gelehrte, Männer, die in der Wissenschaft und der Parteibewegung vollkommen verankert sind. So liest Renner Staatslehre, Otto Bauer Nationalökonomie, Max Adler Geschichte der Ideen des Sozialismus, Doktor Palla über soziale Politik. Kunfy, Volkssekretär in Ungarn zur Zeit der Kommune, liest europäische Geschichte ab 1789, und Universitätsprofessor Otto Neurath deutsche Wirtschaftsgeschichte bis 1789. Der Präsident des Nationalrates Eldersch macht die Hörer, mit dem Versicherungswesen vertraut, Arnold Eisler liest über Rechtskunde. Die einzige Frau, die sich lehrend an der Arbeiterhochschule betätigt, ist Frau Helene Bauer, die Gattin Otto Bauers, die das wirtschaftlich-statistische Seminar leitet.
Neben der Pflege des Verstandes wird aber auch Wert auf Charakterschulung und Gemütsbildung gelegt. Die erstere zu erreichen, ist die Anstalt in die Hand der Schüler gelegt, selbst verständlich unter Kontrolle des Vereines. Das bedeutet für die Hörer keine Belastung, da ihnen Hilfskräfte zur Verfügung stehen; die Entwicklung der Solidarität läßt sie über die kleinen Mehrarbeiten, die ja dem Arbeiter durchaus vertraut sind, mit Freuden hinweggehen. Die Schulung des Gemütes wird durch Veranstaltung von künstlerischen Abenden, durch den Versuch, Sprech- und Gesangschöre zu schaffen und durch gemeinsamen Besuch von künstlerisch hochwertigen Veranstaltungen gefördert.
Der Verein Arbeiterhochschule hat es aber auch verstanden, einen Direktor an die Spitze der Volksuniversität zu setzen, der aus dem Volke hervorgegangen, in dessen Interessen verankert, mit Leib und Seele seit seinem fünfzehnten Lebensjahre mitten im Parteileben steht, der nicht nur als Staatswissenschaftler Bücher von dauerndem Werte geschaffen, sondern der auch künstlerisch über das gewöhnliche Maß weit hervorragt. Josef Luitpold Stern, der erst seit Anfang November wieder in Wien weilt, wird in den nächsten Wochen Soziale Balladen, mit Holzschnitten von Rudolf Schatz, erscheinen lasten, die das erste bibliophile Werk sein werden, das zu einem ganz unglaublich billigen Preis, zirka fünf Schilling, erscheinen wird.
Er ist es auch, der den wunderhübschen Gruß erdacht hat, der das Freimaurerzeichen der Zusammengehörigkeit der Hörer dokumentiert. „Freundschaft!“ sagt mir mit gewinnendem Lächeln die junge Hörerin, die aus dem Bureau des Stadtschulrates zur Weiterbildung auf der Arbeiterhochschule gewählt wurde, da sie mir die Hand reicht, und „Freundschaft“ sagen im vertrauenden Ton die jungen Arbeiterhörer, die mich zum Abschied in die Aula begleiten.
In: Der Tag, 24.1.1926, S. 8.
Otto Abeles: Das Jiddische Theater in Wien. Aufklärendes über die „Freie Jüdische Bühne“
In einem Hinterhaus der dunkelsten Leopoldstadt begann vor vier Jahren die „Freie Jüdische Volksbühne“ ihre Tätigkeit. Baratow entschloß sich dort, vom russischen zum jiddischen Theater überzugehen. Jarno erkannte Eigenart, Kraft und künstlerische Bedeutung dieser Vorstellungen und öffnete dem Ensemble seine Bühnen. Und Liebstoeckl, sehr bewegt nach der ersten Begegnung mit diesem Wiener jiddischen Theater – und sehr erstaunt über die Zrrückhalteung (heraus damit: Verschämtheit) israelitischer Fachkollegen – schrieb in seinem Referat: „Wess Herd dies auch war, hier durft‘ ich rasten“
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Ich nehme das schöne Wort auf. Inzwischen hat man ja in Wien auch die Abende der „Wilnaer“ und jüngst erst die des New Yorker jiddischen Künstler-Theaters genossen und es ist angebracht, einiges über das Idiom zu sagen, das an diesem Herde gesprochen wird. Über die Menschen, denen dieser Herd Heimat ist. Über die Wärme, die er spendet. Über die Geistigkeit, die seine Flamme nährt.
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Jiddisch ist die Sprache von rund zehn Millionen und sie ist vom Kai-Jargon ungefähr so weit entfernt, wie etwa die grammatikalisch einwandfreie Freitags-Predigt eines preußischen Reformrabbiners vom wesenhaften Deutsch entfernt ist.
Kai-Jargon: das ist im besten Falle butterweiche, jämmerliche, um Mitleid bettelnde Sentimentalität – wie bezeichnend, daß sich just das Wort „nebbich“ hier erhalten hat – im schlechtesten (häufigsten) Falle aber zynischer Fatalismus, dem Selbstbeschmutzung eine erheiternde Angelegenheit ist.
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„Jiddisch“, das ist ungebrochene Kraft der Empfindungen (himmelweit entfernt von degenerierter Sentimentalität), Inbrunst, Leidenschaft, Freude, rasender Schmerz, Humor – hohes Lebensgefühl. Es sind nicht nur Beispiele für die Prägnanz der Sprache, sondern weit mehr für die Wesenheit ostjüdischer Menschen, die ich jetzt anführe. Ausdruck für sehr dunkle verzweifelte Lebenslage ist das Wörtchen: „nischt gitt“, für freudigste Dankesbezeigung das Wörtchen: „a Dank“.
