Stefan Zweig: Reise nach Rußland (1928)
Stefan Zweig hat auf Einladung der russischen Regierung an den Tolstoi-Feierlichkeiten teilgenommen. In dem nachfolgenden Artikel beginnt er mit der Schilderung seiner Eindrücke.
Salzburg, 18. Oktober.
Redliche Vorbemerkung.
Welche Reise innerhalb unserer näheren Welt wäre heute auch nur annähernd so interessant, bezaubernd, belehrend und aufregend als jene nach Rußland? Während unser Europa, und besonders die Hauptstädte, dem unaufhaltsam zeitgemäßen Prozeß wechselseitiger Anformung und Verähnlichung unterliegen, bleibt Rußland völlig vergleichslos. Nicht nur das Auge, nicht nur der ästhetische Sinn wird von dieser urtümlichen Architektonik, dieser neuen Volkswesenheit in unablässiger Überraschtheit ergriffen, auch die geistigen Dinge formen sich hier anders, aus anderen Vergangenheiten in eine besondere Zukunft hinein. Die wichtigsten Fragen gesellschaftlich-geistiger Struktur drängen sich an jeder Straßenecke, in jedem Gespräch. In jeder Begegnung unabweisbar auf, ununterbrochen fühlt man sich beschäftigt, interessiert, angeregt und zwischen Begeisterung und Zweifel, zwischen Staunen und Bedenken leidenschaftlich angerufen.
So voll ballt sich jede Stunde mit Weltstoff und Denkstoff, daß es leicht wäre, über zehn Tage Rußland ein Buch zu schreiben.
Das haben nun in den letzten Jahren ein paar Dutzend europäische Schriftsteller getan; ich persönlich beneide sie um ihren Mut. Denn klug oder töricht, lügnerisch oder wahr, vorsichtig oder apodiktisch, alle diese Bücher haben doch eine fatale Ähnlichkeit mit jenen amerikanischen Reportagen, die nach zwei Wochen Cook-Rundfahrten sich ein Buch über Europa erlauben. Wer der russischen Sprache nicht mächtig ist, nur die Hauptstädte Moskau und Leningrad, bloß also in die beiden Pupillen des russischen Riesenleibes gesehen, wer außerdem die neue revolutionäre Ordnung mit den zaristischen Zuständen nicht aus früherer Erfahrung zu vergleichen vermag, sollte, meine ich, lieber redlicherweise verzichten auf Prophezeiung wie auf pathetische Entdeckungen. Er darf nur Impressionen geben, farbig und flüchtig wie sie waren, ohne jeden anderen Wert und Anspruch als den gerade in bezug auf Rußland heute wichtigsten: nicht zu übertreiben, nicht zu entstellen und vor allem nicht zu lügen.
Grenze.
In Niegoroloie erste russische Erde. Spät abends, so dunkel schon, daß man den berühmten roten Bahnhof mit der Überschrift »Proletarier aller Länder vereinigt euch« nicht mehr wahrnehmen kann. Aber auch die so pittoresk und fradiavolesk von romanhaften Reisevorgängern geschilderten Rotgardisten, grimmig bis an die Zähne bewaffnet, kann ich mit bestem Willen nicht erblicken, einzig ein paar klug aussehende, durchaus freundlich Uniformierte, ohne Gewehr und blinkende Waffe. Die Holzgrenzhalle wie alle anderen, nur da statt der Potentaten die Bilder Lenins, Engels, Marx’ und einiger anderer Führer photographisch von den Wänden blicken. Die Revision exakt, genau und geschwind, mit aller erdenklichen Höflichkeit: schon beim ersten Schritt auf die russische Erde spürt man, wieviel Lüge und Übertreiblichkeit man noch totzutreten hat. Nichts ereignet sich härter, strenger, militärischer als an einer anderen Grenze; ohne jeden brüsken Übergang steht man plötzlich in einer neuen Welt. Aber doch, ein erster Eindruck gräbt sich sofort ein, einer jener ersten Eindrücke, wie sie so oft eine erst später bewußt erkannte Situation divinatorisch umfassen. Wir sind im ganzen vielleicht dreißig oder vierzig Personen, die heute die Grenze Rußlands überschreiten, die Hälfte davon bloß Durch-// reisende, «“Japaner, Chinesen, Amerikaner, die ohne Aufenthalt mit der mandschurischen Bahn nach Hause sausen; das gibt mathematisch einen Rest von etwa fünfzehn bis zwanzig Personen, die mit diesem Zuge wirklich nur nach Rußland reisen. Dieser Zug wieder ist der einzige im Tage, der von London, Paris, Berlin, Wien, von er Schweiz, aus ganz Europa nach dem Herzen Rußlands, nach seiner Hauptstadt Moskau zielt. Unbewußt erinnert man sich an die letzten Grenzen, die man passierte, erinnert sich, wieviele Tausende und Zehntsausende jeden Tag in unsere winzigen Länderchen einreisen, indes hier zwanzig Personen im ganzen ein Riesenreich, einen Kontinent beschreiten Zwei oder drei geradeströmende Eisenbahnadern verbinden im ganzen Rußland mit unserer europäischen Welt, und jede dieser pocht nur matt und zaghaft. Da erinnert man sich an die Grenzübergänge zur Zeit des Krieges, wo auch nur ein siebenmal gesiebtes Häuschen die unsichtbare Linie von Staat zu Staat überschritt, und begreift instinktiv etwas von der augenbliklichen Situation: Rußland ist eine umschlossene Festung ein wirtschaftliches Kriegsgebiet, durch eine Art Kontinentalsperre, ähnlich jener, die Napoleon über England verhängte, von unserer anders eingestellten Welt abgeschlossen. Man hat eine unsichtbare Mauer überschritten, sobald man die hundert Schritt vom Eingang zum Ausgang zwischen diesen beiden Türen getan.
Umstellung ins Russische.
Noch ehe sich der Zug in Bewegung setzt, Moskau entgegen, erinnert mich ein freundlicher Mitreisender, daß man die Uhr jetzt umstellen müsse, um eine Stunde, von westeuropäischer auf osteuropäische Zeit. Aber dieser rasche Handgriff, diese winzige Schraubendrehung, bald wird man es merken, reicht beiweitem nicht aus. Nicht nur auf dem Zifferblatt muß man die Stunde umstellen, sondern sein ganzes Gefühl von Raum und Zeit, sobald man nach Rußland kommt. Denn innerhalb dieser Dimensionen wirkt sich alles in anderen Maßen und Gewichten aus. Die Zeit wird von der Grenze ab einen rapiden Kurssturz des Wertes erfahren, und ebenso das Distanzgefühl. Hier zählt man die Kilometer nach tausend statt nach hundert, eine Fahrt von zwölf Stunden gilt als Exkursion, eine Reise von drei Tagen und drei Nächten als verhältnismäßig gering. Zeit ist hier Kupfermünze, die keiner spart und sammelt. Eine Stunde Verspätung bei einer Verabredung gilt noch als Höflichkeit, ein Gespräch von vier Stunden als kurze Plauderei, eine öffentliche Rede von anderthalb Stunden als kurze Ansprache.
Aber 24 Stunden in Rußland, und die innere Anpassungsfähigkeit wird sich daran gewöhnt haben. Man wird sich sich schon nicht wundern mehr, daß ein Bekannter von Tiflis drei Tage und drei Nächte herfährt, um einem die Hand zu schütteln, acht Tage später wird man mit gleicher Gelassenheit und Selbstverständlichkeit wegen der Kleinigkeit von 14 Stunden Bahnfahrt selbst einen solchen »Besuch« machen, und sich s allen Ernstes überlegen, ob man nicht wegen der bloß sechs Tage und sechs Nächte doch in den Kaukasus fahren sollte.
Die Zeit hat hier ein anderes Maß, der Raum hat hier ein anderes Maß. Wie in Rubeln und Kopeken, lernt man hier rasch mit diesen neuen Werten rechnen, man lernt Warten und sich selber Verspäten, Zeit versäumen ohne zu murren, und unbewußt kommt man damit dem Geheimnis der Geschichte und des russischen Wesens nahe. Denn die Gefahr und das Genie dieses Volkes liegt vor allem in seinem ungeheuerlichen Wartenkönnen in der uns unfaßbaren Geduld, die so weit ist wie das russische Land. Diese Geduld hat die Zeiten überdauert, sie hat Napoleon besiegt und die zaristische Autorität, sie wirkt auch jetzt noch als der mächtigste und tragende Pfeiler in der neuen sozialen Architektur dieser Welt. Denn kein europäisches Volk hätte zu ertragen vermocht, was dieses seit tausend Jahren leidensgewohnte und beinahe leidensfreudige an Schicksal erduldet; fünf Jahre Krieg, dann zwei, drei Revolutionen, dann blutige Bürgerkriege von Norden, von Süden, von Ost und West gleichzeitig sich hinwälzend über jede Stadt und jedes Dorf, schließlich noch die entsetzliche Hungersnot, die Wohnungsnot, die wirtschaftliche Absperrung, die Umschaltung der Vermögen— eine Summe des Leidens und Martyriums, vor der unser Gefühl ehrfürchtig sich beugen muß. All dies hat Rußland einzig nur überstehen können durch diese, seine einzige Energie in der Passivität, durch das Mysterium einer unbeschränkten Leidensfähigkeit, durch das gleichzeitig ironische und heroische »Nitschewo« (»Es macht nichts«), durch diese zähe, stumme und im Tiefsten gläubige Geduld, seine eigentliche und unvergleichliche Kraft.
Moskau: Straße vom Bahnhof her.
Kaum aus dem Zuge nach zwei Nächten und einem Tage, ein heißer, erster, neugieriger Blick durch das klirrende Wagenfenster auf die Straße hin. Überall Drängen und Geschwirr, überfülltes, heftiges, vehementes Leben: es sind plötzlich zu viele Menschen in die neue Hauptstadt gegossen worden und ihre Häuser, ihre Plätze, ihre Straßen quellen und kochen über von dieser stürmischen Bewegtheit. Über die stolperigen Pflaster flirren flink die Iswotschiks mit ihren Wägelchen und struppig-süßen Bauernpferdchen Trambahnen sausen blitzschnell mit schwarz angehängten Menschentrauben an der Plattform, dem Strom der Fußgänger stellen sich wie auf einem Jahrmarkt überall kleine Holzbuden entgegen, mitten im Trubel bieten hingekauerte Weiber gemächlich ihre Äpfel, Melonen und Kleinzeug zum Verkauf. All das schwirrt, drängt, stößt mit einer in Rußland gar nicht erwarteten Flinkheit und Eile durcheinander.
Dennoch aber, trotz dieser herrlichen Vitalität, wirkt etwas in dieser Straße nicht voll lebhaft mit. Etwas Düsteres, Graues, Schattenhaftes mengt sich ein und dieser Schatten kommt von den Häusern Die stehen über diesem verwirrend phantastischen Treiben irgendwie alt und zermürbt, mit Runzeln und zerfalteten Wangen, mit blinden und beschmutzten Augenlichtern; man erinnert sich an Wien 1919. Der Putz ist von den Fassaden gefallen, den Fensterkreuzen fehlt Farbe und Frische, den Portalen Festigkeit und Glanz. Es war noch keine Zeit, kein Geld da, sie alle zu verjüngen und aufzufrischen, man hat sie vergessen, darum blicken sie derart mürrisch und verjährt. Und dann – was so besonders eindrucksvoll wirkt: während die Straße rauscht, redet, sprudelt, spricht, stehen die Häuser stumm. In den anderen Großstädten gestikulieren, schreien, blitzen die Kaufladen in die Straße hinein, sie türmen lockende Farbspiele, werfen Fangschlingen der Reklame aus, um den Vorübergehenden zu fassen, ihn für einen Augenblick vor den phantastisch bunten Spiegelscheiben festzuhalten. Hier schatten die Laden stumm; ganz still, ohne kunstvolle
Türmung, ohne Hilfe eines raffinierten Auslagenarrangeurs legen sie ihre paar bescheidenen Dinge (denn keine Luxusware ist hier verstattet) unter die mißmutigen Fensterscheiben. Sie müssen nicht streiten miteinander, nicht ringen und nicht wettkämpfen, die Kaufladen von nebenan und gegenüber, denn sie gehören doch, die einen und die andern, demselben
Besitzer, dem Staat, und die notwendigen Dinge brauchen nicht Käufer suchen, sie werden selber gesucht; nur das Überflüssige, der Luxus, das eigentlich nicht Gebrauchte, ,,Le superflu“, wie die französische Revolution es nannte, muß sich ausbieten, muß dem Vorübergehenden nachlaufen und ihn am Rockärmel fassen; das wahrhaft Notwendige (und anderes gibt es nicht in Moskau) braucht keinen Appell und keine Fanfaren.
Das gibt der Moskauer Straße (und allen andern in Rußland) einen so eigenartigen und schichsalshaften Ernst, daß ihre Häuser stumm sind und zurückhaltend, eigentlich nur dunkle, hohe, graue Steindämme, zwischen denen die Menschen fluten. Ankündigungen sind selten, selten auch Plakate Und was in roten Schriftzügen breitgerändert über Hallen und Bahnhöfen steht, ruft nicht Raffinements aus, Parfüms und Luxusautomobile, Lebensspielwerk, sondern ist amtliches Aufforderungsplakat der Regierung zur Erhöhung der Produktion, Aufruf, nicht zur Verschwendung sondern zur Zucht und Zusammenhang. Wieder spürt man hier, wie schon im ersten Augenblick, den entschlossenen Willen, eine Idee zu verteidigen, die ernste, zusammengeballte Energie, streng und stark auch ins Wirtschaftliche gewandt. Sie ist nicht ästhetisch schön, die Straße von Moskau, wie die pointillistisch glitzernden, farbensprühenden, lichtverschwendenden Asphaltbahnen unserer euroäischen Städte, abler sie ist lebensvoller, dramatischer und irgendwie schicksalhaft.
