Hugo Glaser: Die Kaiserin der Liebe (Über A. J. Koenig: Der heilige Palast) (1922)

Der griechische Geschichtschreiber Prokopius von Cäsaren gibt in seinen Memorien ein geradezu er­schreckendes Bild von der Lasterhaftigkeit der Kaiserin Theodora, die an der Seite Justinians, des oströmischen Kaisers, in Byzanz herrschte. Die jüngere Geschichtsforschung, die zur Beurteilung dieser Zeit, des sechsten Jahrhunderts, auch andre Quellen kennt als die Erinnerungen eines von Haß erfüllten Geheim­schreibers, ist geneigt, den Charakter dieser Kaiserin milder zu beurteilen und von den Übertreibungen Prokops sich loszusagen. Jedoch man begreift, daß sie, deren Laufbahn zweifellos in Zirkustheatern und in jenen Häusern, an denen farbige Laternen die Gäste lockten, Stationen machte, auch nach ihrer Thron­besteigung die Vergangenheit der Hetäre nicht völlig vergessen konnte. Aber historisch beglaubigt ist auch, daß sie nicht nur die zur Augusta erhobene Geliebte Justinians war, sondern auch als Herrscherin auf einem Thron saß, den ihre Klugheit und ihr Mut in schweren Tagen zu stützen verstand. Damals zum Beispiel, als der // berühmte Nika-Aufstand das oströmische Kaisertum zu vernichten drohte, der Kaiser und seine Berater zu ver­zweifeln schienen und sie, die Kaiserin, die An­ordnungen zur Unterdrückung der Revolution klar und zielbewußt, grausam und mutig gab.

Es ist klar, daß in dieser Frau die hervorragendsten Eigenschaften, im Guten und im Bösen, vereinigt sein mußten. Es gab auch andre schöne Mädchen in der Hafengasse, sie aber wurde Kaiserin. Den Roman dieses Lebens künstlerisch zu verwerten, die großen Erlebnisse phantasievoll auszugestalten, hat jetzt eine Wiener Schriftstellerin unternommen (Alma Johanna Koenig, Der heilige Palast. Rikola-Verlag, Wien 1922). Und um es gleich zu sagen: das Ergebnis ist ein Roman von so spannendem Inhalt, von einer derartigen Farbenglut, von solch glänzenden Schilderungen, daß er den besten Romanen, die die Verfallszeit einer alten Kultur zum Gegenstand wählten, beigezählt werden muß. Künstlerisch werden hier die Sternchen zusammen­getragen, aus denen das Mosaikbild besteht, und die die Geschichte nicht bot, werden durch die Phantasie ersetzt, die in alle Kühnheiten der justinianischen Epoche einzudringen vermag. Wo die historische Überlieferung versagt, setzt die Dichtung ein; gibt jene die Wirkungen, so vereint diese die Ursachen, die vielen Ursachen, die aus dem kleinen Zirkusmädchen die große Kaiserin machten, die Kaiserin der Liebe.

Auf der Schwelle des Zirkus Konstantinus fand man das weggelegte Kind mit dem amethystenen Doppel­kreuz über dem Hemdchen. Der ganze Zirkus strömte zu­sammen, um das Kind zu sehen, und man gab ihm den Namen Theodora, da es ja doch ein Geschenk Gottes war. Und dort, wo sie auch ihr Leben empfangen hatte, zwischen Käfigen und Tieren, wuchs sie auf und atmete den Geruch der Löwen und Tiger ein. Sie war noch lange ein Kind, als sie zum erstenmal in die Arena trat und tanzend vor der klatschenden Menge die Schleier zerriß, die ihren kleinen Körper verhüllten. Der Bischof Vigilius, der sie damals sah, sagte es gleich: „Dieser Käfer da wird einmal die größte Dirne von Byzanz.“ Die Zirkusspiele gingen indessen weiter. In Pantomimen, die von den Heroinen der Griechen und von den Mysterien der Bibel die Stoffe nahmen, tanzte sie das Spiel der Liebe und ließ den erblühenden Garten ihres Körpers im Dichte der Arena leuchten. Aber eine Unmut, die sich nie verlor, und ein Stolz ihrer Schönheit, die nicht zu übertreffen war, stellte ihre Leistungen hoch über die der andern Zirkusdirnen. Daran konnte auch Prokop nichts ändern, der sich veranlaßt sah, sicherlich nur über höheren Auftrag, gegen die Ver­wendung biblischer Motive bei solchen Zirkusdarbietungen einen scharfen Erlaß zu richten. Unterdes war Theodora herangereist, und den Lustgreisen der Kinderjahre folgte die Legion der Liebhaber: Hekebolos, der Kaufmann, der wie ein Sieger aussah, viel­leicht der einzige, der von ihr geliebt wurde, Krieger und Sieger, die wie Kaufleute handelten, Matrosen und Sklaven, bis wieder eine neue Welle des Lebens Theodora aus den Niederungen emportrug und sie zur Freundin des Griechen Agathon machte. Ein neues Dasein begann, das Leben einer Hetäre, der nichts versagt wurde. Antonina wird ihre Freundin, die Ge­liebte des Feldherrn Belisar, und vielleicht wurde auf diesem Wege die Beziehung zu Justinian hergestellt, ihrem späteren Gemahl.

Der junge Kaiser mag auch sonst von der berückend schönen Hetäre gehört haben. In einer Szene, die an dramatischen Effekten nicht zu überbieten ist, schildert Alma Koenig das erste Zusammentreffen Justinians mit Theodora. Er verlangte, was auch die andern Männer begehrten, und sie verlangte von ihm, wie stets von jedem, alles, was er zu geben habe, nur daß es diesmal eine Kaiserkrone war. Und in derselben Nacht erfolgte die Komödie der Trauung, die aus ihr eine Kaiserin machte, „die gottgesandte und unantastbare Kaiserin…“. In dem heiligen Palast, in der fürst­lichen Siedlung, die zehntausend Menschen beherbergte, wurde sie nun Herrin. Sie war die geborne Herrscherin, und die neue Rolle fiel ihr nicht schwer. Sie wurde die Beraterin in allen Regierungssachen, sie ließ den Nika-Aufstand unterdrücken, sie pflegte den schwerkranken Kaiser auf das aufopferungsvollste, wußte sie doch, daß sein Sterben auch ihren Tod bedeuten müßte. Groß war die Zahl ihrer Feinde: Prokop, der Geheimschreiber, Narses, der Feldherr, das ganze Volk. Und viele liebten sie. So wie früher. Bloß, daß die Liebhaber kein zweitesmal kamen; der Dolch eines Sklaven sorgte für die Verschwiegenheit der Beschenkten…. Grauenvoll war das Ende dieser Kaiserin. Der Wahnsinn tobte in ihr, und aus den Halluzinationen der vom Irrsinn Gequälten drohte gräßlich der Lerchenkops eines getöteten Liebhabers, des letzten, der im Sterben ihr verkündet hatte, er werde wiederkommen, immer wiederkommen.

In diesem Roman, der so reich an prächtig gezeichneten Nebenfiguren ist, ist der Kaiser an zweite Stelle gerückt. Eiseskälte umgibt ihn, Aszetentum und kühlste Diplomatie macht aus ihm eine Persönlichkeit wie aus einer viel, viel späteren, der Renaissancezeit. Er war aber doch auch etwas mehr als der Gatte der Theodora. In Justinian schätzt man den Begründer des Corpus juris, der Gesetzessammlung, die für viele Jahr­hunderte die Grundlage aller Rechtsprechung wurde. Seine Regierung wurde auch bedeutend durch die Zahl der glänzenden Bauten, die er hatte ausführen lassen. In sechs Jahren emsiger Tätigkeit vollendeten zehntausend Arbeiter die Kirche der heiligen Sophia, die jetzt die Hauptmoschee ist. Aber zu der vielfältigen Liebe der Kaiserin stehen diese Taten Justinians in keiner Be­ziehung, und es ist das Recht des Dichters, die Stoffe der Geschichte frei zu gestalten. Auch die Theodora des Romans ist nicht die Theodora der Geschichte. Die Er­innerungen Prokops beeinflussen ihre Wertung, und wenn Prokop von seiner Kaiserin wirklich so gestraft wurde, wie es in dem Roman der Alma Koenig geschildert wird, dann begreift man den Haß, den der Geschichtsschreiber gegen Theodora hegte und der ihn später veranlaßt, ihr in seinen Denkwürdigkeiten das Zeugnis abzugeben, daß sie an Sittenlosigkeit nicht mehr zu übertreffen war. Aber es handelt sich, wie bei allen Romanen, die man als historische oder als kultur­geschichtliche wertet, auch hier nicht darum, die Grenzen zwischen geschichtlicher Ueberlieferung und phantasie­voller Ergänzung zu ziehen. Interessanter wäre die Frage, warum in Romanen aus der Römerzeit immer wieder nur die Epoche des Niederganges geschildert wird, die Zeit, in der die Fäulnis des Reiches, des Westens wie des Ostens, Zustände schuf, aus deren Sumpf eine Theodora eigentlich doch nur als groß­artige Blüte hervorwachsen konnte. Aber die ganze vor­christliche Zeit römischen Heldentums mit ihren so großen Menschen und bedeutsamen Taten hat zuweilen Tragödiendichtern, nie aber zu einem großen Werk einem Romanschriftsteller Interesse geboten. Vielleicht hängt dies mit den Neigungen der Dichter zusammen — oder noch mehr mit denen jener, die ihre Bücher lesen.

In: Neues Wiener Tagblatt, 24.5.1922, S. 2-3.

Ernst Fischer: Ein Mann ohne Eigenschaften. Ein Roman von Robert Musil (1930)

             Endlich einmal, in dem Tumult der nur-aktuellen, nur-lärmenden, nur-marktgängigen Bücher, ertönt die große Symphonie eines Romans, von dem Manne gedichtet, der den Mut hat, nicht für Analphabeten und andere Liebhaber von Kurzgeschichten, Magazinen und „Tempo-Tempo!“- Reportagen, sondern für intelligente Leser zu schreiben. Das ist allerhand; denn von hundert Schriftstellern verzichten neunundneunzig auf diese schwierigen und unerquicklichen Leser, die sich bei den sozusagen effektvollsten Büchern langweilen, die bei den sozusagen spannendsten Fabrikaten der Literatur kaum ein Gähnen unterdrücken können und bereit wären, die wildeste Handlung von zweihundert Seiten für eine halbe Seite Geist und Gescheitheit herzugeben. Hier aber ist das Erstaunliche geschehen: der Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil ist mehr als tausend Seiten lang (den Leser, der auf das „Tempo der Zeit“ eingeschworen ist, wird das nicht wenig abstoßen), und tausend Seiten lang atmet man die helle, hohe Luft von Geist und Gescheitheit. […]

Der Kollektivroman.

             Robert Musil hat eine neue Form des Romans gefunden; das Suchen nach dieser neuen Form hat begonnen, als die Menschen, die Bücher schreiben, erstaunt und beunruhigt entdeckten, daß in diesem Jahrhundert völlig anders gelebt wird, als in den besten Büchern der besten Autoren. Musil drückt das, nebenbei, präziser aus, als es bisher üblich war: „Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten „Faden der Erzählung“, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht… Die meisten Menschen… lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen „Lauf“ habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem „Faden“ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.“ Man könnte, mit einem etwas verschwommenen Wort, sagen, daß unser Leben ein „Kollektiv“ ist; und dieses Kollektivleben, dieses Ineinanderfluten und Auseinanderdrängen der ganzen Welt in jedem Einzelwesen, den Wirbel von Geschichte, Gesellschaft, Atmosphäre, Zweckhaftigkeit, Zwecklosigkeit, Illusion, Zufall, Gestirn und Bazillus unter der Haut der Persönlichkeit darzustellen, ist das leidenschaftliche Bemühen aller Schriftsteller, die dem Geiste und nicht dem Büchermarkt dienen. Der „Ulysses“ des James Joyce, „Manhattan Transfer“ von Dos Pas[s]os, der „Alexanderplatz“ von Alfred Döblin und nun der „Mann ohne Eigenschaften“ von Robert Musil sind die Bücher, in denen diese durchaus neue Methode der Lebensdarstellung kompromißlos angewendet wird.

