Paul Zifferer: Der Untertan (1919)
Wer einmal später in die furchtbare Zerrissen Zeit wird Einblick gewinnen wollen an der Deutschland nach seinem verhängnisvollen Niederbruche im Weltkriege litt, kann nichts Besseres tun, als die Darstellungen der beiden Brüder Thomas und Heinrich Mann miteinander zu vergleichen, denen so hoher Rang unter den deutschen Erzählern zukommt und die von verschiedener Seite her das Schreckliche, dessen Zeugen sie waren, jeder in seiner Art zu erklären und künstlerisch zu fassen suchen. Die Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann sind vor kurzem an dieser Stelle besprochen worden. Von Nietzsche und Wagner schreiben sie sich her, doch von der Leidensspur des Weltkrieges sind sie gezeichnet. Thomas Mann selbst nennt sie die Darstellung eines innerpersönlichen Zwiespalts und Widerspruchs: „daß sie es sind, das macht dies Buch, welches kein Buch und kein Kunstwerk ist, beinahe zu etwas anderem: beinahe zu einer Dichtung.“ Das Wesentliche an dem Werke Heinrich Manns aber — merkwürdigerweise des älteren unter den beiden Brüdern — scheint gerade, daß es keine Dichtung ist, trotzdem es sich in Romanform kleidet, sondern eine wilde, zornige Anklage, die mit allem Hergebrachten und Vergangenen auf das gründlich bricht und mit dem eigenen früheren Wirken nichts mehr zu schaffen haben will. Zwecklose Kunst, freies Spiel des Einfalls und der Gestaltung sind ihm etwas Verhaßtes; nicht mehr Flaubert, sondern Emile Zola steht ihm zuhöchst. Wehmütiges Entsagen liegt dem Autor fern, sein ganzes Buch ist ein einziges leidenschaftliches J’accuse.
Der Untertan – schon der Titel scheint als Schimpfwort aufzufassen, das dem traurigen Helden der Erzählung mit auf den Weg gegeben wird – der „Untertan“ also ist der junge Diederich Heßling, Sohn eines kleinen Papierfabrikanten in dem preußischen Städtchen Netzig, der selbst einmal Büttenschöpfer gewesen ist, zur Zeit, da jeder Bogen noch mit der Hand geformt werden mußte, und der dazwischen alle Kriege mitgemacht hat, bis er nach dein letzten — 1870— als jeder Geld fand, eine Papiermaschine kaufen konnte. Er persönlich zählt die Bogen nach. Die von den Lumpen abgetrennten Knöpfe dürfen ihm nicht entgehen; der kleine Diederich läßt sich von den Arbeiterinnen solche Knöpfe zustecken, damit er sie nicht angibt, wenn sie selbst einige mitnehmen. Der Vater, Ehrenfestigkeit und Pflicht auf dem verwitterten Unteroffiziersgesicht, führt methodisch den Stock. Die Mutter nährt den Sohn mit Märchen; er achtet die verträumte und geduckte Frau nicht. Ihre Ähnlichkeit mit ihm selbst scheint es dem Knaben zu verbieten. In der Schule bleibt Diederich den scharfen Lehrern ergeben und willfährig, den gutmütigen spielt er kleine, schwer nachweisbare Streiche, deren er sich nicht rühmt. Mit viel größerer Genugtuung spricht er von einer Verheerung in den Zeugnissen, vor einem riesigen Strafgericht. Denn Diederich ist so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen Organismus, der das Gymnasium ist, ihn beglückt, — wie später die bloße Zugehörigkeit zum Staate ihn beglücken wird — daß die Macht, die uralte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhat, sein Stolz ist. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzt man Katheder und Tafel. Diederich umwindet sogar den Rohrstock.
Es ist wichtig, den jungen Diederich Heßlich so in seiner Kindheit schon zu beobachten. Denn hier sind alle Elemente seines Wesens, die sich später verwischen und hinter Masken verbergen, klar und heftig bloßgelegt. Wir erkennen voll den Haß, mit dem hier der Dichter seinen Helden ins Leben hinausstößt. Flaubert, dem vormals Heinrich Mann tiefste, künstlerische Ehrfurcht bezeigte, stellt es als oberstes Gebot aus, der Dichter müsse alle seine Geschöpfe mit der gleichen Liebe umfassen, die Guten wie die Bösen, er müsse in allen Erscheinungen gleichmäßig wohnen, im grausamen Wüten eines Cäsaren, wie in der aufflackernden Empörung der Massen, im wilden Branden des Meeres wie im Duft einer Blume und im leisem säuselnden Atmen des Windes. Heinrich Mann aber nimmt von Anbeginn sichtbar Partei gegen seinen Helden. Er ist ihm in der Seele zuwider, er verachtet ihn, wie der alte Heßling einen Sohn verachtet und er spart auch im künstlerischen Sinne nicht mit Stockstreichen. Man kann sich in der Tat nicht leicht ein erbärmlicheres Geschöpf vorstellen als diesen Diederich Heßling: wie er als Student in Berlin sich einer Burschenschaft verschreibt, um sich Abend für Abend zu betrinken, wie er ein junges Mädchen, das ihn liebt, verführt und dem Vater dann von oben herab die Tür weist, wie er dabei von einem häßlichen und gemeinen Strebertum erfüllt ist, sich voll innerlicher Angst zu ungefährlichen Mensuren stellt, aber schon beim Einjährigenjahr drückt, und wie er am Ende doch böse und widerwillig seine Prüfungen besteht, weil diese nun einmal von der unsichtbaren „Macht“, die er scheu verehrt, als Hindernisse auf seinen Weg gestreut sind, wie die Prügel des Vaters.
Dann aber tritt in sein Leben die große entscheidende Begebenheit, die ihn um und um wandelt und zur Höhe führt: Diederich Heßling sieht zum erstenmal den Kaiser. Mitten in Demonstrationszügen erregter Massen ereignet sich dies. Unter den Linden vereinigen sich die Haufen finsterer Menschen, rinnen, so oft sie getrennt werden, wieder zusammen, erreichen das Schloß, weichen zurück und erreichen es wieder, stumm und unaufhaltsam, gleich übergetretenem Wasser. Da auf einmal bemerkt Diederich, wie sich der Knäuel, in den er selbst eingekeilt ist, allmählich auflöst und nach einer bestimmten Richtung fortgerissen wird: ,,Dunkles Geschiebe ohne Form, planlos, grenzenlos, und hell darüber ein junger Herr im Helm, der Kaiser… Nichts hatte sich geändert, als daß er da war – und schon marschierten sie, als gehe es auf das Tempelhofer Feld.“ „Hurra!“ schreit Diederich, denn alle schreien es, und inmitten eines mächtigen Stoßes von Menschen, der schreit, gelangt er jäh bis unter das Brandenburger Tor. Zwei Schritte vor ihm reitet der Kaiser hindurch. Diederich kann ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blicken seiner Augen; aber ihm verschwimmt alles, ein Rausch erfaßt ihn, läßt ihn den Hut hoch über allen Köpfen schwenken. Auf dem Pferd dort unter dem Tore der siegreichen Einmärsche und mit Zügen, steinern und blitzend, ritt die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen, gegen die wir nichts vermögen, weil wir sie alle lieben, die wir im Blute haben, weil wir die Unterwerfung darin haben.
Die Absicht des Autors ist unverkennbar. Er will zeigen, wie die Gestalt des Kaisers auf armselige Tröpfe gleich diesem jungen Diederich Heßling wirkte und – der Autor läßt es durchscheinen – wirken mußte. Er führt den „gebornen Untertan“, den geduckten, zur Unterwerfung wie um Unterwerfen gleichbereiten Menschen, mit der höchsten Spitze der Macht zusammen, die ihn magisch anzieht, mit der Erscheinung des jungen Kaisers, die ihn berauscht und niederwirft in einem – und dies buchstäblich: er stolpert nämlich in eine Pfütze. Seit diesem Augenblick spiegelt sich der Untertan nur noch im Bilde der höchsten Macht, die seinen Sinn ausschließlich erfüllt und sich so auch wieder in ihm spiegelt. Der junge Doktor Heßling kehrt nach Netzig zurück, wo sein Vater indessen gestorben ist, und fühlt sich verpflichtet, in seinem ererbten Reiche, nämlich der kleinen Papiermühle, gleich ein straffes Regiment einzuführen; er entläßt den verdienten Geschäftsleiter, den alten Sötbier, genau so wie der Kaiser den eisernen Kanzler entlassen hat, er bürstet seinen Schnurbart in die Höhe, versucht es, seine Augen blitzen zu lassen, und hält Ansprachen, wie die folgende: „Jetzt habe ich das Steuer selbst in die Hand genommen. Mein Kurs ist der richtige, ich führe euch herrlichen Tagen entgegen. Diejenigen, welche mir dabei behilflich sein wollen, sind mir von Herzen willkommen; diejenigen jedoch, welche sich mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere ich.“
Der Feind aber, den es zu zerschmettern gilt, ist der alte Herr Buck, die einzige sympathische Persönlichkeit des ganzen Romans wie der keinen Stadt Netzig. Diederich ist in dem Dunstkreis scheuer Verehrung aufgewachsen die alle ringsum für den hochverdienten Mann empfanden. Der alte Herr Buck trug keinen steifen Kragen wie die anderen, sondern eine weißseidene Halsbinde und darüber einen großen weißen Knebelbart. Wie langsam und majestätisch er seinen oben goldenen Stock aufs Pflaster setzte! Und er hatte einen Zylinder auf, und unter seinem Überzieher sahen häufig Frackschöße hervor, mitten am Tage! Denn er ging in Versammlungen, er bekümmerte sich um die ganze Stadt. Von der Badeanstalt, vom Gefängnis von allem, was öffentlich war, dachte Diederich: „Das gehört dem Herrn Buck.“ Er mußte ungeheuer reich und mächtig sein. Alle, auch der Vater Diederichs, entblößten vor ihm lange den Kopf. Die Stufen vor dem Hause des alten Herrn Buck waren abgewetzt von den von den Füßen der ganzen Stadt und von den Vorgängern dieser Füße: Das war ein Mann, hieß es, einer von denen, die das deutsche Volk hochhalten sollte. Der alte Buck war schon achtundvierzig dabei gewesen, er war sogar um Tode verurteilt worden. „Ja, daß wir hier als freie Männer sitzen können,“ sagen die Bürger von Netzig „das verdanken wir solchen Leuten wie dem alten Buck.“
Diese Achtung, die dem freisinnigen Manne von der Dankbarkeit einer ganzen Stadt gezollt wird, ist dem jungen //Heßling ebenso zuwider wie die eigene geduckte Verehrung, die noch heimlich in seiner Erinnerung sitzt, und die eigene Dankbarkeit, die er dem alten Herrn Buck schuldet. Denn dieser nimmt sich seiner in der hilfreichsten Weise an, leistet mit seinem alten, gütigen Lächeln die Dienste, die von ihm auf allerlei Umwegen gefordert werden, und es gilt darum, menschlichen wie bürgerlichen Verrat, wenn Diederich seinen Wohltäter wie den Wohltäter der Stadt zu besiegen und zu „zerschmettern“ beschließt. Unbeirrt geht aber der junge Heßling ans Werk; er, der sich vom Militärdienst heimlich gedrückt hat, gründet nun Kriegervereine, beruft Versammlungen ein, in denen er gegen den Freisinn wettert. Um seiner Rede Glanz u verleihen, improvisiert er Kaiserworte, die erstaunlich echt klingen, ja für echt gehalten werden, auch den Weg nach Berlin finden und kein Dementi erfahren. Mit wilden Ellenbogenstößen schafft er sich Raum, repräsentiert, schreitet einher, drückt auf die Kleinen, verhält sich mit den Großen, weiß um sich den Schein zu verbreiten, als führe von ihm, dem Untertan, wirklich ein geheimes, unsichtbares Band zu den höchsten Gewalten, zu denen er ehrfürchtig emporblickt und wird – zum eigenen, entsetzten Erstaunen – vom Schicksal selbst unterstützt, das den gütigen alten Herrn Buck mit den schändlichsten Tücken verfolgt, bis er zur Seite geschoben, in die Ecke gedrückt ist, um dem Aufstieg des jungen Heßling Raum zu geben. Von der Enthüllung eines Siegesdenkmals weg, die ihm selbst zur Feier ward, betritt Heßling das Sterbezimmer des alten Herrn. „Respekt vor einem tapferen Feind, wenn er das Feld der Ehre deckt. Gott hat gerichtet.“ … das ungefähr sind seine verlogenen Gedanken. „Diederich machte sich noch strammer, wölbte die schwarzweißrote Schärpe, steckte die Orden vor, und für alle Fälle blitzte er. Der Alte ließ. auf einmal den Kopf fallen, tief vornüber fiel er, ganz wie gebrochen. Die Seinen schrien auf: „Er hat etwas gesehen! Er hat den Teufel gesehen!“
Dies also ist der Roman vom Untertanen, den uns Heinrich Mann als den Erzfeind des Menschentums vorstellt, // als das Böse schlechthin in der Welt. Dem Buch ist eine Notiz vorausgeschickt, die besagt, das Werk sei noch vor dem Kriege, nämlich Anfang Juli 1914, abgeschlossen worden. Es fällt uns aber schwer, dies so wörtlich zu nehmen. In der Idee mag das Buch schon zu jener Zeit vollendet gewesen sein; die Ausführung aber zeigt eine solche Leidenschaft, einen so heftig geballten Grimm, daß der Krieg als treibende Kraft unbedingt Voraussetzung scheint. Dies aber ist der stärkste Einwand, der sich dem Leser aufdrängt: vor dem Kriege wäre der Roman in dieser Schärfe nicht möglich gewesen, während des Krieges hätte er eben wegen seiner Schärfe nicht erscheinen können, und jetzt kommt er eigentlich schon zu spät. Was gestern noch als eine kühne, unerhört verwegene Tat erschienen wäre, nimmt sich heute wie ein mit elementarer Wucht unternommener Stoß in die Luft aus. Kaiser Wilhelm hat abgedankt und die Ereignisse sind blitzschnell vorgestürmt. Die Aktualität, von der das Buch Heinrich Manns seine beste Kraft herholte, kehrt sich nun gegen das Werk, zeichnet allzufrühe Runzeln in seine Züge. Gewiß hat sich der Autor Höheres vorgesetzt! Er wollte den verhängnisvollen Einfluß zeigen, den die Figur des Kaisers mit ihren stets klirrenden, dem Theatralischen zugeneigten Gesten auf eine ganze Zeit übte; — wie sie insbesondere auf Leute vom Schlage dieses Diederich Heßling wirkte, die als „Untertanen“ zur Welt kamen und ihr äußeres Gehaben ganz nach dem Ebenbilde des höchsten klirrenden Gipfels der Macht einrichteten. Für solch umfassendes Zeitgemälde aber sind die Gestalten, die Heinrich Mann an uns vorüberführt, allzu verzerrt; die Wut führt ihm den Griffel, sie zeichnet nicht, sondern karikiert.