(Weitere Artikel folgen)
In: Neue Freie Presse, 21.10.1928, S. 1-2.
Arnold Höllriegel: Geist und Gesicht des Bolschewismus
A.H.[öllriegel]: Geist und Gesicht des Bolschewismus (1926)
Über die geistigen und künstlerischen Probleme der russischen Revolution ist bei uns noch nicht viel geredet worden. Aber gerade in diesen Tagen hat Westeuropa einige beträchtliche Proben der neurussischen Kunst zu sehen bekommen. Die Gastspielreise der „Habima“ nach dem Westen, noch mehr der große „Potemkin“-Film, von dem man in Berlin und in Wien eben so viel redet, hat bewiesen, daß es tatsächlich so etwas zu geben scheint, wie eine Kunst des Bolschewismus. Es ist zur rechten Zeit ein bemerkenswertes Buch erschienen, das über die geistigen Strebungen des heutigen Rußland die genaueste Auskunft gibt: Geist und Gesicht des Bolschewismus von René Fülöp-Miller (Amalthea-Verlag, Wien). Es ist ein unendlich umfangreiches Buch, eines von jenen, die man leicht „monumental“ nennt, es enthält allein 500 Bilderseiten, darunter viele farbige, und ist eigentlich als eine Generaldarstellung der ganzen russischen Gegenwart gedacht. Indessen scheint es, daß der Autor den Geist des Bolschewismus schärfer erkannt hat, als sein Gesicht; das Buch ist ausgezeichnet, wo es Absichten, Tendenzen, Strömungen schildert; die Ergebnisse, das Zuständliche und Gegenwärtige sind vielleicht mit Absicht ein wenig undeutlicher dargestellt.
*
Das Buch beginnt mit einer Photographie: Die Masse. Tausend oder zehntausend russische Köpfe auf einer Platte. Wer zählt? Das ist der Held der russischen Revolution, das Objekt ihrer Kunst.
„Einhundertfünfzig Millionen“, sagt der rote Dichter Majakowski am Eingang seines Hauptwerkes,
„Einhundertfünfzig Millionen:
Das ist der Name des Dichters dieses Gedichts.
Geschosshagel prasselnd:
Dies ist der Rhythmus.
Feuerböen geschleudert zickzack,
Schlagwetter, Tretminen –
Plätze platzen,
Haus hüpft an Haus. –
Eine Sprechmaschine bin ich.
Pflastersteine wirbelten.
Eure Schritte preßten den Böden sich ein
Klirrend, als Buchstaben:
Einhundertfünfzig Millionen:
Stampft!
Und also gedruckt war hier diese Ausgabe.“
(Nachdichtung von Johannes R. Becher)
Wladimir Majakowski ist, wie man aus Fülöps Buch erfährt, ein esoterischer Ex-Snob. Vor der Revolution hieß einer seiner Gedichtbände: Majakowski lacht, Majakowski lächelt, Majakowski macht sich lustig. Jetzt macht er sich – unwichtig. Er wie alle Dichter, wie alle Künstler des revolutionären Rußland, kennt nur noch ein Ziel: in der Masse verschwimmen.
Das sind noch ein paar Verse von Majakowski:
Rück an die Rippen, eisenspitz, die Ellenbogen,
Knall‘ die Faust dem frackgedrechselten Wohl-
Tätigkeitsherrn dort in die Fresse!
„Den Schlagring aufs Nasenbein!
Tabula ras!
Schleif dein Gebiß,
Beiß dich ein in die Zeit,
Durchnage die Gitter!…
Neue Antlitze!
Neue Antlitze! Neue Träume!
Neue Gesänge! Neue Visionen!
Neue Mythen hinschleudern wir,
Aufzünden wir eine neue Ewigkeit…“
*
Den Kampf gegen „das kleine, rhachitische, von Angst zuckende Ich, geistig verarmt, verwirrt im Dunkel der Widersprüche“ hat schon vor der Revolution der proletarische Dichter Maxim Gorki angekündigt; er ist der Vorläufer, der Johannes des neuen Heilstraums vom „Kollektiven Menschen“, vom „Dividuum“, dem „Massenmenschen“. Diese Masse, als ein Gesamtwesen zu sehen, halb als lebendes Tier, als Tausendfüßler, halb als eine ungeheure Maschine, blieb den nachrevolutionären Theoretikern der bolschewistischen Idee vorbehalten. Fülops Buch ist voll von Zeichnungen und Plakaten, auf denen immer eines versucht wird: eine große Menschenmasse so zu zeichnen, daß ihre Arme und Beine nur noch aussehen wie Hebel, Hämmer oder Greifzangen, ihre Leiber und Köpfe wie Nägel und Schrauben, das ganze Getümmel der Masse wie eine riesige seelenlose Maschinerie. Ein berühmter Zeichner, Krinski, zeichnet fortwährend den „mechanisierten Arbeitsmenschen“ als Fortsetzung und Bestandteil der Maschine. Und wenn die heutige russische Zivilisation die Maschine anbetet – sie wahrhaftig über den Altären entweihter Kirchen erhöht und sie in den Hintergrund der aller Dekoration entblößten Theaterbühnen stellt – dann ist irgendwie immer die kollektive lebendige Maschine gemeint, die menschliche, doch irgendwie entmenschlichte Masse. Statt von einem himmlischen Jerusalem träumt die russische Seele heute von einem immensen irdischen Chicago. Wladimir Majakowski phantasiert:
Chikago: Stadt,
Auferbaut auf einer Schraube!
Elektro-dynamo-mechanische Stadt!
Spiralförmig –
Auf einer stählernen Riesenscheibe –
Jeden Stundenschlag
Sich um sich selbst drehend –
5000 Wolkenkratzer –
Granitene Sonnen!
Die Plätze:
Kilometerhoch in den Himmel galoppieren,
Menschenmillionenüberkrabbelt,
Aus Stahltrossen geflochten,
Fliegende Broadways.
An den Wimperspitzen
Klebt knisternd dir
Elektrisches Licht. . .
Rauchplakate in den Lüften –
Phosphoreszierende Inschriften!“
(Nachdichtung von Johannes R. Becher)
So plätschern durch dir Lieder des Durstlandes Arabien die kühlen Wässer des Paradieses: das Rußland von heute seufzt, lechzt nach einer hypertrophischen Technik, eben, weil es nichts dergleichen besitzt.
*
Diese neue kollektivistische Kunst, Philosophie, Religiosität des herrschenden Bolschewismus meint immer das Volk, die Masse – singt von ihr, betet zu ihr; wird das Gebet erhört? Fülöps Buch läßt die Antwort zweifelhaft erscheinen. Sicherlich ist das Pathos dieses Wollens sehr stark, oft wohl wahrhaft hinreißend. Fülöp-Miller schildert gewisse gewaltige Konzerte, bei denen die Instrumente Fabriksirenen sind und die Dirigenten Männer mit roten Fahnen, die von der Höhe der Fabriksschlote Zeichen geben:
„Schon im Jahre 1918 wurden in Petersburg und später in Nishnij Nowgorod Versuche mit derartigen Fabrikspfeifensymphonien angestellt; am 7. November 1923 erfolgte in Baku die erste Aufführung großen Stils. An ihr nahmen die Nebelhörner der gesamten Kaspischen Flotte, alle Fabrikssirenen, zwei Batterien Artillerie, einige Infanterieregimenter, eine Maschinengewehrabteilung, etliche Hydroplane und schließlich Chöre teil, bei welchen sämtliche Zuschauer mitwirkten. Die Feier soll sehr eindrucksvoll gewesen sein; es ist nicht zu verwundern, daß diese ‚Musik‘ weit über die Mauern der Stadt Baku hinaus zu vernehmen war.
Auch in Moskau sind wiederholt Experimente mit Fabrikspfeifensymphonien unternommen worden, ohne daß jedoch besonders erfreuliche Resultate damit erzielt worden wären; einerseits war die Modulationsfähigkeit der verwendeten ‚Instrumente‘ nicht eben groß, anderseits waren die aufgeführten ‚Kompositionen‘ viel zu kompliziert. Obwohl die „Dirigenten“, auf hohen Kommandotürmen postiert, durch Fahnenschwenken das Einsetzender verschiedenen örtlich sehr weit auseinanderliegenden Sirenen und Dampfpfeifen regulierten, war es doch nicht möglich, einen einheitlichen akustischen Eindruck zu erzielen; die Verzerrungen waren derart, daß das Publikum nicht einmal die so bekannte und vertraute ‚Internationale‘ zu erkennen vermochte.“
Die Frage ist nur, ob so viel Wagemut im Erneuern etwa das reaktionäre alte Volkslied aus den Seelen, aus den vielen einzelnen, hoffnungslos unmechanischen Seelen eines ganzen Volkes zu reißen vermag – –
In: Der Tag, 13.6.1926, S. 10.
Ernst Fischer: Legende: Lenin
Der schöpferische, der staatengestaltende, der zukunftsbestimmende Mensch – das war bisher der große, leidenschaftliche, sich selber in allen Geschehen projizierende Egoist, der sein Privatleben ins Gigantische, Weltgeschichtliche steigerte. Alexander, der Knabe, der wagende Abenteurer, Cäsar, der Mann, der ehrgeizige Zyniker, Napoleon „Unmensch und Übermensch“, wie Nietzsche ihn nannte, Bismarck, das prachtvolle preußische Raubtier, sie alle, unberechenbar, überschäumend, wollten ihre Persönlichkeit und nichts als ihre Persönlichkeit durchsetzen, durchstoßen, wollten keine allgemeine Idee, sondern nur den eigenen Willen zur Macht verwirklichen. Sie alle waren – in höherem Sinne – ideenlos, glaubten an das eigene Genie und an die Dummheit der andern, an den eigenen Sinn und an den Unsinn der Welt, an den eigenen Aufstieg und an die Unveränderlichkeit der Masse. Sie siegten von Situation zu Situation und verachteten alle Systeme, sie meinten, die Herren einer Entwicklung zu sein, deren Werkzeuge sie waren.
Die Gegenspieler dieser fanatischen Hasardeure waren die fanatischen Bekenner einer Idee, gegen die Tat erhob sich das Wort, gegen das Leben die Lehre, gegen die Macht der Geist. Aber so stark diese Männer in der Formulierung des Richtigen waren, so schwach waren sie, wenn es galt, das Richtige zu tun, und je mehr sie die Zukunft für sich hatten, desto mehr hatten sie die Gegenwart gegen sich. So schien es, als müsse ewig der Heiland gegen den Cäsar stehen, als gäbe es zwischen dem Genius der Erkenntnis und dem Genius der Tat keine Verständigung, als sei die Idee der Gemeinschaft unvereinbar mit der Gewalt der Realpolitik (denn Realpolitiker nannte man alle die großen Abenteurer, die Erfolg hatten). Hier der Mann der Idee, der Idealist, der Träumer, der Prophet – dort der Mann der Aktion, der Realist der Diktator, der Politiker, das war die Antithese, die man für selbstverständlich hielt.
Auf einmal aber geschah das Unerhörte, das, was niemand erwartet hatte. Einer, der so fanatisch, so hartnäckig, so unerschütterlich an ein System, an eine Lehre glaubte wie selten ein Mensch, der den meisten als ein verbohrter Dogmatiker, als ein unbelehrbarer Irrealist galt, wurde über Nacht der Führer einer ungeheuren Bewegung, der Diktator eines gewaltigen Staates, ein Politiker von napoleonischer Intensität. Und er blieb dabei der gläubige Bekenner einer Idee, der von einer unantastbaren Überzeugung Besessene, der über alles Privatleben hinausragende Puritaner, wie eh und je. Und er war, obwohl er so rein und so bewußt der Diener einer überpersönlichen, einer allgemeinen Sache blieb, obwohl er den Geist an die Macht nicht verriet, die Zukunft an die Gegenwart nicht verkaufte, allen „Realpolitikern“, allen Diplomaten und allen Staatsmännern gewachsen. Das ist das Große an Lenin: die „Synthese von nüchternem Realismus und revolutionärem Enthusiasmus“, von der Otto Bauer am Parteitag der österreichischen Sozialdemokratie sprach, die Aufhebung des Gegensatzes von Gläubigkeit und Politik, die Vereinigung von Tat und Idee in einem einzigen Menschen. In hoher Vollkommenheit verkörperte er den Typus des marxistischen Politikers und, darüber hinaus, den Typus kommender Generationen, für die der alte Zwiespalt jeder Klassengesellschaft, der Zwiespalt zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit, zwischen Denken und Tun in seiner tragischen Härte nicht mehr existieren wird. Er verkörpert den Typus des marxistischen Politikers wie Jaurés, wie Bebel – nur unter andern historischen Voraussetzungen, in einer anders gearteten Umwelt. Jaurés, der in einem demokratischen Staat mit revolutionären Traditionen um jeden Beistrich einer Resolution kämpfte, der das Kleinste und Unscheinbarste beachtete, um plötzlich mit hymnischem Schwung über alles hinauszubrausen und letzte Ziele zu weisen, Bebel, der mit verbissener Sachlichkeit für die unbedeutendsten sozialpolitischen Forderungen eintrat, um plötzlich in apostolischer Ergriffenheit die Wandlung der Welt zu predigen, sie waren bei allen Verschiedenheiten Lenin im wesentlichen verwandt. Aber die Situation, in der Lenin eingriff, war an Spannungen reicher, verlangte das Äußerste, die Übersteigerung aller Möglichkeiten.