                                                      Oesterreich-Ungarn.

             Wie im „Alexanderplatz“ das ungeheure Lebewesen Berlin, ist in Musils Roman das geisterhafte Monstrum Österreich-Ungarn das Kollektiv, in dem die Menschen kreisen wie Himmelskörper in einem Sonnensystem, wie Ionen in einem Molekül. Nie zuvor wurde dieses geisterhafte Monstrum, die mythische Monarchie, so traumhaft-wirklich, so gespenstisch-real heraufbeschworen, kein Historiker, kein Satiriker hat ihr innerstes Wesen mit solcher Intensität durchleuchtet. Ja, durchleuchtet: es ist eine Röntgenaufnahme, exakt und dennoch wolkenhaft zart, das Fleisch wie lockerer Schaum, die Knochen wie magische Schatten, die phantastische Sachlichkeit einer Röntgenphotographie. „Die Tage schaukelten und bildeten Wochen. Die Wochen bleiben nicht stehen, sondern verkränzten sich. Und wenn unaufhörlich etwas geschieht, hat man den Eindruck, daß man etwas Reales bewirkt… Stelle Eins schrieb, Stelle Zwei antwortete; wenn Stelle Zwei geantwortet hatte, mußte man Stelle Eins davon Mitteilung machen, und am besten war es, man regte eine mündliche Aussprache an; wenn Stelle Eins und Zwei sich geeinigt haten, wurde festgestellt, daß nichts veranlaßt werden könne; es gab unaufhörlich etwas zu tun. Es gab außerdem unzählig viele Nebenrücksichten zu beachten. Man arbeitete ja mit allen verschiedenen Ministerien Hand in Hand; man wollte die Kirche nicht verletzen; man mußte gewissen Personen und gesellschaftlichen Beziehungen Rechnung tragen; mit einem Wort, auch an Tagen, wo man nichts Besonderes tat, durfte man so vieles nichts tun, daß man den Eindruck großer Tätigkeit hatte.“ Wurde je das Wesen der Habsburgermonarchie, das legendäre „Oesterreichertum“, in eine bessere Formel gebracht?

                                                      „Etwas muß gescheh’n!“

             Folgendes „geschieht“ in dem Roman: Im Jahre 1913 erfährt man in Österreich, daß Deutschland im Jahre 1918 das dreißigjährige Regierungsjubiläum Wilhelm II. großartig feiern will. Was soll man da tun, erstens, um zu zeigen, daß Österreich ebenfalls da ist, und zweitens, um die Preußen zu ärgern? Also, man beschließt, eine Parallelaktion vorzubereiten, das siebzigjährige Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josef I. soll noch großartiger gefeiert werden. Aber wie? Dem Grafen Leinsdorf, dem Anreger der Aktion, fällt nichts Konkretes ein. Jedenfalls soll es eine „glanzvolle Lebenskundgebung Österreichs“ werden, ein „Markstein“ auf dem Wege zu einem „Ehrenplatz in der Familie der Völker“, und das alles mit dem Besitz eines achtundachzigjährigen „Friedenskaiser“ verknüpft. Das schwebt dem Grafen vor; alles andere ist Aufgabe eines Komitees, das sich in viele Komitees teilt, aus denen wieder ein Zentralkomitee gewählt wird usw. Das funktioniert fabelhaft; nur eine Idee fehlt. Künstler und Wissenschaftler, Beamte und Organisationen werden befragt, tausend Ideen tauchen auf, nur die eine Idee fehlt nach wie vor. Irgendetwas Pazifistisches wäre gut, das paßt zum „Friedenskaiser“, zur „Familie der Völker“ usw., man könnte eine Friedenskonferenz oder eine Spende für den Friedenspalast in Haag…, aber auch dagegen werden Bedenken laut, und auf eine behutsame Anfrage erwidert Seine Majestät mit delphischer Weisheit: „I laß mi net vordrängen!“ So durfte man vieles, nein alles, nicht tut; neue Ideen, neue Widersprüche, achselzuckend lächelt das Österreichertum: „Man kann die Forderungen der Kaiser-Franz-Josef-Jubiläum-Suppenanstalt oder die des Schutzverbandes der Hauskatzenbesitzer verwirklichen, aber gute Gedanken kann man so wenig verwirklichen wie Musik! Was das bedeutet? Ich weiß es nicht. Aber es ist so.“ Es ist so. Immerhin: Die Tatsache, daß ein Komitee in Österreich etwas für das Jahr 1918 vorbereitet, erregt überall Aufsehen. Die Außenministerien ziehen Erkundigungen ein. Die Diplomaten haben zu tun. Die Slawen wittern etwas Deutschfreundliches, die Deutschen etwas Antideutsches, Demonstrationen und Gegendemonstrationen werden veranstaltet, alles in allem: „Ulrich erinnerte sich einer ähnlichen Erfahrung aus seiner Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweierreihen und man läßt ‚Befehl weitersagen‘ üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; befiehlt man nun vorn: ‚Der Wachtmeister soll voranreiten‘, so kommt hinten heraus: ‚Acht Reiter sollen sofort erschossen werden‘ oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte.“ Schließlich kommt das Jahr 1914. Man weiß noch immer nicht, was 1918 geschehen soll. Aus einer pazifistischen Kundgebung wird wohl nichts werden. Aber General Stumm v. Bordwehr, der in das Komitee hineingeraten ist, niemand weiß genau, wie, hat einen guten Einfall: Wenn man schon keine Weltfriedenskonferenz einberuft, könnte man wenigstens die Armee und die Flotte aufrüsten; das wäre ja auch etwas. Der Roman endet ohne Ergebnis. „Etwas muß gescheh’n!“, davon sind alle überzeugt. Aber was? Das weiß keiner, 1914. Im September wußten es alle. Das liegt wie ein Riesenschatten über dem ganzen Roman. Riesenschatten der Ironie und des Untergangs.

                                                                   Unser Leben – Ein Experiment.

             Ja, dieser Roman, in dem auf tausend Seiten nichts und zwischen den Zeilen Phantastisches geschieht, ist viel mehr als der Roman der untergehenden Monarchie. Dieser „Mann ohne Eigenschaften“ ist der denkende, kalt-leidenschaftliche, skeptisch-abenteuerliche, unruhig-passive Mensch einer unterminierten, von rationalisiertem Wahnwitz durchfieberten, von exaktem Aberglauben durchflackerten Welt. Der Mensch im Höllenbetrieb einer Wirklichkeit, die wahrzunehmen und wahrzuglauben schwieriger ist, als die Zukunft der Menschheit aus den Sternen wahrzusagen. Der Mensch, der „die Wirklichkeit abschaffen“ und sie durch Ideen ersetzen will, der Mensch, der sich selber durchsichtig und sich selber unglaubwürdig geworden ist, der Mensch „ohne Eigenschaften“, weil die sogenannten Eigenschaften Rückstände der Vergangenheit sind, sonst nichts, leere Hülsen, entkernte Schalen, Schlagworte, Redensarten, weil unterirdische etwas völlig Neues, etwas Namenloses und Überwältigendes beginnt, weil wir nicht mehr fühlen, was wir zu fühlen meinen, weil wir keinen Kontakt mit unserem eigenen Ich haben, aber tausend rätselhafte Kontakte mit allem, was um uns vorgeht. „Etwas muß geschehen!“, das jagt die Menschen in diesem Roman von Leben zu Leben, das jagt sie Zielen zu, die verhüllt sind, das läßt sie alles als provisorisch, als Experiment, als Laboratoriumsversuch betrachten. „Etwas muß geschehen!“ Es ist als bröckle das „Ich“, der Mörtel der Eigenschaften, der Kalk der Vorurteile, die Stukkatur der Konventionen, von uns ab und unser Unterirdisches, bisher unausgesprochen und unausprechlich, taucht nackt und kraß ans Licht. „Etwas muß geschehen!“ Die alte Ordnung ist nur mehr eine dünne Kruste von Staub, Spinnweb, Erinnerung, die neue Ordnung besteht noch nicht, unser Leben ist ein Experiment. Unsere große Leidenschaft ist die Neugier, die Gier nach dem Neuen. Unsere große Tugend ist die Tapferkeit der Erkenntnis. Unsere große Sehnsucht ist die Synthes aller Widersprüche zu einer klaren, präzisen und ordnenden Idee.

             Das alles auf tausend Seiten in einzigartiger Vollkommenheit der Sprache und des Gedankens gesagt, kann nicht auszugsweise wiedergegeben werden. Man muß dieses Buch lesen und wieder lesen; bisher gibt es kaum ein zweites, das unser geistiges Schicksal, das den Aufbruch unseres Lebens ins Unbekannte mit ähnlicher Größe und Leuchtkraft erzählt.

In: Arbeiter-Zeitung, 9.12.1930, S. 8.

Karl Federn: Lion Feuchtwangers „Jud Süß“ (1925)

Vor hundert Jahren hat Wilhelm Hauff die Geschichte des jüdischen Finanzministers des Herzogs Karl Alexander von Württemberg, Josef Süß Oppenheimer unter dem Titel Jud Süß in einer seiner zartlinigen Novellen behandelt. Unter dem gleichen Titel, dem Namen, mit dem das Volk den glänzenden und verhaßten Mann bezeichnete, hat jetzt Lion Feuchtwanger einen Roman veröffentlicht.

Wilhelm Hauff lebt in seinen prächtigen und farbenreichen Märchen fort, während seine Novellen uns heute wie sauer gezeichnete, mit kalten Farben und Schatten ausgeführte und ein wenig vergilbte Skizzen anmuten. Sein Roman Liechtenstein ist ein hübscher Bilderbogen für die Jugend. Die historische Erzählung stand durch die ganze erste Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts und länger unter dem Einfluß Walter Scotts. Es war eine theatralisch äußerliche Auffassung und Darstellung der Ereignisse. Die unsägliche Fülle, die außerordentliche Kompliziertheit der Vorgänge in der eigenen Zeit begann man zu fühlen; Balzac, der Schöpfer des modernen Romans, stellte sie dar; für die Vergangenheit erlaubte man sich eine sonderbare Vereinfachung: ein wenig Pathos und Kostüm genügte.

Seither hat die historische Forschung durch die Erschließung und Beobachtung einer Fülle früher  unbeachteter Quellen und Dokumente die vergangenen Geschlechter in ihrem intimsten Leben gleichsam beobachten gelernt; und die Dichtung, der ja die Vergangenheit als Stoff nur durch die Geschichte vermittelt wird, müßte ihr folgen und stellt sie heute mit ganz anderer Erkenntnis dar. Wir erkennen die tiefe Gleichheit, die uns mit den Menschen, die vor uns waren, verbindet, mit denen wir alle Urtriebe gemeinsam haben, Hunger, Liebe, Ehrgeiz, Rachsucht und Habgier und die anderen Lüste sowie die natürlichen und die kosmischen Ereignisse Geburt, Tod und Krankheit, Land und Meer und den Wechsel der Jahreszeiten, die immer gleich wichtig und mächtig über unser Dasein bestimmen. Zugleich aber haben wir die unendliche Verschiedenheit in en Formen des

Lebens und im Ausdruck von jetzt und einst schärfer erkannt. So haben wir im Spiegel der psychischen Komplikationen unserer eigenen Zeit die der Vergangenheit verstehen gelernt, und wir stellen heute die Menschen und Ereignisse vergangener Jahrhunderte mit ganz anderen Farben dar und suchen diesen Darstellungen eine viel intimere und wahrere Stimmung zu geben als jene mit ein wenig Kostüm und Pathos geschaffene, die vor fünfzig Jahren üblich war. Das Abblassen und Schönfärben in der Literatur hat aufgehört. Und so wie wir in unserer eigenen Zeit gefährliche Unterströmungen erkannt haben und nicht verschweigen, so kennen wir heute die wirklichen Schrecken der Vergangenheit, die früher hinter den Kulissen und Vorhängen des pathetischen Theaters verborgen blieben: Und es verlangt heute fast eine größere Intuition und Begabung des Dichters, die Vergangenheit künstlerisch vor uns auferstehen zu lassen, als die Gegenwart zu schildern, wobei so häufig eine billige Beobachtung an die Stelle schöpferischer Phantasie tritt und so wenig wie der photographische Apparat die Kunst ersetzen kann.