Rings um diesen Doktor Heßling wird eine ganze Welt von Niedertracht lebendig: Staatsanwälte, die das Recht beugen, um ihren Vorteil zu wahren, verbuhlte Priester, Bürgermädchen, die sich wie Dirnen gebärden, hohe Verwalter der Ordnung, die sich zu geheimen Raubzügen verbinden und nichts anderes im Sinn führen, als ihren Profit. Auch vor dem Hause des verehrungswürdigen Herrn Buck macht diese Flut von Schlechtigkeit nicht Halt. Sein Sohn ist ein Lump, seine Tochter reist mit ihrem Freunde nach Italien, während ihr Gatte – wenn auch nur durch die Umtriebe Heßlings – ins Gefängnis wandert. Welch ein trauriges Familienleben! Und selbst die sozialdemokratische Partei, die als Rächerin all dieses Furchtbaren im Hintergrunde der Erzählung sichtbar wird, mag wohl mit dem Repräsentanten, den ihr Heinrich Mann in seinem Buche auswählt, nichts zu schaffen haben. Dieser Werkmeister Napoleon Fischer wird uns keineswegs als ein aufrechter und rechtschaffener Mann geschildert. Pfiffigkeit und Tücke bringen ihn zur Macht; er kämpft nicht gegen Heßling sondern er paktiert mit ihm. Er ist sein Werkzeug und sein Helfer. Der Teufel wird durch Beelzebub ausgetrieben. Man gewinnt den Eindruck, daß hier dem Autor nirgends die gerade Linie gelingen will. Alles steht schief, die Hä user wanken, eine Welt ist zum Zusammenbruche reif. Nicht die kleine Stadt Netzig wird gemalt – denn in ihr kann so viel Bosheit nicht Raum finden und wäre sie der verworfenste Flecken der Erde – sondern ein düsteres Inferno, in künstlerischer Leidenschaft erschaut, aber doch nur eben Vision oder bessert noch Angsttraum.
Die Tragödie des wilhelminischen Deutschland, die Heinrich Mann schreiben wollte, ist er uns am Ende doch schuldig geblieben. Was er schuf, ist ein Satyrspiel voller Bitterkeit Die Tragödie selbst entschleiert sich einem erst, wenn man dem verneinenden Werke Heinrich Manns das wehmütig bejahende seines Bruders Thomas gegenüberstellt. Die Durchdringung beider erst gäbe das große, befreiende Kunstwerk, das wir erwarten. Aber vielleicht ist dazu all das schreckliche Geschehen, aus dem es aufsteigen soll, noch zu nahe. Die Dichter selbst sind noch Partei, klagen an und hassen, wo es doch ihre Sache wäre, sich über die Zeit zu erheben und endlich – endlich zur Liebe heimzufinden.
In: Neue Freie Presse, 19.3.1919, S. 1-3.
Otto Heller: Sibirien. Ein anderes Amerika. Berlin 1930
Der Wettlauf mit Amerika beherrscht die westliche Welt. Ein Wettlauf kann eine sehr schöne und wohltuende Sache sein. Vom Wettlauf des bürgerlichen Europas mit der Welt von Wallstreet und Hollywood kann man das leider nicht behaupten.
Amerika ist Trumpf, Schlagwort und System. Wenn etwas das hat, was man mit einem der furchtbarsten Worte der Gegenwart „Tempo“ nennt, so ist es amerikanisch. Jede Raserei ist amerikanisch, in der Vorstellungswelt des Westens: das Autorasen wie das Wolkerkratzerbauen. Von der anderen Raserei, der Ausbeutung des Arbeiters, der Vernichtung all dessen, was vergangene Zeitalter als menschlich bezeichneten, spricht man nicht gerne. Ein einziges Reisebuch aus der endlosen Kette von Amerikabüchern hat uns gezeigt, mit welch einem Paradies wir um die Wette laufen.
Zwei Opfer gibt es bei diesem Rennen: den arbeitenden Menschen und die Natur. Beide sind nur Objekt. Die Subjekte sitzen in Palm Beach oder in Cannes.
Vor dreihundert Jahren kamen die Väter der Yankees in die Gefilde Winnetous und Mitahasas. Eine Rasse ist vernichtet worden und eine Sklaverei ohnegleichen ist entstanden. Man sieht immer nur das Woolworth-Building. Die Freiheitsstatue ist nicht einmal mehr zu Reklamezwecken verwendbar. Die neue Welt ist nur der Schlußpunkt, vielleicht noch das Ausrufungszeichen der alten. Außerdem liefert sie Wolkenkratzerziffern, Rekordzahlen von reichen Leuten, Selbstmorden, Verbrechen, Menschen, die des Hungers sterben, Börsenkrachs, Golddepots in Bankkellern, Aktienpaketen, Interessen, Einflußsphären und Automobilrennen. Jeder Rekord ein Geschäft. //
Auch der Selbstmordrekord. Erst recht der an Naturschätzen. Ein Bombengeschäft im wahrsten Sinne des Wortes. Siehe Mexiko, Nicaragua und Haiti.
Vor dreihundert Jahren kamen die Kosaken nach Sibirien. Sie haben keine Rasse vernichtet. Sie gerieten selbst in eine Sklaverei ohnegleichen, obzwar sie dessen erst zweihundert Jahre später gewahr wurden. Sie waren Sklavenhalter im kleinen. Nicht mehr. Und als die Sklaven sich erhoben, wurden auch ihre Peiniger frei. Seltsam, aber wahr. Man sah immer nur die Katorga. Man las immer nur Dostojewskis Memoiren aus einem Totenhaus. Das war nicht anders möglich und es war auch recht so. Sibirien war das Gegenstück zu Amerika – schon damals. Dort klirrte die Börse, hier klirrten die Ketten. Die Börse plünderte einen Weltteil. Die Ketten legten sich vor den Toren des anderen. Amerika wurde wachgemordet, in die Geschichte geschossen. Sibirien schlief – bis gestern.
Wahrscheinlich war das sein Glück. Die Geschichte geht ihre eigenen Wege, ohne Zufall, nach strengem Gesetz, das nur nicht allstündlich offenbar ist. Die neue Welt liegt nicht jenseits des Atlantik.
Die neue Welt liegt nicht vor, sondern hinter uns. Wir haben es nur nicht gewußt. Wir sind, mit dem Gesicht nach Westen, um die Wette gelaufen. Mit dem falschen Partner. Es ist an der Zeit, daß wir uns umwenden. Nach Osten. Da gibt es leider ein abgebrauchtes lateinisches Wort vom Licht, das im Osten ersteht. Dort ist es allerdings schon lange hell. In Sibirien jeden Tag um rund fünf Stunden früher als bei uns. Es wird bald um fünf Stunden heller sein, dort drüben. Die Sonne ist vor dreizehn Jahren an der richtigen Stelle aufgegangen.
Wir laufen einstweilen immer noch um die Wette. Noch eine Lichtreklame, noch eine Rolltreppe, noch ein Über-//saxofon, noch ein Tonfilmpatent,noch eine amerikanische Beteiligung bei der Aktiengesellschaft X & Cie.! In letzterem Fall endet der Wettlauf meistens zugunsten der anderen Seite. Wir laufen noch immer um die Wette. Auf jedem Gebiet: von der Prostitution bis zum Bau neuer Kirchen. Neger und Kulis haben wir auf Lager. Sogar mit der Annehmlichkeit, daß sie über eine weiße Haut verfügen. So bequem ist Europa. Man glaubt es gar nicht.
Im Jahre 1893 gründeten Eisenbahnarbeiter um die Stelle des Brückenbaus über den Ob, in der Baraba-Steppe, ein Dorf. Sie nannten es Alexandrowsk. Im Jahre 1895 kamen den Arbeitern Händler nach. Man taufte die kleine Stadt, die aus dem Dorf entstanden war, in Nowo-Nikolajewsk um. Im Jahre 1897 zählte man fünftausend Einwohner […] 1910 wohnten schon fünfzigtausend in der Stadt, die noch immer nichts anderes war als ein großes Dorf. […] Im Jahre 1921 verlegte man den Sitz der sibirischen Regierung, des „Sibrekom“ (Sibirisches Revolutionskomitee) von Omsk nach Nowo-Nikolajewsk; die Zahl der Einwohner stieg bis 1923 auf sechundsiebzigtausend. Im Jahre 1926 fand man, daß der Name der Stadt nicht mehr in die Zeit passe. Man gab ihr den dritten Namen, der ihr nicht mehr genommen werden wird. Man nannte sie Nowosibirsk, die „Neusibirische“. Es gibt kein Altsibirien, kein altes Stück „Sibirsk“, das sich zum „Neuen“ verhielte wie New York zu York. Nowosibirsk ist das neue Sibirien. Gleichsam ein Musterlager.
Im Jahre 1926 hatte die Stadt hundertzwanzigtausend Einwohner. Im Jahre 1929 schätzte man die Einwohner-// zahl auf rund einhundertfünfzigtausend. Das ist amerikanisches Tempo. Freilich gibt es in Nowosibirsk keine Erdhütten, die im Schlamm versinken, neben Wolkenkratzern aus Glas, Stahl und Marmor. Gleich neben dem Bahnhof wächst eine Arbeiterstadt aus dem Boden. Der Bahnhof ist alt und klein. Aber die Wohnhäuser der Arbeiter sind groß und luftig. […]
Chicago wuchs in knappen hundert Jahren zur Millionenstadt. Vorher war Prärie an den Ufern des Michigan-Sees. In Chicago wachsen noch immer die Türme des Reichtums zum Himmel. Es stehen noch immer die Erdhütten der Ungenannten und Ungezählten, der Hunderttausenden, neben den Palästen. In Nowosibirsk gibt es kein Floptown. Das ist ein Stadtteil von Chicago.
Kap.: Wettlauf mit Amerika (Auszüge), S. 246-252.
Was die Bolschewiken literarisch geleistet haben. Eine Unterredung mit dem Volkskommissar für Bildungswesen Lunatscharski
[N.N.] Was die Bolschewiken literarisch geleistet haben. Eine Unterredung mit dem Volkskommissar für Bildungswesen Lunatscharski. [Proletarische Literatur/Theater]
Der bekannte Bolschewik Lunatscharski, der oberste Chef des russischen Bildungswesens, hat dem Moskauer Korrespondenten der Berliner „Roten Fahne“ die folgenden, selbstverständlich rosig gefärbten Mitteilungen gemacht:
Elf Jahre proletarischer Diktatur sind an der Kunst der Sowjetunion nicht spurlos vorbeigegangen. Die proletarische Literatur in der Sowjetunion bring immer neue Überraschungen: das russische revolutionäre Theater steht einzigartig da; die proletarischen Elemente dringen auch in die bildenden Künste und selbst in die Architektur immer tiefer ein; am längsten widersteht noch die Musik dem Ansturm der proletarischen Kräfte. Die proletarische Wirklichkeit erhält in der Kunst bereits ihre entsprechende Gestaltung. Die Fragen: „Gibt es eine proletarische Kunst? Ist eine proletarische Kunst möglich?“ werfen drüben nur solche kleinmütige „Revolutionäre“ auf, die auch an den sozialistischen Aufbaukräften des russischen Proletariats zweifeln (siehe den Fall Trotzki). Das Leben straft diese antiproletarischen Theologen rücksichtslos Lügen. (Gerade das Gegenteil ist der Fall. Das Leben beweist täglich, daß der Bolschewismus eine politische Farce ist, deren Ende nicht mehr aufzuhalten. D. Red.)
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In den letzten Monaten in den letzten zwei Jahren ist bei uns eine mächtige proletarische Literatur entstanden. Am stärksten äußert sie sich in der Form des großen Romans und der Erzählung. In der Poesie ist momentan eine Pause eingetreten. Vor zwei bis drei Jahren repräsentierte eine Gruppe von proletarischen Dichtern die Sowjetliteratur. Nun aber liest man wenig starke Gedichte. Hoffentlich wird dies nicht lange dauern; doch muß man feststellen, daß gegenwärtig die proletarische Prosa bei uns höher entwickelt ist als die proletarische Poesie.
Ein außerordentlich bedeutender neuer Roman ist „Tichi Don“ („Der stille Don“) von Scholochow, einem ganz jungen Arbeiter. Dann ein schönes und tiefes Werk, der Bauernroman „Bruski“ von Panferow. Werke, die den in Deutschland gekannten Roman „Zement“ von Gladkow bereits überragen. Ein wichtiger Roman Lessozawod“ („Holzfabrik“) von Karaveja, einer Frau. Alles, was sie bisher schrieb, war bereits interessant, doch sie gab in diesem Roman zum erstenmal ein umfassendes, groß angelegtes soziales Bild. Lebedinsky, künstlerisch schwächer als die anderen; aber er gibt eine scharfe soziale Analyse, er greift tief in die Wirklichkeit ein. Ein früherer wichtiger Roman „Nazgrom“ („Zerstörung“) von Fadejew (in deutscher Sprache im Verlag für Literatur und Politik unter dem Titel „Die 19“ eben erschienen). Vor den Werken von Scholochow, Panferow und Karavajeva der stärkste proletarische Roman in der Sowjetliteratur.
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Auch im Theater erfocht die proletarische Literatur große Siege. (Na! Na! D. Red.) Die stärkste Wirkung ging von „Relsje gudjetj!“ („Die Schienen tönen“) von Kirschon aus, aufgeführt im Theater MGSPS. Auch Bilizerkowksi hat starke Dramen geschaffen. Eines seiner Werke, „Sturm“, war beinahe ein ebensolcher Theatererfolg wie „Relsje gudjetj“ .
Was die proletarische Dichtung anbelangt, haben die interessantesten proletarischen Dichter in letzter Zeit wenig gegeben. Das Poem „Motele“ („Die Erzählung vom rothaarigen Motele, dem Herrn Inspektor, dem Rabbiner Isai und dem Kommissär Bloch) v. Utkin war sehr stark und vor zwei Jahren eine der beliebtesten und gelesensten Dichtungen (fünf Ausgaben publiziert). Doch nichts Neues von ihm, was diesem ebenbürtig wäre. Wie seine angekündigte Dichtung „Die Kindheit“ sein wird, kann man noch nicht wissen. Auch der andere begabte Dichter, A. Sharoff, hat neuerdings wenig geschrieben. Um seine „Magdalena“ wurde viel gestritten.
Die neuen proletarischen Schriftsteller stellen sich als Aufgabe: das neue Leben, wie es die proletarische Revolution geschaffen, gründlich kennenzulernen und künstlerisch zu gestalten. Darum ist die neue sowjetrussische Literatur nur realistisch. Früher war der Bürgerkrieg der hauptsächliche Stoff, die großen Ereignisse des Bürgerkrieges hatten solchen Eindruck gemacht, daß sich der Schriftsteller von ihnen nicht lösen konnte. Heue sind bereits viele Romane, die den sozialistischen Aufbau, die sozialistische Konstruktion schildern, jedoch ohne jede Verfälschung, ohne jede Schöntuerei. Bei den proletarischen Schriftstellern sind nur ganz selten und ganz untergeordnet Spuren von Skepsis, von Kleinmütigkeit. (Begreiflicherweise, weil sich die meisten den Gefahren einer freimütigen Kritik im erzreaktionären Rußland nicht aussetzen wollen. Wer die Wahrheit sagt, wird gemaßregelt. D. Red.)