Man vergegenwärtige sich das Leben Lenins: als blutjunger Mensch wird er von der Idee des Marxismus gepackt, sein leidenschaftlicher Intellekt treibt diese Idee zu letzten, unerbittlichen Konsequenzen, steigert sie zu einem radikalen System – und diesem bleibt er treu, zwanzig Jahre lang im Exil, vor und nach dem fehlgeschlagenen Experiment im Jahre 1905, die Richtigkeit dieses Systems verteidigt er theoretisch gegen alle, die andrer Meinung sind. Liest hundert und hundert Bücher, tausend und tausend Broschüren, Zeitschriften, Zeitungen, polemisiert zornig, schonungslos, unduldsam gegen seine Widersacher, prophezeit, daß die Geschichte ihm recht gebe, daß er einen ungeheuren historischen Wahrheitsbeweis führen werde, konzentriert alle Gedanken, alle Gefühle, alle Energien in diesen mit Logik und Wissenschaft gepanzerten Traum und wartet, wartet. – Revolution in Rußland! Zwanzig Jahre lang hat er gewartet, nun wartet er keine Sekunde mehr: er kehrt in die Heimat zurück und schleudert, kaum angekommen, den Männern der Frühjahrsrevolution sein System wie eine Kriegserklärung entgegen. Und es beginnt das grandiose, das atemraubende Schauspiel des Eindringens der Idee in die Wirklichkeit, der Wirklichkeit in die Idee, der Verschmelzung dessen, was der Augenblick, was die politische Situation fordert mit dem, was von der Zukunft, von der Entwicklung gefordert wird. Es beginnt der Prozeß der Realisierung, in dem dieser maßlose Mensch, der zwanzig Jahre lang wartete und nun in wenigen Monaten alles vollbringen möchte, bis Maße des Möglichen kennengelernt und begreift, in dem die Theorie des Fanatikers nichts von ihrer diamantanen Unantastbarkeit verliert, der Fanatiker aber eine Geschmeidigkeit der Taktik gewinnt, die beispielslos ist. Es beginnt die Synthese von nüchternem Realismus, der zur Landverteilung, zur Neppolitik, zu den Auslandskonzessionen führt, mit revolutionärem Enthusiasmus, der durch den immer dichter werdenden Nebel der Gegenwart die Flamme der Zukunft nicht weniger deutlich sieht als einst.
Und dieser Diktator, dieser phantastisch mächtige Mensch hat kein Privatleben, verzichtet auf alles, was nicht zur Sache gehört, scheint eine Fleisch und Blut gewordene Idee, das lebendige Symbol einer welthistorischen Bewegung zu sein. Die ganze Ungeduld der Arbeiterklasse, die über alle Vernunft hinaus an das Wunder glaubt, und die ganze Geduld der Arbeiterklasse, die gelernt hat, auf ihre Zeit zu warten, ihr ganzer Trotz und ihre ganze Klugheit, ihr ganzer wagender Mut und ihre ganze wärmende Vernunft, das alles vereinigt sich in ihm. Persönliches hat keinen Platz: Lenin liebt die Musik Beethovens, sie rührt an sein Herz, er will die Menschen umarmen und gut und brüderlich sein, wenn er sie hört – und darum versagt er sich diese Musik, denn es ist in dieser Zeit seine Aufgabe, hart zu sein und zu hassen. Vielleicht ist diese Anekdote nur eine Legende, jedenfalls aber trifft sie das Wesentliche: Napoleon, der Typus, den er verkörpert, lebte sein Leben, verschwenderisch, wild und bunt, Lenin lebt das Leben der Arbeiterklasse, das anonyme, das fachliche, das knappe Leben des Proletariats. Napoleon wall, daß sein Name, Lenin, daß seine Sache ewig sei. Napoleon ist das anarchische, Lenin das organisierte Genie.
Auch Robespierre lebte sie wie Lenin. Nur daß jener die Wirklichkeit nicht anerkannte und ein ethisches Programm um jeden Preis durchsetzen wollte, nur daß er, der große Pendant, die Geschichte, die er schulmeisterte, nicht zu meistern vermochte, daß das papierene Gebäude seiner Theorie in dem allzu reichlich vergossenen Blut sich auflöste – und daß dann Napoleon kam, der große Gegenspieler aller Robespierres. Lenin war die Synthese: die abstrakte Reinheit des einen war in ihm und die realistische Kraft des andern, ein starres Prinzip, wie in Robespierre, aber durchstürmt von lebendiger Flamme, brutaler Lebensfülle, wie in Napoleon, aber organisiert wie eine Maschine, wie eine Partei. „Marx plus Elektrifizierung“, das war die Formel, auf die man die Revolution in Rußland brachte. Diese Formel bedeutet: „Revolutionärer Enthusiasmus und nüchterner Realismus!“ Diese Formel gilt überall, wo eine Arbeiterpartei nicht nur für eine Idee wirbt, sondern auch ein Stück Wirklichkeit verwaltet, sie gilt in Wien wie in Rußland. Diese Formel ist Mensch geworden in Lenin.
Und so ist Lenin für alle Marxisten, für alle Arbeiter, gleichgültig, welcher Partei sie angehören, gleichgültig, ob sie die politische Taktik, die er lehrte, anerkennen oder ablehnen, als Persönlichkeit, als Typus und als Symbol die Verkörperung ihres Wesens, ihres Begriffes von menschlicher Größe – hinausragend über die Geschichte in die Legende.
In: Arbeiter-Zeitung, 6.11.1927, S. 17.
Oskar M. Fontana: Das alltägliche und das heroische Rußland.
Daß neben dem heroischen Rußland der Revolution ein alltägliches Rußland der Nachrevolution lebe, hatte man lange übersehen. Trotzgelegentlich guter Berichte. Aber diese Rußland-Reisenden, die das russische Leben in längstens zwei bis drei Monaten kennen lernen wollten, glichen sie nicht, der eine sehr, der andere nur noch nebelhaft, den Kriegsberichterstattern, denen die Front gezeigt wurde! Erst jetzt allmählich beginnt sich das alltägliche Rußland zu zeigen. Durch Selbstdarstellung. Nach dem heroischen „Potiomkin“ kommt das alltägliche „Bett und Sofa“. Es ist der Weg, den Sowjet-Rußland schon gegangen und den es bis ans Ende zurückgelegt hat. Das allein verspricht ihm Dauer. Darum auch der Wechsel der Tendenz. Der Heroismus rief zur Revolution auf, hielt sie wach; die Alltäglichkeit macht Propaganda für gute Mütter, gute Väter, viele und gesunde Kinder.
In Lenin war das alles: der Heroismus und die Alltäglichkeit. Daher kam denn auch seine Größe, darum wußten alle schon am Beginn, auch seine Lehrer und Gefährten, hier wachse der Führer, deshalb nannten die Genossen den Siebenundzwanzigjährigen „den Alten“. Er bezwang sie durch sein Wesen und er bezwang Rußland, das zaristische und das anarchische, das knutende und das schwatzende, weil er beides hatte: den Heroismus der Empörung und das Wissen um die Notwendigkeit der Alltäglichkeit. Man merkt das genau, wenn man sein sehr merkwürdiges Leben Schritt für Schritt verfolgt, wie es jetzt Valeriu Marcu mit großer Anschaulichkeit und sehr geistreicher Verknüpfung der Tatsachen geschildert hat. (Erschienen bei Paul List, Leipzig.)
Heroisch ist schon Lenins Erwachen zur Revolution: Sein Bruder wird gehängt. Der Schatten des Bruders verläßt ihn nicht mehr, steht Zeit seines Lebens hinter ihm. Er, der zweite Sohn des Schulinspektors Uljanow, nimmt hinfort den Kriegsnamen seines Bruders an und brennt diese zwei Silben: Lenin, Europa ein. Aus Unwirklichkeit wird Wirklichkeit, die nicht mehr fortzulöschen ist. Als das Sterben ihn selber, den zum Diktator gewordenen, anrührt, hat er einen Wunsch: da er seine Tätigkeit einschränken muß, will er sich nur noch der Ökonomie des Landes widmen, sie in Ordnung bringen. In diesen beiden Zügen hat man den ganzen Menschen: das Dunkel, das um ihn ist und das er menschlich fast kaum verlassen hat, und die Wachheit des Geistes, die in ihm ist, die ihm befiehlt, immer gerade das Notwendige zu tun. Er war besessen von der Idee. Doch nicht die Theorie, in der er auch Meister war, hielt ihn fest, sondern ihre Verlebendigung zog ihn an. Immer wieder rannte er die Wirklichkeit an, höhlte sie aus, wurde nicht müde, sie kennen zu lernen. Er mußte sie immer wieder probieren und er verzagte dabei nicht, denn nur so war die Idee in die Welt zu bringen. Dieser Mann phantasierte in Organisationen und organisierte Phantasien. Immer stand sein Leben auf Messers Schneide, aber er fiel sich nicht zu Tode. Er hielt sich im Gleichgewicht. Alles vermochte er. Nie hatte er, der ins Heimliche Gehetzte, vor mehr als 100 Menschen gesprochen. Als er in einer abenteuerlichen Reise, auf der ihm Radek in Stockholm ein Paar ganzer Schuhe kauft, nach Petersburg kommt, erwarten ihn Tausende. Er soll zu ihnen sprechen. Und er spricht. Und ist sofort einer, der zu einem Volk sprechen kann. Als er die Macht des zugrundegegangenen Staates übernimmt, sagt er einem Freund: „Wir stehen vor großen Schwierigkeiten. Wir sind alte, eingeschworene Revolutionäre, wir haben nicht gelernt, die Wirtschaft und den Staat zu leiten, aber wir werden es lernen.“ Und er lernte es. Ein Riesenreich ist zusammengebrochen wie ein Toter. Als Lenin am 21.Jänner 1924 stirbt, steht dieses Riesenreich wieder, atmet, lebt. Das Ungeheuerliche dieser Leistung ist nicht zu ermessen, ist schon heute Legende.
Bezeichnet Valeriu Marcus Lenin-Werk die Höhe des erneuernden Aufschwungs, zu der das heroische Rußland fähig war, so bedeutet der Roman Ilja Ehrenburgs „Michail Lykow“ (im Russischen „Rwatsch“, deutsch im Malik-Verlag, Berlin) das alltägliche Rußland der Revolution und Nep-Zeit. Was oben gedacht, entschieden wurde, unten wurde es gelebt. Da ist er, der jede Gestalt annehmende „Masse Mensch“, Typ, der vorgestern als Schwächling jedem Luftzug gesellschaftlicher Verhältnisse nachgab, der gestern in der Revolution unversehens ein Held war und heute in der „Neuen ökonomischen Politik“ ein Schieber wird. Da ist sein brüderliches Gegenspiel, der den Kollektiv-Willen mit stummer Zuversicht Erfüllende und an einer neuen Gesellschaft zäh, verbissen Arbeitende, seine Tränen, seine Enttäuschungen in sich Erstickende, der in beklemmender Verwirrung ich mit der Losung Tröstende, alles müsse einfacher werden, noch einfacher. Da sind die neuen Menschen, die keine Biographie haben, deren Gefühle mit achtstelligen Zahlen zu multiplizieren sind, während sie selber nur ein instruktiver Dezimalbruch sind, deren Wesen aber „die Anziehungskraft jungfräulicher, noch nicht vom Stiefelabsatz des Kolonisators berührter Erde“ hat. Da sind die „gewesenen Menschen“ die Kellermäuse der Revolution, die armseligen Existenzen, „die in einer anderen Zeit ihr Leben glücklich, langweilig und banal verbracht hätten, jetzt aber von den Ereignissen zermalmt und doppelt unglücklich waren, da sie nicht wußten, warum ihren Schultern, den schwachen Spießerschultern, die nur für einen Maßrock geschaffen zu sein schienen, von der Geschichte eine so schwere Bürde von ungewolltem Heroismus aufgebürdet worden war“. Da sind die Zeugen zwanzigjähriger, unterirdischer Arbeit, das Gesicht „eine Reißbrettzeichnung von Ideen und Gefühlen“ oder sprühend von einem in allen Kaffeehäusern Europas gelernten Sarkasmus, diese etwas anachronistischen Gestalten der ersten Internationale in einer Zeit der Trusts und Zechereien und sich Anpassenden. (Wer wird sie ablösen, diese stillen, arbeitsamen, rechtlichen und sachlichen Menschen? fragt Ehrenburg einmal.) Da sind die vom Foxtrott wie von einer eingeschleppten Seuche Ergriffenen, sie werden die Glieder, doch sie geben vor, dabei „die Zersetzung des Westens“ zu studieren. Da sind die rundweg Raffgierigen; die gestern an überschwänglichen Beglückungsplänen irgend eines Volkskommissariats Arbeitenden und heute, weil ein gesunder, aber bitterer Abbau eingesetzt, sich wahllos Verkaufenden; da sind die in Speisehäusern nach Abgabe von Marken Essenden und da sind die Schmausenden in wieder erstandenen Bars. Und ist die alte Hysterie der alten Liebe, grundlos sich opfernd und hingeschlachtet vom Tag und Wieder-Tag. Aber da ist auch das neue Geschlecht der „Komsomolzen“, der jugendlichen Arbeiter. „Wir wissen zwar nicht, was aus dieser Jugend werden wird, ob aufbauende Kommunisten oder „Speze“ auf dem Gebiete kleiner Dinge, die unser Heimatland amerikanisieren werden, erheben wir doch nicht darauf den Anspruch, die Rolle eines Orakels zu spielen. Aber wir lieben dieses neue Geschlecht, das heroisch ist in seiner Keckheit, fähig ist, nüchtern zu lernen und mutig zu hungern, nicht opernhaft, nicht nach Art der Studenten in Leonid Andrejews Stücken, sondern allen Ernstes zu hungern, von Maschinengewehren zu Lehrbüchern für den Selbstunterricht herzugehen und umgekehrt, dieses Geschlecht, das im Zirkus vor Lachen wiehert und drohend ist in seiner Trauer, tränenlos, verhärtet, fremd der Verliebtheit und den Künsten, hingegeben den exakten Wissenschaften, dem Sport und dem Kino.“
Dieser fast 600 Seiten starke Roman Ilja Ehrenburgs ist mehr als ein Produkt „künstlerischer Phantasie“ er ist Abdruck eines Landes, eines Volkes, einer Zeit. Die ungeheuerste europäische Bewegung, wie sie jenseits des Heroismus ihrer Führer und nach ihrer heldenhaften Epoche war, wie sie lebte, ich streckte und durch alle Wehen und Verwirrungen doch vorwärts stößt, in Ilja Ehrenburg hat sie einen Schilderer gewonnen, der ihrem gigantischen Feuerausbruch und dem zähen Verfließen der erkaltenden Lavamassen gewachsen ist, einen Schilderer, gleicherweise von Menschlichkeit und Kollektivität, von Pathos und Skepsis genährt, einen Schilderer, den nur Schönredner der Konterrevolution verdächtigen können, der aber in Wahrheit revolutionärer als sie ist. Denn das ist Revolution, nach einem Wort Dantons „die Wahrheit, die bittere Wahrheit“, zu wollen und zu geben und sie nicht in Hofberichte umzufrisieren. Ilja Ehrenburgs Roman ist ein Dokument und wird es bleiben als ein Zeichen der großen menschlichen Sowjet-Idee und ihrer allzu menschlichen Widerstände und des Sieges des Herzes, das „zusammengeschrumpft wie das Quecksilber des Thermometers, eigensinnig hochzuflattern versucht“. Immer wieder.