             Feuchtwanger läßt eine ganze Epoche vor uns auferstehen. Wo Hauff eine kurze tragische Szene mit ein wenig Kostüm darstellt, gleichsam eine Skizze mit ein paar Schatten und Lichtern hinsetzt, da entrollt der Autor unserer Zeit ein breites Gemälde, läßt Fürsten und Völker, die Schicksale der einzelnen wie die der Massen in tragischer Verkettung vor unseren Augen sich entwickeln. Sein Stoff, in diesem Falle die Vorstellungen von einem vergangenen Leben, die er aus Büchern gewonnen, und durch sein dichterisches Schauen und die in eigener Erfahrung erworbene Menschenkunde belebte, ist nicht nur die Geschichte und die Tradition von dem fragwürdigen jüdischen Finanzminister, sondern die Welt des achtzehnten Jahrhunderts, oder doch ein Teil dieser Welt, die süddeutschen Kleinstaaten des Rokokos. Württemberg, seine Fürsten, seine Stände und sein Volk in ihren Kämpfen um die Verfassung, die benachbarten Reichstädte und Bischöfe; Katholiken und Lutheraner in ihren Gegensätzen; Weltleute und Pietisten, Beamten und Offiziere und dazwischen als seltsame fremdartige bewegliche und bewegende Gestalten die Juden, gehaßt, verfolgt und mächtig in alles tief verwickelt und verstrickt durch die Fäden des Geldes, die so vielfach durch ihre Hände gehen. Diese alle tauchen auf aus der Masse des Volkes und versinken wieder im Volk, das wie zu allen Zeiten das Opfer der wenigen Gewalthaber ist, die, stark und listig oder unbewußt, es zu ihren Zwecken trügen, treiben und ausbeuten und deren williges oder murrendes Werkzeug es selber ist. Das lebt und brodelt vor unseren Blicken auf allen Straßen, in Fürstenschlössern in Bädern und auf den Marktplätzen der Städte, in Kramläden, Wirtschaften, Kirchen und Synagogen, wie in einsamen Winkeln des weiten Landes.  Und auf dem Hintergrund dieser ameisenartig durcheinander kribbelnden Masse treten scharf umrissen, durch das kreisende Räderwerk der Ereignisse alle unentrinnbar mit einander und mit ihrem Hintergrunde verflochten, die einzelnen in ihren Sonderschicksalen hervor, vor allein der dem Buch den Namen gab, der geschmeidige, elegante, lebensgierige Halbjude Josef Süß Oppenheimer, unerhört begabt, ehrgeizig, oberflächlich, frevelhaft gewissenlos und doch anziehend durch seine Kühnheit und seine Tragik. Und neben ihm der Herzog Karl Alexander in seiner stattlichen Wüstheit, seiner falschen — Biederkeit und so viele andere Männer und vor allem auch Frauen jeder Art, Fürstinnen, Maitressen, Bürgerfrauen und Mädchen bis zum armseligsten Schlammgeschöpf hinunter, eine ungezählte, glänzend gesehene, glänzend beherrschte Komparserie, die man nicht, sie aus dem Buch heraushebend, nachzeichnen kann, wie das lebendige Leben sich darstellen, aber nicht kritisch charakterisieren läßt.

Ob die geschichtlichen Vorgänge sich so abgespielt haben, ob Feuchtwanger, wie er als Dichter durfte und mußte, das Räderwerk zu seinen Zwecken eingestellt und verschoben hat, ist gleichgültig; genug, daß er uns zwingt, was er erzählt, // zu sehen und zu glauben. Als ein wesentliches Moment geht der Gegensatz und die Wechselwirkung von Juden und Christen durch das Buch, die darzustellen so oft versucht wird und so selten gelingt. Hier gelingt es, weil es mit gelassener Kunst, gleichsam absichtslos geschieht. Das Pathos wie der Humor im Spiele der Rassen, die wenige Herrlichkeit und die viele Gemeinheit und Niedertracht in den Menschenseelen, und doch auch das Süße und vor allem das Mitleidswürdige ihres Wesens und Daseins ist voll zum Ausdruck gebracht. Und während dieses ganze bunte Welttheater, auf der einen Seite gesehen, in Regierungsintriegen, Geschäften, Prozessen, Liebeshändeln, in erklärlichen Zusammenhängen verläuft, so fällt mitunter, wenn der Vorhang oder die Kulisse sich zu verschieben scheint, plötzlich ein Ausblick in die geheimnisvolle Welt dahinter, wo unsichtbare und unbekannte Mächte das Ganze an magischen Fäden zu schieben und zu leiten scheinen.

Das Buch ist in einer starken und gesunden Sprache geschrieben, die weder gesucht noch verzerrt ist und doch keinen Augenblick leer oder gewöhnlich wird. Die Sätze sind durchblutet und übervoll an Inhalt; jeder fügt ein Geschehnis, eine Farbe, einen Sinn hinzu; keiner ist Füllsel, jeder ist notwendig. Die Handlung geht stark und unaufhaltsam vorwärts, ohne Stillstand, ohne Länge. Gern bezeichnet Feuchtwanger seine Personen mit ein paar bestimmten, scharf gewählten Worten, die ihr Wesen oder ihre Erscheinung kennzeichnen, und die, jedesmal wiederholt, den Eindruck beständig verstärken und die einzelnen Figuren so plastisch hervortreten lassen; ähnlich wie Richard Wagner mit seinen Leitmotiven die einzelnen Helden und andere wiederkehrende Vorgänge begleitet und anzeigt. Es ist ein technischer Kunstgriff, den schon Thomas Carlyle in seinen historischen Werken anwendete, den Thomas Mann in den Buddenbrooks einführte. Je mehr ein Roman sich dem Kunstwerk nähert, desto leichter wird der Autor zu diesem rhythmischen und zugleich malerisch wirkenden Mittel greifen. Und dieser Roman ist, was so wenige Romane sein können, was die besterzählten und unterhaltendsten zumeist nicht sind, ein wirkliches Kunstwerk durch einen straffen Aufbau, die Rhythmik seines Ganges das harmonische Verhältnis der einzelnen Teile, die Notwendigkeit, die in ihm herrscht. Oder vielmehr, es ist gar kein Roman — wenn man sich über die Willkürlichkeit der Werte hinwegsetzen will — es ist ein Epos: ein Epos von Christen und Juden und vom deutschen Leben im fürstlichen und bürgerlichen Rokkoko des achtzehnten Jahrhunderts.

In: Neue Freie Presse, 4. 10. 1925, S. 32-33.

A.W.: Kurt Sonnenfeld: Eros und der Wahnsinnige. Ein Großstadtroman. Mit einem Geleitwort von Felix Salten.

Bruckners Verbrecher finden hier ihr episches Gegenstück. Nicht nur das Stoffliche, auch das Formale berechtigt den Vergleich. Wie in jenem Drama mehrere Themen parallel geführt werden, so bilden gleichsam drei Novellen den Roman. Die erste klagt den Paragraphen 144 an, die zweite erzählt von dem vom Strafgesetz fast er­zwungenen Bund von Anomalie und Erpressung. Die letzte der drei Novellen aber ergänzt die beiden vorhergehenden. Der gespenstische Unmensch, der in diesen im Hintergrund lauert, schattenhaft, unfaßbar, steht in der dritten Erzählung im Mittelpunkt, hell beleuchtet durch eine an Freud geschulte Psychologie. Diese Geschichte eines Klingsor oder Alberich, bei dem Eros sich darin erfüllt, daß er nachspürt fremdem Eros als ein Denunziant, ihm nachspürt, um ihn zu vernichten, diese Geschichte ist wohl die psychologisch interessanteste des gewiß nie langweiligen Buches. Ungemein geschickt ist das Ganze gestaltet, stets auf Spannung bedacht. In manchem mag Thomas Mann erlauchtes Vorbild gewesen sein. Etwa in gewissen distanzierenden Skeptizismen und Ironien von Redewendungen oder in der Art, den oder jenen Satz ge­wissermaßen als Leitmotiv oder Refrain zu verwenden. Schon diese behutsame und kultivierte Darstellungsweise wehrt die Gefahr ab, daß die Kraßheit des Stoffes übermächtig werde. Und vollends bewirkt dies der geistige Unterbau. Soziologie und Philosophie fundieren. Über die eigentlichen Themen hinaus versucht Sonnenfeld Wien zu zeichnen, das Wesen dieser Stadt von den letzten Vorkriegsjahren an bis in unsre Zeit. Ein Bild entsteht, inhaltlich interessierend, markant und scharf. Und was die Philosophie betrifft, ist Schopen­hauer vermutlich nicht nur der Lehrer einer der Personen des Buches, sondern auch der des Autors selbst. Düsterster Pessimismus beherrscht den Roman. Er rennt sich wund den verschiedenen sozialen Systemen und den Erkenntnissen der Psychoanalyse entlang. Dieser bittere Ernst erhebt das Buch weit über eine Sensation, wie sie wohlfeil und ohne viel Mühe krasse Themen erzeugen. Felix Salten schrieb dem Roman ein warmherziges Vorwort und bezeugte mit seinem angesehenen Namen den Wert dieses Buches.

In: Neues Wiener Tagblatt, 7.6.1929, S. 27.

Walter Angel: Ein Roman aus Oesterreichs Frühzeit (1923)

(Emil Scholl: Der letzte Herzog)

Der historische Roman, durch die gegenwärtigen konjunkturellen Rücksichten, die ein von jeder Bedachtnahme auf Publikumswünsche und Verlegervorsicht völlig unbeschwertes, nur dem Gestaltungswillen dienendes Schaffen fast nicht mehr dulden, noch vernachlässigt, hat in dem Wiener Emil Scholl, der sich bereits in seinen früheren Romanen, im Roßtäuscher vor allem, als ein Abseitiger erwiesen hat, einen gediegenen und ernst zu wertenden heimatlichen Er­neuerer gefunden. Sein jüngst erschienener Babenberger-Roman Der letzte Herzog, obwohl etwas breit geraten und des stärksten Schwunges, der mächtigen und einheitlichen Be­wegung, wie sie der Stoff darbot, entbehrend, obwohl in den Einzelheiten gelungener als, in der Gesamtkomposition, hat Vorzüge, die ihn weit über eine Durchschnittsleistung erheben und das Werk eingehenderer Betrachtung würdig erscheinen

lassen: Stärke des Einfühlungsvermögens, unterstützt von vertrauter Kenntnis des historischen und kulturgeschichtlichen Materials, eindringliche Modellierung der Hauptfigur, seelischen Tiefblick, sprachliche Sorgfalt.

