Edwin Rollett: Der Heimatdichter und sein Erfolg. Zu J. C. Heers 70. Geburtstag (1929)
Eine Betrachtung der schriftstellerischen Persönlichkeit J. C. Heers rollt zweierlei Probleme auf. – Und jede Betrachtung eines nicht in der ersten Reihe der Literatur stehenden Schriftstellers vier Jahre nach seinem Tod kann, wenn sie nicht rein philosophisch ist, nur durch die Bedeutung der an ihn gebundenen und in ihm ausgedrückten allgemeinen Fragen und Probleme gerechtfertigt werden, ja wird wohl geradezu nur durch sie veranlaßt und um ihretwillen angestellt. – Sich mit J.C. Heer beschäftigen, heißt mit anderen Worten die Frage der Heimatliteratur aufwerfen, Sinn, Grund, Bedeutung von Stoff, Gegenstand, Hintergrund und Milieu des Romans beleuchten, es heißt aber auch, und das kaum weniger, der Psychologie des Erfolges der schriftstellerischen Publikumswirkung, dem Magnetismus des Romans nachzuspüren, wobei gleich gesagt sein soll, daß zwischen diesen beiden Fragen ein gewisser Zusammenhang besteht.
Es ist ein Ästhetenmärchen, ein ausgesprochener Aberglaube, daß der Gegenstand des Romans Nebensache ist. Gewiß kann eine geniale Künstlerhand jeden ihr gemäßen Stoff zum Gegenstand formen, kann auf der Entdeckungsfahrt in die Füße des Lebens Gebiete entdecken, deren Vorhandensein bisher als belanglos ignoriert wurde. Das Findergenie des großen Erzählers fährt ja mit jedem wirklich künstlerischen Roman derart die Columbus-Reise über den westlichen Ozean nach Ostindien und erschließt einen neuen Erdteil. Was neben den Genialen und nach ihnen segelt, das lebt aber nicht durch die Tatsache der Entdeckung, sondern von den gewonnenen Kolonialprodukten, nicht durch die Genialität der erstmaligen Tat, sondern durch die Tüchtigkeit der Verwertung des Gefundenen.
Columbusnaturen waren, um auf dem Gebiet der Heimatkunst zu bleiben, unbedingt etwa die Geschwister Brentano, das war im anderen Sinn Fritz Reute, war auch Rosegger, der anfangs seine Entdeckung nicht einmal einzugestehen wagte, und seinen Waldschulmeister irgend wohin nach Tirol verlegte, weil ihm seine Fischbacher Alpen und Mürztaler Berge zu unansehnlich, zu unbekannt erschienen, und er meinte, einen populären Namen als Vorspann benützen zu müssen. Columbusnaturen waren in der Schweiz ganz besonders Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller, der Berner Bauer und der Züricher Bürger, die jeder selbst Ergebnis und Träger der Kräfte ihrer schweizerischen Heimat, mit dem Selbstbewußtsein der Söhne eines jahrhundertelang republikanischen Stammes, dessen Eigenart ohne Beschönigung und ohne Beschränkung einbekannten, darstellten, künstlerisch ausformten, so kräftig und überwältigend, daß Schweizertum und Schweizer Volk literarische Mode wurden.
Auf solchen Fundamenten baute die Schweizer Heimatkunst am Jahrhundertende weiter, begünstigt durch den realistisch naturalistischen Zug, der zu jener Zeit die gesamte europäische Literatur beherrschte und allenthalben dazu verleitete, gewissenhafte Ortsangaben und Zeitbestimmungen durch detaillierte, spezialisierte Schilderung, durch Nachzeichnung wohlbekannter und vertrauter Charaktere zu ergänzen, begünstigt endlich durch die geläufig gewordene Popularität Kellers, begünstigt endlich durch den zunehmenden Fremdenverkehr, der jeden schweizerischen Heimatroman für so viele nicht nur zu einer durch die dargestellten Ereignisse, Schicksale und Stimmungen anregenden, sondern durch Landschaft und Milieu an Sommerfrische, Bergpartie und Erholung erinnernden, also von vornherein angenehm und willkommenen Lektüre machte, weil es sich darin doch um die bekannten Schweizer Berge und Schweizer Herzen handelt.