In: Der Tag, 15.1.1928, S. 17.
Fritz Karpfen: Gegenwartskunst. Russland
MASCHINENKUNST
In den Kreis Rußlands gehört auch jene neueste Darstellung, die in aller Welt in diesem Zeitpunkt Mode ist. Es ist der völlige Verzicht auf alle herkömmlichen Materialien, wie Farbe, Kohle etc. und ihre Ersetzung durch Gebrauchswerkzeuge des Alltags. Glasscherben, Zeitungsfetzen, Holzstücke, Kistendeckeln, Gasrohre, Steine, Messing usw. Diese lieblichen Dinge aus dem Müllkasten werden auf eine Holzfläche hingepickt, festgenagelt und mit einer harmlos-naiven Überschrift versehen. Gewiß steht diese ›Kunst‹ in sehr entfernter Verwandtschaft zur Kunst. Es besteht dieselbe Beziehung des Wortbegriffes, wie etwa die Kunst eines hervorragenden Malers, zu der eines hervorragenden Taschendiebes. Aber glattweg in das Gebiet der Gaunerei darf man diese // Art nicht einreihen, davor warnt die Anwendung die von Künstlern wie Archipenko, Picasso etc. betrieben wird. Nur ist der Unterschied der, daß diese sei als ernste Arbeit, als ernsten Versuch zur Erreichung einer neuen Form nützen, während sie den anderen nur snobistischer Aufputz ihres Nichtskönnens ist. Freilich ist es schwer, den Unterschied zu treffen. Denn kein Mensch wird aus der verschiedenen Anordnung die Abfälle erkennen, ob dieses ›Bild‹ von einem Künstler und jenes von einem Kunstschwindler herrührt, in diesem Falle muß man nicht an dem Werke, sondern an der Person den kritischen Maßstab anlegen. Bei Archipenko allein sieht man mehr, hier, etwa in der der Skulptur: ›Frau im Sessel‹ merkt man schon, daß einer im rastlosen Suchen nach Erfüllung gearbeitet hat. Es ist dem tatsächlich uneingenommenen Betrachter doch möglich, aus den wirren Dingen den Sinn des Ganzen zu entnehmen, der Wille ist kennbar und man fühlt, daß der Künstler hier einen Bewegungsausdruck gestalten will. Es ist der Drang eines Geistes voll Aufruhr, eines seelischen Revolutionärs, der Kunst neue Bahnen abzustecken und im absolut Neuen, Ewigkeitsgültiges zu bereiten. Und schließlich ist diese Art nur die eruptivste Reaktion gegen das Schema des toten Abklatsch gelehriger Kunstlehrer des Impressionismus. Der Versuch wird und muß mißlingen. Aber aus der Sackgasse, in die da die echten Künstler gelangt sind, werden sie mit verstärkter Energie zum Rechten zurückkehren, und man lernt be//kanntlich aus mißglückten Erfindungen mehr, als aus alltäglichen Nutzanwendungen.
Dieser neue Darstellungsbegriff steht in Rußland unter der geistigen Führung Tatlin’s und wird als tatlinische Maschinenkunst angesprochen. Die patentierten Anhänger Tatlins freilich werden Unterschiede zwischen der Art Tatlins und der Archipenkos entrüstet zu ziehen wissen. Was aber kein Grund ist, hier nicht die gesamte Darstellung in einem Begriff zu werfen, da doch alles derartige buchstäblich sehr bald zum alten Eisen geworfen wird.
[…]//
Nun zu den Repräsentanten der russischen Gegenwartskunst. Die führenden Geister, Marc Chagall, Kandinskij, Archipenko, sind auch bei uns bekannt. Weniger Burljuk, Jawlenskij, Grigorjew, Malewitsch, Lentulow und ihre Anhänger. Jeder dieser Künstler vertritt beinahe einen anderen Ismus. Von Bedeutung sind ferner die Plastiker Konekow und Koroljow, auch der abseitsstehende Igor Jakimow darf hier nicht fehlen. Die hervorragendsten Künstler sind die erstgenannten.
Wien 1921, S. 21-22.
Lilli Körber: Die Frau in der Sowjetunion
Dr. Lili Körber, deren vor einigen Monaten im Rowohlt-Verlag erschienener Roman „Eine Frau erlebt den roten Alltag“ (Als Arbeiterin in den Putilow-Werken) berechtigtes Aufsehen erregt, stellt uns ihre in Rußland gewonnenen Erfahrungen und Beobachtungen zur Verfügung. Dr. Körber hat, um die russischen Lebens- und Arbeitsverhältnisse gründlich und aus persönlichem Erleben heraus kennenzulernen, sich monatelang in den weltberühmten Leningrader Putilow-Werken als Arbeiterin betätigt und die gewonnenen Erkenntnisse in ihrem Roman niedergelegt. Daß sie auch für das Leben außerhalb der Fabrik ein helles Auge hat, beweisen ihre Schilderungen des Lebens der Frauen in Rußland.
„Wir tragen keinen Schleier mehr,“ erklärte mir stolz eine junge Turkmenin aus Baku, und dies gilt für die Frau in der Sowjetunion überhaupt: der Schleier aus ungerechten Gesetzen, welche das Dasein der Frau drosseln und sie gegenüber dem Manne benachteiligen, ist gefallen. Gleiches Recht für beide Geschlechter, gleicher Lohn für gleiche Arbeit – und damit diese Bestimmung nicht auf dem Papier bleibt, wird die Hilfsarbeiterin in speziellen Kursen zur qualifizierten Arbeiterin herangebildet. Der Mangel an Arbeitskräften hat das Seinige getan – heute trifft man die Russin auf allen Gebieten, in allen möglichen Berufen – von der Schaffnerin an bis zur Leiterin eines wissenschaftlichen Instituts.
Auch die „Ketten der Liebe“ sind zerbrochen – die wirtschaftliche Abhängigkeit vom Manne. Da jeder arbeitet und keiner in unserem Sinne „reich“ ist, sind die Vernunftehen geschwunden. Die Scheidung ist so leicht – das Einverständnis des einen der Gatten genügt – daß die Ehe ihren Charakter der Bindung verlieren mußte. Es genügt, daß zwei Menschen einander als Mann und Frau anerkennen, um als verheiratet zu gelten, den Begriff „uneheliches Kind“ gibt es nicht. Die Kinder werden den Eltern nicht weggenommen, wie man hier vielfach glaubt, aber praktisch ist es so, daß die Mutter meist arbeitet und für diese Zeit die Kinder in die Betriebskrippe oder in den Kindergarten gibt. Sie darf zweimal während der sieben- bis achtstündigen Schicht (der Siebenstundentag ist noch nicht in allen Betrieben durchgeführt) für je eine halbe Stunde ihren Säugling aufsuchen, diese Zeit wird vom Lohn nicht abgezogen. Die älteren erhalten zwei Mahlzeiten umsonst. Der bezahlte Schwangerschaftsurlaub dauert für die Arbeiterin zwei Monate vor und zwei Monate nach der Geburt, für die Angestellte je sechs Wochen. Gearbeitet wird vier Tage, der fünfte ist frei. Ist die Frau alt und nicht mehr leistungsfähig, so bekommt sie, ebenso wie der Mann, eine Altersrente. Da diese Rente nicht hoch ist, darf sie nebenbei eine leichte Beschäftigung annehmen, die ihr von der Arbeitsnachweisstelle vermittelt wird.
Weniger günstig ist dir Russin vorläufig noch als Hausfrau gestellt. Aufzuräumen gibt es allerdings nicht viel – ein Ehepaar hat selten mehr als einen Raum zu Verfügung, außer, wenn einer der beiden Gatten ein hochqualifizierter Wissenschaftler oder Künstler ist, dann wird ihm noch ein Studierzimmer zugebilligt. Weitaus komplizierter ist das Kochen – da in einer Wohnung einige Parteien wohnen, wird die Küche gemeinsam genützt – und die Tendenz geht dahin, die individuelle Kocherei aufzugeben und sich im Speisehaus zu verköstigen, das zur Organisation gehört, in der man arbeitet. Es kommt oft vor, daß man für die ganze Familie das Essen aus dem Speisehaus holt und es dann aufwärmt, in den alten Wohnungen auf einem Spirituskocher, „Primus“ genannt, in den neuen auf dem Gasherd. (In allen neuen Häusern gibt es Zentralheizung.) Zieht es jemand vor, zu Hause zu kochen, so bezieht er die Lebensmittel auf Karten, und zwar gibt es Karten der 1. Kategorie für Arbeiter und der 2. Kategorie für Angestellte oder Familienangehörige. Die Karten der 1. Kategorie berechtigen zu viel mehr Produkten. Da aber anderseits die qualifizierte geistige Arbeit sehr gut bezahlt wird, haben die Intellektuellen die Möglichkeit, das Fehlende, zu höheren Preisen als in der Konsumgenossenschaft, auf dem Markte oder in den staatlichen Delikatessenhandlungen zu holen. Deshalb ist es so schwer, die Preise in der Sowjetunion anzugeben, da sie wechseln, je nachdem ob man die Dinge in einem „offenen“ staatlichen Geschäft auf Karten oder auf freiem Markt gekauft hat. Ebenso ist es mit der Ware. Es gibt offene Geschäfte, wo es teuer ist, und billige geschlossen Geschäfte, die Organisationen angeschlossen sind, z.B. Zebuku, das Geschäft für Wissenschaftler, Geschäfte für Studenten, für einzelne Betriebe, für ausländische Spezialisten usw. Der Warenhunger übersteigt aber um vieles das, was auf den Markt kommt (ebenso wie die rege Bautätigkeit noch nicht in der Lage ist, dem Wohnungsmangel abzuhelfen. Vor allem fehlen Luxuswaren, die früher aus dem Auslande eingeführt wurden, „Eleganz“ in unserem Sinne kennt man dort nicht, anderseits sind auch die Jammergestalten aus Gorkis „Nachtasyl“ verschwunden (verwahrloste Kinder traf ich nur noch im Süden – in Tiflis und Baku).
Die Geselligkeit ist sehr rege – insofern man Zeit hat; infolge des Mangels an Arbeitskräften hat jeder zwei und drei Beschäftigungen. So kenne ich eine Ärztin in Leningrad, die daneben englische Sprachlehrerin ist und außerdem noch Kinderbücher schreibt. Vielleicht ist das der Grund, warum die Russin nie beleidigt ist, wenn man sich „lange nicht gezeigt“ oder „nicht angerufen hat“. Ist man aber da, so muß man mitessen, bekommt alles vorgesetzt, was es Gutes im Hause gibt und wird dann, wenn das Wetter schlecht oder es inzwischen spät geworden ist, zum Übernachten eingeladen – man benützt das Lager eines abwesenden Familienmitgliedes, – dieser Fall trifft immer zu – da nirgends so viel gereist wird als in der Sowjetunion. „Merkwürdige Menschen sind diese Ausländer,“ sagte mir eine russische Freundin, „wenn man sie einlädt mitzuspeisen, sagen sie: ich will Sie nicht berauben! Niemals fällt unsereinem so etwas ein!“
Das Interesse für das Ausland ist außerordentlich rege und immer wieder wird der Wunsch zum Ausdruck gebracht, mit den anderen Ländern in Frieden zu leben.
In: Der Tag, 16.1.1933, S. 3.
Grete Ujhely: Aus einer russischen Schule.
Grete Ujhely: Aus einer russischen Schule (1928)
Wenn man etwas Gutes von unserer Zeit sagen kann, dann ist es vielleicht das: daß sie den Respekt vor dem Alter ein wenig vermindert hat zugunsten des Respekts vor der Jugend. Es ist noch gar nicht so lange her, seit man nichts Besseres von einem Kinde sagen konnte als: es ist brav, es ist folgsam. Die Kinder wurden nur beurteilt vom Standpunkt der Erwachsenen. Je weniger sie störten, je weniger ihr eigener, ein bißchen anders gearteter Wille zu schaffen machte, desto zufriedener war man mit den Resultaten der Erziehung
Die Menschen — das waren die Erwachsenen. Und die Kindheit nur ein vorübergehendes, durch seine Hilflosigkeit fast ein wenig komisches Stadium, ehe man Erwachsener wurde. Dafür vergoldete man in der Vorstellung dieses Stadium, von dem man wenig wußte, mit viel Unschuldsromantik, paradiesischer Vor-dem-Sündenfall-Glorie.