In: Neues Wiener Journal, 4.1.1929, S. 6.
Eugen Hoeflich: Bolschewismus, Judentum und die Zukunft
In der berliner Zeitschrift „Die Arbeit“ wurde letzthin von Ludwig Strauß eine Diskussion über Bolschewismus und Judentum eingeleitet. Wenn wir nun auch als Zeitgenossen heute noch kaum den ruhigen Blick zu einem richtigen Urteil haben können, darf dennoch versucht werden, noch ein paar Worte – vielleicht von einem andern Standpunkte aus – darüber zu sprechen.
Bolschewismus: lassen wir für einen Augenblick die Erinnerung an alle tendenziösen Zeitungsmeldungen, an die Taten sadistischer Marodeure des sozialen Kampfes und fragen wir uns ruhig: was ist die Ursache des verhältnismäßig großen Anteiles von Juden an dieser neuen Form ökonomischen Kampfes? Sind es unedle Motive, Anlässe persönlicher Gewinnsucht, die sie in die ersten Reihen treiben?
Nein, trotz haßerfüllten Lügen: Nein. Dieser bolschewikische Jude will Europa nicht anzünden, um sich die Taschen zu füllen, ihn treibt die reinste Idee, die aber in ihrer Ausführung tragischer Irrtum ist, Folge einer durch den Krieg geborenen Massenpsychose, der die Psyche vieler Juden leichter zugänglich ist als die anderen Völker, die zweitausend Jahre Galuth nicht hinter sich haben.
Das Judentum kann – ich glaube Buber tat es – in zwei Gruppen geschieden werden: in die mit dem weiten Herzen: die idealistischen Träger der hinreissendsten Gefühle, und in die mit dem vertrockneten kleinen traurigen Golusherzen: die Krämernaturen, die Geldmenschen. Die Idealisten unter uns, Vollblutjuden durchaus, auch in ihren Irrtümern, spontan, urkräftig, unbedingt, aber auch konsequent und zähe im Verfolgen einmal gefaßter Ideen, selbst bis zur Unsinnigkeit, und stets ihrer Zeit um ein Stück voraus, von diesen Idealisten kamen Etwelche zum Bolschewismus, wie sie zur Sozialdemokratie kamen, wie sie stets zur Freiheitsbegeisterung für das Ideal irgend eines Volkes sich fanden. Immer in den ersten Reihen, glühend, fanatisch, ekstatisch. Hier in dieser Ekstase liegt das spezifisch Jüdische, Orientalische. Chassidim der Befreiung, ekstatische Fanatiker für die Menschheit, sprengen sie, die tausend Jahre bedrückt waren, endlich die Fessel und lodern auf in dem Brand, den sie kommen sahen, ehe er noch aufbrach. Darum ist dieser Jude, der idealistische Jude der Galuth Revolutionär, weil er aus dem Leiden seines eigenen Blutes ungeheures Mitgefühl hat zur unterdrückten Menschheit. Und weil der rein menschliche Wunsch, frei zu werden, endlich, allzuplötzlich nach tausendjähriger Gefangenschaft zur Erfüllung kommend, kein System für den Einzelnen vorbereitet hat, reißt er nieder, was ihn bis nun hielt, wirkt grenzenlos – bis mit einem dieser jüdische Mensch erkennt, daß alle äußerliche Freiheit, alle ökonomische Freiheit lange noch nicht Freiheit ist. Nun erst erkennt er sich, besinnt sich und zieht sich zurück: will wieder zu der Innerlichkeit kommen, die er von sich warf, als die Fahnen Sturm riefen in den Gassen der unterdrückten Menschheit. Nun erkennt er, daß sein Kampf gegen das Böse nutzlos war, da dieser europäischen Menschheit nicht die Bereitschaft zum Bösen schwinden kann – eben weil sie nicht innerlich ist. Die aber, deren Erkennen im Taumel der neuen Gefühle nicht zur Klarheit wird, werden weiterkämpfen, bis sie die Realisation ihrer Ideen erfühlen. In dem Augenblicke aber, da ihre Idee konkrete Formen anzunehmen beginnt, werden sie sie verlassen, denn die Kleinzügigkeit der Ausführung ist nicht ihre Sache. Groß und ihnen eigen ist nur der Weg, aus dem die Ströme stürzen, welche die Angelpunkte der Menschheit umbranden und immer neue Ideen gebären, und daraus entwindet sich die große Tragik des Juden mit dem weiten Herzen, daß er seiner Zeit immer um ein Stück voraus ist, um jenes Stück, das ihn, wenn er Glück hat zum Märtyrer, wenn er Unglück hat, aber zum Narren macht, oder aber zum Unentwegten, über den die Geschichte lächelt. […]
Wie immer aber die Juden beschaffen sind, die dem Bolschewismus anhangen, ihre jüdische Abstammung ist nicht die direkte Ursache dieser ihrer politisch-sozialen Tätigkeit. Die direkte Ursache vielmehr ist jene europäische Masse, deren Bestialität gegen Schwache und Geschwächte stets Äusserung ihrer Existenz war, der Judentum gleich war, mit etwas, das unterdrückt werden muß. Nichts aber ist ewig zu unterdrücken, ohne daß es mit Gegendruck antworten würde. Wenn nun aber jene Juden, die ihr Volkstum verloren, in bolschewistischen Formen reagierten, kann der Bolschewismus natürlich nicht als eine jüdische Angelegenheit bezeichnet werden, denn die gesunden Elemente des jüdischen Volkes reagierten in eine andere Richtung, in die des Zionismus, der in seinen Anfängen nichts anderes ist, als der elementare Freiheitsschrei der Unterdrückten, (und nur reiner Gedanke bleiben kann, solange er Schrei bleibt) die dem Geknechteten immanente Tendenz zur Revolutionierung seiner ihm gleichen Umgebung. Beide sind revolutionär, der gesunde und der kranke Jude; der Eine aber bleib revolutionierend beim Volk, um es und die Menschheit zu erlösen, der Andere verließ das Volk, weil er in dem tragischen Irrtum befangen war, daß Volk ein überholter Begriff sei und die Menschheit aus einer mehrweniger homogenen Masse bestehe, die man durch Anwendung gewisser Theorien innerlich und äußerlich zu einem Block zusammenschmelzen könne.
In dieser falschen Ansicht scheint mir auch die schließliche Lebensunfähigkeit des Bolschewismus begründet zu sein, jenes von Bucharin festgelegten Programmes, das Individualität im Einzelnen wie in den Völkern nur als etwas zu Überwindendes kennt. Hier liegt der Irrtum des phantasiearmen Theoretikers, der am Schreibtisch die Menschheit ummodelnd, plötzlich faktische Macht in die Hände bekommt und nun seine Theorie in Tat umzusetzen versucht. Fleischgewordene Rechenmaschine, die den Eintritt des glücklichen Zeitalters genau errechnet hat, hat ein System aufgebaut, das zwar folgerichtig entwickelt, aber an das der menschlichen Phantasie sich entringende Bedürfnis nach steter, auch äußerer Veränderung und an den unbrechbaren Willen des Individuums zur Individualität vergißt. Der Jude aber ist letzten Endes Romantiker und Individualist, mehr als ein Anderer. Ihn wird der Bolschewismus schließlich abstoßen; […]
Er wird voraussehen, daß der Geist auch des bolschewistischen Europas schließlich verflachen wird, wenn die Jugendlichkeit der Idee in den Alltag der Organisation hineingeglitten ist (wie es mit dem Geiste aller europäischen Bewegungen geschah, denn sie alle waren irgendwie ökonomisch gerichtet) er wird erkennen, daß neue Klassen aus der Tiefe heraufwachsen werden, die die ökonomische Diktatur in gleichem Maße handhaben werden, wie die früheren Herrenklassen, daß eine europäische Revolution stets in ihren Folgen nur eine Eintagsrevolution ist, selbst wenn ein monatelanges Blutband ihren Weg bezeichnet, daß sie ausschließlich Magenfrage ist, wohl eine Station in der Tragödie der europäischen Menschheit, dennoch aber nur blutige Groteske einer wirklichen Revolution, denn ihr Urgrund ist nicht Revolutionierung der Herzen, sondern Revolte der Magennerven, und ihr Ziel nicht die Menschheit, sondern die Bequemlichkeit. […]
Ich glaube anders: vom Bolschewismus trennt uns ebensoviel wie von jenem Judentum, das sich europäisch fühlt und europäische Maße sich zu eigen machte. Der Jude, der die Diskrepanz zwischen Bolschewismus und Judentum erkennt, wird auch den Zwiespalt zwischen Judentum und Kapitalismus, Europäismus, Merkantilismus erkennen und wird die reinsten Formen des Lebens auf der Bahn des Volkes suchen.
Er wird entweder als Mystiker sich den göttlichen Kern zusprechen und die Möglichkeit der Vereinigung mit Gott, um so die Menschheit zu erlösen. Er wird Religion und Dogma übersteigend, in die klarsten Höhen der Religiosität gelangen und so wirken auf die fernste endliche Zukunft seines um die Zukunft der Menschheit besorgten Volkes. Oder aber er wird Formen für diese Tage suchen, die den Möglichkeiten des Judentums, völkerverbindend sein zu können, freie Bahn schaffen und er wird in der gegebenen Realität verbleibend, zu retten suchen, was an der Menschlichkeit in dieser Menschheit für diese Tage noch zu retten ist.
Man müßte hier über die ungeheuer fruchtbaren ethischen Werte des Judentums sprechen, wollte man die Bahn wieder aufzeigen, in der die Notwendigkeit liegt, sich zu bewegen. Es ist sicher, daß am Ende dieser Bahn jener Sozialismus steht, der den Klassenbegriff nicht kennt, zu dem nicht leibliche Not ausschließlich führt, sondern der Wille zur sozialistischen Gesinnung der Menschheit, die aus sozialistisch gesinnten Völkern besteht. Auf dieser Bahn aber liegt kein Bolschewismus, keine Sozialdemokratie, keine ökonomische oder politische Partei und keine Gewalt, denn diese Bahn mündet in Asien, in jenem Asien, das Religionen stiftet und Gemeinschaften, wo Europa höchstens Staaten bauen kann und Klassenzwänge, in jenem Asien, das sozialistisch ist vom Anfang seiner Idee bis zu ihrer Diktatur der Liebe über die Menschheit.
Judentum und Bolschewismus haben nichts gemein. Wenn beider Ziel auch das höchste der Menschheit ist, können sie nicht zueinander kommen, denn der Absolutheit des Einen entspricht nur Zweckmäßigkeit, Bedingtheit des Andern, der Sehnsucht nach der wirklichen Menschheit nur der Wunsch die Produktion auf das Höchste zu steigern und die Konsumtion so angenehm als möglich zu machen. […]
Diese Frage wird einmal aufgeworfen werden, die Frage nach der reinsten Form des Nebeneinanderlebens, nach der an-archischen Form. Sie wird beantwortet werden, wenn entweder Europa vollends zertrümmert sein wird, oder aber, wenn es sozialistisch, also menschlich denken, fühlen und handeln wird, wenn Kapitalismus, Bolschewismus und alle andern Ismen verschwunden sein werden.
Hier die Ersten zu sein, sind die ungeheuren Möglichkeiten unserer palästinensischen Zukunft um die Zukunft der Menschheit.
In: Esra, H. 1/1919, S. 41-47
Richard A. Beermann: Der Bolschewismus als Gefahr und als Hoffnung
Richard A. Beermann: Der Bolschewismus als Gefahr und als Hoffnung.
Aus Rußland heimgekehrte Reichsdeutsche veröffentlichen im „Vorwärts“ einen „Warnruf vor dem Bolschewismus“. Sie sagen:
„Friede, Brot, Freiheit war die Parole, mit der die Bolschewisten das Volk zu ködern suchten. Mit der Miene des Menschenfreundes, des Weltbeglückers, des zürnenden, aber gerechten Richters, versprachen sie dem auflauschenden, in der Not langer Trübsal schmachtenden Volke eine neue, gerechte, glückspendende Weltordnung, ein Paradies auf Erden!
„Und was grinst jetzt, nachdem die Prunkhüllen gleisnerischer Phrasen eine nach der anderen herabgefallen sind, aus diesen Versprechungen hervor? Die leibhaftige Hölle mit all ihren Schrecknissen.
„Friede — welch blutiger Schwindel! Die wenigen, beim Ausbruch der Revolution gefallenen Opfer haben sich vertausendfacht, Leichenhügel türmen sich auf. Bruder- und Bürgerkrieg wütet im Lande, geht um in Dorf und Stadt wie ein hungriger blutlechzender Wolf, Leben und Eigentum ist ständig in Gefahr, alles geht drunter und drüber. Schon weigert sich die Rote Garde, noch tiefer und weiter in Blut zu waten. Als Mordschergen und Henkersknechte sind deshalb Chinesen gedungen worden.
„Und zu all dem schleicht Armut und Hungersnot durch die Städte und Dörfer, die Preise für Lebensmittel sind unerschwinglich, der Acker verödet, die Fabriken stehen still, weil die Rohstoffe fehlen, Millionen von Arbeitern sind brotlos, der Wohlstand des Bürgertums und der Bauern ist zerstört, Petersbürg hat heute Einwohner weniger als 1914, Handel und Wandel ist völlig im Absterben, das ganze Finanzwesen gerät durch kopflose, überstürzte Maßnahmen immer tiefer in Wirrwarr und Zerrüttung!“
Die deutschen und deutschösterreichischen Freunde der Bolschewiken behaupten mit Heftigkeit, das jetzt in Rußland herrschende System werde von der Bourgeoise böswillig verleumdet. Wir wissen genug von der Wahrhaftigkeit der Weltpresse, um zugeben zu können, daß wir wahrscheinlich über Rußland auch nicht genauer und unparteiischer informiert werden, als über andere Weltgegenden. Greuel aufzubauschen ist der Lieblingssport der internationalen Presse. Man möchte zur Ehre der Menschheit annehmen, daß nur der zehnte Teil von dem Entsetzlichen wahr ist, was uns immer wieder aus dem bolschewikischen Rußland berichtet wird. Aber auch dieser zehnte Teil wäre grauenhaft. Es ist schwer, darüber ein Urteil zu gewinnen, denn die Bolschewiken haben die Preßfreiheit abgeschafft. (Aus einer deutschen bolschewikischen Broschüre: „Die Bolschewiken denken nicht daran, Rede- und Preßfreiheit im bürgerlichen Sinn zu verwirklichen“.) Folglich gelangen aus Rußland nur die gewissen Tataren- und Emigrantenmeldungen ins Ausland: ein Land ohne Preßfreiheit wird immer verleumdet und ist selbst schuld daran. Die Gegner des Bolschewismus leben, wie die Bolschewiken nicht leugnen, unter dem furchtbaren Drucke eines blutigen Terrors; von ihnen ist eine unparteiische Berichterstattung kaum zu erwarten. Tatsächlich werden manche Schilderungen, die sie in der letzten Zeit verbreitet haben, aus der Psychologie gehetzter Verfolgter und Emigranten zu erklären sein.