So ungefähr stellte sich die literarische Konjunkturlage dar, als der Winterthurer Bauernsohn, spätere Volksschullehrer und damalige Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung mit seinem Erstling hervortrat, und was an Material, an Elementen und Ingredienzien zu einem guten Heimatroman nötig ist, das war in // diesen „Heiligen Wassern“ schon reichlich enthalten: das Bauerntum mit echtem Erdgeruch bieder (manchmal bis zur Borniertheit), fromm (oft bis zum Aberglauben), naturhaft (selbst bis zur Unmenschlichkeit) und bodenständig (bis zur erbitterten Feindschaft gegen Besserung des Lebens). Dieses Bauerntum wurzelt ausschließlich und unausreißbar angeklammert in seinem Boden, auch wenn er furchtbar mit ihm umgeht, auch wenn die Heimat zum Fluch wird und ihre Kinder einem Blutbann unterwirft, wie der, der dem Dorf Sankt Peter, hoch oben an der Gletschergrenze, von Zeit zu Zeit immer wieder ein oder ein paar Menschenopfer abfordert, ähnlich dem Lindwurm, der den Städten der Sage solchen Tribut auferlegt hatte. Das Bauerntum der Berge also mit all seinen Mühsalen und Schwierigkeiten ist sozusagen das Rückgrat seiner Romane, jenes harte Bauerntum, das im Sommerfrischler ein so wohltuendes Gruseln erzeugen kann. Daneben Landschaft, sehr viel Landschaft. Darin war Heer ja seit jeher groß, man kann sagen, als Meister vom Himmel gefallen. Durch seine Fähigkeit, eine Landschaft in ihrer Eigenart, ihrem Reiz, ihrem speziellen Charakter zu erfassen und das Erfaßte in Worten festzuhalten, hatte er zu allererst auf sich aufmerksam gemacht. Als der Reisende in den Adriagegenden und als Schilderer von Ballonfahrten und den dort gewonnenen Eindrücken, als der Beschreiber der Landschaft aus der Vogelschau war er bekannt geworden. Das alles ist mit großer Solidität und ausgesprochener Tüchtigkeit, ohne Extravaganz, allerdings auch ohne besonderen Schwung in diesen Roman gegeben und schließlich fehlt auch noch der Fremdenverkehr nicht, der Schutzpatron der ganzen schriftstellerischen Richtung, der dem Alpental sogar gegen dessen Wunsch neue, frische Impulse und endlich doch eine Lebensverbesserung zuführt.
Es ist wie ein Rezept, wonach der erste, wonach aber auch so ziemlich alle anderen seiner Romane gebaut sind, selbst sein nachdrücklichster Erfolg Joggeli und sein ausgebreitetster Der Wetterwart. Das Handwerkliche steht im Vordergrund und auch damit ist Heer der typische Vertreter der ganzen Heimatdichter.
Nicht nur ihrer Abstammung nach, die sich ja von bahnbrechenden Genialitäten herleitet, sondern ebenso in ihrer Wirkung ist diese Heimatskunst aber eine gute, löbliche und gesunde Erscheinung, mag sie auch oft in allzu weitgehender Überschätzung des Stoffes diesen zum Selbstzweck erheben und schwelgerisch in ihm verweilen, mag sie auch mitunter das persönliche Interesse des Autors und das erhoffte des Lesers durch übertriebenes Entgegenkommen auszeichnen. Eine gewisse, wenn auch beschränkte Garantie gegen die Gefahr allzu papierenen Literatentums liegt doch in ihr. Hie Kaffeehaus – hie Sommerwohnung! So stellt sich der literarische Antagonismus von Stadt und Land, genauer besehen, dar, so kann man (auch heute noch) das deutsche Schrifttum halbieren, soweit nicht die ganze dünne Schicht in Frage steht, die wirklich Kunst zu schaffen vermag. Und es ist eine Angelegenheit des Geschmacks, nach welcher Seite man sich schlagen will.