Das alles hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Ellen Key, Maria Montessori und Alfred Adler sind ein paar Namen, die eng mit dieser Anschauungswandlung verknüpft sind. Das heute schon allgemein geläufige Resultat ist: Gebt den Kindern und Jugendlichen die ihnen gebührenden Minoritätsrechte! Zwingt sie nicht in die Welt der Erwachsenen, laßt ihnen ihre eigene! Haltet sie nicht für Engel, solange sie „brav“ sind, und nicht für „verloren“, wenn es sich herausstellt, daß sie ebenso verlogen und lasterhaft sein können wie wir Erwachsenen. Helft ihnen, wenn ihr klüger seid als sie: nicht durch Autorität, sondern durch Überzeugung und Liebe.
Es ist für den Augenblick natürlich leichter, ein Kind durch Androhung von Strafe — seien es nun Prügel oder das wachsame Auge des lieben Gottes — zu dem zu bringen, was es unserer Meinung nach tun sollte. Ein Kind, ohne daß es etwas davon merkt, auf den richtigen Weg zu führen, das Kind selbst seine Wertmaßstäbe wie alles übrige erarbeiten zu lassen, ist ungleich schwieriger — aber das so Errungene allein ist ein dauerhafter Erfolg. Nur ein Beispiel: Ein Kind, das etwa nur deshalb nicht lügt, weil der liebe Gott das merkt, hat im Augenblick jeden Grund verloren, nicht zu lügen, wo es an der Allwissenheit des lieben Gottes zu zweifeln beginnt.
Überall in der Welt versucht man, diesen neuen Anschauungen in der Erziehung Rechnung zu tragen. Und die Wiener Schulreform ist da ein großer Schritt nach vorwärts. In Rußland, wo man ja auf manchen Gebieten ungehinderter experimentieren kann — weil kein reaktionärer Klerus und keine verzopfte Bürgerlichkeit Einspruch erheben kann —, ist die alte Autoritätsschule in Grund und Boden reformiert worden. Das Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew gibt ein anschauliches Bild davon, ein Buch, bei dessen Lektüre nicht nur einem Gymnasialprofessor von vor zwanzig Jahren die Haare zu Berge stehen dürften. Vielleicht auch manchem modernen Lehrer, der doch immer noch eine gewisse Dosis Autorität für notwendig hält.
Kostja Rjabzew, der fünfzehnjährige Schreiber des Tagebuches, ist ein frecher, vorlauter, ungemein selbstbewußter Bursche, durchdrungen von der Überzeugung aller jungen Menschen, daß so ziemlich alles, was bis jetzt auf der Welt geschehen ist, schlecht war, und daß er es besser machen wird. Die politische Atmosphäre, in der diese jungen Leute leben, unterstützt diesen Glauben nur, ist nicht seine Ursache. Das Tagebuch reicht über ein Schuljahr, von Herbst bis Herbst, und wir erleben die großen und kleinen Ereignisse in der Schule, wie sie sich im Hirn Kostjas spiegeln. Kostja — so heißt er zwar, aber er selbst findet den Namen überholt. Er beschließt, sich von nun an Wladimir zu nennen, nach Wladimir Lenin. So kindisch wie dieser sehr ernsthaft, erwogene Entschluß einer Namensänderung ist das ganze Tagebuch, aber trotzdem läßt es ahnen, daß aus dem wirren, draufgängerischen, prahlerischen kleinen Bengel ein, ganz prachtvoller Mensch werden wird.
Die Schule, das ist in Rußland zweierlei: erstens die Anleitung zur selbständigen Erarbeitung von Kenntnissen, zweitens ein kleiner Sowjetstaat im Sowjetstaat. Vielleicht überwiegt manchmal die zweite Funktion die erste. Kostja klagt immer wieder, daß er über all seinen politischen Funktionen nicht zum Lernen kommt. Das ist natürlich kein gesunder Zustand. Anderseits bietet die Tätigkeit in der Selbstverwaltung der Schule den Bedürfnissen der jungen Leute nach Wirksamkeit, organisatorischer und rhetorischer Arbeit, praktischer Durchsetzung ihrer Ideen ein ausgezeichnetes Feld. Sie haben es nicht mehr notwendig, Indianerhäuptling und Detektiv zu spielen, da sie in wirklichkeitsnäherer Form Sozialismus spielen können.
Die Herren der Schule sind die Schüler, Buben und Mädel natürlich in Koedukation. Die Lehrer haben nur beratende Stimme. Keine Autorität hilft ihnen mehr. Nur der, dessen Persönlichkeit stark genug ist, sich auch in diesem Gleich-zu-gleich-Verhältnis den Schülern aufzuzwingen, kann in dieser Schule lehren, wirken, führen; der auch ohne den Mantel der Würde diesen respektlosen Halbwüchsigen Respekt vor seiner Menschlichkeit einflößen kann. Ganz indirekt tauchen in der Schilderung Kostjas einige solcher wahrhafter Erzieher auf: Die „lange Sinajda“, die Schulvorsteherin, hinter deren komischer Äußerlichkeit die Schüler sehr wohl den starken Willen und die unendliche Liebe und Opferbereitschaft für die Jugend fühlen; Nikpetosch, der Lehrer, der selbst noch nicht ganz fertig geworden ist mit den Wirren, unter denen die jungen Herzen seiner Schüler leiden, der ihnen deshalb schließlich nicht mehr Führer sein kann, nur Freund.
Wenn in der Schilderung des Schullebens die vielen „Allgemeinen Versammlungen“, „Schülerkomiteesitzungen“, „Sanitäres Komitee“, „Kulturelles Komitee“, „Einigungskommission“, die Wandzeitungen und die Gerichtsverhandlung mit Vorsitzendem, Verteidiger und Staatsanwalt erst ein wenig komisch wirken, so begreift man doch bald, wie die Schüler in fortwährendem Experimentieren dabei verstehen lernen, daß sie sich Gesetze geben und diese selbst gegebenen Gesetze halten müssen. Natürlich gibt es auch Revolutionen — wie etwa die wunderbar kindische Revolution mit der Forderung: wir wollen die Lehrer nicht mehr grüßen. Aber die Revolutionen verlaufen ganz von selbst in dieser beneidenswerten Schule im Sande und gewähren dabei doch eine Freiheit, die das wirkliche Leben leider noch nirgends kennt, am allerwenigsten in Rußland.
Gerechte Gesellschaftsordnung als Voraussetzung für den Bestand dieser Gesellschaft — diese Notwendigkeit lernen die Buben und Mädel so gut, daß sie es nie mehr vergessen können. Früher trat dem Kinde „Ordnung“, „Gesetz“ als Wille von außen entgegen und er regte damit den immer bereiten Auflehnungsgeist der Jugend. Jetzt erarbeitet die junge Generation sich selbst diese Notwendigkeit. Freilich, wenn sie einmal die Schule verlassen wird, werden sie neue unerhörte Schwierigkeiten erwarten: in der Welt, die von den ihnen bis dahin unbekannten wirtschaftlichen Notwendigkeiten regiert wird. Aber es ist wahrscheinlich, daß Kostja Rjabzew und seine Kameraden sich mit diesen Schwierigkeiten noch besser herumzuschlagen verstehen werden als ihre Eltern.
Das Tagebuch des Schülers Kostja Rjabzew schildert außerdem in einer sehr zarten, dabei aber völlig aufrichtigen Weise die große Not der Pubertät: durch Koedukation und Aufrichtigkeit ist ihr zwar der Stachel des Versteckten, Sündhaften und Heimlichen genommen, aber es bleibt noch genug Verwirrendes und Schweres für die jungen Menschen auf dem weiten Feld der sexuellen Nöte, für die ja auch wir Erwachsenen noch keine eindeutige Lösung gefunden haben. Nicht ohne Rührung lesen wir den Satz, den Kostja mit vielen Stirnfalten der Entschlossenheit und allem Selbstvertrauen der Jugend in sein Tagebuch schreibt: „Irgendeine Lösung der sexuellen Frage muß ich endlich finden.“
Er kann überhaupt gut „große Worte“ machen. Insbesondere das Vokabular des „Kommunistischen Katechismus“ ist ihm geläufig. Ideologisch falsch zum Beispiel verwendet er immer, ob es paßt oder nicht: „Das alles ist antiproletarischer Quatsch.“ — „Nein, neben Mädeln sitzen, das ist etwas für die verseuchte Intelligenz“, konstatiert der kleine „bewußte“ Proletarier.
Trotz allem und gerade wegen seiner offen sichtlichen Kindlichkeiten und Überheblichkeiten gewinnt man diesen Kostja Rjabzew lieb und möchte gern mehr von ihm hören. Und von ihm noch mehr zu erzählen, hat der Autor Nikolai Ognjem versprochen, Nikolai Ognjem, dessen Buch (Verlag der Jugendinternationale, Berlin) so unerhört lebendig ist, daß man seinen hohen künstlerischen Wert über der Neuheit des Inhalts fast vergißt.
In: Arbeiter-Zeitung, 12.2.1928, S. 17.
Paul Friedländer: Drei Bücher Trotzkis
Trotzkis Genialität, seine Tatkraft und zugleich sein erstaunlich weitumspannender Gesichts- und Interessenkreis werden durch drei in rascher Aufeinanderfolge erschienene[n] Bücher (Die Geburt der Roten Armee, Literatur und Revolution, beide im Verlag für Literatur und Politik, und Fragen des Alltagslebens, Verlag Hoym Nachf.) illustriert, die übrigens nur Auszüge aus einigen seiner letzten, in russischer Sprache verfaßten Arbeiten darstellen.
Die Geburt der Roten Armee handelt von der vielleicht gewaltigsten Leistung der russischen Arbeiter und Bauern, an der Trotzki in hervorragendstem Maße beteiligt ist. Das Buch ist eine Sammlung von Reden, Befehlen, Aufrufen und Thesen Trotzkis aus dem Gründungsjahr der Roten Armee.
Die Friedensparole der bolschewistischen Partei Rußlands war es, die den Zersetzungsprozeß in der zaristischen Armee während der Kerenskiperiode beschleunigte, bis der Zerfall dieser Armee da war, der eine der wichtigsten Voraussetzungen zur Begründung der proletarischen Herrschaft in der Form der Sowjetrepublik war. Der zaristische Militarismus wurde zunächst durch keinerlei Militarismus abgelöst. Freiwillige Arbeiter- und Bauernbataillone übernahmen Verteidigung und Schutz des neugeschaffenen Bollwerks des Weltproletariats.
Eine kurze Zeit war es möglich, daß Sowjetrußland ohne militärische Macht existieren konnte. Der fortdauernde Weltkrieg, in dem die Entente- und Mittelmächte ihre Kriegsmittel und Truppen verbrauchten, gewährten der jungen Sowjetrepublik eine kleine Atempause. Aber Brest-Litowsk — und die darauf folgende „Offensive“ der Deutschen und Österreicher gegen die Ukraine — zeigte deutlich die ungeheure Gefahr, die Sowjetrußland vonseiten des ausländischen Imperialismus drohte. Seine Wehrlosigkeit schien es zur rechten Beute für die Imperialisten aller Schattierungen, insbesondere aber für die aus Rußland entflohenen
blut- und geldgierigen weißen Generäle, hinter denen vor allem Frankreich stand, zu machen. Der Sommer 1918 brachte denn auch den Vormarsch der tschecho-slowakischen Legionäre, die als Werkzeug russischer und französischer reaktionärer Militärs gegen die Diktatur des russischen Proletariats eingesetzt wurden.
Es wurde breitesten Kreisen der Arbeiter und Bauern in Rußland klar, daß sie ihre Herrschaft und ihre Ordnung nur verteidigen konnten, wenn sie sich dem sie auf Tod und Leben bedrohenden konterrevolutionären Militarismus entgegenstellten. Pazifistische Illusionen wären gleichbedeutend mit, der Herbeiführung der wütendsten bis an die Zähne bewaffneten und im Arbeitsblut watenden Reaktion gewesen. Hier gab es keine Wahl. War der Zerfall der zaristischen Armee eine der Grundbedingungen zur Eroberung der proletarischen Macht, so war die Gründung und der rasche Aufbau der Roten Armee die entscheidende Voraussetzung zur Aufrechterhaltung des proletarischen Sieges in Rußland.
Lenin, Trotzki und eine Reihe von Männern, die dies klar erkannten, gingen sofort an die Durchführung des gewaltigen Planes. Trotzki, an die Spitze des Kriegskommissariats und des Komitees zur Vorbereitung einer Roten Armee gestellt, bewies eine Umsicht und Energie, vollführte eine organisatorische und zugleich aufklärende Arbeit, wie sie in der Weltgeschichte ihresgleichen kaum findet. Von diesem gewaltigen Werk, das im Verlauf einiger Monate geleistet wurde, gibt das Buch über Die Geburt der Roten Armee, das in die Hand jedes revolutionären Arbeiters gehört, ein anschauliches Zeugnis.
Die Rote Armee unterscheidet sich fundamental von einer bürgerlichen Armee. Die Soldaten eines Bourgeoisiestaates kämpfen für die Interessen der sie unterdrückenden kapitalistischen Minderheit. Die Soldaten des Proletarierstaates kämpfen für ihre eigenen Interessen. Je unwissender, gefügiger, willenloser die Truppen der kapitalistischen Mächte, umso brauchbarer für deren Zwecke. Je bewußter, zielklarer, willensstärker die roten Truppen umso kampftüchtiger für die Verteidigung der proletarischen Macht. So haben die Führer der russischen Revolution, voran Trotzki, es sich in erster Linie angelegen sein lassen, die der Roten Armee angehörigen Truppen mit revolutionärem Wissen, Bildung, klarem Geist zu erfüllen. Keine Analphabeten in der Roten Armee (Der Zarismus hatte sie in seinem Interesse geradezu gezüchtet.)