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Die Menschen, in deren Bürgerwohnungen, Massenquartieren, Spelunken, Schnapsbuden, Kellerlöchern dieser Herd steht, kommen ausnahmsweise von der Börse und niemals aus Kaffeehäusern, Nachtlokalen, Redaktionsstuben und von Turfplätzen heim. Sie sind Fuhrleute und Fischer, Schnapsbrenner und Kleinkrämer, Landwirte und Schänker, Talmudisten und Spielleute; sie sind Mystiker oder Zuhälter, hungernde Idealisten oder gemästete Plusmacher, Arbeiter oder Ausbeuter, Höhenmenschen von reinster Gesinnung oder gehaute Gauner – kurz, sie sind das Volk. Sie wohnen im „Städt“ beisammen oder in einsamen Gehöften, die sie nicht trennen können. Sie sind einander verbunden in grausamsten Gefahren, bedroht: von Folternot der nächsten Stunde, aber auch in herrlicher höchstlebendiger Heiterkeit. Sie kennen einander bis zurück ins dritte oder vierte Geschlecht beim Vornamen. Ihre Stuben sind von köstlichen Volksliedern und ergreifenden, frommen Weisen durchzogen, von hundert wesenhaften Mythen und Legenden überrankt, vom Glanz der Feiertagskerzen wunderbar erhellt.
Unter dem schmutzigen Kaftan schlägt ein Herz, unter dem speckigen, niemals gelüfteten Käppchen sinniert ein ewig junger, ein heißer Geist, und wenn sie bei ihrem Herd sitzen, diese Menschen mit dem unfreien Gang und dem runden Rücken oder jene anderen mit dem vierschrötigen muskulösen Körper, der auch bei schwerster Arbeit in Urvätertracht gezwängt bleibt – dann heimliche Schönheit auf.
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Höchstes Gut dieser Menschen – auch ihre Sprache zeugt dafür – ist die Lebensbejahung, die naive, trotz aller Bedrängnis ungebrochen fortwirkende, heilige Freude am Dasein. Eine Greisin, die alle ihre Angehörigen als geschlachtete Pogromopfer in der ukrainischen Erde zurückgelassen hatte, sagte mir: „Ich habe so viel mitgemacht, daß ich es verdiente, doppelt so lang zu leben…“
Wer ostjüdischen Menschentum nahe kommen will, hat sich zunächst den Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation klar zu machen. Bekanntlich ist nur für letztere der Seifenverbrauch ein Gradmesser. Dem Judentum fernstehende Menschen, wie Richard Dehmel und Herbert Eulenberg, haben die Wesenheit des Ostjudentums erkannt und es ist Zeit, daß der Westjude die selbstmörderische Unkenntnis des östlichen Judentums abbaut. Der Westjude könnte hier – man verzeihe das pathetische Wort – den Weg zu den Müttern finden.
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Spiegel des Ostjudentums, Bild seines bunten, naiven Volkswesens, Zeugnis der überraschenden Lebendigkeit und Lebenskraft seiner Menschen ist das Jiddische Theater. Gemeinschaftsgefühl, blutrote Leidenschaft, Weißglut der Ekstase, Liebseligkeit, naive Gläubigkeit, grübelnder Geist, der mit Gott hadert, vor allem aber die unbedingte Bejahung des Lebens, als der herrlichsten Gabe des Himmels, die zu wahren und zu lieben ist, so lange noch ein Atemzug die Brust hebt – dies alles ist hier sinnfällig im künstlerischen Gleichnis gezeigt.
In: Die Bühne, H. 2 (1924), S. 28.