Schon die Wahl des Sujets zeigt, daß sich Emil Scholl die Arbeit nicht leicht macht. Friedrich den Streitbaren, gewiß eine der fesselndsten Persönlichkeiten der altösterreichischen Ge­schichte, eine ihrer kompliziertesten jedoch auch, eine Gestalt

von absonderlichstem und verwirrendstem Zuschnitt, schwer zu erfassen und noch schwerer künstlerisch zu fassen in ihrer be­gabten und geistreichen Unberechenbarkeit, der Zwiespältigkeit der Neigungen, dem Wechsel der Haltung, der Gesinnung und der Interessen, gerade diesen Babenberger, den letzten und degenerierten Sproß uralten Blutes, hat Scholl zum Helden seines Buches erwählt. Mit modern-psychologischem Apparat trachtet er dem Wesen des Babenbergers beizukommen, in mancher Deutung von Friedrichs Art vielleicht von der histori­schen Linie abirrend oder diese absichtsvoll verlassend, doch eben dadurch, daß er das Licht neuester Seelenanalyse auf den Herzog fallen läßt, ihn unserem Verständnis und- damit unserer Teilnahme näher rückend.

Friedrich, von der Geschichte der Streitbare geheißen, lag während einer nicht allzu langen Regierung (von 1230 bis 1246) ständig im Felde, mit den Nachbarn, den Böhmen und Ungarn, mit dem Hohenstaufen Kaiser Friedrich II., mit aufständischen Dienstmannen, mit den Tataren. Auch den Bürgern von Wien war er übrigens, zumal in den ersten Jahren seiner Regentschaft, keineswegs wohlgesinnt… Als händelsüchtig typischer Raufbold seiner Zeit, lebt er in der Historie fort, gleichzeitig als brutaler Schürzenjäger, als Lüstling arger Sorte. Emil Scholl unternimmt es nun, Charakterzüge und Geistigkeit dieses Babenbergers, der

gleichzeitig ein Mann von Schärfe des Verstandes, von Großmut, von hoher Bildung und ein Freund der Künste war, aus einem harten und ungewöhnlichen Schicksal zu erklären. An Friedrich, als dritten Sohn Leopold des Glorreichen, ist nämlich die Herrschaft gleichsam unrecht­mäßig, durch eine Verkettung unglückseliger Zufälle, ge­kommen, weil die beiden älteren Brüder frühzeitig, noch in den Knabenjahren, starben. Für das Kloster mag der Drittgeborne ursprünglich bestimmt gewesen sein, nie hat der Vater, den Verlust des eigentlichen Erben nicht ver­schmerzend, den Jüngsten als Nachfolger innerlich anerkannt, nie ihn zum Mitwisser seiner Pläne, zum Genossen seiner Taten gemacht. Einen verbitterten, beiseite geschobenen und zur Untätigkeit verurteilten Prinzen stellt der Autor anfangs vor, uns hin, einen Unglücklichen, der sich aus Trotz in das Leben eines Schlemmers und Wüstlings flüchtet, dabei aber wohl wissend, daß er für töricht, verspielt, regierungsunfähig

gehalten wird. Da ruft den Neunzehnjährigen der un­erwartete Tod des Vaters auf den Thron. Die Zufällig­keit einer solchen Herrschaft bedrückt Friedrich und stachelt ihn an, mit dem Schwert sich sein Erbe erst zu erwerben. An Widersachern innerhalb und außerhalb der Grenzen // fehlt es nicht; glaubt Ritterschaft doch wie mancher Nachbar, mit dem verweichlichten Knaben leichtes Spiel zu haben. Ein anderer jedoch, als der, den man zu kennen vermeint, setzt der junge Babenberger sich den Herzogshut aufs Haupt, und nachdem er zuerst Verblüffung und spöttisches Staunen erregt hat, verbreitet er bald Schrecken und erzwingt sich, in Konsequenz seines Entschlusses Gelegenheiten ausschlagend, durch Unterhandeln seine Macht zu befestigen, mit Waffengewalt die Sicherung seines Besitzes. 

So hätte also der Autor für die eine Seite von Fried­richs Charakter eine psychologisch durchaus glaubwürdige Motivierung gefunden. Es obliegt ihm nun, auch die Laster­haftigkeit des Babenbergers oder was für eine solche nach äußeren Merkmalen gemeinhin gehalten werden muß, aus höher zu qualifizierenden Triebmomenten abzuleiten, um für Friedrich jenes Maß menschlichen Begreifens zu ge­winnen, das auch verabscheuungswürdiger Untugend noch Verzeihung gewährt. Hier wartete des Autors die schwierigere Aufgabe — aber er hat auch diese gelöst. Sein Babenberger, ein Mann, der mit neunzehn Jahren die dritte Gattin hatte — die beiden ersten Ehen waren vom Papst ge­löst worden — der in Bürgerhäuser einbrach, um sich die Tochter zu holen, der die Hand nach eines Halbbruders

Frau ausstreckte und nach einer blutjungen Nichte, wirkt nicht abstoßend. Denn allmählich wird uns Einsicht in Friedrichs Herz gestattet: in das zerrissene, ewig ruhelose Herz des Kinderlosen, dem jeder Machtgewinn den Kummer, des Erben seines Besitzes zu entbehren, nur vermehrt, der immer gieriger das Weib sucht, das ihm den Sohn schenkt, und der endlich in düsterste Verzweiflung sich verkriecht, weil er sein Leben zwecklos verrinnen sieht, sich fluchbeladen glaubt….

Weit im Vordergrund, in monumentaler Einsamkeit, steht Friedrich von Babenberg. Eine Gestalt, die ein Dichter über die Jahrhunderte hinweg blutlebendig gemacht hat. Der Abstand, in dem die übrigen Figuren sich gruppieren, schwächt bereits ihre Deutlichkeit. Und der verschwenderische Reichtum an Farbe, mit dem die eine Gestalt bedacht, läßt die Farben der anderen erst recht matt erscheinen. Einzig der Diplomat des Hofes, Adalbert v. Justingen, ein beweglicher, geistreicher, verschlagener Kopf, und die hin­gebungsvolle Dietmut, das Bürgerskind, das dem Herzog zur linken Hand angetraut wird, sind mit schärferen Konturen und lebhafterer Schattierung gepinselt. Es sei indes die Vernachlässigung der Nebenfiguren nicht geradezu als störender Mangel bezeichnet, weil ihnen der Anlage des Werkes nach kaum mehr als Episodenrollen zugedacht sind. Dem Hintergrund hingegen, dem Bild der Stadt Wien, ist liebevollste Kleinmalerei gewidmet, Gassen und Plätze und Märkte des mittelalterlichen Wiens Mit ihrem Gewimmel von Handwerkern und Bürgern, Bauern und Soldaten sind zu buntestem und bewegtestem Dasein erweckt.

Zusammenfassend kann gesagt werden: ein von reicher Begabung erfülltes, vielerlei Anregung bietendes und zumal für den Österreicher, dem es ein Stück ziemlich dunkler, heimatlicher Geschichte erhellt, interessantes Buch.

In: Neue Freie Presse, 15.4.1923, S. 27-28.

L. Andro [= Therese Rie]: Fräulein Else und Annette (1924)

Fräulein Else, die neunzehnjährige Tochter eines Advokaten von Rang, hat jene Erziehung genossen, wie sie in den neunziger Jahren den meisten jungen Mädchen des angesehenen Mittelstandes zuteil wurde: Das Endziel aller Bestrebungen, der eigenen und der elterlichen, war eine möglichst vorteilhafte Heirat, und da der Prince charmant in der Regel nicht kam oder höchstens um den Preis enger Verhältnisse oder gesell­schaftlicher Deklassierung zu haben gewesen wäre, landete man schließlich in einer Vernunftehe und ent­wickelte sich zu einem neuen Mitglied der unabsehbar großen Gilde der unverstandenen Frauen. Auf großen Bällen oder in fashionablen Sommerfrischen wurde man möglichen Bewerbern vorgeführt, prächtig gekleidet, aber zuweilen mit fadenscheiniger Lingerie, denn es bürgte für die Anständigkeit des Mädchens, daß man sich für dergleichen noch nicht interessierte; die übrige Zeit verbrachten Fräulein Else und ihre Schicksalsgenossinnen mit ein wenig Tennis und Flirt, mit Klavierspiel, Deckchensticken und der Erlernung fremder Sprachen; damit waren sie für die Zukunft, die Ehe und den Lebenskampf hinreichend ausgerüstet.

Diesen tragischen Typus des unberührten Mädchens, unberührt darum, weil sich niemand die Mühe gab, in seiner Seele etwas aufzurühren, stellt Schnitzler mit der letzten Vollendung hin. Genau wie im Leutnant Gustl, als dessen Gegenstück diese Monolognovelle wohl auch formal gedacht ist, greift er aus der großen Masse ein unbeträchtliches Geschöpf heraus, das nur von seiner Kaste lebt, nur in dieser möglich ist. Und nun zerbricht eine Feder dieses sorgsam geölten Gesellschaftsmechanismus: Um das un­bedeutende Einzelwesen rauscht das Schicksal mit schweren, schwarzen Flügeln: das arme Menschen­kind sieht sich mit einemmal in schauerlicher Einsamkeit, auf sich selbst angewiesen, alles, was ihm Halt geben konnte, existiert nicht, mehr. Aus einem Typus wird es blutende, leidende Kreatur, seine arme, eingeschnürte Seele wird plötzlich hellsichtig. Erschiene ihm jetzt, in seiner Schicksalsstunde ein Retter, es könnte sogar vielleicht noch ein Mensch werden. Wie oft aber kommen Retter zur rechten Zeit? Den Leutnant Gustl erlöst im letzten Augenblick noch ein Zufall; für diearme kleine Else kommt er nicht, und ihr könnte wohl auch kein Zufall helfen.

Dies ist ihr Schicksal, daß sie eines Sommerabends, als Gast reicher Verwandter in eurem Dolomitenhotel weilend, einen Brandbrief von daheim empfängt: der Vater hat Mündelgelder unterschlagen, leider nicht zum erstenmal, aber diesmal ist die Katastrophe unabwendbar. Nur Else kann helfen, indem sie einen zufällig im gleichen Hotel wohnenden Bekannten, einen reichen älteren Lebemann, um das Geld bittet.

Die törichte Mutter, die diesen Brief schrieb, hat sicherlich nicht gewußt, was sie damit forderte; ob der kluge Vater, der ihn diktierte, ahnungslos war, bleibt dahingestellt. Der jungen Else soll jedenfalls rasch genug Klarheit werden. Denn der freundliche Don Juan erklärt sich herzlich gern bereit, dem schönen Mädchen das Geld zu überlassen, nur knüpft er eine ganz kleine Bedingung daran: daß sie sich in seinem Zimmer eine Viertelstunde lang unverhüllt seinen Augen darbiete. Er ist bescheiden, nur den Augen. Und an der Notwendigkeit dieses Opfers, das durch ein neuerliches dringendes Telegramm unabweisbar wird, geht das kleine Mädel zugrunde.

Mit rasender Hast, jagt das Schicksal sie ihrem Untergange zu. Man liest kein Buch mehr, man erlebt mit versagendem Atem das Absterben eines Menschen. Nicht, daß sie ihren Körper fremden, kühl abschätzenden Augen schmachvoll preisgeben muß, schmachvoller, als wenn er in wilder Glut genommen würde, ist das Schlimmste; sondern vielleicht die Erkenntnis eigener dunkler Wünsche, geheimnisvoller Wirbel, die sie unbekannten Abgründen zutreiben können, wie es ja auch der andern Heldin Schnitzlers, der Aurelie in der Komödie der Verführung, ergeht. Keiner ist da, ihr die Rätsel ihres Temperaments gütig zu deuten. Das junge Mädchen Else ist im Grunde in diesem Augenblick schon getötet worden; was dann noch vor sich geht, daß sie, wie Monna Vanna, einen Mantel um den nackten Leib schlägt und sich vor der versammelten Hotelgesell­schaft enthüllt, geschieht eigentlich schon in einem andern Leben. In eine fingierte Ohnmacht sinkend, sieht sie plötzlich Welt und Menschen so klar und unbarmherzig scharf, wie nur Sterbende sie sehen. Daß sie dann noch zu dem längst vorbereiteten Glase mit Veronal greift, ist letzten Endes nur das äußere Symbol eines vor Stunden schon erfolgten Todes.