Das deutsche Lesepublikum hat seine Entscheidung getroffen: die psychologische Konstruktion der Kaffeehausliteratur bucht manchen Sensationserfolg für sich. Sie lockt mit den Mitteln des Unbekannten, des Seltsamen, des Pathologischen, des Abenteuers, das sich freilich hier meist nicht in geographisch, viel mehr in psychologisch und sozial fremden Regionen vollzieht. Diese Fremde übt gewiß ihre Anziehungskraft. Aber dauerhafter, solider ist jener andere Magnetismus, der von der Assoziation des Bekannten und Geläufigen, vom Wiederfinden eigener Stimmungen und Empfindungen ausgelöst wird. Er beherrscht jene sehr breite Sphäre, in der nicht der abenteuerliche Reiz (allerdings auch nicht die Adelung und Selbsterneuerung durch wahrhafte Kunst), sondern die gegenständige Solidität, die Bürgerlichkeit maßgebend sind. Dieser weit ausgedehnte Kreis des deutschen Bürgerhauses sucht sich die zu ihm passenden Bücher.
Es ist Gebrauchsliteratur, die da gefordert wird, so wie man von Gebrauchslyrik oder Gebrauchsmusik spricht, eine Literatur, die alle Kultur-,// Sozial- und Religionsprobleme nicht in ihrer voller Wucht und Größe erfaßt, sondern in den Regionen des Unterhaltungsbedürfnisses verharren bleibt, die, soweit es sich um Heimatdichtung handelt, einer im Grunde genommen intellektualistischen Neigung huldigt, nach welcher sich die Wechselbeziehungen zwischen Volk und Kunst nicht als ein gewiß beschränkter, aber natürlicher Widerhall eines machtvollen Klanges in mehr oder minder taubem Gestein vollziehen, nicht als das Spiegelbild eines Gipfels im See darstellen (wie es bei Keller war), einer Neigung vielmehr, die meint, über eine hier und dort auf der halben Höhe des Entgegenkommens gespannte Konzessionsbrücke den Wechselverkehr bequem vollziehen zu können. Es ist der Standpunkt, des Sommerfrischlers, des unbeteiligten zufriedenen Beschauers, der hier ganz augenscheinlich dominiert.
Dieses deutsche Bürgerhaus aber beherrscht als der Hauptkäufer den Markt, trägt das Buch, macht seinen Erfolg und bestimmt das Geschäft von Autor und Verleger. Würde denn das Trommelfeuer der Verlagsprospekte, Annoncen und Affichen, würde der Ertrag der glänzenden Abonnentenspekulation, die sich Buchgemeinschaften nennt, würde die nahezu undurchdringliche, sicher unausrottbare Organisation der Freundschafts- und Gefälligkeitskritik auch nur halb den Umfang haben, wenn es anders wäre?
Nicht das Buch als geistige Kraft und geistige Macht ist dabei zu betrachten, sondern das Buch in seiner kaufmännischen Realität, als Ware, deren Werk sich ausschließlich nach der Nachfrage, also nach einer, nicht durch die absoluten Maße der Idee, sondern durch das höchst subjektive Element der Bequemlichkeit bestimmten Skala richtet.
Das Bedürfnis der Käufer bestimmt die Art der Ware, Das leicht faßliche mußte über das ideentiefe Werk triumphieren, das bequem zugängliche über jedes eigenartige und originelle, das nur anschauliche über das symbolische und gedankenstarke, das stofflich reiche über das gegenständlich hochwertige. Dabei ist ein gewisser nicht zu reichlicher ideeller Gehalt als Gewürz höchst willkommen. Zu viel Gewürz aber verdirbt den Braten. Ohne Theatralik der Aufmachung geht es auch nicht ab. Sie muß das ideelle Rückgrat vortäuschen, wo es fehlt, oder die Idylle so lange verkünden, bis sie geglaubt wird. Rein künstlerische Fragen treten in den Hintergrund. Die Gestaltung des lebendigen Sprachorganismus wird unwesentlich verglichen mit dem Gegenstand, der aus leicht zu bearbeitendem Sprachmaterial geformt wird. Daß auch die Literatur eine bildende Kunst sein muß, ist in Vergessenheit geraten.