David Bach: Revolutionskabarett
D[avid] B[ach]: Revolutionskabarett. (1921)
Jedesmal am Wendepunkt der Zeiten bilden sich eigen Ausdrucksformen für das, was dem Masseninstinkt gesagt sein will und seine abgeschlossene, der Aktualität entrückte Kunstform noch nicht gefunden hat, vielleicht auch gar nicht finden kann. Heute nennt man all das, was nirgends sonst untergebracht werden kann, Variété, Kabarett und glaubt was Besonderes zu tun, wenn man das Wort „Künstler voranschickt. Aber das bürgerlich-freiheitliche Studentenlied vor hundert Jahren war auch etwas, was in seine Kunstrubrik passen sollte und doch seine großen Werte besaß, auch künstlerische, sicherlich agitatorische. Wenn das schönste Freiheitslied jener Zeit, das uns heute sehr philisterhaft ledern dünkt verboten wurde, so war’s ein Attentat gegen die Kunst, wenn man will, vor allem jedoch ein Angriff gegen seine unerwünschte agitatorische Kraft. Die moderne Großstadt hat seine Volkslieder mehr, wohl aber Hunderte von Liedern, die das Volk – leider – singt, und einige ganz wenige, die es singen könnte oder die es zumindest anhören müßte, weil sie der unverdorbenen Empfindung des Volkes entsprechen. Solche Lieder gedeihen nicht im Konzertsaal; sie kommen von der Gasse, von der politischen Versammlung und gehören als Kunstprodukt auch in ein Lokal, das dem Zusammenhang mit der Unmittelbarkeit des täglichen Lebens nicht ganz entrückt ist. Solche Lokale sind heute fast nur auf das Bedürfnis des Schieberpublikums zugeschnitten. Doch manchmal passiert etwas Seltsames…
Wirkliche Künstler aus Berlin nämlich bilden jetzt im „Pan“ das Kabarett „Größenwahn“. An sich will dies noch nichts besagen, denn eine berühmte Iphigenie Wiens ist monatelang in einem Nachtcafé aufgetreten, um in einer Nachtcaféausgabe der jetzt ohnehin nicht übermäßig hoch stehenden Operette zum Entzücken aller Schieber das Wort „Rebbich“ auszusprechen. Doch was die Berliner Gäste – sie sind fast alle schon in Wien bekannt, Rosa Valetti (ehemals Volksbühne), Jakob Tiedtke (ehemals Burgtheater), auch Sita Staub – bringen, das macht ihre Besonderheit aus. Da singt die Valetti ein Lied Warum sind wir arm? und die Revolution steigt drohend auf, dann das Rote Lied – und die Revolution marschiert. Der zahlungsfähige Spießer, der sich soeben an einem trotz Tiedtke und den anderen höchst unbedeutenden, vom üblichen Variétéschema kaum abweichenden Einakter höchlichst ergötzt hat, rutscht bei diesen Liedern verlegen hin und her und weiß nicht, wie ihm wird. Denn die Zeiten, da sich eine untergehende Gesellschaft an den Gesängen ihres Unterganges ergötzte, wie die französischen Aristokraten an Beaumarchais, sind noch nicht wieder da; dazu fehlt es den Herrschern von heute denn doch zu sehr an Kultur, und wäre es auch nur die des Absterbens. Besser scheinen sich diese Variétébesucher mit einem zweiten Einakter abzufinden, der Die Ohrfeige heißt. Der ist nun freilich an sich schon höchst lustig und hat für dieses Publikum manche Zugänge, da er anfänglich der „Partie Klabrias“ ein wenig ähnlich schaut. Aber in Wahrheit ist er eine blutige Verhöhnung des feigen Spießer- und Schiebertums und so wird er insbesondere von Tiedtke und Frau Valetti ganz bewunderungswürdig gespielt.
Das ist noch nicht alles. In diesem Kabarett – es heißt übrigens „Größenwahn“ nur deshalb, weil es in Berlin im Café des Westens auftritt, in der Berliner Nachfolge des Wiener Cafés Griensteidl -, hier also werden Lieder gesungen, welche für Deutschland die Entdeckung des Lumpenproletariats bedeuten. Ja, auch hier sind Menschen, und unter aller Verkommenheit zuckt ein menschliches Herz. Die Franzosen kannten solche Lieder längst, Aristide Bruant, die Yvett Guilbert haben sie gesungen, jener auch gedichtet. In deutscher Sprache gab es dergleichen nicht; ein großer Ahnherr dieser neuen Reihe ist übrigens Wedekind, dessen Lieder die Wiener Polizei natürlich verboten hat, wahrscheinlich, um ihn vor dem Schieberpublikum zu retten. In Wien gibt’s dergleichen Lieder gar nicht, wie wir ja auch keinen Zeichner wie Zille haben, der als Maler den Rand der Großstadt entdeckt hat. Wir sind zu prüde, zu zimperlich; war doch mancher Arbeiter schon erstaunt, als Arbeitervorstellung eine Dichtung Liliom zu sehen, deren Held ein dem äußeren Anschein nach nicht gerade übermäßig edler Lumpenproletarier ist. Die Berliner greifen ganz unsentimental zu. Das „Dornröschen vom Wedding“ ist wahrhaftig sein „süßes Mädel“, aber ein Menschenkind, gruselig erheiternd in ihrer nach ein bißchen Glück schmachtenden Verkommenheit. Eva Brock singt diese und ähnliche Lieder ganz prachtvoll. Daneben wirken die Lieder, die Käthe Kühl sehr nett vorträgt, weit schwächer, sie schmecken doch zu sehr nach dem Lumpenproletariat im Literaturcafé.
Aber als Ganzes müßte dieses Kabarett, das als solches ebenfalls ein Ausdruck der Revolution ist, in der wir leben, vor allem Widerhall bei den Arbeitern finden. Es muß möglich sein, den Künstlern hierzu die Gelegenheit zu schaffen.
In: Arbeiter-Zeitung, 15.5.1921, S. 4-5.
Fred Heller: Jazz-Dämmerung.
Was „Jazz“ und was Shimmy ist, braucht man keinen Tänzer mehr zu sagen. Und Nichttänzer sind, seit der Foxtrott mit zu einem Souper gehört, keine voll zu nehmenden Menschen. Wie können sie sich beispielsweise jetzt in einem Kurort, draußen in der Sommerfrische erholen, wenn sie nicht allabendlich oder doch ein-, zweimal in der Woche ein bißchen trotten und stepen! Die Beherrschung der modernen amerikanischen Tänze ist längst ein Teil der allgemeinen Bildung. Ein allgemein gebildeter Mensch hat sich also natürlich auch bereits den „Jazz“ und den „Shimmy“ zu eigen gemacht, diese beiden letzten Importe aus Amerika, oder er ist zumindest fest entschlossen, spätestens im Herbst seine bislang noch theoretischen Kenntnisse, sein Wissen um die Geheimnisse menschlicher Gelenke, in praktisches Können umzusetzen. Aber ob es dann nicht schon zu spät sein wird? Zuverlässige amerikanische Berichterstatter malen einen Tanzteufel an die Wand, der nicht mehr nach vorgeschriebenen Rhythmen die Schultern verstauchen, den Leib verkrümmen und die Gliedmaßen aus ihren Scharnieren heben will. In Amerika bereitet sich nichts geringeres als eine Reaktion vor! Eine Reaktion im amerikanischen Tanz ist aber eine europäische Angelegenheit. Deshalb kann nichts früh genug die Aufmerksamkeit der Alten Welt auf die drohenden Anzeichen jenseits des großen Teiches hingelenkt werden.