Vielleicht stammt auch diese ganze Problemstellung aus den neunziger Jahren. Viele junge Mädchen von heute, gewöhnt, im Schwimmanzug viele Stunden lang an der Seite junger männlicher Gefährten zu ver­bringen, werden vielleicht die Achseln zucken über die Geschichten, die da wegen ein paar Zentimeter Stoff ge­macht werden; manche von ihnen würden wahrscheinlich, ironisch lächelnd, dem alten Lüstling das Vergnügen machen, der in unsern Tagen freilich eine ähnliche Zumutung nicht zu stellen brauchte, da er schon aus der gewöhnlichen Straßenkleidung in der Lage wäre, genaue Schlüsse auf die Reize eines bewunderten Wesens zu ziehen. Neugierde in dieser Hinsicht ist kaum ein Laster unsrer Zeit, wo die Antworten früher erfolgen, als die Fragen gestellt worden sind. Aber die junge Else steckt noch körperlich und seelisch eng eingepreßt in dem Fisch­beinpanzer, den man der Frau damals anlegte.

Die Schmerzen dieser armen kleinen Rhodopenseele, die zu jung, zu schwach, zu zerbrechlich ist, um eine Schuld auf sich zu nehmen und sich von ihr erhöht zu fühlen, legt Schnitzler mit einer Eindringlichkeit und Zartheit bloß, welche völlig an das Blendende seiner Technik vergessen läßt, die sich zu immer atemraubenderem Krescendo steigert. Voll Mitleid ist dieses. Buch und — vielleicht— auch voll Sehnsucht nach einer Zeit, die vermutlich nicht besser war als die unsre, in der aber das Wort Hebbels, des tiefsten Deuters aller Keuschheitsprobleme, noch Bedeutung hatte: „Man muß nicht immer fragen: was ist ein Ding? Zuweilen auch: was gilt’s?“…

Es ist ein Zufall und ist doch keiner, daß diesem zarten Pastellbild des Mädchens von gestern von einem andern großen und reinen Dichter, Romain Rolland, in einem gewaltigen Triptychon das Bild der denkenden, kämpfenden/ leidenden Frau von heute gegenübergestellt// wird: in der Vorrede zu seiner „Verzauberten Seele“, von der bisher zwei Bände vorliegen, sagt Rolland: „Wenn ich einen Roman schreibe, wähle ich ein Wesen, mit dem ich Gemeinsamkeiten fühle, oder vielmehr, es wählt mich. Sowie das Wesen einmal erwählt ist, lasse ich es ganz frei und habe wohl acht, daß ich nichts von meiner Persönlichkeit hineinmische. Eine Persönlichkeit, die man seit mehr als einem halben Jahrhundert trägt, ist eine schwere Last. Die göttliche Wohltat der Kunst besteht darin, uns von ihr zu befreien, indem sie uns gestattet, andre Seelen aufzutrinken, uns in andre Existenzen einzuhüllen. Unsre indischen Freunde würden sagen: andre von unsern Existenzen…“

Annette Rivière erlebt ihre erste große Zuneigung und Enttäuschung an ihrer Halbschwester, der kleinen Schneiderin Sylvie, von deren Existenz sie erst nach dem Tode ihres Vaters erfährt und für die in ihr nach an­fänglicher Eifersucht die leidenschaftlichste schwesterliche Liebe ausblüht. Aber Sylvie, ein richtiges Boulevard-Pflänzchen, leichtsinnig und berechnend, schmiegsam und selbständig. Zärtlich und kühl, denkt gar nicht daran, ihr eigenes Dasein mit dem ihrer patrizischen Schwester zu vereinigen, und auch aus eine gelegentliche nette, kleine Perfidie, der großmütigen Annette gegenüber, kommt es ihr nicht an. So sieht sich diese mit ihrer großen Liebes- und Leidensfähigkeit bald wieder allein. Ein Mann tritt in ihren Kreis, sie glaubt ihn zu lieben, aber ihre Klugheit bleibt wach, und sie fühlt, daß es nur ein Strom von Sinnlichkeit ist, der sie zueinander reißt, daß ein wirkliches Zusammenleben mit ihm nicht denkbar ist. Dennoch kommt die Stunde, wo ihr Blut sie überwältigt; sie gibt sich ihm und stößt ihn dann von sich, weil sie spürt, daß er ihrer Seele verderblich wird; sie ruft ihn auch später nicht mehr, da sie fühlt, daß sie Mutter werden wird. Sie will ihr Kind in Freiheit zur Welt bringen und es allein besitzen.

Der Kampf um die soziale Vollwertigkeit der un­verehelichten Mutter mutet in deutschen und skandinavi­schen Ländern nicht mehr so neu und fremdartig an wie in romanischen, wo sich das junge Mädchen vom Schlage Fräulein Elses weit länger konserviert hat. Wir ahnen schon, daß Annette durch alle Demütigungen hin­durchgehen muß, welche die Gesellschaft zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts für Menschen übrig hatte, die gegen bestehende Sittengesetze anrennen. Der Kampf wird härter, da Annette ihre materielle Sorglosigkeit einbüßt, welche sie vom Urteil ihrer Mitmenschen unab­hängig machte; nun erst beginnt der ergreifendste Teil des Werkes. Jetzt erst lernt Annette den erbittertsten Krieg kennen, der je geführt wurde: den der Arbeitenden gegen die  Arbeitenden, die Konkurrenz, das Weg­schnappen des kleinsten Stückchens Brot. Nun lernt sie begreifen, daß Gedanken, Gefühle, Weltanschauungen ein Luxus sind, nur dem erreichbar, der weiß, daß er morgen zu essen haben wird. Sehr drollig steht nun im Gegensatz zu ihr ihre Schwester Sylvie, die als Besitzerin eines gut gehenden Schneiderateliers. bürgerlich ge­worden, solide verheiratet und Annette somit in jeder Weise überlegen ist.

Sie kämpft für ihr Kind, aber auch um das Kind: denn dieses kleine Geschöpf, das sie den ganzen Tag andern Leuten überlassen muß, um seinen Unterhalt zu verdienen, empfindet die Zärtlichkeitskatarakte, mit denen es abends von der heimkehrenden Mutter über­schüttet wird, als durchaus unangenehm. Was zum Teufel will diese fremde exaltierte Frau? Im Schneideratelier der Tante Sylvie, wo es als Hauskatze der munteren Nähmädchen herumläuft, ist es viel netter. Mit unbarm­herzigen Augen sieht es seine Mutter an, sieht alle ihre seelischen und physischen Schwächen. Dieses Kind, für das sie alles hingegeben hat, liebt sie kaum; mindestens hat es andre lieber. Noch will die verzauberte Seele es nicht wahrhaben; langsam muß sie es begreifen lernen.

Vor der Liebe hat sie Angst. Wer seine Kräfte für den Lebenskampf braucht, darf sich nicht verlieren. Der schöne, gesunde Körper der blühenden Frau will sein Recht, aber sie kennt sich und hat Furcht vor sich selbst. Dennoch kommt die Liebe; sie kommt, wie es bei einer starken Frau fast selbstverständlich ist, in Gestalt eines schwachen Mannes, der sich in ihre Kraft verliebt und den sie doch erschreckt. Wie traurig, zu wissen, daß man den Geliebten um Haupteslänge überragt! Es ist ein trostloses Hin- und Herzerren, dem sie endlich ein Ende macht. Ihr ganzes Leben ist ein Kampf um ihre Seelen­kraft, die jeder, der in ihre Nähe kommt, zerbrechen will. Und sie braucht sie doch so nötig. Häusliches Ungemach bricht über sie herein, nichtssagend bei Leuten, welche Geld haben, zerschmetternd bei solchen, die mit jedem Groschen rechnen müssen. Sie entzweit sich mit der in sorglosen Verhältnissen lebenden Schwester und steht nun ganz allein, mesquinen Sorgen preisgegeben, wissend, daß ihr heranwachsendes Kind den ganzen Tag unbehütet und allein bleibt. Mit der Hand des Meisters legt Rolland die Seele dieses einsamen kleinen Jungen bloß, des verbitterten, grübelnden, frühreifen Kindes, das seiner Mutter beobachtend, kritisch, kühl gegenübersteht. Er gehört nicht in die bürgerliche Gesellschaft, er gehört nirgends hin. Er ist stolz darauf, daß diese Frau ihn nicht kennt, die äußerlich ihm gegenüber alle Rechte hat und die ihn doch nie besitzen wird. Der ewige tragische Kampf der zwei Generationen hebt an: doppelt tragisch da, wo die Mutter dem Kinde alles geopfert hat.

Noch ein letztes Mal, da Annette schon fast an der Schwelle des Alters steht, kommt die Liebe: diesmal als Elementarkraft, gegen die keine andre Gewalt nützt. Der Mann, ein berühmter und gewissenloser Chirurg, der von unten kommt und den Lebenskampf noch besser kennt als sie, zerbricht sie beinahe. Sie muß durch alle Höllenstrafen durch, welche die Liebe einer freien Frau zu einem verheirateten Manne mit sich bringt, und als sie sich endlich befreit, scheint ihr nur der Tod zu bleiben. Da geschieht das Wunder: die verstümmelte, geknickte, verzauberte Seele findet sich noch einmal. Noch einmal kommt ihr die Kraft, stark zu werden, sich zu reinigen und zu erheben. Irgendwo kritzelt sie dann ein wunder­volles Gedicht hin — ein seltener lyrischer Ausbruch bei Rolland —, ein Gedicht der weiblichen Demut:

„Du kamst — deine Hand erfaßt mich —, ich küsse deine Hand,
Mit Liebe, mit Entsetzen küß‘ ich deine Hand.
Du warst mich zu vernichten, Liebe, mir gesandt.
Ich weiß es wohl — schlag zu! —, ich küsse deine Hand.“

Die verzauberte Seele ist gerettet. Sie weiß nicht, daß ihr Sohn zu gleicher Zeit seine schmerzliche Liebeskrise überwindet — wann wissen Menschen, die eng zu­sammen leben, jemals voneinander? Sie selbst hat den Weg zur Einheit mit sich gefunden und ahnt noch nicht, welche Schrecken sich über ihrem Haupte zusammenziehen, daß der Krieg auf dem Wege ist, der ihr das mühsam gezimmerte Asyl über dem Kopf zertrümmern wird.

Der letzte Band wird erst in einigen Jahren er­scheinen, und er wird vermutlich den Leiden der Frau im Kriege gehören. Die gütigsten Menschenaugen, die je geblickt haben, werden auf der namenlosen Pein der Seelen und den erniedrigendsten Quälereien des Alltags mit dem gleichen grenzenlosen Mitleid ruhen, und unter ihrem Blick wird sich ein Bild des Frauenlebens formen, wie es kaum je erschöpfender gestaltet worden ist. Wer Menschenleid so verstehen kann, ist ein guter Mensch; wer es so gestaltet, ein Künstler.

In: Neues Wiener Tagblatt, 24.12.1924, S. 2-3.