Trotzki selbst, der jahrelang an der Spitze der Roten Armee steht, hat allen politischen, wirtschaftlichen und geistigen Fragen der Sowjetrepublik sein Augenmerk zugewendet und bei ihrer Lösung hervorragend mitgewirkt. Daß er dabei sogar scheinbar weniger bedeutsamen Fragen sein Interesse widmen konnte, wie den Fragen des Alltagslebens und dem Problem der Literartur, ist ein Beweis seiner außerordentlichen Regsamkeit.
Fragen des Alltagslebens ist der Titel des überaus klar und verständlich geschriebenen Buches Trotzkis, das sich mit einigen sehr ernsten Aufgaben in der Epoche der „Kulturarbeit“ beschäftigt. Diese Epoche ist in Sowjetrussland schonangebrochen. Trotzki gibt eine Fülle durchaus gesunder Anregungen, wie diese Aufgaben zu erfüllen sind. Er verfällt nicht in den Fehler der Literatur und gewisser scheinradikaler Kulturpolitiker, abenteuerliche, ausschweifende, den Massen unverständliche Vorschläge zu machen.
„Die Zeitung hat ihre Leser“, lautet ein Kapitel, in dem die Mangelhaftigkeit der proletarischen Presse scharf // gekennzeichnet und den Redakteuren, Korrektoren, Setzern und „Fragen des Alltagslehens“ und dem Problemen der „Literatur“, nach dem Herzen der Masse ist als auch ihrer Fortbildung und ihren Interessen dient, herstellen muß. — Von „Schnaps, Kirche und Kino“ handelt ein anderes Kapitel, in dem auf die noch immer nicht genügend erkannte sozial-kulturelle Bedeutung des Kinos hingewiesen und angedeutet wird, wie man es, ohne den Sensationsbedürfnissen der Masse Abbruch zu tun, im Sinne der Erneuerung der Kultur auswerten müßte. „Das Kino ist eine große Konkurrenz nicht nur der Kneipe, sondern auch der Kirche. Es ist das Werkzeug, dessen wir uns unbedingt bemächtigen müssen!“ – Am bedeutsamsten sind die Kapitel über die Krise des Familienlebens, über den Zerfall der alten und dem Übergang zur neuen Familie. Die Revolution des Familienlebens, im innigen Zusammenhang mit der sozialen Revolution, berührt breite Massen noch tiefer und leidenschaftlicher als die für das öffentliche Leben charakteristische politische Revolution. Trotzkis Gedanken über den neuen Weg der Familie, über die Gründung von „Familienwirtschaftskollektiven“ usw. sind der Vertiefung und Konkretisierung würdig. Wie alle diese Fragen des Alltagslebens aus dem innersten und fortwährenden Bedürfnis der proletarischen Männer und Frauen — auch Jugend — gestellt sind, wird aus einem sehr umfangreichen Anhang ersichtlich, in dem das Protokoll von Besprechungen einer Gruppe von 25 Moskauer Parteimassenagitatoren über alltägliche Probleme wiedergegeben wird
Das dritte Buch Trotzkis Literatur und Revolution ist von besonderem Wert für all jene, die für proletarische Kultur und Kunst, insbesondere für revolutionäre Literatur Interesse zeigen. Es zeichnet sich wiederum durch Klarheit, Verständlichkeit und Echtheit aus. Es ist eine sehr bittere, aber gesunde Pille für alle die Leute – sie sind auch außerhalb Sowjetrußlands zahlreich –, die ihren Mangel an Verständnis für die soziale Revolution und für die Aufgaben der proletarischen Diktatur, in der Kultur- und Kunstbewegung ausleben möchten. Dieser oft ehrlichen, oft verlogenen Sorte ist die Masse zum Probierkaninchen gut. Sie glauben häufig, ihre eigene leere und verworrene Geschwätzigkeit bei der Masse gut anbringen zu können. Trotzkis keineswegs gehässige Kritik gegen all diesen Mitläufern, sowie an den Futuristen ist vollkommen berechtigt. Diese Kritik ist nicht im mindesten spießerisch. Sie weist in die Zukunft, nicht in die Vergangenheit. Es ist doppelt zu begrüßen, daß ein Mann von der Bedeutung Trotzkis mir den Literaten ins Gericht geht. Er spricht dabei das dunkle Empfinden der Masse aus. Auch das Geschrei Majakowskis in seinem vielgepriesenen „150,000,000“ wird in der gebührenden Weise beurteilt. Es ist keineswegs das Poem der Revolution. Trotzki analysiert dieses Poem. Er beurteilt das in manchen ‚Einzelheiten packende Machwerk noch zu milde. „Anstatt des tatsächlichen Titanenkampfes von 150.000.000 ergibt sich die Parodie eines sagenhaften Zirkusmatch.“ „Der Verfasser“ möchte gern „mit dem Sozialismus und der Revolution auf Du und Du sein“. Aber er bleibt „individualistisch, und zwar hauptsächlich im bösen Sinne des Wortes“. – Als ehrlichen revolutionären Proletarierdichter stellt Trotzki den Dichter Demjan Bjedny hin.
Die Kapitel über proletarisch« Kultur und Kunst, über Revolutionskunst und sozialistische Kunst können diesem Rahmen nicht besprochen werden.“
Dieses Buch Trotzkis bringt eine frische, kräftige Luft in eine verpestete Athmosphäre. Denn nirgendwo hat sich mehr Unrat und Stickigkeit angesammelt, als in den Regionen der
„Kulturbürger“, der Künstler und Literaten.
In: Rote Fahne, 16.5.1924, S. 2-3.
Fritz Rosenfeld/Karl Leuthner: Neue russische Romane
Wohl selten war eine literarische Schaffensperiode in ihren Themen und in ihrer Form so einheitlich wie es die russische Dichtung der Nachkriegszeit ist. Der Stoff aller Romane ist die jüngste Vergangenheit und die Gegenwart Sowjetrußlands; die Darstellungsform bleibt, mit Ausnahme ganz weniger Dichter, die zu einer neuen Romantik Hinstreben (Leonow), der breite Naturalismus alter Schule, in den sich impressionistische Elemente, lyrische Zwischenspiele, Stimmungsmalerei, mischen. Ihrem Inhalt nach sind die neuen russischen Romane leicht zu gliedern. Der Krieg, die Revolution und der Bürgerkrieg, die Aufbauarbeit im neuen Staate, sind die drei großen Themengruppen, in die sich die neue russische Epik einteilen läßt.
Der Krieg ist die Hauptmelodie des großen Romans
Der stille Don
von Michael Scholochow (Verlag für Literatur und Politik, Wien-Berlin). Das Buch schildert erst das Leben der Kosaken, die an den Ufern des Don stille Bauernarbeit leisten, und zeigt dann, wie diese Kosaken, vom Zaren in das Blutbad des Weltkrieges gestürzt, zu neuen Menschen werden. Die Vollendung der Wandlung, die der Krieg an ihnen vollzieht, wird ein zweiter Teil des Romans darstellen. Wie die Kriegsbücher aller Völker, zerreißt auch dieses russische Kriegsbuch die Legende vom Heldentum. Friedliche Menschen werden zu Mördern, weil sie fürchten, gemordet zu werden.
Ein Zeitdokument aus der Revolution ist die Selbstbiographie Vera Inbers, die im Malik-Verlag, Berlin, deutsch unter dem Titel
Der Platz an der Sonne
erschienen ist. Das Buch ist kein Roman im gewöhnlichen Sinne, sondern eine breite, gestaltenreiche Zeitschilderung, die den Atem, die „Schwingungen“ einer großen Epoche wiederzugeben versucht.
Farbiger, lebendiger sind die beiden Erzählungen, die der Neue Deutsche Verlag, Berlin, in dem Band
Taschkent, die brotreiche Stadt
vereinigt hat. Die Titelerzählung des Buches stammt von Alexander Newerow. Sie spielt in den trübsten Hungerzeiten nach der Revolution und hat einen kleinen Jungen zum Helden, der für seine Familie die abenteuerliche Fahrt nach Taschkent wagt, um Brot und Saatkorn heimzubringen. Er schlägt sich mit Soldaten, mit Wegelagerern, mit dem großen Heer der Hungerndenherum, aber er erreicht sein Ziel. Großartiger als diese Geschichte ist A. Sferafimowitsch‚ gewaltiges episches Fresko Der eiserne Strom, das den zweiten Teil des Buches bildet. Hier gibt es keinen „Helden“, kein Einzelschicksal. Ein von den Horden der Reaktion aus der Heimat vertriebener Trupp kaukasischer Bauern bahnt sich mit der nackten Faust durch die ehernen Reihen der Feinde einen Weg und entrinnt den weißgardistischen Kadetten, von denen er verfolgt wird. Ein schauriges Gemälde aus dem Bürgerkrieg, unbarmherzig in der Darstellung der Kriegsgreuel, überhöht und überglänzt von dem Gedanken, daß an der geeinten Kraft der Revolutionäre alle Mordbanden der Reaktion zuschanden werden müssen.
Eine Episode aus dem Bürgerkrieg erzählt A. Fadejew in seinem im Verlag für Literatur und Politik erschienenen Buch
Die Neunzehn.
Kommunistische Freischärler kämpfen gegen die Truppen Koltschaks. Typen treten aus der Masse heraus, das Gesicht des russischen Freiheitskämpfers wird in vielen Abwandlungen gezeigt. Die Hauptfigur ist ein junger Mensch, der nicht weiß, wofür er kämpft, der in seinem innersten Wesen ein Feigling ist: er schlägt sich in der Stundeder Gefahr seitwärts in die Büsche, wahrend die Kameraden, zielbewußte Soldaten der Revolution, den Kampf weiterführen.
Der wertvollste Roman des neuen Rußland nach Fedor Gladkows „Zement“ ist der ebenfalls im Verlag für Literatur und Politik erschienene Bauernroman
Die Genossenschaft der Habenichtse
von F. Panferow. Er ist das Gegenstück zu „Zement“: dem Roman vom Wiederaufbau der Industrie wird hier der Roman vom Neuaufbau der russischen Landwirtschaft gegenübergestellt. An den Ufern der Wolga gründen ein paar arme Bauern auf ungerodetem Regierungsgrund einen gemeinwirtschaftlichen Betrieb, eine landwirtschaftliche Genossenschaft. Sie verteidigen ihre Idee und ihr langsam wachsendes Werk gegen die Sabotierungsversuche der wieder frech gewordenen Großbauern, sie führen Werk und Idee zum Sieg, obgleich die Kulaken mit den niederträchtigsten Mitteln die Genossenschaft umzubringen versuchen. An dem Problem: Einzelwirtschaft oder Gemeinwirtschaft, entzünden sich andre Probleme; der Konflikt der Generationen, der Konflikt der Geschlechter. Große, schicksalsträchtige Spannungen erfüllen den Roman, treiben seine Handlung an. Die Kernfragen der neuen russischen Bauernpolitik werden aber nicht trocken abgehandelt, der neue Geist des Kollektivismus wird nicht pathetisch gepredigt, sondern lebendig und dichterisch gestaltet. In machtvoller Steigerung spitzt Panferow das Buch auf eine Auseinandersetzung zwischen Großbauern und Habenichtsen zu, die zugunsten der Habenichtse ausfällt: die Arbeitsgenossenschaft der Besitz losen räumt mit dem alten Elend der kleinen Einzelwirtschaft auf und bannt die politische Gefahr der allzu mächtigen großen Einzelwirtschaft. Was Eisenstein in dem Film „Die Generallinie“ in großartigen beredten Bildern geformt hat, formt Panferow mit den Mitteln des Romans. Sein Werk ist oft von wuchtigster dramatischer Größe, oft wieder von verträumter lyrischer Zartheit. Ein großer Gestalter hat einen großen Stoff meisterhaft bezwungen.
[F. Rosenfeld]
Romantischer Roman
Leonid Leonov: „Der Dieb“
Leonow, der vor acht Jahren— damals zweiundzwanzig Jahre alt — mit den „Aufzeichnungen Kowiakins“, einer kurzen, meisterhaften Erzählung aus dem Leben der Provinz, hervortrat, gilt für eine der stärksten Begabungen des jungen Rußland. Dem Erstlingswerk folgten mehrere Erzählungen, der Roman Barsuki (Die Dachse) und 1928 der große Roman Wor (Der Dieb), der in deutscher Übertragung im Paul-Zsolnay-Verlag, Wien, erschien. Der Dieb hat in der russischen Kritik ein zwiespältiges Urteil erfahren. Nennen die einen den Roman ein herrliches, vollwichtiges Werk (so Pilski) und entdecken darin Züge des großen Seelenergründers und Seelenkünders Dostojewskis, so bezeichnet ihn Arseniew in seiner Russischen Literatur der Neuzeit als „psychologisch recht interessant, aber schwerfällig und langatmig“. Doch an diesem Urteil kann nur so viel als richtig zugegeben werden, daß kein rascher Drang und Zug die Handlung einem Konflikt und seiner Lösung zutreibt. Diese Eigenschaft teilt der „Dieb“ mit einigen der berühmtesten russischen Romane. Das Gefüge ist lose. Der Verfasser selbst tritt mit seinen Figuren auf die Bühne und schreibt im Roman den Roman, wie unsere Romantiker im Theater das Theater aufführten. Ja, es ist ein sehr abenteuerliches Geschehen, das hier zum größten Teil in der Verbrecherwelt des sowjetistischen Moskau spielt. Indes man fragt im Lesen gar nicht danach, ob nun jede wundersame Wendung der Geschicke genau den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit entspricht, ob nicht eine oder die andre der Gestalten vom Abenteuerlich-Romantischen ins Romanhafte hinüberspielt. Um all die Gestalten, um all die Dinge, um all die Ereignisse fließt der Geist der Ironie, einer Ironie, die manchmal scharf ätzend, noch häufiger jedoch mit leisem Lächeln deutend, Andeutung an Andeutung reiht, bis sich uns das ganze Geschehen des Romans zur schärfsten Kritik der Sowjetwelt wandelt. In dem Tschinownik, der, in einen Sowjetbeamten und Hausvertrauensmann umgeschaffen, doch nur der alte Tschinownik ist, bekommt die Ironie ihr kraftvollstes Symbol. Wie von Gogol her kommt diese Gestalt und scheint zu sagen: sie ist wiederum da die Zeit, welche Menschen gebiert, über die wir weinen müssen, während uns zugleich der Ekel würgt.