Miß Albertina Rasch, eine junge Wienerin, die sich als erste Tänzerin drüben am Century Opera House, der Jahrhundertoper in New-York, ihren Namen gemacht hat, ist kürzlich in Wien zum Besuch ihrer Angehörigen eingetroffen und hat ganz besorgniserregende Nachrichten mitgebracht. Worüber spräche man denn auch in Wien zuerst mit einer amerikanischen Tanzkünstlerin? Vielleicht erfährt man gar als erster von einem ganz neuen Tanz und hat dann das Glück, ihn sich gleich zeigen lassen zu können.
„Ich komme über Paris, ich weiß alles“, lächelt Miß Rasch. „Europa, du hast es nicht besser! mußte ich denken, als ich den begeisterten Tanzkult sah, und wie ich höre, steht Wien durchaus nicht zurück. Nein, es gibt keine neueren Tänze als den Jazz und den Shimmy. Kann es denn überhaupt in dieser Beziehung noch „Moderneres“ geben? Man hat sich drüben den ersten Niggertanz, den Cake Walk, von idyllischen Festlichkeiten der Neger in die Ballsäle geholt. Das war noch ein wirklicher Tanz, ganz neuartig für unsere Begriffe und trotz oder wegen seiner exotischen Reize auch nach ästhetischen Begriffen eine Bereicherung der Gesellschaftstänze. Aber dann hat man angefangen, die Niggertänze aus den Nachtlokalen von San Francisco und New-Orleans zu beziehen, südamerikanischer Einfluß machte sich bemerkbar, und so ist der Nachfolger des argentinisches Tango und der brasilianischen Matchiche der Foxtrott geworden, eine Kreuzung etwa von One Step und Matchiche. Der Foxtrott kam dem amerikanischen Tänzer sehr entgegen, der ein ungemein ausgeprägtes rhythmisches Gefühl, aber gar kein melodisches Empfinden hat, daher auch eine Art Walzer mit synkopischer Taktform statt des echten Walzers tanzt. Es gibt kaum einen Amerikaner, der nicht Foxtrott tanzt und man tanzt ihn von früh bis nachts, in den Vergnügungslokalen genau so wie mittags in den Restaurants. Und es wird heute noch genau so gern Foxtrott getanzt wie vor einem Jahr, obwohl inzwischen der Jazz und der Shimmy modern geworden sind. Mit dem Jazz, der aus New-Orleans und Chicago eingeschleppt wurde, mit diesen, schon durch die dazugehörige Musik der Jazz-Banden unerträglichen gymnastischen Uebungen zum Lärm und Geräusch der unglaublichsten Instrumente ist man bereits von dem, was man noch Tanz nennen kann, abgekommen; der Gipfel der Geschmacksverrohung war dann gleich die nächste Novität, der Shimmy, ein Tanz, der nur aus der allgemeinen Verrohung durch den Krieg zu erklären ist. Wie hätten auch Kulturmenschen sonst an etwas Gefallen finden können, das die Roheit des rohesten Afrika ausdrückt. Und auch dieser Tanz ist von Europa übernommen worden!“
„Es ist unser letzter Schrei!“ bemerkte ich.
„Daß das sogar in Wien möglich ist!“ staunte die Amerikanerin aus Wien. „Die überschlanke Amerikanerin darf sich vielleicht noch solche Körperbewegungen erlauben. Aber schon die Pariserin fand ich im Jazz unmöglich. Doch selbst in Amerika beginnt man bereits von den allerneuesten Tanzschöpfungen abzuschwenken, man tanzt Shimmy und Jazz immer seltener, der Geschmack fängt sich an, umzubilden. Das Naserümpfen und die abfälligen Bemerkungen werden drüben in letzter Zeit häufiger. Die Verrohung, die auch drüben der Krieg mit sich gebracht hat, geht sichtlich auch im allgemeinen zurück, und so wird man auch von den wilden modernen Tänzen allmählich wieder zu sanfteren, legereren Linien zurückkehren!“
„Und der uns allen heilige Foxtrott?“
„Keine Sorge, der wird sicherlich noch lange herrschen, wenn er nicht überhaupt schon zum sogenannten „ewigen“ Bestand der Tanzkarte zu zählen ist, wie der Two Step und die nur augenblicklich in Vergessenheit geratene „Washington Post“. Es existiert ja in Amerika eine veritable Foxtrottindustrie. Fast täglich kommt ein neuer Foxtrott heraus. Eigene Musikverleger befassen sich mit dem Vertrieb, die Noten werden weithin gratis verteilt und in zwei Wochen kann das ganze Land jeden neuen Foxtrott. Die erfolgreichsten Komponisten sind dabei fast durchweg russische Juden, so zum Beispiel der populärste, der sich Irving Berlin nennt. Edison und ihn kennt jeder Mensch.