Max Foges: Die Rotte Korahs. Hermann Bahrs neuester Roman (1919)

                Hermann Bahrs neuester Roman ist in Buchausgabe erschienen. Er ist ein Band der Romanserie, die Bahr mit der Rahl begonnen hat, und bildet gewissermaßen die Fortsetzung dieser epischen Schöpfungen, die eine Art Philosophie des Österreichertums darstellen. Die Rotte Korahs ist der fünfte Band in der Reihe, und die Niederschrift ist gerade vor einem Jahre Ostern 1918, vollendet worden. (S. Fischer Verlag, Berlin.) Wieviel liegt zwischen diesen beiden Ostern, den von 1918 und den von 1919! Und bei der Lektüre des Buches fallen die dunklen Schatten dieses so ereignisreichen Katastrophenjahres auf die Blätter… Ein Abgrund hat sich aufgetan zwischen dem Leser und dem Inhalt des Buches. Es ist wieder eine Predigt Bahrs von der Religion des Österreichertums, aber wo ist dieses Österreichertum seither hingeraten? Wo ist Österreich? Alles hat der Abgrund verschlungen, und so ist es einigermaßen mühsam, sich zurückzufinden in die Gedankenwelt dieses Romans, obwohl anderseits gerade die Gestalten und Ereignisse des Buches vielfach den Schlüssel bieten zu manchem, was wir jetzt miterleben. Bahrs große österreichische Romanserie bildet ein Panorama und jedes Buch einen Sektor. Es geht dabei selbstverständlich nicht ohne einige störende Empfindungen ab, die darauf zurückzuführen sind, daß eben bei dem Ausschnitt jedes einzelnen Sektors der Zusammenhang, wenigstens soweit er die Personen betrifft, die in den verschiedenen Teilen der Serie wiederkehren, zerrissen erscheint. Indessen gelingt es der Kunst Bahrs, über diese Schwierigkeit hinwegzukommen, und je weiter er die Handlung seines neuen Buches ausspinnt, desto selbstständiger entwickelt sich das Problem, desto mehr Eigenleben gewinnt der Roman Die Rotte Korahs.

                Ein Roman und eine Predigt – erfüllt von jenem Zug zu katholischer Mystik, dem sich Bahr schon in dem vorhergehenden Werke Himmelfahrt hingegeben hat, dabei doch ein weltlich frohes Buch, amüsant, voll feiner Ironie, reich an echt Bahrschen Antithesen, mit einer geistvollen Problemstellung. Der Held des Buches ist ein junger adeliger Beamter des Ministeriums des Äußern, der Enkel eines österreichischen Staatsmannes der liberalen Ära, der Sohn eines Reiteroffiziers aus südslawischem Blut, einer mit verwegener Passion gezeichneten Figur des Romans. Der junge Diplomat ist eine Persönlichkeit von tiefernster, vornehmer Veranlagung. Im Augenblick, wo der Leser seine Bekanntschaft macht, erholt er sich von einer tiefen seelischen Erschütterung – er hat an der Front in Italien einen Lungenschuß erhalten – und in sein Amt wieder zurückgekehrt, während draußen die Schlachten noch immer geschlagen werden, noch immer die kaiserliche Armee den Feinden ringsum siegreichen Widerstand bietet, findet er sich im Hinterland schwer zurecht. Erziehung und soziale Stellung beginnen bei dem Helden des Buches sozusagen naturgemäß eine zumindest ablehnende Haltung gegenüber dem Judentum und dem jüdischen Einfluß in der österreichischen und in der Wiener Gesellschaft. Und gerade steht die Judenfrage im Vordergrunde der gesellschaftlichen Sensation Wiens. Der ehemalige Theaterdirektor Jason – Bahrs Leser kennen ihn aus O Mensch und auch aus der Gelben Nachtigall ist er dem Theaterpublikum Bahrs erinnerlich – hat als großer Faiseur ein vielfaches Millionenvermögen erworben. Er repräsentiert die Macht des skrupellosen Kapitals während des Krieges, ist das Prototyp der Kriegsgewinners, die Verkörperung der großen Korruption. Heute noch der allmächtige, umschränkte, umschmeichelte und umwedelte Heldfürst, wird er plötzlich zum Sündenbock, weil die öffentliche Meinung seines Glückes überdrüssig geworden ist, und kommt als Angeklagter vor Gericht … Ganz Wien lauscht nach diesem Prozeß, er kann die unerhörtesten Enthüllungen bringen, denn Jason wird sich zweifellos zur Wehre setzen und er ist imstande, viele sehr viele von stolzer Höhe mit in die Tiefe zu reißen. (Der Leser wird die Beziehung zu einem Sensationsprozeß der Kriegsjahre unschwer herausfinden.) Der Prozeß endet aber noch viel sensationeller als die lüsternste Neugierde erwartet hat. Der Angeklagte Jason stürzt vor den Schranken des Gerichtes infolge der ungeheuern Erregung, in die ihn die Anklage versetzt, vom Schlage gerührt tot zusammen.

                Bisher ist der Held des Romans sozusagen am Rande der Ereignisse dahinflaniert, vom Autor von allen Seiten beleuchtet und analysiert, sozusagen exponiert für die kommende überraschende Handlung. Das Testament Jasons enthüllt nämlich ein vom Großvater und vom Vater des Helden sorgsam gehütetes Geheimnis. Der junge Diplomat ist nämlich gar nicht der leibliche Sohn des Reiteroffiziers Baron Drzie, sondern ist das Kind Jasons, der der Verführer seiner Mutter geworden war. Der Rittmeister hatte das unglückliche junge Mädchen geheiratet, ihm seinen Namen geschenkt, allerdings nicht, ohne daß Jason dazu beigetragen hätte, ihm dafür seine Schuldenlast abzunehmen. Diese Vorgeschichte – und Bahr will durchaus, daß der Rittmeister als Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle aufgefaßt und die Verführte, die übrigens bei der Geburt des Kindes stirbt, obendrein von der Gloriole mystischer Frömmigkeit umstrahlt wird – darf den Leser allerdings nicht stören. Geht er auf diese Voraussetzung des Autors nicht ein, dann allerdings wird ihm alle Kunst Bahrs die Lektüre wenig erfreulich gestalten. Allein man kann überzeugt sein, daß bei den meisten Lesern Bahrs Virtuosität siegen wird, die Vorgeschichte in Vergessenheit gerät und das eigentliche Problem des Buches zu jener Geltung gelangt, die ihm Bahr verschaffen will. Die ihn lockende Antithese ist nämlich der Konflikt, der in dem jungen Baron Drzie entsteht, der nun plötzlich erfährt, daß er jüdisches Blut in den Adern hat, dem mit dieser Erkenntnis seine ganze Weltanschauung zusammenstürzt und der nun plötzlich vor dem Konflikt steht, zwischen den zwei Menschen, die er in sich vereint fühlt, zu wählen … Der eine ist der Österreicher von christlicher, katholischer Kultur, der andere ist der Jude mit dem tragischen Erbteil seiner Rasse. Der junge Diplomat ist mit einem Male der Herr eines ungeheuren Vermögens geworden. Seine erste Regung, den Millionen zu entsagen, überwindet er über Rat seines Großvaters und in der ihm werdenden Erkenntnis, daß man seine Entsagung allgemein für eine Pose halten würde. Und gerade das will er nicht, er will wahr gegen sich selbst sein, wahr bis zum Extrem. Das Reizvolle des Buches ist nun, wie sich der Held mit sich selbst und der Gesellschaft auseinandersetzt, um zum Schlusse, eine Sünde gutmachend, ein seltsames Mädchen zu heiraten und sich auf einen Landsitz zurückzuziehen, einzig in dem Bestreben, ein guter Mensch zu sein, ein zärtlicher Gatte, ein liebevoller Vater. Diese Entwicklung rollt das Problem der Judenfrage nach allen Richtungen hin auf und gibt Bahr Gelegenheit, in geistvoller Weise diese Frage dialektisch zu erörtern, das heißt, nicht er erörtert sie, sondern die zahlreichen Gestalten des Buches, die wir in ihrer frappierenden Lebendigkeit als Type des Österreichertums aus den früheren Bänden seiner Romanserie kennen. Da ist der flotte Franz Heitlinger, der berühmte Chirurg Hofrat Scharizer, der „Menschenfischer“ Domherr Zingerl, die köstliche Fürstin Uldus, und vor allen der unerhört lebenswahre Zionist und Oberarzt Dr. Beer. Es ist eine vergnügliche, köstliche Gesellschaft, ein drolliges Schattenspiel des Lebens, virtuos behandelt von dem meisterlichen Puppenspieler Bahr. So virtuos und so meisterlich ist das alles erzählt und durcheinandergewirbelt, daß der Leser sogar über manche Länge hinwegliest, über manche Wiederholung, die aber durchaus vom Autor beabsichtigt erscheinen, denn Bahr will offenbar nicht nur einen Roman geschrieben haben, sondern auch ein Erziehungs- und Erbauungsbuch. Von Österreich und seiner Eigenart, von der katholischen Kirche und ihren Wundern, von Adalbert Stifter und Hölderlin, von Heiligem und Unheiligem predigt er unermüdlich; allerdings ein amüsanter Prediger, ein moderner Abraham a Santa Clara. Und auch derjenige wird sein neuestes Buch nicht ohne Genuß aus der Hand legen, der vielleicht, wenn er den Band schließt, finden wird, daß Bahr das Problem der Judenfrage zwar ungemein geistvoll beleuchtet, aber durchaus nicht gelöst hat. Hat er es aber überhaupt lösen, hat er eine Antwort erteilen wollen?…

In: Neues Wiener Journal, 16.4.1919, S. 3-4.

Ernst Fischer: Aus den Tiefen eines Jahrhunderts (1930)

            Folgendes hat sich ereignet: Eine militärische Kommission hat einen Soldaten ausgegraben, der sich tot stellte. Der Militärarzt erklärte den Tachinierer für frontdiensttauglich. Man gab ihm Schnaps zu trinken und nahm ihn mit. Die Nacht war blau und schön. Man konnte, wenn man keinen Helm aufhatte, die Sterne der Heimat sehen. Voran die Musik mit Tschindrara spielt einen frohen Marsch. Und der Soldat marschiert in der Mitte, und daß man den Grabgeruch nicht merke, schwingt ein Priester das Weihrauchfaß. Die Zeitungen haben diesen Vorfall totgeschwiegen. Die Wissenschaft hat ihn totgeschwiegen. Die Weltgeschichte hat ihn totgeschwiegen. Da gab es größere Sensationen; außerdem glaubt der gebildete Mensch des zwanzigsten Jahrhunderts so was nicht. Trotzdem hat sich die Sache herumgesprochen, die Sache von dem toten Soldaten; ein Mensch namens Brecht hat sie schließlich dem deutschen Publikum mitgeteilt, diese Sache, die doch gewiß aufregender, beunruhigender, wesentlicher ist als zum Beispiel die Rede irgendeines Ministers oder irgendein Bericht irgendeiner Studienkommission, ja sogar nervenaufpeitschender als die täglichen Meldungen über Morde, Raubüberfälle, Brandlegungen usw. Um aber nicht der Lüge geziehen zu werden und die atembeklemmende Wahrheit so zu sagen, daß man sie nicht berichtigen kann, hat dieser unangenehme Brecht sie in Verse gepreßt. So ist das Gedicht vom toten Soldaten entstanden:

            Und wenn sie durch die Dörfer ziehn,
                kommt’s, daß ihn keiner sah.
                So viele waren herum um ihn
                mit Tschindrara und Hurra.
                So viele tanzten und johlten um ihn,
                daß ihn keiner sah.
                Man konnte ihn einzig von oben sehn.
                Und da sind nur Sterne da.
                Die Sterne sind nicht immer da.
                Es kommt ein Morgenrot.
                Doch der Soldat, so wie er’s gelernt
                zieht in den Heldentod.

Wir möchten schreiend aus den Gräbern steigen!

            Also Lyrik! Jawohl, Lyrik. Wahrheit, die man in Prosa totgeschwiegen hat. Bericht aus der Tiefe eines Jahrhunderts. Mitteilungen aus der Mördergrube, zu der man das Herz einer ganzen Generation gemacht hat. Telegramm aus dem fernsten, unbekanntesten Kontinent, aus der von Krieg und Hohn und Hunger verschütteten Seele der Fünfundzwanzigjährigen, Dreißigjährigen. Stimmen aus dem Massengrab:

            Wir haben Dreck im Mund. Wir müssen schweigen.
                Und möchten schreien, bis das Grab zerbricht!
                Und möchten schreiend aus den Gräbern steigen!
                Wir haben Dreck im Mund. Ihr hört uns nicht.
                Ihr hört nur auf das Plaudern der Pastoren,
                wenn sie mit ihrem Chef vertraulich tun.
                Ihr lieber Gott hat einen Krieg verloren
                und läßt euch sagen: Laßt die Toten ruhn!