Mit der Bevorzugung des. Gegenstandes. Hängt aber auch eine andere Erscheinung eng zusammen, die fast erfreulich scheinen möchte und als ein Zeichen der Gesundheit gelten darf: unter all den Büchern, die sich deutsche Heimatliteratur nennen, ist nicht ein einziges, das im Sinne bürgerlicher Sittlichkeit anstößig, das seiner Tendenz nach nicht gut zu heißen wäre. Mag man auch feinen menschlichen Wert noch so sehr in Zweifel ziehen, irgendwo glimmt in jedem Heimatdichter ein Funken echten Idealismus.‘
Nach all diesen Seiten hin kann I. C. Heer als Typus und Vertreter einer ganzen Richtung gelten, als der Dichter der deutschen Bürgerfamilie mit höheren Ambitionen. Das ist vom Standpunkt höchster Kunstkritik aus gesehen nicht eben viel. Das ist aber um so mehr, betrachtet man die Funktion des geschriebenen und gedruckten Wortes im Lebensganzen einer breiten Volksschichte. Es ist im wesentlichen eine Lehreraufgabe, die zu bewältigen ist, um so schwieriger, als sie von den Belehrten nie bemerkt werden darf, auch undankbar, insofern kein ideeller Erfolg sichtbar wird. Es ist die Kleinarbeit des Zwischenhändlers der Kunst, der, in der Mitte des Weges vom Genie zum Banausen stehend, jedem, der beiden die Hand reichen möchte, ein Volksbildneramt, wie so viele andere, nur daß dabei etwas mehr Ertrag abfällt, bei dem es gar sehr auf die Menge des Gebotenen und die Menge der Aufnehmenden ankommt, damit nur irgend etwas vom Guten hängen bleibt.
In: Wiener Zeitung, 18.7. 1929, S. 1-3.
Friedrich Austerlitz: Ein Tag gewaltigsten Umsturzes
Welch ein Tag! In seinem Rahmen drängen sich Ereignisse zusammen, die wie Flammenzeichen aufsteigen und der ganzen Erde das Ende Österreichs verkünden. Das endgültige, furchtbare, schreckliche Ende!
Am Piave ist der Widerstand der österreichisch-ungarischen Armee zusammengebrochen und so hat sie um den Waffenstillstand gebeten. Mittwoch früh 1 hat das Armeeoberkommando zu der italienischen Heeresverwaltung einen Parlamentär geschickt. Die Italiener haben die Verhandlungen zuerst abgelehnt […] Der Sieg der Feinde ist vollendet; es gibt keine Gegenwehr mehr in Österreich, weil es kein Österreich mehr gibt. Es war von den schwarz-gelben Patrioten doch recht voreilig auf das „Österreich der Front“ stolz und rühmend hinzuweisen. Würdig an den Zusammen-//bruch des Landheeres reiht sich die Auflösung der Kriegsmarine an: Die österreichisch-ungarische Kriegsflotte besteht seit heute nicht mehr. Sie wird einfach dem kroatischen Nationalrat übergeben, der auch sofort seine Flagge hissen kann. Die Mannschaften können, wenn sie nicht Südslaven sind, nach Hause gehen; aber der ganze Stab kann auch bei dem Nationalrat Dienst nehmen. Die Übergabe wird mit der Stimmung der südslavischen Mannschaften folgendermaßen begründet: „Die Erklärung der Trennung Ungarns von Österreich, dann die Erklärungen des tschechischen und südslavischen Nationalrates konnten nicht ohne Einwirkung auf die Mannschaften der Kriegsmarine bleiben. Die Rückberufung der Mannschaften durch die Nationalräte hätte derart auflösend gewirkt, daß blutige Zusammenstöße zwischen den einzelnen Nationalitäten nicht unwahrscheinlich würden und die Flotte dadurch wehrlos gemacht, dem Feinde zum Opfer gefallen wäre. Dem vorzubeugen und das wertvolle Material der Kriegsmarine den Nationalstaaten Österreich-Ungarns zu erhalten, entschloß man sich zu dem bekannten Schritte, als dem einzig richtigen in dieser schwierigen Lage.