In allem Unglück also doch ein Trost: wir haben den Foxtrott zumindest nicht umsonst gelernt, wenn wir im heurigen Winter vielleicht schon den Jazz und den Shimmy wieder vergessen müssen. Daß es um diese beiden Negerstämmlinge besonders schade sein würde, wird wohl am wenigsten in Wien behauptet werden, wo wir als „Ersatz“ immerhin und schlimmstenfalls noch den Walzer haben.“
In: Neues Wiener Journal, 22.7.1921, S. 5.
Leo Lania: Das junge Amerika
Was an literarischen Werken in den letzten Jahrzehnten aus Amerika den Weg nach Europa gefunden hat, konnte gewiß nicht die Behauptung rechtfertigen, es gäbe so etwas wie eine nationale amerikanische Literatur. Andererseits ist es jedoch ganz klar: dieser einzigartige Assimilationsprozeß, der aus jedem in die glühende Effe des amerikanischen Lebens geratenen Engländer, Deutsche, Tschechen in wenigen Jahren den Amerikaner schweißte und hämmerte, mußte auch in der Literatur sein Abbild finden. Und so bezeichnet auch der allen modernen amerikanischen Schriftstellern eigene Wesenszug – ihre innige Verwachsenheit mit der journalistischen Reportage – mehr als etwas formales, äußerliches; er drückt sich in der Technik dieser Literatur ebenso aus wie in ihrem Stil und – nicht zuletzt – in der Problemstellung und den künstlerischen Absichten der Autoren.
Mit dieser Feststellung soll gewiß kein Werturteil abgegeben werden. Für den deutschen Bürger, der von jeher aus der Not seiner politischen Unreife eine künstlerische Tugend gemacht hat, muß das ausdrücklich betont werden. In anderen Landen aber, wo die breiten Schichten des Volksganzen die künstlerischen Leistungen weniger genau zu registrieren und katalogisieren verstehen, sie dafür aber um so intensiver, zumindest unmittelbarer und innerlich freier empfinden, weist man den schaffenden Künstler keineswegs aus dem Kampfgetümmel der Parteien und sieht durchaus nicht seine Aufgabe darin, den Sorgen und Nöten seines Volkes entrückt, auf einem erhabenen Piedestal zu stehen, allwo er als Zierde der Nation dekorativ zu wirken berufen ist.
So ist denn auch – nicht trotz seiner starken, einseitigen Tendenz, sondern über sie hinaus – der und Europäern bisher noch nicht bekanntgewordene Amerikaner John dos Passos ein Dichter. Sicher, daß die Bedeutung seines vor kurzem in deutscher Übersetzung erschienenen Romans („Die drei Soldaten“, Malik-Verlag, Berlin-Halensee) nicht in der politisch-erzieherischen Tendenz des Buches allein liegt. Gerade in seiner Unausgeglichenheit, dadurch, daß es technisch nicht jene vollendete Geschlossenheit der Sinclairschen Romane aufweist, vermittelt dies Werk sehr interessante Einblicke in die geistigen Strömungen der modernen amerikanischen Literatur und die Psyche des amerikanischen Menschen.
„Die drei Soldaten“ ist ein Kriegsbuch. Unwillkürlich denkt man an Barbusses „Feuer“, mit dem es in der Gesinnung und in Aufbau sehr vieles gemeinsam hat. Aber der Vergleich zeigt auch ganz scharf die Grenze, die diese beiden Kriegsbücher scheidet und die in Wahrheit die Trennungslinie zwischen dem Empfinden, der Sinnesart des alten Europäers und des jungen Amerikaners ist. Sonderbar: der Krieg erscheint in diesem amerikanischen Kriegsbuch nicht als das Wesentliche. Nicht der Schützengraben, nicht die Schlacht, nicht das Töten und Getötetwerden gibt dos Passos den Vorwurf zu seinen unerhört plastischen Bildern und aufwühlenden Schilderungen – der Kasernendrill, der militärische Zwang, die Unterjochung der Persönlichkeit durch Leutnantsregiment und Kadavergehorsam, das erscheint dem Amerikaner als das wahre Problem. Oder wie es Passos einen jungen Soldaten ausdrücken läßt: „Der Krieg wäre vielleicht gar nicht so schlimm, wenn es nicht wegen des Militärs wäre!“ In der ganzen Primitivität dieses Ausrufes spiegelt sich der Geist und das Empfinden einer jungen unverbrauchten Rasse, die nicht die sein verästelten seelischen Hemmungen des Europäers kennt, deren Persönlichkeitsgefühl aber ebensowenig durch Generationen unterdrückt, verkümmert wurde. Und offenbar wird – für viele gewiß nicht überraschend –, daß auch dies eines jener aus dem Dünkel des Europäers abgeleiteten Märchen ist: je älter die Rasse, desto stärker und seiner ihre Sensibilität. Zumindest fehlt der Zusatz: desto stärker auch die Widerstandsfähigkeit, der seelische Panzer.