– in der Weltgeschichte beschäftigt!

Dreck im Munde, pfui wie gemein, wie ordinär! Lyriker haben Gold im Mund zu haben,

Geruch von Frühlingsspülwasser, Sonne auf der Zunge und die Herzallerliebste im Gaumen – für Friedenszeiten, versteht sich; wenn ein Krieg auszubrechen droht oder bereits ausgebrochen ist, ersetzt das Vaterland die Herzallerliebste und der Pulverdampf die Lenzesluft. Darum ist uns die Lyrik so zum Kotzen geworden, darum haben wir plötzlich genug gehabt von allen Gedichten – bis die toten Soldaten schreiend aus ihren Gräbern stiegen, bis die Wahrheit sich der Versform bediente, bis wir mit Herzklopfen die Gedichte des Bert Brecht, des Joachim Ringelnatz, des Erich Kästner lasen. „Wir haben Dreck im Mund. Wir müssen schweigen!“ das ist von Erich Kästner; von ihm ist das ungeheure Gedicht Jahrgang 1899.

        …dann holte man uns zum Militär,
        bloß so als Kanonenfutter.
        In der Schule wurden die Bänke leer,
        zu Hause weinte die Mutter…
        …wir haben sogar ein Examen gemacht
        und das meiste schon wieder vergessen.
        Jetzt sind wir allein, bei Tag und bei Nacht,
        und haben nichts Rechtes zu fressen!
        Wir haben der Welt in die Schnauze geguckt,
        anstatt mit Puppen zu spielen.
        Wir haben der Welt auf die Weste gespuckt,
        soweit wir vor Ypern nicht fielen.
        Man hat unsern Körper und hat unsern Geist
        ein wenig zu wenig gekräftigt.
        Man hat uns zu lange, zu früh und zumeist
        in der Weltgeschichte beschäftigt!
        Die Alten behaupten, es würde nun Zeit
        für uns zum Säen und Ernten.
        Noch einen Moment. Bald sind wir bereit.
        Noch einen Moment. Bald ist es soweit!
        Dann zeigen wir euch, was wir lernten!

Hymnus an die Zeit.

Die Weltgeschichte, in der wir beschäftigt wurden, hat uns jahrelang übertönt: Krieg und Revolution haben wir schweigend miterlebt, die schlechten Kriegsgedichte wurden im Hinterland geschrieben, die schlechten Revolutionsgedichte waren das erste Gestammel einer verzweifelten Hoffnung, was galten damals Gedichte, da wir die Welt umformen wollten! Dann aber, als die Weltgeschichte uns beurlaubte, hatten wir lange nicht den Mut zu unserer Zerstörtheit, zu unserem Wesen und unserem Schicksal. Bis dieser Erich Kästner sein erstes Gedichtbuch herausgab: Herz auf Taille, angefüllt mit der wilden Traurigkeit, der bitteren Erkenntnis, der ironischen Leidenschaft unseres Lebens. Wir waren tausendfältig bereit, zu lieben, anzuerkennen, uns zu begeistern – aber wie war die Welt, für die wir Gut und Blut und unsere ganze Jugend gegeben hatten? Hymnus an die Zeit? Soweit wir vor Ypern nicht fielen, grüßen wir diese Zeit:

            Wem Gott ein Amt gibt, raubt er den Verstand.
                In Geist ist kein Geschäft. Macht Ausverkauf!
                Nehmt euern Kopf und haut ihn an die Wand!
                Wenn dort kein Platz ist, setzt ihn wieder auf!
                Macht einen Buckel, denn die Welt ist rund!
                Wir wollen leise miteinander sprechen:
                Das Beste ist totaler Knochenschwund.
                Das Rückgrat gilt moralisch als Verbrechen.

Noch einen Moment! Bald ist es so weit! Dann zeigen wir euch, was wir lernten! Euch ins Gesicht zu sehn, ihr Verdiener an jeder Konjunktur, ihr Händler mit jeder Ware, mit Eisen und Menschenmaterial, mit Aktien und Idealismus, euch in die Schnauze zu gucken, anstatt mit den Puppen zu spielen, die ihr uns für Brot und Freiheit gebt! Zeitgenossen haufenweise:

Es ist nicht leicht, sie ohne Haß zu schildern,
und ganz unmöglich geht es ohne Hohn.
Sie haben Köpfe wie auf Abziehbildern
Und, wo das Herz sein müßte, Telephon…
In ihren Händen wird aus allem Ware.
In ihren Seelen brennt elektrisch Licht.
Sie messen auch das Unberechenbare.
Was sich nicht zählen läßt, das gibt es nicht.
Sie haben am Gehirn enorme Schwielen,
fast als benutzten sie es als Gesäß.
Sie werden rot, wenn sie mit Kindern spielen.
Die Liebe treiben sie programmgemäß.

Einmal kommt auch eure Zeit!

Ja, dieser Erich Kästner ist kein Lyriker für die braven Bürger,d ie Lyrik soll sich mit edlen und idealen Dingen beschäftigen, mit Dingen also, die in der Bürgerwelt keinen rechten Platz haben; solche Gedichte wird man loben und sie keinesfalls lesen (mit Recht), sondern höchstens die Jugend damit belästigen, damit sie auch was Höheres kennenlernt als den Betrieb des rationalisierten Kapitalismus. So sind die Lyriker bei der Jugend in Verruf geraten (mit Recht!), aber die Gedichte des Erich Kästner, diese „unmoralischen, zynischen, poesielosen“, diese wahrhaften, aufregenden, befreienden Gedichte soll jeder, jeder, jeder junge Mensch lesen! Herz auf Taille und Lärm im Spiegel heißen die Gedichtbände; euch alle gehen sie an! Die Proletarierkinder: „Weihnachtslied, chemisch gereinigt!

Morgen, Kinder, wird’s nichts geben!
Nur wer hat, kriegt noch geschenkt.
Mutter schenkte euch das Leben.
Das genügt, wenn man’s bedenkt.
Einmal kommt auch eure Zeit.
Morgen ist’s noch nicht so weit.
Die Stenotypistinnen: Chor der Fräuleins“:
            Wir hämmern auf die Schreibmaschinen.
                Das ist genau, als spielten wir Klavier.
                Wer Geld besitzt, braucht keines mehr verdienen.
                Wir haben kein’s. Drum hämmern wir.

Und wir alle, die wir uns nicht vormachen lassen, daß wir „Sonne im Herzen“ haben und Idealtypen der Menschheit sind (Type I A, in Serie hergestellt):

            Man kann sich selber manchmal gar nicht leiden
                und möchte sich vor Wut den Rücken drehn.
                Wer will, ob das berechtigt ist, entscheiden?
                Doch wer sich kennt, der wird mich schon verstehn.

            Kameraden, zu euch spreche ich!

            Junge Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts, ihr glaubt mit Unrecht, daß Lyriker unbedingt langweilige Leute sind. „Es gibt wieder Verse, bei denen auc der literarisch unverdorbene Mensch Herzklopfen kriegt oder froh in die leere Stube lächelt. Es gibt wieder Lyriker, die wie natürliche Menschen empfinden und die Empfindungen (und Ansichten und Wünsche) in Stellvertretung ausdrücken.“ Ja, dieser Erich Kästner hat recht; er spricht in Stellvertretung von hunderttausend jungen Menschen der Großstadt, tönende Stimme aus den Massengräbern der großen Zeit. In Stellvertretung von Millionen aber, eingesargt in den Massengräbern der kapitalistischen Industrie, spricht ein Fünfundzwanzigjähriger, Walter Bauer, der größte Arbeiterdichter Deutschlands (und daher kaum bekannt!). Dieser Walter Bauer war Arbeiter in den Leunawerken, aus dem Inferno hat er Gedichte geschöpft, die unvergleichlich sind. Ein schmales Gedichtbuch, „Kameraden, zu euch spreche ich!“, unbeachtet von der Öffentlichkeit, übertönt vom Lärm der Tagessensationen. Und doch ist dieses Buch zu kennen Glück und Erschütterung. Da wird nicht getrommelt, nicht posaunt, nicht pathetisch herumgeredet, da klirrt keine Phrase, dröhnt kein Schlagwort, reimt sich nicht ‚rot‘ auf ‚Tod‘, da ist nichts als die schlichte, unaufgeregte, namenlose Wahrheit des Proletarierschicksals: Für die Gestorbenen der Leunawerke!

            Laßt die Musik beiseite,
                weg mit Reden, Literatur, Violinspiel, Gebet,
                                                               was soll das hier?
                Wir!
                Aus unseren Sachen dampft der Ammoniak-
                                               geruch der Schufterer,
                aus unseren Blicken fällt die Müdigkeit der
                                               Nachtschichten.
                Alle!
                Und aus uns strahlt unaufgefordert un-
Ausgesprochene,
                nie bekannte brüderliche Liebe…
                …wir verbergen
                eure Leiden nicht, wir schreien sie nicht, wir
                                               sprechen sie aus,
                seid ihr glücklicher jetzt? Ihr schweigt? Vielleicht,
                                               vielleicht seid ihr glücklicher als wir.

Hier ist ein Frühling von grünem Gas!

            Wir verbergen eure Leiden nicht, wir schreien sie nicht, wir sprechen sie aus. Dieses Aussprechen, ruhig, einfach, aus der Tiefe des Lebens (Laßt die Musik beiseite, weg mit Reden, Literatur!), das ist die bezwingende Kunst dieses Leunawerk-Arbeiters. Mensch im Maschineninferno:

            …hier blüht ein Frühling ohne Baum und
Vogellaut,
                hier ist ein Frühling von grünem Gras…
                …Eingepreßt zwischen Benzinwäschern, Silos,
                                                               Windhitzern,
                erhebt sich der Ruf, verborgen in der Welt,
                im Bau siebenhundert, laßt,
                               laßt mich zu Wort kommen!

Unter dem traurigen Himmel des Krieges.

            Als dieser Mensch, dieser Arbeiterdichter, Walter Bauer, wenigen nur bekannt, unerhörte Gedichte formend, die niemand drucken will, als dieser Mensch ein Kind war, starb sein Vater, starb sein Bruder im Kriege.

In der zweiten Stunde schrieben wir einen
Klassenaufsatz,
                und ich schrieb ihn zum Teil von meinem Kame-
                               raden ab,
                dem ich in Mathematik half.
                In der zweiten Stunde lag mein Bruder da und
                               Schrie,
                immer…
            Und die Mutter („Du Gute, graue
            Geliebte!“) ging über Land zu den Bauern, um Brot und Kartoffeln zu hamstern und ein paar Pflaumen.
            Aber abends. Mutter, ging ich dir immer weit
übers Feld entgegen auf der langen Straße, da
                                               brannten
schon Lichter, und Wagen kamen von den Feldern
                                               wollten heim,
und die im langen Kriegsjahr geschwächten
                                               übriggebliebenen
Gäule bliesen Dampf des Herbstes durch die
Nüstern.
Dann ging ich vor den Häusern schneller,
                                               Mutter, weil
es dunkel war und ich allein, dann lief ich dir
                                                entgegen,
schnell wie heim, und sieh, da warst du, sieh, ich
                                               fiel
dir so entgegen, schneller war mein Herz, und
                                               unter
dem traurigen Himmel des Krieges küßte ich dich
und sah, ob du im Korb auch ein paar Pflaumen
                                               hattest.

  • über Jahrhunderte hinweg!