Wie oft haben wir nicht von dem unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Bolschewismus gehört! Dann aber gewinnt er plötzlich Erfolge, dehnt sich aus, zeigt doch eine zähe Lebenskraft, die tiefere politische und soziale, ja religiöse Gründe haben muß.
All das hat die Welt schon einmal erlebt, und zwar im Jahre 1793. Mit dem jakobinischen Terror hat der bolschewikische das systematische Wüten gemeinsam, die blutige Vergewaltigung, die Lähmung der Gesellschaft, auch eine ungeheuere Energie, der oft das Unmögliche gelingt. Wie die Jakobiner haben die Bolschewiken sich gegen die ganze Welt zu behaupten und wie die Jakobiner möchten sie im Namen des Friedens und der Freiheit die ganze Welt unterwerfen. Fünfvierteljahrhunderte bevor Radek davon träumte, am Rhein gegen den englischen Imperialismus zu kämpfen, unternahm es der Berg, am Rhein gegen diesen selben englischen Imperialismus und seine kontinentalen Verbündeten in den Krieg zu ziehen; in einen Krieg, der mit großen Verbrüderungsphrasen begann und dann ein reiner Machtkrieg wurde, der ärgste, den die moderne WeIt vor 1914 erlebt hat. Auch damals fehlte es nicht an deutschen Jakobinern, die sich für die Guillotine begeisterten.
Die Faszination, die der Bolschewismus heute auf einen Teil der deutschen und auch der deutschösterreichischen Arbeiterschaft ausübt, ist leicht genug zu verstehen. Das furchtbare Elend, das der Krieg uns gebracht hat; mußte den äußersten Radikalismus begünstigen. Der Satz des Kommunistischen Manifests, das Proletariat habe bei einem Umsturz nichts zu verlieren als seine Ketten, konnte um 1914 auf die deutsche Arbeiterschaft nur mehr recht bedingt angewendet werden; in den Kriegsjahren gewann dieses mächtige Argument wieder an Bedeutung. Clemenceaus Behauptung, nur besiegte Organismen seien gegen bolschewikische Ansteckung nicht immun, mag insofern wahr sein, als eine durch den Krieg und durch unerträgliche Friedensbedingungen völlig verelendete deutsche Arbeiterschaft unschwer tobsüchtig gemacht werden könnte. Je schwieriger die Bedingungen der Entente die Wiederaufrichtung der deutschen Wirtschaft, einer organischen Sozialpolitik und des allgemeinen Wohlstands erscheinen lassen, desto bedeutungsloser muß der ungeschulten Logik der Volksmassen jene Zerrüttung des Wirtschaftsorganismus vorkommen, die die nächste Folge bolschewikischer Experimente ist. Ein geächtetes, vom Welthandel abgesperrtes, mit unsinnigen Kriegsentschädigungen belastetes Deutschland geriete allerdings in die starke Versuchung, Anlehnung, Bündnis, ein weites Wirtschaftsgebiet dort zu suchen, wo allein es noch zu finden wäre: jenseits der russischen Grenze. Ein bolschewikisches Deutschland ist heute die letzte Hoffnung Lenins und Radeks; hier können sie die industriellen Kräfte finden, die ihnen fehlen, hier einen Weg aus der Umschnürung, der Rußland erliegt. Wehe, wenn morgen das bolschewikische Rußland die einzige Hoffnung Deutschlands wäre! Ob eine trügerische Hoffnung, das kommt leider gar nicht in Betracht. Die großen Massen sind nur zu leicht in Sackgassen zu treiben, wenn nun ihr Eingang offen ist. Die Zustände, die der Bolschewismus in Rußland geschaffen hat, sind gewiß nicht verlockend; nun kommt es darauf an, was für Zustände der Anti-Bolschewismus der Entente dem deutschen Volk verheißt. Die Machthaber Rußlands, die im Versprechen sehr groß sind, bieten ihre Hilfe gegen die Entente an. Das tiefe Friedensbedürfnis der Deutschen wäre heute der Entente gegen jeden Friedensstörer verbündet, wenn sie solches Bündnis anzunehmen bereit wäre, wenn sie einen wirklichen Frieden schließen wollte. Tut sie es nicht, dann sind die Folgen unabsehbar. Daß man für die Freiheit und gegen tyrannische Unterdrückung blutig Krieg führen müsse, hat die Entente vier Jahre lang gepredigt. Daß sich die Völker der gegnerischen Staaten gegen ihre Beherrscher schließlich auflehnen würden, hat sie sehr richtig angenommen. Es liegt furchtbar nahe, das Experiment fortzusetzen. Demagogische Halblogik kann leicht so argumentieren. Es könnte der Augenblick der Verzweiflung kommen, in dem der Bolschewismus auch Besonnenen weniger als eine äußerste Gefahr, denn als eine letzte Hoffnung erschiene. Denn dieser Wahnsinn hat doch wenigstens Methode; das bolschewikische Rußland mag ein entsetzliches Leben führen, aber es lebt, es behauptet sich bisher der Entente gegenüber, ist von ihr unabhängig. Rußland ist groß, und Lenin ist weit, die russischen Zustände kennt niemand genau, das Furchtbare, das von ihnen erzählt wird, kann als Verleumdung hingestellt werden — und je ratloser, je zerfahrener das unglückliche deutsche Volk ist, desto mehr Aussichten hat die wilde Energie der russischen Propaganda. Denn das muß man den Bolschewiken lassen: auf die Agitation verstehen sie sich.
Der große Gegeneinwand: daß ein hingerichtetes Huhn keine Eier legt und eine zerstörte Industrie keine Arbeiter ernährt, ist den Massen nicht so überzeugend, wie man meinen sollte! Es wirkt da das Moment eines fast religiösen Irrationalismus gegen die nüchterne Vernunft.
Die bolschewikische Propaganda beutet den tief in der Volksseele liegenden idealistischen Optimismus aus; sie verheißt ein holdes Wunder, an das man nur zu gern glauben möchte. Sie malt die enteignete Fabrik, die zehnmal mehr und besseres produzieren wird; und dies gleich, morgen. Woher die Rohstoffe nehmen? Wir werden die exotischen Länder bolschewisieren.
Gerade weil die Abschaffung Ungerechter Besitzvorrechte, unsozialer Ausbeutung, parasitischen Drohnentums zum selbstverständlichen Glaubenssatz aller modern Gesinnten geworden ist, ist es schwer, die richtigen Perspektiven zu wahren; dem hoffenden Auge scheinen Fernen nah, Klüfte eben, Felsen gangbar. Es hat viele eine Verzückung ergriffen, ein mystischer Fanatismus. Ein neuer Kinderkreuzzug in die Wüste scheint bevorzustehen.
Man darf diesen religiösen Einschlag nicht unterschätzen. Er hat mit gesunder Politik, gar mit wirtschaftlicher Berechnung nichts zu tun, aber die Klugen und Nüchternen verlieren in solchen Zeiten leicht die Führerschaft, wenn sie zu klug und vor allem zu nüchtern sind. Jene zerstörende revolutionäre Energie des Bolschewismus, die mit den Maßregeln das Untunliche und Aussichtslose aufbaut, müßte durch eine positive Energie des Schaffens und Helfens pariert werden. Will die Entente den Bolschewismus in Mitteleuropa nicht haben, dann muß sie das Schaffen fördern, dem Helfen helfen. Von Rußland, dem Land der ekstatischen Sekten, strahlt ein religiöser Wahnsinn in die Welt, das ist es. Selbst wenn es gelänge, die bolschewikische Sekte in ihrem Ursprungsland gewaltsam zu unterdrücken, würde das die Verbreitung ihrer Idee kaum hindern. Man muß ihr bessere, aber ebenso warme Ideale entgegensetzen.
In: Der Friede, Nr. 51/10.1.1919, S. 581-582.
Stefan Zweig: Der Weg Hermann Hesses
Jede erreichte Höhe wird immer Wiederkehr eines Anfangs: so ist gerade der berühmte, der allbeliebte Künstler ähnlich und vielleicht noch mehr als der unbekannte in eine Art von Anonymität eingeschlossen; er lebt umkrustet, petrifiziert innerhalb des glatt-handlichen Begriffes, den sich die Welt von seiner Eigenheit geschaffen hat, und seine tiefsten Wandlungen und Verwandlungen gehen unter dieser Fläche gleichsam geheimnisvoll und für die anderen unbemerkt vor sich. Die Öffentlichkeit starrt immer nur auf den Schatten, den der Frühschein ersten Erfolges von einem Dichter in die Welt geworfen hat, lange merkt sie es nicht, daß inzwischen der lebendige Mensch — bergan oder bergab — seiner einstigen Form entwandert ist. Eines der zeitgemäßesten Beispiele solchen ungenauen Sehens scheint mir die Wertung Hermann Hesses, über dessen allgemeiner, breiter, wohlgefälliger, ja bis ins Familienpublikum hineingewärmter Beliebtheit die merkwürdige, erstaunliche und bedeutende. Wandlung und Vertiefung seines dichterischen Wesens beinahe unbemerkt geblieben ist. Und doch weiß ich in der neueren deutschen Literatur kaum einen gleich sonderbaren, mit allen Windungen im letzten doch geraden Weg der inneren Entfaltung als den seinen.
Hermann Hesse hat vor etwa zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren begonnen, ganz wie ein württembergischer Pastorssohn zu dichten beginnt: mit Versen, mit sehr weichen, versehnten Versen. Er saß damals als Buchhandlungsgehilfe in Basel, war bitter arm und allein: aber wie immer bei solchen sehnsüchtigen Dichtern, je bitterer das Leben, um so süßer die Musik und die Träume. […] //
Dann kam der Krieg, der — es brennt einem der Mund, ihm ein Verdienst nachsagen zu müssen — durch den Überdruck der Atmosphäre aus so viel Menschen das Entscheidende herauspreßte: er hat auch in Hesse den inneren Durchbruch gefördert. Sein ganzes Leben geriet damals aus einander: das eigene, helle Haus war längst verloren, die Ehe geendet, die Kinder in der Ferne; allein inmitten einer stürzenden Welt, zurückgestoßen in seiner zerschmetterten, romantischen Gläubigkeit an Deutschland und Europa, mußte er sich wieder wie ein Unbekannter, ein neuer Anfänger an das Werk stellen. Und aus einem prachtvollen Gefühl für diese tiefe Umackerung seines Wesens, für die vollkommene Erneuerung seines Schicksals, für den nochmaligen Lebensbeginn hat damals Hermann Hesse etwas getan, was seit absehbarer Zeit in Deutschland kein Dichter von Rang gewagt hatte (und jeder einmal in seinem Leben versuchen sollte): er hat das erste Werk seiner neuen Epoche nicht unter der gesicherten Flagge seines Namens, sondern in strengster Anonymität eines gleichgültigen Pseudonyms in die Welt geschickt. Plötzlich machte in literarischen Kreisen der Roman eines unbekannten Emil Sinclair Aufsehen: Demian hieß das sonderbar dunkle, tiefgründige Buch, das von einer Jugend in einer merkwürdig verästelten, bis in das Dunkel der Seele hinabgreifenden Art erzählte. Als ich es las, dachte ich an Hesse dabei, Mex ohne Vermutung, er könnte der //Autor sein: ein Schößling seiner Art schien mir dieser Sinclair, ein junger Mensch, der Hesse viel gelesen, aber ihn doch an seelischem Wissen, an seltener Aufrichtigkeit weit überwachsen hatte. Denn hier fehlte gänzlich dies Ausweichende, dies Zaghafte in der Psychologie, im Gegenteil, hier bohrte sich mit einer ahnungsvollen Überwachheit ein gesteigerter Sinn an das Geheimnisvolle des Lebens heran, die Wasserfarben der seelischen Erlebnisse, die früher mit zarten Pinselstrichen über die dunklen Schicksale hinzitterten, waren hier sinnlichen, warmen Tönen gewichen. Und mein Erstaunen war Respekt, als ich zwei Jahre später erfuhr, daß Emil Sinclair Hermann Hesse sei, aber ein neuer Hermann Hesse, der an sich selbst herangelangte, der wirkliche, der Mann Hermann Hesse, nicht der Träumer mehr.
Diese Grenze ist heute ganz deutlich und sie reicht tief hinab bis in das innerste Wurzelwerk seines Wesens. Nicht nur daß die Problematik des einst so sanften Betrachters eine tief hinabdrängende, dem Dunkel sich ansaugende geworben ist, daß von einem inneren Sturm seinen Menschen jeder sentimentale Hauch vom sprechenden Munde weggeweht ist – ganz im Unfaßbaren, im Schauen, in der Pupille waltet nun ein anderer, ein wissenderer Blick. Geheimnis umwaltet ja von je das unsichtbare Fortschreiten eines Künstlers in sich selbst hinein, dem Worte nicht beikommen: bei Malern ist es offenbarer, da sieht man geradezu sinnlich, wie ihnen mit einem Male – etwa, wenn sie nach Italien kommen oder zum erstenmal einen neuen Meister schauend erleben – nach langen Versuchen urplötzlich das Geheimnis des Lichtes oder der Luft oder der Farbe aufgeht, wie eine Epoche in ihrer Kunst beginnt. Bei dem Dichter ist solche Verwandlung minder tastbar, nur der Nerv kann sie erfühlen. Wenn Hesse heute einen Baum beschreibt oder einen Menschen oder eine Landschaft, so vermag ich’s eigentlich nicht zu erläutern, warum dieser sein Blick, sein Ton nun anders ist, voller, sonorer, klarer, vermag es nicht zu sagen, warum da alle Dinge um einen Grad wahrer und näher bei sich selber sind. Aber man lese doch selbst gerade jene ganz zufälligen Bücher nach Sinclair s Notizbuch (bei Rascher & Co., Zürich), und die Wanderung (S. Fischer), die beide mit seinen eigenen Aquarellen geschmückt sind und vergleiche sie mit seinen jugendlich-lyrischen Schilderungen. Hier ist alles Saft und Kraft in der Sprache und jene große Sparsamkeit, die sich nur die Fülle gestatten darf: noch wogt die alte Unruhe darin, nur jedoch gleichsam mit tieferem Wellengang. Aber das Reifste, das Reichste, das Eigenartigste, was dieser neue Hesse bisher gegeben, ist sein Novellenbuch Klingsors letzter Sommer (S. Fischer), ein Werk, das ich mit bewußter Wertung zu dem bedeutendsten der neuen Prosa zähle. Hier ist eine seltene Verwandlung erreicht: das Sehen ist magisch geworden, es schafft gerade im Dunkel einen zitternden phosphoreszierenden Schein aus eigener Seelenkraft, der das Geheimnis der wirkenden Kräfte erhellt. Nichts umfängt es mehr flächenhaft und lau, dieses geballte funkelnde Licht, ihm wird das Leben schicksalshaft und dämonisch, eine elektrische Atmosphäre, die aus ihren eigenen Kräften sich ein abgründiges Leuchten schafft. In dem Lebensbilde des Malers Klingsor sind bewußt Van Goghsche Farben in Prosa umkomponiert, und nichts zeigt deutlicher den Weg, den Hermann Hesse gegangen – von Hans Thoma, dem schwarzwäldischen, idealistischen, flachlinigen Malerpoeten zu jener besessenen Magie der Farben, zu dem ewig leidenschaftlichen Disput von Dunkel und Licht. Und je unfaßbarer, vielfältiger, geheimnisvoller, je magischer, verworrener und auflösender er nun die Welt empfindet, um so sicherer, um so klarer steht der Wissende nun in sich selbst; die merkwürdige Reinheit der Prosa, die Meisterschaft des Aussagens gerade dieser unsagbarsten Zustände gibt Hermann Hesse heute einen ganz besonderen Rang in der deutschen Dichtung, die sonst nur in chaotischen Formen oder Unformen, im Schrei und der Ekstase das Übermächtige zu schildern und zu reflektieren sucht.