“ Die Behörden haben bei der Übergabe das Eigentumsrecht der „nichtsüdslavischen Nationen“ geltend zu machen und sich die seinerzeitige „Ablösung“ vorzubehalten. Protokollarisch vorzubehalten! […] Triest ist von der amerikanischen Flotte besetzt worden, und das ist schon ein Trost: Man nimmt an, daß die Amerikaner die Stadt besetzt haben, damit die Italiener nicht kommen und sie gleich endgültig in Besitz nehmen, damit also ihr weiteres Schicksal noch eine offene Frage bleibe. Und um das militärische Ungemach voll zu erleiden: Fiume ist von der italienischen Flotte besetzt und in Laibach sind englische Truppen eingezogen
Während sich in Österreich die Auflösung des Nationalitätenstaates und die Gründung der Nationalstaaten in disziplinierten Formen vollzieht, obwohl die tiefe Gärung im gesamten Volkskörper unverkennbar ist, war Budapest von Mittwoch abend an der Schauplatz von Vorgängen revolutionärster Art, die damit endigten, daß die gesamte bürgerliche und militärische Gewalt in die Hände des Nationalrates fiel. Die unmittelbare Folge war, daß die Mission des Grafen Hadik aufgegeben und Graf Michael Karoly mit der Kabinettsbildung betraut wurde. Daß nur Karoly, der Demokrat und Pazifist, fähig sei, die Dinge zu meistern, war schon längst klar; warum man sich also weigerte, ihn zu ernennen, ist nicht zu begreifen. In Karolys Regierung treten zwei Sozialdemokraten ein: die Genossen Garami und Kunfi auch das zeigt den gewaltigen Wandel an, der sich in so wenigen Tagen vollzogen hat. Dazwischen fällt als aufrüttelndes Ereignis die Ermordung des Grafen Stephan Tisza, den auf einem Spaziergang Soldaten erschossen haben. In dem Attentat hat sich offenkundig die Verbitterung der Soldaten gegen den Mann entladen, der an dem Ausbruch des Krieges so große Schuld trägt. Die neue Regierung hat ernste Aufrufe erlassen, in denen sie zur Ruhe und Ordnung mahnt.
In guten Bahnen bewegt sich die Bildung der neuen Regierung in Deutschösterreichs. Sie ist nun vollendet, das Direktorium des Staatsrates und die Staatssekretäre ernannt und feierlich in die Pflicht genommen; die Übernahme sämtlicher alter Ministerien, soweit ihre Funktionen das deutsche Gebiet betreffen, wird ohne Verzug geschehen. Schwere, ernste, unendlich große Arbeit steht vor den Männern, die nun berufen sind, die Geschicke Deutschösterreichs zu leiten; möge ihnen fruchtbarer Erfolg beschieden sein. Die ungeheure Sorge, die sie auf sich nehmen, die Verantwortung, die auf ihnen lastet, gebietet allen, ihnen mit Vertrauen, Hingebung und Disziplin zur Seite zu stehen und alles zu tun, was ihre Arbeit fördern, alles zu unterlassen, was sie stören könnte.
In: Arbeiter-Zeitung, 1.11.1918, S. 1-2.
Edwin Rollett: „Traumtheater“ und „Traumstück“ von Karl Kraus
(Erstaufführung: Neue Wiener Bühne, 29. April.)