Die Fabel des Buches: mager und eigentlich auch nebensächlich. Ausbildungslager in Amerika – Einschiffung – Truppentransport nach Frankreich – Etappendienst hinter der Front. – Auf dem Vormarsch zur Stellung wird der eine der drei Soldaten, ein junger Musiker, verwundet, leicht verwundet, er kommt ins Spital – sein Anteil am Kriege ist eigentlich erschöpft, er wird nach Paris auf Studienurlaub entlassen – da ist auch schon der Waffenstillstand unterzeichnet. Nun wahrlich, glimpflicher hätte nicht bald einer davonkommen können, denkt man unwillkürlich. Aber auch die anderen Helden des Buches haben ein glückliches Los gezogen – stets reichliche Verpflegung, immer in der Etappe, immer unter Dach und Fach… aber just da setzt für Passos den Amerikaner das tragische Motiv ein: der Zwang. Gibt es, kann es etwas Unmenschlichere, Widernatürlicheres, Furchtbares geben als diesen? Daß der junge Musiker verhaftet wird, weil er von einer Patrouille ohne Paß betroffen wird, daß man ihn ohne Verhör strafweise in eine Arbeitskompagnie einreiht – daß so etwas möglich ist, erschein Passos als Höhepunkt der Tragik. Der Musiker desertiert – er könne um Entlassung einreichen, würde sie ohneweiters nach kurzer Zeit erhalten – er tut das nicht. Wieder eine Uniform anziehen? Wieder stramm stehen vor jedem Vorgesetzten? Wieder Soldat, Automat werden? Nein, nicht einmal für Stunden. So geht er zugrunde.
Wir Europäer, Deutsche, Franzosen, Italiener, Russen, wir haben in den letzten Jahren so unerhört vieles, so schreckliches – nein, nicht erlebt – über uns hinwegbrausen lassen, daß es wahrlich kein Wunder ist, wenn wir heute einfach nicht fähig sind, das zu empfinden, was Maeterlinck einst „ die Tragik des Alltags“ genannt hat. Hätten wir es im Kriege gekonnt, das Erleben hätte uns das Leben gekostet. Das Buch von dos Passos zeigt und Europäern, wie viel wir auszuhalten vermochten und – vermögen.
Der deutsche Militarismus ist auf den weiten blutgedünkten Schlachtfeldern Frankreichs zusammengebrochen – sein Geist aber hat in einem nie geahnten Triumphzug Frankreich und die Tschechoslovakei, zwei Drittel von Europa und den wahren Sieger im Völkergemetzel, Amerika, erobert. Daß dieser junger amerikanische Militarismus nicht nur in seinem inneren Wesen, sondern in allen seinen Formen und Äußerlichkeiten nur ein Abklatsch des kontinentalen Leutnantsregiments mit allen seinen Brutalitäten, Scheußlichkeiten, Borniertheiten ist, das hat uns und vor allem den Amerikanern zuerst Sinclair gezeigt. Dos Passos ist – ich möchte beinahe sagen – nicht so jung, so unbekümmert, so absolut wie Sinclair – das macht, daß wir uns ihm verwandter fühlen als jenem. Und um so stärker beim Lesen dieses Buches von dem Entsetzen gepackt werden: „Tua res agitur“ (Es geht um dich!). Auch wir sind dieser Hölle noch nicht entronnen.
In: Arbeiter-Zeitung, 30.8.1923, S. 5,
Hans Tietze: Sozialismus und moderne Kunst.
Schon in der Fürsorge, die eine Zeit forschend und konservierend, erwerbend und erläuternd den Werken der alten Kunst widmet, ist sehr deutlich ein Stück ihres eigenen Kunstgefühls lebendig. In noch höherem Maße muß ein Stück ihrer ganzen Kulturgesinnung und Weltanschauung an ihrem Verhältnis zu der künstlerischen Produktion der Gegenwart zur Geltung kommen, denn wer mit dem Ganzen seiner geistigen Persönlichkeit modern eingestellt ist, wird es auch in seinem Verhältnis zur Kunst sein. Und von diesem Standpunkt der geistigen Einheit gewinnt die Frage nach dem Zusammenhang politischen und kulturellen Bekenntnisses, die in der Regel von zwei Seiten her negativ zu werden pflegt, erneutes Interesse […]. Gibt es eine sozialistische Kunst? Ist ein Bildwerk, weil es einen sozialistischen Führer, einen Proletarier, einen Hungeraufstand, die Opfer eines kapitalistischen Übergriffs zeigt, deshalb sozialistisch? Oder gibt es gewisse Stilrichtungen – die expressionistische, die konstruktivistische oder die neue Sachlichkeit – die in höherem Grade als andere sozialistischem Denken entsprechen?
Vom Standpunkt, von dem wir diese Frage zu behandeln versuchen, scheint sie einer doppelten Erwägung zu bedürfen: einerseits, wie sich politische und soziale Umwälzungen überhaupt auf künstlerischem Gebiete auswirken, und andererseits, wie speziell die künstlerischen Probleme unserer Zeit sich zum Sozialismus verhalten.