Von dieser Sicherheit, dieser Sparsamkeit ist auch Hesses letztes Werk erfüllt, seine indische Dichtung Siddhartha (S. Fischers Verlag). Bisher hat in seinen Büchern Hesse immer über sich sehnsüchtig hinausgefragt in die Welt: hier versucht er zum erstenmal zu antworten. Seine Parabel ist nicht hochmütig oder weise-lehrhaft, sie ruht in einer gelassen atmenden Betrachtung: niemals war sein Stil klarer, durchsichtiger, unbeschwerter als in dieser beinahe sachlichen Darstellung der geistigen Pfade eines Menschen, der ungläubig-gläubig immer näher an sich selbst gelangt. Nach den düsteren Melancholien, den purpurnen Zerrissenheiten des Klingsor-Buches schwingt sich hier die Unruhe zu einer Art Rast: eine Stufe scheint hier erreicht, von der Ausschau weit in die Welt verstattet ist. Aber man spürt: es ist noch nicht die letzte. Denn das Wesentliche des Lebens ist nicht seine Ruhe, sondern seine Bewegtheit. Wer ihm nahe bleiben will, muß in ewiger Wanderschaft des Geistes, in ewiger Unruhe des Herzens verharren, jeder Schritt dieser Wanderschaft ist gleichzeitig ein Nahekommen zu sich selbst. Selten habe ich das im Umkreis unserer deutschen Literatur stärker bei einem gegenwärtigen Dichter empfunden als bei Hermann Hesse. Ursprünglich gewiß minder begabt im Sinn von Begnadung als andere und weniger durch eingeborne Leidenschaft an das Dämonische des Daseins hingedrängt, ist er allmählich durch diese tiefe Ruhelosigkeit näher an sich selbst, tiefer an die wahre Welt gelangt als alle Gefährten seiner Jugend, und weiter über seinen eigenen Ruhm, die allgemeine Beliebtheit hinaus: seine Sphäre ist heute noch nicht ganz zu umgrenzen und ebensowenig seine letzten Möglichkeiten. Aber dies ist gewiß, daß alles dichterische Werk, das heute nach solcher innerer, gleichzeitig entsagender und beharrender Verwandlung von Hermann Hesse ausgeht, Anspruch auf äußerste moralische Geltung und unsere Liebe hat, daß man hier einem mehr als Vierzigjährigen, bei aller Bewunderung für das meisterlich Getane, noch die gleiche Erwartung wie einem Beginnenden entgegenbringen darf und soll.
In: Neue Freie Presse, 6.2.1923, S. 1-3.
Paul Zifferer: Der Untertan
Wer einmal später in die furchtbare Zerrissen Zeit wird Einblick gewinnen wollen an der Deutschland nach seinem verhängnisvollen Niederbruche im Weltkriege litt, kann nichts Besseres tun, als die Darstellungen der beiden Brüder Thomas und Heinrich Mann miteinander zu vergleichen, denen so hoher Rang unter den deutschen Erzählern zukommt und die von verschiedener Seite her das Schreckliche, dessen Zeugen sie waren, jeder in seiner Art zu erklären und künstlerisch zu fassen suchen. Die Betrachtungen eines Unpolitischen von Thomas Mann sind vor kurzem an dieser Stelle besprochen worden. Von Nietzsche und Wagner schreiben sie sich her, doch von der Leidensspur des Weltkrieges sind sie gezeichnet. Thomas Mann selbst nennt sie die Darstellung eines innerpersönlichen Zwiespalts und Widerspruchs: „daß sie es sind, das macht dies Buch, welches kein Buch und kein Kunstwerk ist, beinahe zu etwas anderem: beinahe zu einer Dichtung.“ Das Wesentliche an dem Werke Heinrich Manns aber — merkwürdigerweise des älteren unter den beiden Brüdern — scheint gerade, daß es keine Dichtung ist, trotzdem es sich in Romanform kleidet, sondern eine wilde, zornige Anklage, die mit allem Hergebrachten und Vergangenen auf das gründlich bricht und mit dem eigenen früheren Wirken nichts mehr zu schaffen haben will. Zwecklose Kunst, freies Spiel des Einfalls und der Gestaltung sind ihm etwas Verhaßtes; nicht mehr Flaubert, sondern Emile Zola steht ihm zuhöchst. Wehmütiges Entsagen liegt dem Autor fern, sein ganzes Buch ist ein einziges leidenschaftliches J’accuse.
Der Untertan – schon der Titel scheint als Schimpfwort aufzufassen, das dem traurigen Helden der Erzählung mit auf den Weg gegeben wird – der „Untertan“ also ist der junge Diederich Heßling, Sohn eines kleinen Papierfabrikanten in dem preußischen Städtchen Netzig, der selbst einmal Büttenschöpfer gewesen ist, zur Zeit, da jeder Bogen noch mit der Hand geformt werden mußte, und der dazwischen alle Kriege mitgemacht hat, bis er nach dein letzten — 1870— als jeder Geld fand, eine Papiermaschine kaufen konnte. Er persönlich zählt die Bogen nach. Die von den Lumpen abgetrennten Knöpfe dürfen ihm nicht entgehen; der kleine Diederich läßt sich von den Arbeiterinnen solche Knöpfe zustecken, damit er sie nicht angibt, wenn sie selbst einige mitnehmen. Der Vater, Ehrenfestigkeit und Pflicht auf dem verwitterten Unteroffiziersgesicht, führt methodisch den Stock. Die Mutter nährt den Sohn mit Märchen; er achtet die verträumte und geduckte Frau nicht. Ihre Ähnlichkeit mit ihm selbst scheint es dem Knaben zu verbieten. In der Schule bleibt Diederich den scharfen Lehrern ergeben und willfährig, den gutmütigen spielt er kleine, schwer nachweisbare Streiche, deren er sich nicht rühmt. Mit viel größerer Genugtuung spricht er von einer Verheerung in den Zeugnissen, vor einem riesigen Strafgericht. Denn Diederich ist so beschaffen, daß die Zugehörigkeit zu einem unpersönlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen Organismus, der das Gymnasium ist, ihn beglückt, — wie später die bloße Zugehörigkeit zum Staate ihn beglücken wird — daß die Macht, die uralte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhat, sein Stolz ist. Am Geburtstag des Ordinarius bekränzt man Katheder und Tafel. Diederich umwindet sogar den Rohrstock.
Es ist wichtig, den jungen Diederich Heßlich so in seiner Kindheit schon zu beobachten. Denn hier sind alle Elemente seines Wesens, die sich später verwischen und hinter Masken verbergen, klar und heftig bloßgelegt. Wir erkennen voll den Haß, mit dem hier der Dichter seinen Helden ins Leben hinausstößt. Flaubert, dem vormals Heinrich Mann tiefste, künstlerische Ehrfurcht bezeigte, stellt es als oberstes Gebot aus, der Dichter müsse alle seine Geschöpfe mit der gleichen Liebe umfassen, die Guten wie die Bösen, er müsse in allen Erscheinungen gleichmäßig wohnen, im grausamen Wüten eines Cäsaren, wie in der aufflackernden Empörung der Massen, im wilden Branden des Meeres wie im Duft einer Blume und im leisem säuselnden Atmen des Windes. Heinrich Mann aber nimmt von Anbeginn sichtbar Partei gegen seinen Helden. Er ist ihm in der Seele zuwider, er verachtet ihn, wie der alte Heßling einen Sohn verachtet und er spart auch im künstlerischen Sinne nicht mit Stockstreichen. Man kann sich in der Tat nicht leicht ein erbärmlicheres Geschöpf vorstellen als diesen Diederich Heßling: wie er als Student in Berlin sich einer Burschenschaft verschreibt, um sich Abend für Abend zu betrinken, wie er ein junges Mädchen, das ihn liebt, verführt und dem Vater dann von oben herab die Tür weist, wie er dabei von einem häßlichen und gemeinen Strebertum erfüllt ist, sich voll innerlicher Angst zu ungefährlichen Mensuren stellt, aber schon beim Einjährigenjahr drückt, und wie er am Ende doch böse und widerwillig seine Prüfungen besteht, weil diese nun einmal von der unsichtbaren „Macht“, die er scheu verehrt, als Hindernisse auf seinen Weg gestreut sind, wie die Prügel des Vaters.
Dann aber tritt in sein Leben die große entscheidende Begebenheit, die ihn um und um wandelt und zur Höhe führt: Diederich Heßling sieht zum erstenmal den Kaiser. Mitten in Demonstrationszügen erregter Massen ereignet sich dies. Unter den Linden vereinigen sich die Haufen finsterer Menschen, rinnen, so oft sie getrennt werden, wieder zusammen, erreichen das Schloß, weichen zurück und erreichen es wieder, stumm und unaufhaltsam, gleich übergetretenem Wasser. Da auf einmal bemerkt Diederich, wie sich der Knäuel, in den er selbst eingekeilt ist, allmählich auflöst und nach einer bestimmten Richtung fortgerissen wird: ,,Dunkles Geschiebe ohne Form, planlos, grenzenlos, und hell darüber ein junger Herr im Helm, der Kaiser… Nichts hatte sich geändert, als daß er da war – und schon marschierten sie, als gehe es auf das Tempelhofer Feld.“ „Hurra!“ schreit Diederich, denn alle schreien es, und inmitten eines mächtigen Stoßes von Menschen, der schreit, gelangt er jäh bis unter das Brandenburger Tor. Zwei Schritte vor ihm reitet der Kaiser hindurch. Diederich kann ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blicken seiner Augen; aber ihm verschwimmt alles, ein Rausch erfaßt ihn, läßt ihn den Hut hoch über allen Köpfen schwenken. Auf dem Pferd dort unter dem Tore der siegreichen Einmärsche und mit Zügen, steinern und blitzend, ritt die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen, gegen die wir nichts vermögen, weil wir sie alle lieben, die wir im Blute haben, weil wir die Unterwerfung darin haben.
Die Absicht des Autors ist unverkennbar. Er will zeigen, wie die Gestalt des Kaisers auf armselige Tröpfe gleich diesem jungen Diederich Heßling wirkte und – der Autor läßt es durchscheinen – wirken mußte. Er führt den „gebornen Untertan“, den geduckten, zur Unterwerfung wie um Unterwerfen gleichbereiten Menschen, mit der höchsten Spitze der Macht zusammen, die ihn magisch anzieht, mit der Erscheinung des jungen Kaisers, die ihn berauscht und niederwirft in einem – und dies buchstäblich: er stolpert nämlich in eine Pfütze. Seit diesem Augenblick spiegelt sich der Untertan nur noch im Bilde der höchsten Macht, die seinen Sinn ausschließlich erfüllt und sich so auch wieder in ihm spiegelt. Der junge Doktor Heßling kehrt nach Netzig zurück, wo sein Vater indessen gestorben ist, und fühlt sich verpflichtet, in seinem ererbten Reiche, nämlich der kleinen Papiermühle, gleich ein straffes Regiment einzuführen; er entläßt den verdienten Geschäftsleiter, den alten Sötbier, genau so wie der Kaiser den eisernen Kanzler entlassen hat, er bürstet seinen Schnurbart in die Höhe, versucht es, seine Augen blitzen zu lassen, und hält Ansprachen, wie die folgende: „Jetzt habe ich das Steuer selbst in die Hand genommen. Mein Kurs ist der richtige, ich führe euch herrlichen Tagen entgegen. Diejenigen, welche mir dabei behilflich sein wollen, sind mir von Herzen willkommen; diejenigen jedoch, welche sich mir bei dieser Arbeit entgegenstellen, zerschmettere ich.“
Der Feind aber, den es zu zerschmettern gilt, ist der alte Herr Buck, die einzige sympathische Persönlichkeit des ganzen Romans wie der keinen Stadt Netzig. Diederich ist in dem Dunstkreis scheuer Verehrung aufgewachsen die alle ringsum für den hochverdienten Mann empfanden. Der alte Herr Buck trug keinen steifen Kragen wie die anderen, sondern eine weißseidene Halsbinde und darüber einen großen weißen Knebelbart. Wie langsam und majestätisch er seinen oben goldenen Stock aufs Pflaster setzte! Und er hatte einen Zylinder auf, und unter seinem Überzieher sahen häufig Frackschöße hervor, mitten am Tage! Denn er ging in Versammlungen, er bekümmerte sich um die ganze Stadt. Von der Badeanstalt, vom Gefängnis von allem, was öffentlich war, dachte Diederich: „Das gehört dem Herrn Buck.“ Er mußte ungeheuer reich und mächtig sein. Alle, auch der Vater Diederichs, entblößten vor ihm lange den Kopf. Die Stufen vor dem Hause des alten Herrn Buck waren abgewetzt von den von den Füßen der ganzen Stadt und von den Vorgängern dieser Füße: Das war ein Mann, hieß es, einer von denen, die das deutsche Volk hochhalten sollte. Der alte Buck war schon achtundvierzig dabei gewesen, er war sogar um Tode verurteilt worden. „Ja, daß wir hier als freie Männer sitzen können,“ sagen die Bürger von Netzig „das verdanken wir solchen Leuten wie dem alten Buck.“
Diese Achtung, die dem freisinnigen Manne von der Dankbarkeit einer ganzen Stadt gezollt wird, ist dem jungen //Heßling ebenso zuwider wie die eigene geduckte Verehrung, die noch heimlich in seiner Erinnerung sitzt, und die eigene Dankbarkeit, die er dem alten Herrn Buck schuldet. Denn dieser nimmt sich seiner in der hilfreichsten Weise an, leistet mit seinem alten, gütigen Lächeln die Dienste, die von ihm auf allerlei Umwegen gefordert werden, und es gilt darum, menschlichen wie bürgerlichen Verrat, wenn Diederich seinen Wohltäter wie den Wohltäter der Stadt zu besiegen und zu „zerschmettern“ beschließt. Unbeirrt geht aber der junge Heßling ans Werk; er, der sich vom Militärdienst heimlich gedrückt hat, gründet nun Kriegervereine, beruft Versammlungen ein, in denen er gegen den Freisinn wettert. Um seiner Rede Glanz u verleihen, improvisiert er Kaiserworte, die erstaunlich echt klingen, ja für echt gehalten werden, auch den Weg nach Berlin finden und kein Dementi erfahren. Mit wilden Ellenbogenstößen schafft er sich Raum, repräsentiert, schreitet einher, drückt auf die Kleinen, verhält sich mit den Großen, weiß um sich den Schein zu verbreiten, als führe von ihm, dem Untertan, wirklich ein geheimes, unsichtbares Band zu den höchsten Gewalten, zu denen er ehrfürchtig emporblickt und wird – zum eigenen, entsetzten Erstaunen – vom Schicksal selbst unterstützt, das den gütigen alten Herrn Buck mit den schändlichsten Tücken verfolgt, bis er zur Seite geschoben, in die Ecke gedrückt ist, um dem Aufstieg des jungen Heßling Raum zu geben. Von der Enthüllung eines Siegesdenkmals weg, die ihm selbst zur Feier ward, betritt Heßling das Sterbezimmer des alten Herrn. „Respekt vor einem tapferen Feind, wenn er das Feld der Ehre deckt. Gott hat gerichtet.“ … das ungefähr sind seine verlogenen Gedanken. „Diederich machte sich noch strammer, wölbte die schwarzweißrote Schärpe, steckte die Orden vor, und für alle Fälle blitzte er. Der Alte ließ. auf einmal den Kopf fallen, tief vornüber fiel er, ganz wie gebrochen. Die Seinen schrien auf: „Er hat etwas gesehen! Er hat den Teufel gesehen!“
Dies also ist der Roman vom Untertanen, den uns Heinrich Mann als den Erzfeind des Menschentums vorstellt, // als das Böse schlechthin in der Welt. Dem Buch ist eine Notiz vorausgeschickt, die besagt, das Werk sei noch vor dem Kriege, nämlich Anfang Juli 1914, abgeschlossen worden. Es fällt uns aber schwer, dies so wörtlich zu nehmen. In der Idee mag das Buch schon zu jener Zeit vollendet gewesen sein; die Ausführung aber zeigt eine solche Leidenschaft, einen so heftig geballten Grimm, daß der Krieg als treibende Kraft unbedingt Voraussetzung scheint. Dies aber ist der stärkste Einwand, der sich dem Leser aufdrängt: vor dem Kriege wäre der Roman in dieser Schärfe nicht möglich gewesen, während des Krieges hätte er eben wegen seiner Schärfe nicht erscheinen können, und jetzt kommt er eigentlich schon zu spät. Was gestern noch als eine kühne, unerhört verwegene Tat erschienen wäre, nimmt sich heute wie ein mit elementarer Wucht unternommener Stoß in die Luft aus. Kaiser Wilhelm hat abgedankt und die Ereignisse sind blitzschnell vorgestürmt. Die Aktualität, von der das Buch Heinrich Manns seine beste Kraft herholte, kehrt sich nun gegen das Werk, zeichnet allzufrühe Runzeln in seine Züge. Gewiß hat sich der Autor Höheres vorgesetzt! Er wollte den verhängnisvollen Einfluß zeigen, den die Figur des Kaisers mit ihren stets klirrenden, dem Theatralischen zugeneigten Gesten auf eine ganze Zeit übte; — wie sie insbesondere auf Leute vom Schlage dieses Diederich Heßling wirkte, die als „Untertanen“ zur Welt kamen und ihr äußeres Gehaben ganz nach dem Ebenbilde des höchsten klirrenden Gipfels der Macht einrichteten. Für solch umfassendes Zeitgemälde aber sind die Gestalten, die Heinrich Mann an uns vorüberführt, allzu verzerrt; die Wut führt ihm den Griffel, sie zeichnet nicht, sondern karikiert.