Die Feier des 50. Geburtstages von Karl Kraus, die am Dienstag in der Neuen Wiener Bühne vor sich ging, wurde durch eine Rede des Regisseurs Berthold Viertel eröffnet, der Kraus, „den eigensinnigsten Sohn Wiens“, nach Wesen, Art und Charakter schilderte, die Bedeutung Wiens für Schaffen und Entwicklung des Mannes darstellte, der, „indem er in Wien geblieben, weit über Wien hinauswuchs“, und die verschiedenen Wege aufzeigte, auf denen der Norden und der Süden an die Persönlichkeit des Kämpfers und Dichters Kraus
heranzukommen streben: wie dem Berliner die schneidende Verstandesschärfe das gemäße Eingangstor zu seinem inneren Wesen, dem Wiener dagegen die Pointe des Witzes die Brücke zu ihm bildet. Das zu sich selbst geflüchtete Innenleben des Satirikers, dessen Darstellung die Rede gewidmet war, bildet auch den Inhalt der nachfolgenden Stücke, die, wie Viertel sagte, „seinen Schreibtisch auf die Bühne stellen““und die Zuhörer „in einer
Stunde eine Nacht mit dem Dichter erleben lassen“, wie deren ungezählte in seinen Schaffensjahren dahingegangen sind.
Diese abschließenden und überleitenden Sätze der Rede geben die richtige Einstellung zu den beiden Stücken. Traumtheater und Traumstück sind durchaus lyrische Werke, unmittelbare Bekenntnisse, Nachtvisionen, bei denen das direkte und persönliche Mitwirken und Mitleiden des Dichters noch verdeutlicht und veranschaulicht wird durch den
Rahmen, den „Der Dichter“ als dramatis persona beherrscht. Im wörtlichen Sinne steht sein Schreibtisch auf der Bühne, er ist es, der daran sitzt, er, der die Visionen erlebt und an ihnen teilnimmt. Aus dieser Subjektivität aber erwächst ein Typus: der des Kunst- und Lebenverbundenen, des Gestalters und Weltleid Erleidenden. Und das Wort des
Traumtheaters: „Ich habe zu Einzelgestalten, wie sie im Leben herumlaufen, keine Beziehung“, darf in höherem Sinne über beide Dichtungen gesetzt werden.
„Das Einssein des Weibes und der Schauspielerin, die Übereinstimmung ihrer Verwandlungen, die Bühnenhaftigkeit einer Anmut, die zu jeder Laune ein Gesicht stellt“, die Erkenntnis der „zeitwidrigen Urkraft“ des Weibes, des „Urgesichts der monotonen Vielgestalt und Wechselblicks Naturgewalt“ sind die Probleme der „zarten Gabe“, die Traumtheater heißt. Fünf kleine schlanke Szenen, licht, klar und spielfreudig, in dem schweren Rahmen des Zwiegespräches von Dichter und Regisseur, eingefügt als erhellender Traum in die trübe Wirklichkeit, als ein Lichtblick aus den
Regionen, in denen „die Elemente auf das Leben losgelassen“ sind, einen Meter hoch über dem Leben. — Ein Fliehen in das Reich der Phantasie, aus dem das Theater als einziges Vorwerk in die Wirklichkeit herüberragt, dem Traum verwandt in seiner Unwirklichkeit, Sinnenspiel und Spiel der Gedanken vereinend, im Verlorensein Geist und Leib zueinander führend, zugleich Symbol des künstlerischen Schaffens und seiner Kämpfe mit der Realität überhaupt.— Was an Symbolik und an mystischen Zusammenhängen noch in diesem feinen
Spiele liegt, ist wohl nachzufühlen, nicht nachzudenken. Wie viele Deutungen möglich, wievielerlei Gaben daraus zu nehmen sind, läßt sich nur ahnen. Eine skizzierende Analyse von Poesie bringt nur den Schatten ihres Skelettes fertig. Nur Konstruktionen lassen sich bis zu Ende deuten. Dichtung muß in ihrem Wesen erfühlt, immer neu, immer anders erfühlt werden.