[K. Leuthner]
In: Arbeiter-Zeitung, 19.8.1930, S. 5.
Stefan Zweig: Reise nach Rußland
Stefan Zweig hat auf Einladung der russischen Regierung an den Tolstoi-Feierlichkeiten teilgenommen. In dem nachfolgenden Artikel beginnt er mit der Schilderung seiner Eindrücke.
Salzburg, 18. Oktober.
Redliche Vorbemerkung.
Welche Reise innerhalb unserer näheren Welt wäre heute auch nur annähernd so interessant, bezaubernd, belehrend und aufregend als jene nach Rußland? Während unser Europa, und besonders die Hauptstädte, dem unaufhaltsam zeitgemäßen Prozeß wechselseitiger Anformung und Verähnlichung unterliegen, bleibt Rußland völlig vergleichslos. Nicht nur das Auge, nicht nur der ästhetische Sinn wird von dieser urtümlichen Architektonik, dieser neuen Volkswesenheit in unablässiger Überraschtheit ergriffen, auch die geistigen Dinge formen sich hier anders, aus anderen Vergangenheiten in eine besondere Zukunft hinein. Die wichtigsten Fragen gesellschaftlich-geistiger Struktur drängen sich an jeder Straßenecke, in jedem Gespräch. In jeder Begegnung unabweisbar auf, ununterbrochen fühlt man sich beschäftigt, interessiert, angeregt und zwischen Begeisterung und Zweifel, zwischen Staunen und Bedenken leidenschaftlich angerufen.
So voll ballt sich jede Stunde mit Weltstoff und Denkstoff, daß es leicht wäre, über zehn Tage Rußland ein Buch zu schreiben.
Das haben nun in den letzten Jahren ein paar Dutzend europäische Schriftsteller getan; ich persönlich beneide sie um ihren Mut. Denn klug oder töricht, lügnerisch oder wahr, vorsichtig oder apodiktisch, alle diese Bücher haben doch eine fatale Ähnlichkeit mit jenen amerikanischen Reportagen, die nach zwei Wochen Cook-Rundfahrten sich ein Buch über Europa erlauben. Wer der russischen Sprache nicht mächtig ist, nur die Hauptstädte Moskau und Leningrad, bloß also in die beiden Pupillen des russischen Riesenleibes gesehen, wer außerdem die neue revolutionäre Ordnung mit den zaristischen Zuständen nicht aus früherer Erfahrung zu vergleichen vermag, sollte, meine ich, lieber redlicherweise verzichten auf Prophezeiung wie auf pathetische Entdeckungen. Er darf nur Impressionen geben, farbig und flüchtig wie sie waren, ohne jeden anderen Wert und Anspruch als den gerade in bezug auf Rußland heute wichtigsten: nicht zu übertreiben, nicht zu entstellen und vor allem nicht zu lügen.
Grenze.
In Niegoroloie erste russische Erde. Spät abends, so dunkel schon, daß man den berühmten roten Bahnhof mit der Überschrift »Proletarier aller Länder vereinigt euch« nicht mehr wahrnehmen kann. Aber auch die so pittoresk und fradiavolesk von romanhaften Reisevorgängern geschilderten Rotgardisten, grimmig bis an die Zähne bewaffnet, kann ich mit bestem Willen nicht erblicken, einzig ein paar klug aussehende, durchaus freundlich Uniformierte, ohne Gewehr und blinkende Waffe. Die Holzgrenzhalle wie alle anderen, nur da statt der Potentaten die Bilder Lenins, Engels, Marx’ und einiger anderer Führer photographisch von den Wänden blicken. Die Revision exakt, genau und geschwind, mit aller erdenklichen Höflichkeit: schon beim ersten Schritt auf die russische Erde spürt man, wieviel Lüge und Übertreiblichkeit man noch totzutreten hat. Nichts ereignet sich härter, strenger, militärischer als an einer anderen Grenze; ohne jeden brüsken Übergang steht man plötzlich in einer neuen Welt. Aber doch, ein erster Eindruck gräbt sich sofort ein, einer jener ersten Eindrücke, wie sie so oft eine erst später bewußt erkannte Situation divinatorisch umfassen. Wir sind im ganzen vielleicht dreißig oder vierzig Personen, die heute die Grenze Rußlands überschreiten, die Hälfte davon bloß Durch-// reisende, «“Japaner, Chinesen, Amerikaner, die ohne Aufenthalt mit der mandschurischen Bahn nach Hause sausen; das gibt mathematisch einen Rest von etwa fünfzehn bis zwanzig Personen, die mit diesem Zuge wirklich nur nach Rußland reisen. Dieser Zug wieder ist der einzige im Tage, der von London, Paris, Berlin, Wien, von er Schweiz, aus ganz Europa nach dem Herzen Rußlands, nach seiner Hauptstadt Moskau zielt. Unbewußt erinnert man sich an die letzten Grenzen, die man passierte, erinnert sich, wieviele Tausende und Zehntsausende jeden Tag in unsere winzigen Länderchen einreisen, indes hier zwanzig Personen im ganzen ein Riesenreich, einen Kontinent beschreiten Zwei oder drei geradeströmende Eisenbahnadern verbinden im ganzen Rußland mit unserer europäischen Welt, und jede dieser pocht nur matt und zaghaft. Da erinnert man sich an die Grenzübergänge zur Zeit des Krieges, wo auch nur ein siebenmal gesiebtes Häuschen die unsichtbare Linie von Staat zu Staat überschritt, und begreift instinktiv etwas von der augenbliklichen Situation: Rußland ist eine umschlossene Festung ein wirtschaftliches Kriegsgebiet, durch eine Art Kontinentalsperre, ähnlich jener, die Napoleon über England verhängte, von unserer anders eingestellten Welt abgeschlossen. Man hat eine unsichtbare Mauer überschritten, sobald man die hundert Schritt vom Eingang zum Ausgang zwischen diesen beiden Türen getan.
Umstellung ins Russische.
Noch ehe sich der Zug in Bewegung setzt, Moskau entgegen, erinnert mich ein freundlicher Mitreisender, daß man die Uhr jetzt umstellen müsse, um eine Stunde, von westeuropäischer auf osteuropäische Zeit. Aber dieser rasche Handgriff, diese winzige Schraubendrehung, bald wird man es merken, reicht beiweitem nicht aus. Nicht nur auf dem Zifferblatt muß man die Stunde umstellen, sondern sein ganzes Gefühl von Raum und Zeit, sobald man nach Rußland kommt. Denn innerhalb dieser Dimensionen wirkt sich alles in anderen Maßen und Gewichten aus. Die Zeit wird von der Grenze ab einen rapiden Kurssturz des Wertes erfahren, und ebenso das Distanzgefühl. Hier zählt man die Kilometer nach tausend statt nach hundert, eine Fahrt von zwölf Stunden gilt als Exkursion, eine Reise von drei Tagen und drei Nächten als verhältnismäßig gering. Zeit ist hier Kupfermünze, die keiner spart und sammelt. Eine Stunde Verspätung bei einer Verabredung gilt noch als Höflichkeit, ein Gespräch von vier Stunden als kurze Plauderei, eine öffentliche Rede von anderthalb Stunden als kurze Ansprache.
Aber 24 Stunden in Rußland, und die innere Anpassungsfähigkeit wird sich daran gewöhnt haben. Man wird sich sich schon nicht wundern mehr, daß ein Bekannter von Tiflis drei Tage und drei Nächte herfährt, um einem die Hand zu schütteln, acht Tage später wird man mit gleicher Gelassenheit und Selbstverständlichkeit wegen der Kleinigkeit von 14 Stunden Bahnfahrt selbst einen solchen »Besuch« machen, und sich s allen Ernstes überlegen, ob man nicht wegen der bloß sechs Tage und sechs Nächte doch in den Kaukasus fahren sollte.
Die Zeit hat hier ein anderes Maß, der Raum hat hier ein anderes Maß. Wie in Rubeln und Kopeken, lernt man hier rasch mit diesen neuen Werten rechnen, man lernt Warten und sich selber Verspäten, Zeit versäumen ohne zu murren, und unbewußt kommt man damit dem Geheimnis der Geschichte und des russischen Wesens nahe. Denn die Gefahr und das Genie dieses Volkes liegt vor allem in seinem ungeheuerlichen Wartenkönnen in der uns unfaßbaren Geduld, die so weit ist wie das russische Land. Diese Geduld hat die Zeiten überdauert, sie hat Napoleon besiegt und die zaristische Autorität, sie wirkt auch jetzt noch als der mächtigste und tragende Pfeiler in der neuen sozialen Architektur dieser Welt. Denn kein europäisches Volk hätte zu ertragen vermocht, was dieses seit tausend Jahren leidensgewohnte und beinahe leidensfreudige an Schicksal erduldet; fünf Jahre Krieg, dann zwei, drei Revolutionen, dann blutige Bürgerkriege von Norden, von Süden, von Ost und West gleichzeitig sich hinwälzend über jede Stadt und jedes Dorf, schließlich noch die entsetzliche Hungersnot, die Wohnungsnot, die wirtschaftliche Absperrung, die Umschaltung der Vermögen— eine Summe des Leidens und Martyriums, vor der unser Gefühl ehrfürchtig sich beugen muß. All dies hat Rußland einzig nur überstehen können durch diese, seine einzige Energie in der Passivität, durch das Mysterium einer unbeschränkten Leidensfähigkeit, durch das gleichzeitig ironische und heroische »Nitschewo« (»Es macht nichts«), durch diese zähe, stumme und im Tiefsten gläubige Geduld, seine eigentliche und unvergleichliche Kraft.
Moskau: Straße vom Bahnhof her.
Kaum aus dem Zuge nach zwei Nächten und einem Tage, ein heißer, erster, neugieriger Blick durch das klirrende Wagenfenster auf die Straße hin. Überall Drängen und Geschwirr, überfülltes, heftiges, vehementes Leben: es sind plötzlich zu viele Menschen in die neue Hauptstadt gegossen worden und ihre Häuser, ihre Plätze, ihre Straßen quellen und kochen über von dieser stürmischen Bewegtheit. Über die stolperigen Pflaster flirren flink die Iswotschiks mit ihren Wägelchen und struppig-süßen Bauernpferdchen Trambahnen sausen blitzschnell mit schwarz angehängten Menschentrauben an der Plattform, dem Strom der Fußgänger stellen sich wie auf einem Jahrmarkt überall kleine Holzbuden entgegen, mitten im Trubel bieten hingekauerte Weiber gemächlich ihre Äpfel, Melonen und Kleinzeug zum Verkauf. All das schwirrt, drängt, stößt mit einer in Rußland gar nicht erwarteten Flinkheit und Eile durcheinander.
Dennoch aber, trotz dieser herrlichen Vitalität, wirkt etwas in dieser Straße nicht voll lebhaft mit. Etwas Düsteres, Graues, Schattenhaftes mengt sich ein und dieser Schatten kommt von den Häusern Die stehen über diesem verwirrend phantastischen Treiben irgendwie alt und zermürbt, mit Runzeln und zerfalteten Wangen, mit blinden und beschmutzten Augenlichtern; man erinnert sich an Wien 1919. Der Putz ist von den Fassaden gefallen, den Fensterkreuzen fehlt Farbe und Frische, den Portalen Festigkeit und Glanz. Es war noch keine Zeit, kein Geld da, sie alle zu verjüngen und aufzufrischen, man hat sie vergessen, darum blicken sie derart mürrisch und verjährt. Und dann – was so besonders eindrucksvoll wirkt: während die Straße rauscht, redet, sprudelt, spricht, stehen die Häuser stumm. In den anderen Großstädten gestikulieren, schreien, blitzen die Kaufladen in die Straße hinein, sie türmen lockende Farbspiele, werfen Fangschlingen der Reklame aus, um den Vorübergehenden zu fassen, ihn für einen Augenblick vor den phantastisch bunten Spiegelscheiben festzuhalten. Hier schatten die Laden stumm; ganz still, ohne kunstvolle
Türmung, ohne Hilfe eines raffinierten Auslagenarrangeurs legen sie ihre paar bescheidenen Dinge (denn keine Luxusware ist hier verstattet) unter die mißmutigen Fensterscheiben. Sie müssen nicht streiten miteinander, nicht ringen und nicht wettkämpfen, die Kaufladen von nebenan und gegenüber, denn sie gehören doch, die einen und die andern, demselben
Besitzer, dem Staat, und die notwendigen Dinge brauchen nicht Käufer suchen, sie werden selber gesucht; nur das Überflüssige, der Luxus, das eigentlich nicht Gebrauchte, ,,Le superflu“, wie die französische Revolution es nannte, muß sich ausbieten, muß dem Vorübergehenden nachlaufen und ihn am Rockärmel fassen; das wahrhaft Notwendige (und anderes gibt es nicht in Moskau) braucht keinen Appell und keine Fanfaren.