Kindheit „unter dem traurigen Himmel des Kriegs“, Jugend, in der traurigen Hölle der Fabrik. Und eingepreßt zwischen Benzinwäschern, Silos, Windhitzern, schreibt der Arbeiter seiner Freundin:

            Dein Herz ist grün wie die Gärten, die grünen,
                in denen Amseln und solche Vögel singen,
deren Namen ich nicht weiß,
denn ich bin Arbeiter im Kraftwerk.
Bäume sind, schreibst du mir, auch da und
Sinken grün ins Erinn’rungsherz.
Ach, wie lange ist’s, daß ich Rauschen von Bäumen
nicht gehört, solchen besonderen Gärten, in denen
du groß geworden bist. Du sagst,
Blumen sind da, noch immer,
noch, wenn wir den Mars kolonisieren, werden
einige da sein. Ihre Namen
weiß ich nicht, im Kraftwerk ist nur Platz für
zweckmäßige Dinge.
Ich bin ein völlig anderer als du,
anders klingt als in Gärten auf Asphaltstraßen
                                die Stimme der Welt.
Blumen und Gräser.
In den Städten hörten wir, daß es Blumen gäbe.
Wir erinnern uns ihrer noch, denn
wir lernten, dies sei
Schafgarbe, dies Rittersporn und
das Rot Mohn zwischen Feldern.
Unsere Kinder werden das nicht wissen,
die letzten wird man in Museen halten
in Erde, und einmal
wird eine Zeit kommen, da man die Namen
der Bäume nicht kennt, wird nur sagen: der
                                Baum –
wird nur wissen: die Blume –
wird nur lächeln und es lustig empfinden,
aber ich sage, ich sage es dir
über Jahrhunderte hinweg.

            Stimme des Menschen in dieser rationalisierten, mechanisierten, atemlosen Welt des Kapitalismus, angstvoll, beschwörend, schonungslos. Der Proletarier im Leunawerk und der Intellektuelle in Berlin, Walter Bauer und Erich Kästner, Kinder der Maschinenzeit, Rebellen gegen sie, Dichter unserer Jugend, unserer Wahrheit, unseres Lebens! Laßt sie zu Wort kommen in euren Herzen, ihr jungen Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts.

In: Arbeiter-Zeitung, 8.7.1930, S. 5.

Jakob Fingermann: Die Jüngsten. Bemerkungen zur neuen deutschen Moderne (1919)

In den Achtzigerjahren des verflossenen Jahrhunderts kommt ein kleiner Kaufmann aus dem Osten nach Berlin. Er hat wenig Geld, aber desto mehr Spürsinn und den glühenden Wunsch, Berlin zu erobern. Er versucht sich in verschiedenen Geschäften, die mißlingen, bis ihm eines Tages die entscheidende Idee aufblitzt. Er mietet ein schmales Lädchen und ein bescheidenes Schild kündet die Etablierung des Verlages S. Fischer an. Einige junge Dichter, die eben ihren Sturmlauf gegen die alten Literaturgötzen begonnen haben und denen die alten, wohlfundierten Verlagsanstalten ihre Pforten verschließen, finden in dem kleinen, unscheinbaren Mann einen kühnen, jede Erfolgsmöglichkeit behend ausnützenden Verleger, der bei alledem für ihre Menschlichkeiten ein humor- und hilfswilliges Verständnis zeigt. Die Stürmer und Dränger von 1890, um nur einige aus der großen Schar zu nennen, Hauptmann, Dehmel, Bahr, Wassermann, Hofmannsthal und die Brüder Mann. Es sind die heute Fünfzigjährigen, die neuen Klassiker der deutschen Literatur, die Erfüllung einer Epoche, die mit dem Weltkriege abschließt.

                                                           *

Neunzehnhundertneunzehn – der […] meiner Männer setzt an. Ein besiegtes Land zeigt sich geistiger Gärung voll. Aus den Ruinen zusammenbrechender Weltanschauungen, aus den Kratern sozialer Umwälzungen sprießt in schillernder Üppigkeit eine neue Moderne und kündet sich die Fanfarentönen an: „Wir sind!“ Wieder ist es S. Fischer, der die Jüngsten unter seine Fittiche nimmt. Diesmal heißen sie: Johannes R. Becher, Georg Kaiser, Adolf von Hatzfeld, Emil Alphons Rheinhardt, Ernst Toller, Paul Kornfeld, Ludwig Meidner, Gottfried Köhwel, Kurt Heynicke – eine lange Liste, die sich fortsetzen ließe. Ein Trommelfeuer von Lyrikbänden, Dramen und Novellenbänden überschwemmt den Büchermarkt und zwingt zur Stellungnahme.

Thomas Mann, einer der feinsten Köpfe des schöpferischen Deutschland, hat jüngst in einer dänischen Zeitung mit einem gewissen Pessimismus von der Zukunft der deutschen Dichtung gesprochen. Alfred Kerr hingegen sieht in ihr den Aufstieg und die Erfüllung. Er erwartet sich von ihr das Glühende und Ewige und begeistert sich an ihrem Aktivismus. Meinung wider Meinung zweier Persönlichkeiten, deren Blick vielleicht tiefer als der unsere sieht; aber die Frage, ob hier neue Kräfte zu walten beginnen oder nur Erscheinungen des Tages am Werke sind, bleibt dennoch offen.

                                                                       *

Zur rechten Zeit erscheint ein Sammelbuch des neuen Kreises[*], welches charakteristische, bisher noch unveröffentlichte Arbeiten enthält. Wenn man es gelesen hat, ist man leicht geneigt, mit einem harten Urteil abzuschließen, sich selbst zu mißtrauen, sich zu sagen; daß doch etwas daran sein müsse, nochmals zu lesen, um wiederum unbefriedigt, sich selbst zürnend, dem Gedanken Raum zu geben: Diese sind die Rechten nicht! Sie gehen mit der Zeit und deren Schlagworte liegen auf ihren Lippen. Ihre Zungen sprechen: „Brüder!“ ihre Worte malen das Grauen, aber die große Liebe, die sie künden, ist nicht in ihnen. Je mehr sie mit Gefühlen hantieren, je tiefer sie in den Wunden der Menschheit wühlen, je heftiger ihr Schrei Liebe, Erbarmen, Beglückung fordert, ein umso kälterer Hauch strahlt von ihnen aus. Etwas Dumpfes und Unwahres ist in ihnen, ein Lallen Erdgebundener, denen der Flug in die erlösende Unendlichkeit versagt bleibt.

                                                                       *

Gefühlsüberschwang rührt oft von innerer Verarmung her. Ihnen allen ist dieses Stigma aufgedrückt. Einer verarmten Zeit Ersatzdichter. Sie bauen Wortphalanxe zum Sturm, wühlen in absurden Bildern, häufen rhetorischen Schwall, zeigen ihre Muskeln gleich Athleten, sind kühn, erfahren, altersweise und jugendwild, so und so, in allen Sätteln gerecht, ein Bräu von Schiller, Büchner und Wedekind und doch wieder anders. Sie haben die Literaturen abgegrast, die Franzosen und Russen schlecht verdaut und geben ihre Überflüsssigkeiten mit vulkanischem Getöse von sich.

Die neue deutsche Literatur? Man möchte es, der großen Vergangenheit eingedenk, verneinen. Übergangsprodukte…

In: Wiener Morgenzeitung, 4.5.1919, S. 2.


[*] „Die Erhebung“, Jahrbuch für neue Dichtung und Wertung, herausgegeben von Alfred Wolfenstein, Verlag S. Fischer, Berlin.

Emil Arnold-Holm: Moderne österreichische Lyrik [Mitterer, Zernatto] (1931)

Die österreichische Literatur erlebt jetzt in den Alpenländern eine wahrhafte Renaissance. Die neueste Erscheinung ist Guido Zernatto, ein junger Dichter, der für seinen ersten Gedichtband bereits einen Literaturpreis erhielt, eine Billinger verwandte Erscheinung. Er hat jetzt im Verlag Wolfgang Jeß, Dresden, einen neuen Gedichtband Gelobt sei alle Kreatur herausgegeben. Man liest und staunt, wieviel schöpferische Kraft es in unserer als so wenig schöpferisch verschrienen Zeit noch gibt, man wird gepackt von der Ursprünglichkeit dieser dichterischen Begabung, von all dem Großen und Schönen, das auf uns einströmt. In Zernattos Gedichten rauscht und braust die Natur, singt alle Kreatur mit zum Herzen dringenden Tönen ihr Lied der Lust und des Leides. Hier ist wieder einmal ein Dichter, fern allen Schlagworten und Modeströmungen, zeitlos und über den Wandel der Stile erhaben, wie die Natur zeitlos und über alles erhaben ist. Welche Naivität und Wärme des Empfindens und wie meisterlich beherrscht ist der lyrische Ausdruck des Empfindens! Zernatto hat den scharfen Blick eines Jägers für die Natur und die weiche Seele eines Dichters. Da sind die Gedichte „Kälbern“, „Herr und Hund“, „Brief einer Schwangeren“, „Am Mais, am Roggen, am Kleefeld vorbei“, „Märzsturm“, „Heimfahrt in den Abend“, „Wenn ich mich nachts von meinem Lager hebe“, „Das Kind“, „Totenklare“, von denen ich „Märzsturm“ zur Probe anführe:

            Jetzt hänget alle Fenster aus,
            jetzt laßt den Märzsturm in das Haus
            und atmet tief! Wie jungen Wein
            trink‘ ihn, wer kann, in sich hinein.
            Die Kinder weinen jetzt im Traum,
            die Alten aber spürens kaum;
            die Kranken sehen fürchterlich
            das Leben und den Tod vor sich.
            Die Weiber stehen auf und geh’n
            jetzt hin und her. Sie bleiben steh’n.
            Das Herz schlägt ihnen viel zu laut,
            wer heute kommt, zahlt keine Maut.
            Heut ist der Märzsturm aufgewacht,
            heut‘ weht das Leben durch die Nacht.
            O hänget alle Fenster aus:
            Das Leben kommt! Laßt es ins Haus!

            Zernatto hat sich mit seinem ersten Gedichtbändchen in die Reihe der großen österreichischen Lyriker gestellt. Es ist etwas in seinen Dichtungen, das unsere Liebe erweckt und ihnen Ewigkeitswert verleiht.

            Erika Mitterer, die fünfundzwanzigjährige Wiener Dichterin, hat durch ihren ersten Gedichtband Der heilige Tag bereits Aufsehen erregt. Nun ist jetzt wieder ein Gedichtband von ihr erschienen: Dank des Lebens (Verlag Rütten &Loening, Frankfurt am Main). Erika Mitterers Dichtungen sind nicht Frauenlyrik im traditionellen Sinne des Wortes. Weiblich im Gefühl, ist sie in ihrem strengen Willen zur Form gänzlich unfeminin. Sie hat etwas von männlicher Strenge und männlicher Zucht. Sie erinnert – ein wenig allzusehr – an Rilke, an den späten, hymnischen Rilke der „Sonette des Orpheus“. Hoffentlich emanzipiert sie sich von ihrem großen Vorbild und findet den Weg zu einer eigenen Form. Denn Erika Mitterer ist eine ungewöhnliche Begabung. Sie erweckt große Hoffnungen und gibt auch schon große Erfüllungen. Tiefe und Leidenschaft des Empfindens finden bei ihr Ausdruck in Versen, die voll reifer Formkultur sind. Eine hingebungsvolle Frauenseele singt und wir lauschen gern dem holden Klang dieser Stimme. Eine tief und schmerzlich erlebte Liebe ist das Thema ihrer meisten Dichtungen, von denen wir zur Probe das folgende reizende Gedicht anführen:

                        Sei nicht müde, mein Kind,
                        weil ich nicht bin.
                        Es kommt ja der Wind
                        noch zu dir hin.
                        Er bringt dir Fühlung mit
                        von allen Fernen;
                        vom Herzen reicht sein Schritt
                        bis zu den Sternen.
                        Sei nicht müde, mein Kind,
                        ich war dir zu nah.
                        Sieh, ich bin im Wind
                        immer da.

In: Neues Wiener Journal, 5.9.1931, S. 6.