Rings um diesen Doktor Heßling wird eine ganze Welt von Niedertracht lebendig: Staatsanwälte, die das Recht beugen, um ihren Vorteil zu wahren, verbuhlte Priester, Bürgermädchen, die sich wie Dirnen gebärden, hohe Verwalter der Ordnung, die sich zu geheimen Raubzügen verbinden und nichts anderes im Sinn führen, als ihren Profit. Auch vor dem Hause des verehrungswürdigen Herrn Buck macht diese Flut von Schlechtigkeit nicht Halt. Sein Sohn ist ein Lump, seine Tochter reist mit ihrem Freunde nach Italien, während ihr Gatte – wenn auch nur durch die Umtriebe Heßlings – ins Gefängnis wandert. Welch ein trauriges Familienleben! Und selbst die sozialdemokratische Partei, die als Rächerin all dieses Furchtbaren im Hintergrunde der Erzählung sichtbar wird, mag wohl mit dem Repräsentanten, den ihr Heinrich Mann in seinem Buche auswählt, nichts zu schaffen haben. Dieser Werkmeister Napoleon Fischer wird uns keineswegs als ein aufrechter und rechtschaffener Mann geschildert. Pfiffigkeit und Tücke bringen ihn zur Macht; er kämpft nicht gegen Heßling sondern er paktiert mit ihm. Er ist sein Werkzeug und sein Helfer. Der Teufel wird durch Beelzebub ausgetrieben. Man gewinnt den Eindruck, daß hier dem Autor nirgends die gerade Linie gelingen will. Alles steht schief, die Hä user wanken, eine Welt ist zum Zusammenbruche reif. Nicht die kleine Stadt Netzig wird gemalt – denn in ihr kann so viel Bosheit nicht Raum finden und wäre sie der verworfenste Flecken der Erde – sondern ein düsteres Inferno, in künstlerischer Leidenschaft erschaut, aber doch nur eben Vision oder bessert noch Angsttraum.
Die Tragödie des wilhelminischen Deutschland, die Heinrich Mann schreiben wollte, ist er uns am Ende doch schuldig geblieben. Was er schuf, ist ein Satyrspiel voller Bitterkeit Die Tragödie selbst entschleiert sich einem erst, wenn man dem verneinenden Werke Heinrich Manns das wehmütig bejahende seines Bruders Thomas gegenüberstellt. Die Durchdringung beider erst gäbe das große, befreiende Kunstwerk, das wir erwarten. Aber vielleicht ist dazu all das schreckliche Geschehen, aus dem es aufsteigen soll, noch zu nahe. Die Dichter selbst sind noch Partei, klagen an und hassen, wo es doch ihre Sache wäre, sich über die Zeit zu erheben und endlich – endlich zur Liebe heimzufinden.
In: Neue Freie Presse, 19.3.1919, S. 1-3.
Alfred Winterstein: Ein Goetheroman [zu A. Trentini](1923)
Alfred Winterstein: Ein Goetheroman [zu A. Trentini](1923)
Der historische Roman weist gegenüber anderen Erzeugnissen dieser Kunstgattung ganz bestimmte Vor- und Nachteile auf. Seine Helden brauchen nicht erst vom Dichter geschaffen zu werden, sondern leben — häufig als unsere Ideale — bereits in uns. Wer die Erinnerung an diese Gestalten kräftig und mit leidlicher poetischer Fertigkeit zu beschwören weiß, darf unseres Beifalls gewiß sein. Ähnlich geht eine unfehlbare Wirkung, die allerdings nicht rein künstlerischer Art ist, sondern durch die begleitenden Vorstellungen bedingt wird, von Szenen aus dem Theater aus, in denen eine große historische Persönlichkeit auftritt oder mindestens — dies ist bisweilen noch wirksamer — erwartet wird (zum Beispiel Napoleon in Schnitzlers jungem Medardus“). Was in solchen Fällen auch der Künstler uns schuldig bleiben mag, dichten wir, die Leser, hinzu. Je vertrauter uns nun die Persönlichkeit des Helden ist, desto leichter fällt uns diese Ausgabe. Den Vorteilen, die dem Schöpfer eines historischen Romans so von vornherein erwachsen, steht die um so größere Schwierigkeit gegenüber, durch die Fabel, das Gewebe der Handlung an sich den Leser zu fesseln, da diese, soweit sie nicht allzu weit den Rahmen der Biographie verläßt, dem gebildeten Publikum wohlbekannt ist, und zwar in der Regel um so mehr, je näher uns der Held zeitlich steht. Gehört die historische Persönlichkeit gar der jüngeren und jüngsten Geschichte an, so sind der Erfindungsgabe des Autors ziemlich enge Grenzen gesteckt. Der große Künstler allein vermag dann durch die Art seiner Behandlung des Stoffes allen diesen Hemmnissen entgegenzuwirken. Weniger Menschen Leben ist dem gebildeten Deutschen so vertraut, von philologischen Spürnasen auf Grund der hier ergiebiger als sonst fließenden Quellen so genau, so bis in jede kleinste, ja nichtige Einzelheit durchforscht worden wie das Leben Goethes. Wo bleibt da Raum für einen nachschaffenden Dichter, sofern er Anspruch erhebt, mehr als ein Biograph zu sein? So erklärt es sich wohl, daß wir bis vor kurzem, wenn ich recht unterrichtet bin, keinen Goethe-Roman in deutscher Sprache besessen haben. (Des Engländers Lewes „Life of Goethe“ ist wohl eine Art romanhafter Biographie.) Die Lorbeern Walter v. Molos, der mit seinem Schiller-Roman (Hermann Kurz schrieb schon in den vierziger Jahren einen Roman „Schillers Heimatsjahre“) einen großen, in der Zeit begründeten Publikumserfolg errang, ließen offenbar einen anderen österreichischen Dichter nicht schlafen: Albert v. Trentini veröffentlicht nun einen „Goethe“, den „Roman von seiner Erweckung“. Er behandelt nur einen Abschnitt aus dem Leben des Dichters, die Zeit von Juni 1786, als in Goethe den Entschluß, aus Weimar nach Italien zu fliehen, bereits übermächtig wurde, bis zur Rückkehr aus Italien im Juni 1788. In dieser Periode seines Lebens erfolgte nach elf unsterblichen Jahren Goethes Ablösung von Frau v. Stein, seinem stärksten Gefühlserlebnis, seine Wiedergeburt zu sich selbst aus dem fremden Banne, sein Heranreisen zur Klassizität, der Uebergang vom Titanen zum Weisen. Psychologisch ließe sich diese Wandlung auch so kennzeichnen, daß Goethe der Fixierung an die ältere Frau, die eine Art Mutterersatz für ihn darstellte („Ach, du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau“), entfloh, um sich durch die Reise nach Italien mit seinem Vater zu identifizieren, dessen schönste Erinnerung eine Reise in dieses Land blieb. In das Ich-Jdeal des Künstlers, das Goethe nunmehr ausschließlich Leitstern war und dessen weiteres, mehr sinnliches als seelisches Verhältnis zu den Frauen (Christiane Vulpius) entscheidend bestimmte, sind also ganz deutlich Züge des Vaters eingegangen.
Diese interessante, wenn man will, typische psychologische Konstellation im Leben Goethes hat nun Trentini zum Vorwürfe seines Romans gewählt und mit dichterischer Intuition durch die mannigfaltigen Episoden, die sich in Weimar, Karlsbad, Schneeberg, Venedig, Rom, Neapel, Palermo, Girgenti und Taormina abspielen, überall durchblicken lassen. Ich gestehe, daß ich mich nicht ganz leicht in die Lektüre des Buches hineingefunden und geschickt habe. Hegte ich am Anfang ein wenig die Befürchtung, daß ich es mit einem, jener historischen Strickstrumpfromane zu tun hatte, wie sie es zu Zeiten der seligen Luise Mühlbach und des Gregor Samarow das Entzücken des lesenden Publikums bildeten, so überraschte mich im weiteren Fortgange eine gewisse nervös-unruhige, betont moderne Technik, ein flimmernder Impressionismus, etwas Wirr-Bilderwütiges, das mir zu dem Goethe, wie ich ihn sah und wie er mir aus der „Italienischen Reise“ und den Briefen aus Italien entgegentrat, nicht recht zu stimmen schien. Auch in sprachlicher Beziehung gab es genug Krasses, Triviales, Eigenmächtiges, Parodistisches, das in einem schmerzlich empfundenen Gegensätze zu Goethes klarer Schachmeisterschaft stand. Aber daneben bannten knappe Szenen, Gesichts von wirklichem Atemrhythmus getragene bildkräftige Sätze, wie sie nur einem wirklichen Dichter gelingen, so daß ich das Buch, das ich soeben kopfschüttelnd fortzulegen beschlossen hatte, immer wieder erwärmt und innerlich angerührt fort las, bis das heftig hin und her gezogene Gefühl sich zuletzt beruhigte und entschieden sagte: Hier hat einer entschlossen wie Jakob mit dem Engel gerungen, damit ihn sein steiles Werk segne.
Eine Schwierigkeit bestand für Trentini zunächst einmal darin, den im Roman durchlaufenen Zeitraum von zwei Jahren mit Geschehnissen, die den Leser interessieren, auszufüllen. Was in den Quellen zu Goethes Leben auch nur im Keime oder andeutungsweise vorlag, mußte dichterisch entwickelt und ausgestaltet werden. Diese Aufgabe hat der Dichter mit bewundernswerter Gründlichkeit und Erfindungskraft gelöst. Ein Beispiel. So viel ich weiß, hat Goethe die Anregung zu seiner leider nur als Fragment vorhandenen „Nausikaa“-Tragödie nicht aus einem bestimmten Erlebnis in Sizilien geschöpft. Es ist aber immerhin psychologisch möglich Trentini hat nun Goethe-Odysseus in starker Anlehnung an die Nausikaa-Episode in der Odyssee ein Liebesabenteuer mit einem Mädchen aus Girgenti erleben lassen. Die beteiligten Figuren wandeln wirklich vor unserem inneren Auge; es bleibt nur auffallend, daß der Selbstmord der Jungfrau von Goethe gar so bald überwunden wird, was den Zug des kalten Egoismus in seinem Charakter unnötig unterstreicht.
Trentini unterbricht die Darstellung der Szenen, der Außenwelt von Zeit zu Zeit durch die Schilderung von Visionen, die Goethe gehabt haben soll. Diese phantastische Gesichte sind aber zumeist recht unverständlich und ohne zwingende Kraft, ja stellenweise geradezu geschmacklos. Einem mythischen alten Weibe, dem Goethe beim Poseidon-Tempel in Paestum begegnet, werden beispielsweise Ausdrücke in den Mund gelegt wie: „Ich könnte euch Geschichten erzählen! Geschichten!“ und „Ausgerechnet!“ Um die handelnden Personen zu charakterisieren und über tote Strecken hinwegzuhelfen, läßt der Autor ferner Goethe und die anderen wahre Wortkaskaden über Kunst, Politik, Urpflanze und ähnliches reden. Bei einem Menschen wie Goethe, dessen Gespräche uns zum Teil überliefert sind, ist es nun nicht zu vermeiden, daß man einen strengeren Maßstab an die psychologische Wahrscheinlichkeit der erfundenen Gespräche legt als bei einer anderen Persönlichkeit.