Jeder gesellschaftlichen Struktur entspricht wie eine wissenschaftliche auch eine künstlerische Auffassung; eine die Herrschaft gewinnende neue Schicht setzt notwendig ihr eigene an Stelle der entthronten alten Auffassung. Aber diese // vollzieht sich nicht mit einem Schlage; die Kunst hat – unabhängig von den Bedingungen, denen ihre letzte Stilstufe entsprang – der uns seit Kant zum Axiom gewordenen Autonomie des Ästhetischen entsprechend, ihr eigenes, gleichsam objektives Dasein; ihre ursprünglich in einer früheren sozialen Stufe wurzelnden Formen leben weiter, um so mehr, als die neu zur Herrschaft gelangte Gruppe zunächst mit ihrer politischen und sozialen Einrichtung vollauf beschäftigt ist und erst später zur kulturellen Ausgestaltung ihres Daseins gelangen wird […]. Aber es liegt im Wesen der Kunst wie in dem aller anderen ideellen Errungenschaften, daß zunächst einzelne vorwegnehmen, was in der breiten Masse gelegen, ihr aber noch nicht zu Bewußtsein gekommen ist. Erst allmählich wird die neue maßgebend gewordene Schicht ihrer eigenen kulturellen Kraft inne und ihres neuen Ausdrucks fähig.
In dieser Weise hat etwa das Bürgertum, der dritte Stand der Französischen Revolution, an der Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert die kulturelle Führung an sich genommen; dabei hat es sich zunächst mit einem schwächlichen Absud der Kirchen- und Adelskunst begnügt und erst allmählich daraus seine eigene Kunstform gebildet, deren charakteristische Erscheinung, der Impressionismus, den Zusammenhang mit dem Liberalismus in politischer, mit dem Individualismus in sozialer, mit dem Kapitalismus in wirtschaftlicher, mit dem Materialismus in philosophischer Beziehung deutlich genug erkennen läßt.
Heute, hundert Jahre später, sind wir abermals überzeugt, an einer Wende zu stehen; der vierte Stand übernimmt in dieser oder jener Form die Herrschaft und mit der Herrschaft die kultureller Verantwortung vom dritten. Ganz wie dieser damals findet auch das Proletariat vorläufig mit den übernommenen Kulturformen sein Auslangen; noch glaubt radikale politische Gesinnung mit Geschmack an richtiger Bourgeoiskunst – und zumeist mit deren schwächlichsten Ablegern – vereinbar zu sein. Die Revolutionäre des Lebens empfangen ihre Kunst soweit sie sich überhaupt für sie interessieren, aus den Händen der Reaktionäre; fast möchte man sagen, daß sie sich glücklicherweise meist wenig dafür interessieren, denn in diesem Nichtinteresse liegt doch irgendwie die Erkenntnis, daß diese abgetakelte Kunst von gestern und vorgestern sinnlos geworden ist, daß all diese schalen Kulturhansel, die den durstigen Lippen des Volkes kredenzt werden, ihm weder Nahrung noch Genuß bieten können.
Dieser Zustand ist für einen Übergang charakteristisch, der sich hier nicht anders vollzieht wie auf anderen Gebieten; nicht von heute auf morgen wird eine neue Kunst da sein, sondern allmählich wird die neue Kulturschicht so weit erstarken, daß sie eine ihrem innersten Bedürfnis angemessene Kunst hervorbringen wird. Sind Keime und Ansätze zu dieser neuen Kunst bereits heute vorhanden?
In negativer Hinsicht werden wir des Zusammenhangs zwischen künstlerischem und politischem Leben deutlich gewahr; es ist kein Zufall, daß zur gleichen Zeit, in der die Kaiser und Könige gestürzt werden und die Wirtschaft in Umwälzung begriffen ist, auch die Kunst in Revolution steht, jahrhundertelang Anerkanntes umgestoßen wird, überall an Stelle des Alten Neues, Gewagtes, Unerhörtes sich durchsetzen möchte. Da und dort Ausfluß der gleichen revolutionären Gesinnung, die nicht mehr an die Heiligkeit der morschen staubigen Theatermöbel glaubt, die so lange zu imponieren vermochten, die, wie in das soziale und wirtschaftliche Leben, auch ins geistige und künstlerische frische Luftströme einführen will. Revolution – ob auf diesem oder jenem Gebiet – ist Ausdruck der gleichen Überzeugung, daß der Augenblick gekommen ist, den veränderten Kräften das Übergewicht über die beharrenden zu schaffen. Immer sind die Umstürzler in der Kunst Arm in Arm mit den politischen Revolutionären gegangen; die jungen Künstler haben auf dem „Berg“ des französischen Nationalkonvents am radikalsten gewettert und der Todfeind der akademischen Zöpfe in der Kunst, Gustave Courbet, hat in der Pariser Commune von 1871 eine große Rolle gespielt. Die Sowjetrepubliken Rußlands haben den künstlerischen Radikalismus offiziell gemacht, die // sozialistischen Stadtverwaltungen Deutschlands fördern systematisch moderne Kunst und selbst im sanften märzlichen Wien von 1848 hat es im Rahmen der allgemeinen eine künstlerische Revolution gegeben, der die Stadt das damals bahnbrechende Monumentalwerk der Altlerchfelderkirche verdankt.
Dieses Zusammenspiel der radikalen Kunst mit der radikalen Politik rührt nicht nur davon her, daß die Künstler, mehr von Empfindungen als von Erwägungen geleitet, sich leicht und widerstandslos jedem Enthusiasmus in die Arme werfen; es kommt in tieferem Sinne auch daher, daß diese Art von Künstlern – die jeweiligen Modernen ihrer Zeit – auf ihrem Gebiet ebenso am Weg zur Zukunft bauen wie die politischen Neugestalter auf dem ihren. Aus diesem Gefühl der Verwandtschaft heraus haben die genialen politischen Begabungen häufig den Instinkt für die Kunst besessen, begriffen, daß es wichtig ist, diesen Gärstoff so gut wie jeden anderen den eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Die Solidarität der Zukunftsgestalter führt politischen und künstlerischen Radikalismus zusammen.