Das Traumstück, das aus Vorlesungen des Dichters und aus der schon seit längerer Zeit erschienenen Buchausgabe bereits bekannt war, ist das weltanschaulichere, das wirklichkeitsnähere der beiden Stücke. Visionen der Sehnsüchte und der Widerstände, gestaltende Abrechnung mit den Fratzen der Wirklichkeit, die in das Traumleben eindringen.
Die peinigenden Erscheinungen der entmenschten Nachkriegszeit, aus denen Niedertracht, Habsucht, Vertierung und abgründiges Elend ihre Bekenntnisse tun, löst die Flucht in die Natur, zum Ideal ab. Die dorthin nachdringenden scheußlichen Bilder knechtender Unfreiheit erwecken die Kampfesfreude des Verstandes, der wieder durch Ausartungen des Verstandes, die „Psychoanalen“, denen die längste // und schärfste Szene des Dramas gilt, verscheucht wird. Traum und Traumdeutung sind hier in ebenso geistreicher als boshafter Art in Beziehung gestellt. Der Hilferuf, in den die Szene ausklingt, sucht Rettung aus solcher Klarheit in den Traum. „Imago“, das aus der Wand sprechende Bild, hier eine Versinnlichung künstlerischen Weltfühlens, das alles durchlebt und sich in allem darbietet, das kleine, sonst übersehene, von ihm beachtete Geräusch des fallenden Tropfens, die Poesie des Kleinsten, und der Traum selbst führen endlich den Weg des Trostes, leiten in ein phantasiebeschwingtes Erwachen, dem das Geräusch des Teppichklopfens noch zu einer letzten Vision verhilft, die die Welt nicht nach Besitz, sondern nach Wert geordnet zeigt und schon durch einen Ansatz dazu Versöhnung mit dem Leben verheißt.
Das Erlebnis dieser Traumdichtungen wird durch eine ganz ungewöhnlich intensive Regietat Berthold Viertels vermittelt. Er ist der bühnenkundige, hingebungsfreudige Leiter, den solche Dichtung, ja Dichtung überhaupt, braucht. Seine Führung bleibt in der Gefolgschaft des Autors, hebt Gedanken, Vers und Wort sinnlich, ohne sie zum Effekt auszuschroten. Aus dem Versenken in die dichterische erwächst ihm die theatralische Vision. Geringfügiges gewinnt Bedeutung: Der gedämpfte Trommelwirbel hinter der Szene, der die Erscheinung des Schieberpelzes begleitet, das spukhafte Hervorschnellen der drei Nachkriegsvisagen, der unheimlich starre Aufmarsch der Teufel des Weltkrieges sowie die unwirkliche Lieblichkeit der Imagoszene im Traumstück und die halb wie ein Märchen, halb wie ein Marionettenspiel gehaltene Stilisierung der Visionsszenen des Traumtheaters spiegeln Geist vom Geiste des Dichters. Die szenischen Bilder Leopold Blonders gesellen der Dichtung und den Regieideen das entsprechende malerische Gewand. Lothar Müthel hat in beiden Stücken die Rolle des Dichters inne. Sein Spiel ordnet sich von innen heraus. Der Schwerpunkt liegt im Herzen. Der Körper gehorcht den Gängen der Seele, der Ton des Sprechers dem Geiste des Wortes. Cäcilie Lvovsky innig und lieblich als Imago, weich, instinkthaft, gar nicht dämonisch als Schauspielerin im Traumtheater, weder Schlange noch Kätzchen, sondern warmes Weib. Von überwältigender Scheußlichkeit Oskar Homolka als Gürtelpelz und als tanzender Zinsfuß, Lyda Salmanova als Valuta, das Trio der Psychoanalen (Behal, Farkas, Schrecker) äffende Alpdrücke. Karl Götz, dezent als „der alte Esel“, Ernst Stahl-Nachbaur männlich und fest in beiden Stücken. Unter den Darstellern gab es keinen, der nicht gegeben hätte, was er konnte und mußte.
Daß die Hörerschaft von diesem in jeder Hinsicht seltenen Theaterereignis hingerissen ward, gehört zum Selbstverständlichen.