Das gibt der Moskauer Straße (und allen andern in Rußland) einen so eigenartigen und schichsalshaften Ernst, daß ihre Häuser stumm sind und zurückhaltend, eigentlich nur dunkle, hohe, graue Steindämme, zwischen denen die Menschen fluten. Ankündigungen sind selten, selten auch Plakate Und was in roten Schriftzügen breitgerändert über Hallen und Bahnhöfen steht, ruft nicht Raffinements aus, Parfüms und Luxusautomobile, Lebensspielwerk, sondern ist amtliches Aufforderungsplakat der Regierung zur Erhöhung der Produktion, Aufruf, nicht zur Verschwendung sondern zur Zucht und Zusammenhang. Wieder spürt man hier, wie schon im ersten Augenblick, den entschlossenen Willen, eine Idee zu verteidigen, die ernste, zusammengeballte Energie, streng und stark auch ins Wirtschaftliche gewandt. Sie ist nicht ästhetisch schön, die Straße von Moskau, wie die pointillistisch glitzernden, farbensprühenden, lichtverschwendenden Asphaltbahnen unserer euroäischen Städte, abler sie ist lebensvoller, dramatischer und irgendwie schicksalhaft.
(Weitere Artikel folgen)
In: Neue Freie Presse, 21.10.1928, S. 1-2.
Fannina Halle: Die neue Frau als Weib
Fannina Halle: Die neue Frau als Weib (1932)
Nachdem wir nun das letzte Wort über die neue, unter völlig veränderten Verhältnissen aufwachsende und ins Leben gestellte Frau Sowjetrußlands vernommen haben, ist auch die Frage nicht länger zu umgehen: fühlt sich diese Frau heute wohler, in ihrem persönlichen Leben glücklicher als die von früher und von anderswo? Diese Frage ist natürlich schwer zu beantworten, weil Mascha noch zu jung und näher betrachtet mehr die Frau von morgen als von heute ist. Man muß also die Zeit erst abwarten, bis sie reifer wird. Vom Gros ihrer etwas älteren und gleichaltrigen Genossinnen läßt sich daher vorläufig nur sagen: wiewohl alle Ventile weit geöffnet und die äußeren Hindernisse aus dem Weg geräumt sind, befinden sich die Dinge durchaus noch im Fluß, die Entwicklung ist also keineswegs als abgeschlossen anzusehen und die Gegensätze stoßen hier in mancher Hinsicht mehr als anderswo im Raume zusammen.
Worin diese Gegensätze ihren Grund haben, wurde bereits angedeutet. Hier sei aber das Problem nochmals angeschnitten. Vor allem gipfelt es in der beim russischen Mann und bei der russischen Frau viel mehr als überall divergierenden Einstellung zur Geschlechtsfrage. Denn wie für alle Frauen der Welt, so bildet auch für die Mehrzahl der russischen Frauen, die bei aller äußerlichen Vermännlichung innerlich sehr fraulich, überaus emotionell veranlagt sind, die Liebe das zentrale seelische Erlebnis. Und trotz aller Versachlichung durch die sowjetrussische Jugend zeigt sich eben hierin eine große Diskrepanz zwischen den Geschlechtern. Während die Mehrzahl der in der ange//[272] führten Odessaer Enquete befragten männlichen Studentenschaft die Liebe als Realität überhaupt nicht anerkennt, geben von den weiblichen Studierenden immerhin fünfzig Prozent zu, daß ihr Geschlechtsleben nur durch innere Ursachen, durch Liebe und Leidenschaft geweckt wurde. Vielfach wird behauptet, und es ist auch kaum zu leugnen, daß die russischen Frauen im Leben aktiver, stärker, energischer und zielbewußter sind als ihre häufig etwas femininen, schwankenden Männer, daß das „schwache Geschlecht“ dem „starken“ überlegen ist. Und das läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß – während im Dasein des russischen Mannes das sozial-ethische Moment überwiegt – bei der russischen Frau, als Frau an und für sich, immer das Individuelle, das Persönliche und das Ästhetische vorherrscht. […] Die russischen Männer, denen man eine starke, gesunde Sinnlichkeit gewiß nicht absprechen kann, denen aber die verfeinerte, vergeistigte Form der Sexualität, die Erotik, so gut wie verschlossen ist – weil die meiste Intensität ihrer eurasischen Geistigkeit auf anderem Gebiete liegt und sich der Austragung sozial-ethischer Probleme zuwendet –, sind aber wohl aus diesem selben Grund auch wenig dazu befähigt, das ihrem Wesen differente Seelisch-Geistige der Frau zu wecken, zu gestalten. Die Russen sind in der Liebe eigentlich phantasiearm. Deshalb auch, und nicht allein wegen //[273] der so vielfach zitierten ausländischen Seidenstrümpfe die großen Chancen der Fremden bei der russischen Weiblichkeit.
Die Folge davon ist, daß die Klagen der sich außerhalb der sowjetrussischen Grenzen aufhaltenden „Spez“-Gattinnen, die sich ähnlich wie im Weltkrieg verlassen sehen, täglich lauter werden. […] Dabei darf man nicht vergessen, daß die russischen Männer schon seit eineinhalb Dutzend Jahren, unter Einsetzung aller Kräfte mit angespannten Nerven im schwersten Feuer stehen. Sind doch zum Übermaß der während des imperialistischen Krieges, der Revolution, des Bürgerkrieges und der Hungerjahre überstandenen körperlichen und seelischen Leiden, in deren Ertragen das russische Volk ohnedies ungleich stärker ist als jedes andere, in den letzten Jahren – neben der ständigen Angst vor einem Interventionskrieg – noch die ungeheuren Anforderungen des Fünfjahresplanes hinzugekommen! Übermenschliche Arbeitsleistungen, durch die die Sexualtriebkraft der russischen Männer erwiesenermaßen bedeutend herabgesetzt wurde. Die Männer, die gleich den Frauen in Rußland ohnedies immer früh alterten, sollen nach Aussage der Ärzte jetzt schon Mitte Vierzig größtenteils zur Liebe unfähig sein.
Noch bis vor ganz kurzer Zeit gab es – wegen der unterbrochenen Woche – keinen allgemeinen Ruhetag, kein Wochenende, keinen Ausflug, und wegen der miß//[274] lichen Wohnverhältnisse gibt es auch heute kaum eine Möglichkeit, in seinem Heim mit sich allein zu sein oder zu zweit, eine wirkliche Mußestunde zu genießen. Die russische Frau, sogar die Frau von heute, die zu einem Teil schon im Morgen lebt, zum anderen aber, wenn auch nur leise, das Gestern berührt, will, obwohl sie es prinzipiell leugnet, doch wie jede Frau, in irgendeiner Form als Weib umworben sein. Auch sie verlangt Rücksicht, Zärtlichkeit, Erotik und trägt unbewußt eine verschwiegene Sehnsucht nach Romantik im Herzen. Ihre Welt aber ist entzaubert, das Persönliche, der Mann, die Liebe nimmt darin – aus Mangel an Zeit und Gelegenheit – recht wenig Platz ein, ist kaum existent, und es gibt nur noch „ein bißchen Bett“. So wird von Millionen in ihrem Gefühlsleben ungeweckter, nach einer Entladung, einer Entspannung der seelischen Kräfte dürstender Frauen ihre ganze Energie, Begeisterungsfähigkeit, Opferwilligkeit, Leidenschaft und die angesammelte Glut eines undurchlebten Weibtums in technisch Dimensionen, Ziffern, Superlative umgesetzt und dem Altar der Platiletka freudig und selbstlos hingeopfert. Wir werden weiter unten sehen, daß es wahre Wunder sind, die da vollbracht werden, und daß die Frauen, wie einst in den ersten Reihen der russischen Revolution, so heute an der Spitze des modernen Epos der Arbeit, der Mythenschöpfung schreiten.
Allerdings: einmal im Jahr gibt es einen mehrwöchigen Urlaub, den man für gewöhnlich an jener sinnberauschenden Küste verbringt, die im südöstlichen Winkel des Schwarzen Meeres, bei Batum, beginnt, und sich fast ununterbrochen bis zur Westküste der Krym erstreckt. Wie kein anderer hat Gladkow in seinem schon erwähnten Roman Die trunkene Sonne das azurne Rauschen dieses // [275] Meeres, den durchsichtig darüber gewölbten Himmel, die vom betäubenden Duft der Wasserpflanzen und Mollusken gesättigten Luft geschildert, in der man „vor Glück hinsterbend“ ausruht. Denn „hier ist der Sonnenschein dem Fünfjahresplan nicht unterstellt“ (Knickerbocker), und somit werden auch alle theoretischen Ansichten über Liebe für drei oder vier Wochen hinfällig. Hier, an der Roten Riviera, zieht man die besten Kleider an, die man besitzt, und legt seine stehenden Redensarten ab. Hier holt man die Schmink- und Puderdose aus dem Koffer und die in den übrigen elf Monaten brachliegenden Gefühle aus dem Herzen. Hier sonnt man und flirtet den ganzen lieben Tag am Strande und badet im Mondschein einer subtropischen Nacht. Hier ist man lyrisch gestimmt, macht Dummheiten und nimmt den heißen Kampf der Geschlechter auf. Es ist der Kampf zwischen elementarer männlicher Sinnesbegierde, „noch nicht Eros gewordener Sexualität“, und dem das ganze Jahr über im Verborgenen blühenden Strauß, der nuancenreichen weiblichen Erotik. Kaum aber hat der Kampf begonnen, schon muß er bis zu den nächsten Sommerferien aufgeschoben werden.
Es ist ein bißchen wenig für den Typus Vollblutweib, zu dem die Russin zweifellos gehört. Und so ist es vielleicht doch nicht so seltsam, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, daß gerade in dem Lande, in dem es für die Frau keine soziale und ökonomische Tragödie mehr geben soll, Prof. Njemilows Buch Die biologische Tragödie der Frau entstehen konnte. Von marxistischer Seite wurde diese entmutigende Theorie mit heftigem Widerspruch aufgenommen: „Die Geschlechterfrage“, erklärt der Sexologe Prof. Salkind, „hat niemals als eine rein biologische Frage gegolten.“ Trotzdem erlebte das Buch // [276] Njemilows, das auch ins Deutsche übersetzt wurde, in Sowjetrußland, wo die Frau tatsächlich ihre biologische Tragödie weniger zu spüren bekommt als anderswo – weil diese durch Präventivmittel, Legalisierung des Abortus und durch die ganze Gesetzgebung nach Möglichkeit gemildert ist – in kurzer Zeit fünf Auflagen.
Außerdem erhielt Njemilow eine Menge Zuschriften, in denen nicht nur Frauen sondern auch Männer zu den von ihm aufgeworfenen Fragen polemisch Stellung nehmen. Einen Teil dieser Briefe hat es im Nachwort zur letzten russischen Auflage seines Buches veröffentlicht. Daß es eine biologische Tragödie gibt, bestreitet keine der Frauen. Viele verweisen aber darauf, daß sie in der Hingabe an einen Mann und in der Mutterschaft die größte Befriedigung finden. […] Neben diesem allgemeinen kommt aber auch das schon angedeutete spezifisch russische Frauenprobleme zur Spra//[277]che. Am meisten beklagen sich die Briefschreiberinnen Njemilows darüber, daß sie unter der Diskrepanz im männlichen und weiblichen Verhalten zum Problem der Liebe, das heißt, unter der Hemmungslosigkeit, der Leichtfertigkeit leiden, mit der Männer dem Geschlechtsakt gegenüberstehen. „Sie könnten sich schon etwas zusammennehmen, die Männer und ihre ‚Liebe‘ nicht mit so verbrecherischem Leichtsinn vergeuden“, ist der ständig wiederkehrende Refrain dieser Zuschriften. Alles wird aber durch die eine Stimme übertönt: „Nicht unter der ‚biologischen Tragödie‘ leiden wir, sondern unter dem ‚Chamstwo‘ der Männer“, was im Russischen eine Synthese der schönen Begriffe: Grobheit, Rohheit, Bestialität, Brutalität, mit einem Worte den Gipfel der Unkultur bedeutet. Diese Behauptung trifft wohl in manchen Fällen den Kern des Problems, und so darf man vielleicht sagen: die Tragödie der russischen Frau scheint augenblicklich weniger biologischer als psychologischer Natur zu sein.
Während man in Westeuropa allgemein vielleicht an einer Überkultur, einer zu großen Differenziertheit des Sexuallebens leidet, die so manche in Rußland kaum vorhandene Folgeerscheinung aufweist […] ist das Liebesleben der Russen viel zu oft zu einem seelenlosen Geschlechtsverkehr degradiert, zu einer bloßen Bedürfnisbefriedigung, ohne höheren persönlichen Anspruch. Die Männer scheinen sich hierbei ganz wohl zu fühlen, die Frauen weniger. – So zeigt es sich, daß die sowjetrussischen Frauen zwar alle Rechte haben, nur nicht das eine Recht, Weib in einem höheren Sinn des Wortes zu sein. Kaum erblüht, werden sie als erledigt angesehen: gilt doch in den // [278] Augen ihrer Männer als etwas primitiver Maßstab für die Altersgrenze nicht der Stärkegrad der gegenseitigen seelisch-geistigen Durchdringung, nicht der Eros, der mit den Jahren sogar zunehmen und sich vertiefen kann, sondern zunächst die nackte, rein sexuelle Anziehung und Eignung.
Den russischen Frauen wäre sehr zu wünschen, daß man in den bevorstehenden kulturellen Fünfjahresplan noch einen neuen Punkt aufnimmt: die kulturelle Hebung der gegenseitigen Beziehung der Geschlechter.
In: F. Halle: Die Frau in Sowjetrussland. Berlin-Wien-Leipzig: Zsolnay 1932, S.271-278 (Auszüge)