Aber wieder muß ich fragen: Welche unter den zahlreichen Richtungen unserer Zeit ist es, die diesen Keim der Zukunft in sich trägt, was ist im Chaos unserer Kunst Verwesung des Gestrigen, was ist Gewähr des Morgigen? Nach dem allgemeinen geistigen Entwicklungsgang möchte man dieses in die Zukunft Deutende dort suchen, wo der Anschluß an kollektives Denken und Fühlen gesucht wird, wo die Kunst den auf die Spitze getriebenen Individualismus des neunzehnten Jahrhunderts preisgibt, um sich großen Gemeinschaften einzuordnen. In den Programmen vieler der neuesten Richtungen spielen seit Beginn des Jahrhunderts, also schon vor dem politischen Umsturz, Erwägungen dieser Art eine große, die größte Rolle; aller Konstruktivismus ist darauf aufgebaut, daß er die Willkür des Individuellen durch allgemeingültige Gesetzlichkeiten ersetzen will. Aber der Konstruktivismus läßt wie die anderen, sich überstürzenden und einander bekämpfenden Richtungen offensichtlich die breiten Massen ziemlich kalt; müßte nicht jener geniale Wurf, der den künstlerischen Messias verriete, blitzartig jeden Beschauer treffen; müßte nicht eine Richtung, die eine kollektivistische sein will, im Fühlen der Allgemeinheit unmittelbaren Widerhall finden? In einer Zeit des Übergangs und der Widersprüche, wie die unsere es ist, läßt sich auch in der Kunst eine solche Liebe auf den ersten Blick nicht erwarten; noch haben sich die jungen Künstler vom Gestern erst so weit gelöst, daß sie es verabscheuen und verleugnen, aber noch nicht, daß sie ihm Neues und Bleibendes entgegensetzen könnten. Gewiß empfinden die meisten und besten von ihnen tiefe Sehnsucht nach diesem Neuen; sie wollen heraus aus dem Individualismus, an dem sie leiden, aber er hängt unverlierbar an ihnen. Ja diese Gruppen und Grüppchen, in die sich die Kunst zerfasert, diese Schulen, die um einen einzigen Kaffeehaustisch gruppiert sind, diese „ismen“ für Genießer, Adepten und Eingeweihte, sind Blüten eines aufs äußerste gesteigerten Individualismus, sind letzte Raffinements einer absterbenden Schicht, Kunst für Modesalons und Snobisten. Aber jener Umwandlungsprozeß, von dem ich früher sprach, hat sich immer in dieser Weise vollzogen, daß die Dekadenten von gestern der Jugend von morgen den Weg bahnten! Voltaires und Rousseaus erstes Publikum waren Snobs, die in dieser ätzenden Zerstörung der eigenen Kulturessenz nur das witzige Raffinement wahrnahmen, aber nicht die positiven Zukunftswerte: Beaumarchais‘ Ausfälle gegen den Adel hat ein Parterre von Aristokraten bejubelt, und Goya ist als Hofmaler zum Revolutionär der europäischen Malerei des neunzehnten Jahrhunderts herangewachsen. Was Marx den Funktionswechsel nennt – daß der gleiche Prozeß, aus verschiedenem Gesichtswinkel gesehen, entgegengesetzte Bedeutung gewinnt – gilt auch hier: Verwesung ist Blüte, Tod ist Leben. Die modernen Richtungen zersetzen den Besitzstand der alten Kunst und bereiten die neue; vielleicht sind sie auch schon die neue, erst von dem Ziel aus, zu dem diese Entwicklung führen wird, können Wert und Bedeutung der ersten tastenden Schritte, einstmals beurteilt werden. Stehen wir an der Schwelle einer neuen Zeit, das heißt werden die Bewegungen, die heute in ihren Anfängen stecken, zum Siege führen, so werden auch die Revolutionäre in der Kunst dereinst zu jenen zählen, die zu der neuen Freiheit mitgewirkt haben, und die Enkel werden über unsere Blindheit staunen, die uns ihre Bedeutung verkennen und bezweifeln ließ.
Die Frage der Qualität und des absoluten künstlerischen Wertes ist bei neuen Richtungen eine Sache der Zukunft; eine Sache der Gegenwart aber ist die all//gemeine Lebendigkeit, die revolutionäre Gesinnung. Sie zu fördern, sie als zu sich gehörig zu fühlen ist eine Pflicht eines Sozialismus, der mehr ist als eine parteipolitische Angelegenheit, der sich darüber hinaus immer wieder besinnt, daß er auch eine Weltanschauung ist. Dieser Weltanschauung ist Kunst eine Privatsache; gewiß – so gut wie die Religion. Aber so wie es trotzdem unvereinbar dünkt, daß einer, der ein überzeugter Sozialist ist, am Kirchenglauben festhielte, so unmöglich scheint es auch, daß ein echter Sozialist, sofern er überhaupt Sinn und Interesse für die Kunst hat, in seinem Verhältnis zu ihr konservativ wäre. Er kann nicht anders, als auch in der Kunst wie auf allen Gebieten den radikalsten Versuchen sympathisch gegenüberstehen.
In: Der Kampf, H. 12/Dezember 1926, S. 545-548 (Auszüge).