Lebendiger als die meisten Bilder von Goethes italienischer Reise, als die Bilder der Landschaft und der Menschen haben aus mich die Szenen gewirkt, deren Schauplatz Weimar ist. Wir glauben in der Tat, Frau v. Stein, Goethe, Karl August, Herder, Knebel und wie die übrigen Gestalten aus dem kleinen höfischen Kreise heißen, vor uns zu erblicken: im Zimmer, im Garten, in den winkeligen Gäßlein oder auf dem Lande draußen um die Residenz. Die „Steinin“, diese unsinnliche, herrschsüchtige, schöngeistige Frau, die Goethe in die Tiefen der Menschlichkeit nie zu folgen und deshalb den währen und ganzen Goethe nie zu erkennen vermochte, scheint mir überhaupt eine der bestgezeichneten Figuren des Romans zu sein. In der Schilderung ihres gequälten, zwischen Ablehnung und Liebe schwankenden Seelenzustandes nach Empfang der Nachricht, daß Goethe aus Italien augekommen, ist sogar etwas, was ergreift, und mit innerer Bewegung folgt man am Schlüsse der Darstellung des endgültigen Bruches zwischen den beiden entfremdeten Menschen. „Eine Liebe halt‘ ich, sie war mir lieber als alles! Aber ich hab‘ sie nicht mehr!— Schweig und ertrag den Verlust.“ Das herzinnige Verhältnis Goethes zu Fritz v. Stein, seinem Schützling, das auch Trentini mit schöner Empfindung behandelt, hat diese Liebe überdauert und rührend erscheint es und bedeutsam, daß nach Jahren die tiefgekränkte Frau erst über Goethes und Christianens kleinen Sohn August, den sie liebgewonnen, wieder den Weg der Freundschaft und der Wertschätzung zu dem ehemals Geliebten findet.
In Trentinis Roman ist noch nichts von jener müden Herbstklarheit zu verspüren, in der zwei alternde Menschen einander artig die Hände reichen: hier atmen glühende Menschen, Klopfen in Ekstasen und Delirien maßlose Herzen. Die Leidenschaft des Buches, die uns über manche Bedenken hinweg mitreißt, scheint mir seinen eigentlichen Wert aus zumachen, jene Leidenschaft Trentinis für Goethe, die uns von seiner eigenen Spiegelung immer wieder gebieterisch auf Goethes Lebenswerk zurückweist.
In: Neue Freie Presse, 1.7.1923, S. 23.
Julian Sternberg: Die Judenfrage im Roman
Rudolf Hans Bartsch: Seine Jüdin oder Jakob Böhmes Schusterkugel.
Das neue Buch Rudolf Hans Bartsch zeigt auf dem Titelblatt das Kreuz und den Stern Davids in inniger Verschlingung. Das Kreuz, wohlgemerkt, nicht das Hackenkreuz. Dieser Roman ist keine Tendenzschrift. Philosemiten und Antisemiten dürften ihn mit gleicher Entschiedenheit ablehnen, und sein Dichter, den bisher die linden, schmeichelnden Wellen der Publikumsgunst auch dort sanft und wohlig umspülten, wo er, sicher gemacht durch seine Erfolge, selbst davor nicht zurückschreckte, Unfertiges und Unreifes zu bieten, wird in Zukunft von Partei wegen gleichermaßen in den Proskriptionslisten der Judenknechte und der Judenfresser geführt werden. Derart hat Bartsch eine gewiß nicht gering zu schätzende Probe von Mut und Bekennertreue erbracht. „Seine Jüdin“ ist kein Pamphlet und weder von den einen noch von den anderen als Propagandaschrift zu gebrauchen. Leider ist der Roman deswegen kein Kunstwerk geworden. Wer „Seine Jüdin“ geschrieben hat, mag meinetwegen Anspruch erheben dürfen auf Tapferkeitsmedaillen aller Grade, aber nicht auf ein Ehrenzeichen für Kunst und Wissenschaft. Der Dichter hat das richtige Empfinden gehabt, daß sich eine uralte Frage dringlicher und gebieterischer aufrichte als je zuvor; aber er hat keine Antwort auf sie gefunden. Und hier ist mit dem Gemeinplatz wenig gedient, daß keine Antwort unter Umständen auch eine Antwort sei. Weil der Generalstabsoffizier Christoph Hebedich, der aus Schlesien stammt, aus Jakob Böhmes, des sinnierenden und weltverbessernden Schusters, versonnener Heimat, sich mit seiner Jüdin nicht auf die Dauer finden konnte, ist keineswegs bewiesen, daß zwischen Arier‘ und Semitentum für alle Zeiten unüberbrückbare Abgründe gähnen. Bartsch läßt es selbst zweifelhaft, ob diese tiefen Schlüchte, über die auch der beschwingte Fuß erlesener und auserwählter Einzelwesen nicht hinüberzukommen vermag, den Juden von allem Nichtjüdischen abtrennen, oder ob nur der Deutsche, der Germane, dessen Seelenkurve sich wie eine Parabel mit ihren Enden im Grenzenlosen verliert, dem Juden unweigerlich wesensfremd gegenübersteht, dem Bartsch den gierigen Hiersein willen als schimpflichen Vorwurf ins Gesicht schleudert. Gretel, die Ausnahmejüdin, verläßt Christoph. Sie nimmt ihm die Kinder, die sie ihm geboren hat, und findet sich zu einem neuen Bund mit einem italienischen Offizier, der heiter ist wie ein italienischer Abend, der zu lachen versteht und anzbeten, dem der Rassenbegriff fremd ist, der keinen Unterschied macht zwischen Jud und Christ. Der Romane hat nichts als Menschentum, wo sich der Germane mystisch eingesponnen hat in wunderlicher Gotik.
Derart scheint mitten im Roman die Fragestellung nicht unwesentlich verschoben. Nicht mehr die Mischehen stehen zur Diskussion, sondern die Dichterhände suchen den Knäuel deutschen Wesens zu entwirren, von dem der kranken und siechen Welt so lange und mit so viel Selbstgefälligkeit die Genesung versprochen wurde. Was freilich Bartsch als des deutschen Wesens innersten Kern angesehen wissen will, scheint kaum als das geeignetste Heilmittel. Er erblickt den Fluch der Menschheit darin, daß sie an sich, und zwar an sich allein, glaubt. Dem Judentum kreidet er als Blutschuld an, daß es die große Lüge in die Welt gesetzt habe, der Mensch sei das Wichtigste, ja er sei alles. Diese Judenlüge habe an Jesus Christus ihren fortdauernden Anwalt gefunden, der als Unvollendeter, als Dreißiger ans Kreuz geschlagen wurde, bevor ihm die indische Weisheit aufgegangen war, daß Tier und Pflanze, Wolke und Stern unsere innigsten Brüder sind, uns völlig gleich und eines mit uns. Diese Auffassung verficht aber bei Bartsch jener Generalstabsoffizier, der sich nach Österreichs Zusammenbruch auf den Schusterdreifuß setzt, nach Jakob Böhmes Schusterkugel langt, ein Schuhmacher und Weltverbesserer dazu. Die Frau aber scheidet von dem Nachdenklichen und Schwerblütigen. Ihr genügt nicht die Versicherung, daß er nicht Feind ihres Blutes sei, nur Feind aller leidenschaftlichen und gehässigen Menschen aller Rassen. Man kann dies der Frau nicht übelnehmen, wenn er ihr den Peitschenhieb ins Gesicht schnellt: „Zwischen Mensch und Mensch könnt ihr euch Geschäfte machend schieben, zwischen ihn und die Erde nicht!“ Denn das verargen Bartsch und sein Held dem Juden am meisten, daß sie nicht eins zu werden vermögen, mit der Mutter Erde, daß sie die Natur nicht anders betrachten können, denn aus der Ischler Esplanadenperspektive.
Auch Gretel, die Ausnahmejüdin, ist Jüdin geblieben oder sie wird es vielmehr wieder im Laufe des Romans. Zu Beginn wird ihr zugestanden, sie sei keine Jüdin mehr, sei aufgesogen und arisiert. „Hunger nach arischem Wesen“ bilde den Grund zu ihrer Natur. Mädchenhaft wird sie genannt und oft beinahe traurig bescheiden. In der Ehe freilich ist sie eine andere. Nachdem sie sich den Mann und nebenher den christlichen Glauben erobert hat, hilft sie dem Gatten Emporsteigen auf der Leiter der Karriere. Bis der Krieg kommt und auch sie der Sensation, der Begeisterung, dem Soldatenzauber jener Tage völlig unterliegt. Da aber die Zeiten des Druckes und der dumpfen Trostlosigkeit nahen, klaffen die seelischen Gegensätze der beiden Ehegatten drohend auseinander. Die Frau schwört dem Erfolg zu, ihr ist es nicht gegeben, die Pfade des mystischen Schusters Jakob Böhme zu wandeln, die Pfade, die zu sich selbst führen und die ihr Gatte eingeschlagen hat.
Rudolf Hans Bartsch ist sichtlich der Überzeugung, daß er beiden Rassen gerecht geworden ist, daß vollgültige, unanzweifelbare Vertreter des Semiten und des Ariertums auf der Romanbühne stehen, die jetzt Strindbergsche Ehekonflikte, nur ins Konfessionelle übersetzt, durchleben müssen. Die Rechnung kann aber nicht aufgehen, weil sich der Rechenmeister bei der Aufstellung der einzelnen Posten geirrt hat. Christoph, der Eigenbrötler, ist durchaus nicht in jenem Grad die Verkörperung deutschen Wesens, wie es sein Dichter wahr wissen will, und gar erst Grete Lobes, diese Mischung von höchstem Raffinement und einem ins Salonmäßige übertragenen Süßenmädeltum, ist nicht allein unjüdisch, sondern unwirklich überhaupt. Darum ist es höchst gleichgültig, ob dieser Hans seine Grete findet, gleichgültig vor allem für die entscheidende Frage, ob jene Assimilierung möglich ist, die mit öder Gleichmacherei und Entwurzelung des einen oder des andern Teiles nicht verwechselt werden darf. Eines steht jedenfalls fest: Es wäre schlecht bestellt um die Zukunft des Deutschtums, wenn es, nicht nur bildlich gesprochen, in dumpfer Schusterwerkstätte auf die Entthronung des Menschen als Weltbeherrscher warten würde.
In: Moderne Welt, H. 10/1922, S. 16.
Ernst E. Stein: Leo Perutz
(Eine Betrachtung über den historischen Roman.)
Der Dichter muß die kleinen Einzelheiten der Geschichte und des Lebens mit größter Treue studieren und wiedergeben, doch nur zu dem Zweck, um dadurch die Echtheit des Ganzen glaubhaft zu machen und selbst die fernsten Winkel seines Werkes mit jenem kräftigen Leben zu erfüllen, durch das seine Gestalten und seine Katastrophen an Wahrscheinlichkeit gewinnen.
Viktor Hugo.
Das Historische ist nicht das Einmalige. Es ist das typische und ausgeprägt Ewig- Menschliche, das immer wiederkehrt; die Atmosphärilien jedes Zeit alters können sich in einem andern wiederholen und mit ihnen alle Größe und alles Geschehen der Vergangenheit. Und kein Augenblick, kein Geschehnis ist historisch in einem andern Sinne zu nennen als in dem, daß es beispielgebend für alle späteren Wiederholungen ist. Damit eröffnen sich nicht nur der vergleichenden Forschung neue Ausblicke und Möglichkeiten, sondern auch der Literatur, und diese neue Auffassung knüpft sich, vorläufig, an den Namen Leo Perutz und schafft seine Bedeutung. Sie läßt sich nicht besser illustrieren als durch einen Gedanken, der sein letztes Buch, den Roman Turlupin (Verlag Albert Langen München) einleitet, den poetischen Gedanken, daß die französische Revolution von 1789, die wir als ein Novum von einmaligen Dimensionen, als Ergebnis einer besonderen Konstellation politischer und sozialer Motive, Charaktere und Einflüsse zu sehen gewohnt waren, daß diese Revolution bereits anderthalb Jahrhunderte früher, unter dem Kardinal Richelieu, fällig war. Fällig, weil die Ereignisse von 1789, wie alle großen historischen Geschehnisse, allgemein menschliche Motive (hier die von 1642) wiederholten.
Ein andres Beispiel wird die Verwandtschaft, ja Gleichheit der geschichtlichen Momente endgültig erläutern: Leo Perutz hat in einer Novelle von meisterhafter Knappheit und Unentbehrlichkeit jedes niedergeschriebenen Wortes die Geschichte zweier Menschen aus den untersten Volksschichten geschildert, als deren Kinder der Antichrist geboren wird. (Die Novelle,die diesen Titel führt, ist im Rikola-Verlag erschienen.) Eine Erzählung von behutsamer Tragik und Spannkraft spitzt sich zu einem paradoxen Aphorismus der Historie zu: der Name des Kindes wird uns bis zur letzten Seite nicht genannt und in scheinbarer sanfter Harmonie schließt das Buch mit der Prophezeiung, daß der Knabe dereinst in stillem und friedlichem Verlauf seines Lebens als Priester und Seelenhirt seine Gemeinde auf den Weg des Guten führen werde – und dieser Knabe ist Cagliostro, der große Lügner und falsche Prophet, zu dem die Gläubigen aus aller Welt strömen, der sich als Haupt von Geheimbünden erhebt und dem Reich der christlichen Könige und der Kirche unnennbaren Schaden zufügt.
Schon die paradoxe Fähigkeit, eine historische Persönlichkeit, über die wir uns durch Zeitgenossen und Forschung völlig orientiert glaubten, in so neuem Lichte zu sehen und die gegebenen Fakten durch veränderte Auffassung neuzugestalten, ist ein Bruch mit der erstarrten Darstellungsweise und eine Verlebendigung der Geschichte von unabsehbarer Fruchtbarkeit für die Kunst des historischen Romans. Sie wird es noch mehr durch die Überlegung, daß nicht gerade Cagliostro als Antichrist hätte aufgefaßt werden müssen, Wunder wirkend und die Seelen betörend, sondern daß den ewigen Widersacher Gottes und der Menschheit ebensogut – wie es der Dichter auch geplant hatte – Luther verkörpern hätte können, der wider den Papst sich erhob, oder Cromwell, der die Macht der Könige brach, oder der Advokatensohn aus Korsika, dessen apokalyptischer Machtwillen eine ganze Welt zwang. Und in solcher sozusagen intimen Beleuchtung bieten uns die Geschehnisse, die sich an diese Namen knüpfen, eine Fülle von Überraschungen, beinahe Offenbarungen; so im Kunstwerk festgehalten, ist die Geschichte nicht mehr „Material“ – sie wird zum Symbol aller Vitalität. Wir können das eine neue Kunst des historischen Romans nennen und werden ihr nicht mehr als gerecht, wenn wir sie als bedeutendsten Markstein, vielleicht als das Ziel seiner Entwicklung ansehen.
Als eine neue Kunst ebenso auch deshalb, weil sie eine neue Technik bedingt. Wir hatten bisher nicht viele historische Romane, sondern nur Romane mit „historischem Hintergrund“, in denen sich frei erfundene Fabeln vor den Kulissen der Geschichte abspielten und denen das zeitliche Kolorit durch gelegentlichen Bezug auf das historische Geschehen verschafft wurde; etwas Brokat und ein paar Dolche, Plaudereien aus der Schule Leonardo da Vincis und einige Terzinen, dann und wann rasselt die Rüstung eines Borgia vorüber, und ein Renaissanceroman war fertig. Nun, das geht heute nicht mehr; für den neuen historischen Roman, dessen Gesetze wir einstweilen nur den Romanen Leo Perutz‘ entnehmen können, dient die Gestaltung eines erfundenen Themas dazu, die Zeit zu gestalten: aus der Geschichte einer Arkebuse und der Liebschaft mit einem indianischen Mädchen erhebt sich das Problem der Unterwerfung Mexikos und der Reformation und des ungeheuren Reiches Karls des Fünften; die armselige Sehnsucht und Einfalt des Narren Turlupin, den eine Wahnidee vor sich her treibt, verhindert eine Revolution, die vielleicht größer geworden wäre als die Revolution von 1789. In diesen Romanen gibt es keine Nebenepisoden, das historische Geschehen fügt sich unlösbar in die Handlung ein und schließt sie ab, die erfundenen Vorgänge sind naturnotwendig mit dem geschichtlichen Ereignis verbunden. Historie und Fabel sind eins geworden.
In: Arbeiter-Zeitung, 27.4.1925, S. 5.
Richard Specht: Romansymphonie der ewigen Liebe.
Richard Specht: Romansymphonie der ewigen Liebe (1929)
Werfels Barbara oder die Frömmigkeit.
Über diese Zeilen hätte ich auch den Titel setzen können: „Roman des Vierteljahrhunderts.“ Oder: „Roman des Krieges.“ Oder: „Roman des Umsturzes.“
Oder ganz einfach: „Roman Oesterreichs.“ All dies ist in Werfels bedeutendem Buch enthalten. Aber so unerhört unmittelbar das Geschehen an uns herantritt, so mächtig die Fülle großen, gemeinsamen und ergreifenden Einzelschicksals, das all die fast unheimlich gegenwärtigen, heiß durchbluteten Gestalten einer Weltwende überwölkt, in ihrer leidenschaftlichen Einprägsamkeit überwältigt, so schauerlich gewaltig die Kriegszeit in all ihren entsetzlichen, unbegreiflichen und oft auch rührenden und heiteren Erscheinungen bis zu atemlosem Miterleben hingestellt, die Ratlosigkeit der jungen Generation, die Übergriffe und der frivole Machtwahn der Führenden und mehr noch der subalternen Frechheit gezeigt wird — es ist ein Mehr da, und dieses Mehr entscheidet. Manche werden es vielleicht in einem Protest gegen mörderisch vereisenden Intellektualismus dieses Jahrhundertbeginnes sehen wollen, und sicherlich ist dieses mächtig packende, monumental gestaltende Buch auch so zu verstehen. Trotzdem: mir will scheinen, daß der Dichter auch hier der gleiche ist, wie in all den Werken, in denen ein Gottsuchender und Sinnsuchender dem Verhältnis des Menschen zu den höheren Mächten nachspürt…, und zumal des von Ahnung und Sehnsucht angerührten Menschen mitten in einer immer mehr entgötterten Welt. Die innere Schau, die Franz Werfel von je eigen war und der sich diesmal der bildnerische Blick eines für die Sichtbarkeiten des äußeren Daseins geschärften Auges gesellt, der das Gleichgewicht der Darstellung bedingt, ist hier eindrucksvoll gesteigert. Wie nie zuvor ist er für alles Geheimnis des Letzenden hellsichtig und hellhörig. Er gräbt das Verborgenste der Menschen und des Geschehens aus, und alles wird ihm zum Abbild des großen Schöpfungsplanes. In diesem Sinne ist dieser Roman ein religiöses Buch. Aber unendlich fern von allem Traktatmäßigen, von aller abstrakten Dogmatik und formulierenden Auseinandersetzung. Leben wird gezeigt und nichts als Leben. Aber an diesem Leben, in seinem ganzen Überreichtum an Gestalten und Ereignis, offenbart sich das Mysterium und das Ringen nach seiner Erkenntnis. Und als dieser Erkenntnis letzter Schluß wird das sichere Gefühl gewonnen, um wieviel wertvoller als der zersetzende Verstand, die hochmütige Geistigkeit der Überlegenen, der machtlüsterne Egoismus der Menschheitsbeglücker, ja wie einzig gültig vor dem Weltgesetz die demütig dienende Einfalt ist. Denn eine alte Kindsfrau, eine jener stillergebenen, liebreich pflichtvollen Erscheinungen, wie sie Werfel, inniger Kindheitseindrücke gedenkend, schon in seinen wundervollen Gedichten im Weltfreund und in Wir sind gezeichnet hat, gibt dem Roman den Namen, obwohl sie nur in wenigen Momenten des Buches sichtbar wird; freilich in den entscheidenden, wenn sie auch von der Art sind, die sich erst später in ihrer Bedeutsamkeit erschließen. Aber: diese Barbara ist gleichsam die Dominante des Ganzen, und der geflissentlich altväterische zweite Titel „oder: die Frömmigkeit“ verstärkt die Empfindung dieser beherrschenden Anonymität. Im dieser schlichten ungläubig reinen Kinderfrau Barbara und ihrem Pflegekind, der Offizierswaise Ferdinand, ist — sehr zum Unterschied von den superklug berechnenden, feig die fremde Schwäche mißbrauchenden, überkompensierenden und innerlich brüchigen Typen der Zeit – noch ein Stück blauen Himmels lebendig. Und daß sie schließlich gegen die Meute der Raffenden, der Politischen, der seelisch Gescheitertern, der falschen Apostel und der wahrhaften Märtyrer der unabhängigen Gesinnung rechtbehalten, hat Gewicht und Bedeutung. Es weist einen Weg.
Die Geschichte des Lebens, das in die Mitte eines derart großgeschauten Reigens gestellt wird, ist nicht die eines Menschen, der – unter Anführungszeichen – „interessant“ ist oder dem Gaben besonderer Art ins Dasein mitgegeben worden sind. Er ist mehr: ein richtiger Mensch. Ein unverbogener, der sich sein inneres Gesetz abhorcht und ihm gehorsam sein will; der sein Leid nicht als persönliche Beleidigung, sein Entbehren nicht als unverdiente Bosheit eines ungerechten Geschicks, die ihm angetane Unbill weniger als die Feindseligkeit kleiner Menschen und eher, wie all seine andern Erfahrungen, als einen Schritt nach vorwärts empfindet, um endlich sich und den Sinn seines Lebens zu finden: durchaus unbewußt und ganz ohne Spintisieren nimmt er jede Phase als ein Stück des geheimen Planes hin, dessen Erfüllung nun einmal über ihn verhängt ist. Ein früh verwaistes Offizierskind. Der Vater verschlossen und gütig, die Mutter schillernd, weltlustig; sie betrügt ihren Mann, er weist sie aus dem Hause, das Kind behält er. Aber der Kleine hat wenig wahre Beziehung zu beiden; mehr als Vater und Mutter liebt er Babi, die Magd, deren gutes Gesicht sich beim Einschlafen und Erwachen über ihn beugt. Sie betreut ihn; die Mutter kümmert sich um den Buben nur in dekorativen Szenen. Babi sorgt für ihn, sie dient um halben Lohn bei der geizigen Tante, um bei ihm bleiben zu können, wacht über den Schlaf des typhuskranken Jungen, wie sie es nach Jahren am Bett des Kriegsverwundeten; in der gleichen, schweigsamen, unnahbaren Würde ihres erdnahen Wesens tun wird… es hilft nichts, sie müssen sich trennen und sehen einander nur mehr bei Sonntagsbesuchen – und späterhin in ihrem Leben nur zweimal wieder; Briefe und Karten müssen zunächst über das Fernsein hinweghelfen, und auch sie werden schließlich immer seltener. Barbara erweist ihre Pflichttreue, in der aber nur mehr mechanisch treibende Kräfte sind, auf mancherlei Dienstplätzen; erst im Alter übersiedelt sie in ihre Heimat, auch bei den Ihren un-// ermüdlich alle Arbeit aus sich nehmend. Der kleine Ferdinand muß zunächst ins militärische Erziehungsinstitut; dort schon erwartet ihn der ewige Widersacher, sein typischer Gegenspieler, der aufgeblasene, frech, ohne innere Berechtigung überlegene, ohne eigenen Vorteil niederträchtige, sadistisch dünkelhafte Vertreter der „selbstlosen Gemeinheit“ (Schnitzler nennt diese Sorte so): er wird Ferdinand im Kriege in Todesnot jagen, so wie er jetzt schon durch perfide Bosheit den Knaben aus der Militärschule forttreibt und es dadurch verschuldet, daß der Wehrlose als Alumne im Priesterseminar untergebracht wird. Von dort wird er durch einen bis zur Paradoxie scharfsinnigen, ruhelos vom Geist gepeitschten Freund, einen vom Christusgedanken angerührten Juden, der doch unfähig ist, seiner Idee auch zu leben und der (nach Jahren) auch pünktlich im Irrenhaus endet, befreit: der ermöglicht ihm das ersehnte Studium der Medizin, wird aber nach einem Jahre von den ihm aufsässigen, seinem anspruchsvoll geistigen Wesen verständnislos gegenüberstehenden Brüdern auf Pflichtteil gesetzt…, und nun droht für Ferdinand das Hungerleben des nur durch Lektionengeben vor dem Schlimmsten bewahrten Studenten. Der Krieg erlöst ihn aus dieser Armseligkeit. Schwer verwundet – er ist durch die heimtückische Rache jenes Urfeindes auf einen Punkt transferiert worden, der von den Russen und von der eigenen Artillerie beschossen wird – kommt er ins Spital von Lemberg; dort schläft er sich unter den milden, treuen Augen seiner „Babi“ gesund, der liebreichen Schlafhüterin, die heimlich ihren Dienst aufgegeben hat und drei Tage und drei Nächte gereist ist, um ihrem „jungen Herrn“, der ihr immer noch „Du“ und dem sie immer noch „Er“ sagt, dem Tode abzuringen.
Ein neues Lebensfragment (mit diesem Wort überschreibt Werfel die vier Teile seines Meisterromans): die Tage des Umsturzes, die Ferdinand, in dessen Daseinsentwurf Frauen und Erotik kaum vorzukommen scheinen, in unmittelbarer Nähe im Kreise der eigentlichen Regisseure dieses Sturmdramas erlebt und in denen eine verwirrende Fülle von echten und verlogenen, geistig hohen und schwindelhaften, duldenden und prahlerischen, aufgereizt intensiven Menschen in sein Leben einbricht. All dies und ebenso die Überwirklichkeit der Kriegszeit hat brennende Wahrheitsfarbe; kein Wunder, denn der Dichter ist selbst durch die Hölle und das Fegefeuer jener Zeiten geschleift worden. Nach der Sturzflut nimmt Ferdinand sein medizinisches Studium wieder auf; ein paar Jahre nachher wird er zum Doktor promoviert, und nun hält ihn nichts länger: er muß zu Barbara, von der er so lange nichts gehört hat, daß er nicht einmal weiß, ob sie noch lebt. Aber sie lebt; die Gealterte lehnt ihre zusammengeschrumpfte, liebe Gestalt an ihren jungen Herrn, in wortloser Freude und ein wenig bestürzt, weil sie doch so gar nichts vorbereitet hat; aber bevor sie sich zum Bereiten seiner Lieblingsspeise anschickt, übergibt sie ihm ein Beutelchen mit Goldmünzen, die sie sich einzig für ihn mühselig von ihrem kargen Lohn abgespart und aufgehoben hat. Erschüttert nimmt er den neuen, den wunderbar rein gegebenen und empfangenen Beweis dieser fast mystischen Liebe entgegen. Aber nun treibt es ihn wortlos fort; nur in einem innigen Brief nimmt er von seiner zweiten, seiner wahren Mutter Abschied. Und in einer Nacht, er ist längst als Schiffsarzt auf einem Luxusdampfer unterwegs, weiß er plötzlich mit der Bestimmtheit einer Botschaft, daß Barbara eben gestorben ist. Da holt er den Beutel mit Gold hervor, den er nur um weniges, nur in der äußersten Not anzutasten gewagt hat und streut die blitzenden Münzen ins Meer: es „ruht von Stund‘ an in der Tiefe der Welt. Der Honig der heiligen Arbeitsbiene ist für ewig geschützt und dem entweihenden Kreislauf entzogen“.
In dieses weitmaschige Lebensnetz ist ein Inhalt von höchstem Reichtum, ist diese ganze Zeit mit ihren Menschen und ihren geistigen Triebkräften eingegangen. Szenen sind da, die nicht vergessen werden können: Ferdinands letzter Besuch bei Barbara und in dem Wallfahrtsdorf, in dem er als Kind war und in dem jetzt das Erleben von damals in geheimnisvollem Sinn aufsteht; die der schlafhütenden Kinderfrau; die scharf geschaute, bis zum Riechen eindringliche auf dem Provinzbahnhof; von der grauenvoll packenden und befreienden nicht zu reden, in der Ferdinand, durch den dreisten und bösartigen Machtdünkel seines „ewigen Gegners“ zum Exekutionskommandanten bei der Erschießung dreier unschuldiger, wegen „erwiesener Absicht des Überlaufens zum Feinde“ ohne Gericht verurteilter junger Menschen nach vergeblichem Protest (auch dies eine ergreifende Szene!) mit ihnen zur Hinrichtungsstätte marschiert und plötzlich, wie von einer Gewalt höherer Art getrieben, statt „Feuer“ kommandiert: „Schultert!“und die Drei anschreit: „Laufschritt! Abfahren! Rettet euch!“— und für diese Tat auf einen Todesposten verschickt wird. Und ganz einfach ist das geschrieben; nichts Aufgedunsenes, kein hypertrophisches Wort, kein falscher oder zu hoch gegriffener Ton. Werfel hat eine Reife des Stils erreicht, die ihn den ersten Prosaisten der deutschen Dichtung gesellt. Daß allerdings auch in diesem Buch Eigentümlichkeiten auffallen, braucht nicht verschwiegen zu werden: die seltsame Anonymität des Helden zum Beispiel, der auch, wiederum etwas altväterisch, nur Ferdinand R. genannt wird, während alle andern ihre vollen Namen tragen, und der auch in seiner äußeren Gestalt gewissermaßen anonym bleibt: man „sieht“ ihn nicht, hat keine Vorstellung von seiner Körperlichkeit, im Gegensatz zu der Meisterporträtierung aller übrigen. Oder die Bemerkungen des Autors selbst, der direkt das Wort zu manchem Problem ergreift und dadurch manchmal didaktisch wirkt, statt all das in Gestaltung aufzulösen. Aber: es sind eben die Eigenheiten eines Dichters, die man hinzunehmen hat; sie gehören zu seiner Handschrift. Wer sich so verschwendet und in solcher Fülle und Reife steht, hat jedes Recht der Eigenwilligkeit.
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Es ist eines der seltenen Bücher, die reicher machen, zur Selbstschau zwingen und zur Rechenschaft auffordern. Durch dieses Werk, in dem der Inhalt eines Vierteljahrhunderts laut wird, in dem zwanzig, dreißig, vierzig Gestalten zu Repräsentanten der Gegenwart werden und all ihre geistigen Komponenten aufzeigen, ist nicht bloß die österreichische Literatur beschenkt worden. Es gehört in die Weltliteratur.
In: Neues Wiener Tagblatt, 30.10.1929, S. 2-3.