In: Wiener Zeitung, 2.5.1924, S. 1-2.
Edwin Rollett: Der Heimatdichter und sein Erfolg
Eine Betrachtung der schriftstellerischen Persönlichkeit J. C. Heers rollt zweierlei Probleme auf. – Und jede Betrachtung eines nicht in der ersten Reihe der Literatur stehenden Schriftstellers vier Jahre nach seinem Tod kann, wenn sie nicht rein philosophisch ist, nur durch die Bedeutung der an ihn gebundenen und in ihm ausgedrückten allgemeinen Fragen und Probleme gerechtfertigt werden, ja wird wohl geradezu nur durch sie veranlaßt und um ihretwillen angestellt. – Sich mit J.C. Heer beschäftigen, heißt mit anderen Worten die Frage der Heimatliteratur aufwerfen, Sinn, Grund, Bedeutung von Stoff, Gegenstand, Hintergrund und Milieu des Romans beleuchten, es heißt aber auch, und das kaum weniger, der Psychologie des Erfolges der schriftstellerischen Publikumswirkung, dem Magnetismus des Romans nachzuspüren, wobei gleich gesagt sein soll, daß zwischen diesen beiden Fragen ein gewisser Zusammenhang besteht.
Es ist ein Ästhetenmärchen, ein ausgesprochener Aberglaube, daß der Gegenstand des Romans Nebensache ist. Gewiß kann eine geniale Künstlerhand jeden ihr gemäßen Stoff zum Gegenstand formen, kann auf der Entdeckungsfahrt in die Füße des Lebens Gebiete entdecken, deren Vorhandensein bisher als belanglos ignoriert wurde. Das Findergenie des großen Erzählers fährt ja mit jedem wirklich künstlerischen Roman derart die Columbus-Reise über den westlichen Ozean nach Ostindien und erschließt einen neuen Erdteil. Was neben den Genialen und nach ihnen segelt, das lebt aber nicht durch die Tatsache der Entdeckung, sondern von den gewonnenen Kolonialprodukten, nicht durch die Genialität der erstmaligen Tat, sondern durch die Tüchtigkeit der Verwertung des Gefundenen.
Columbusnaturen waren, um auf dem Gebiet der Heimatkunst zu bleiben, unbedingt etwa die Geschwister Brentano, das war im anderen Sinn Fritz Reute, war auch Rosegger, der anfangs seine Entdeckung nicht einmal einzugestehen wagte, und seinen Waldschulmeister irgend wohin nach Tirol verlegte, weil ihm seine Fischbacher Alpen und Mürztaler Berge zu unansehnlich, zu unbekannt erschienen, und er meinte, einen populären Namen als Vorspann benützen zu müssen. Columbusnaturen waren in der Schweiz ganz besonders Jeremias Gotthelf und Gottfried Keller, der Berner Bauer und der Züricher Bürger, die jeder selbst Ergebnis und Träger der Kräfte ihrer schweizerischen Heimat, mit dem Selbstbewußtsein der Söhne eines jahrhundertelang republikanischen Stammes, dessen Eigenart ohne Beschönigung und ohne Beschränkung einbekannten, darstellten, künstlerisch ausformten, so kräftig und überwältigend, daß Schweizertum und Schweizer Volk literarische Mode wurden.
Auf solchen Fundamenten baute die Schweizer Heimatkunst am Jahrhundertende weiter, begünstigt durch den realistisch naturalistischen Zug, der zu jener Zeit die gesamte europäische Literatur beherrschte und allenthalben dazu verleitete, gewissenhafte Ortsangaben und Zeitbestimmungen durch detaillierte, spezialisierte Schilderung, durch Nachzeichnung wohlbekannter und vertrauter Charaktere zu ergänzen, begünstigt endlich durch die geläufig gewordene Popularität Kellers, begünstigt endlich durch den zunehmenden Fremdenverkehr, der jeden schweizerischen Heimatroman für so viele nicht nur zu einer durch die dargestellten Ereignisse, Schicksale und Stimmungen anregenden, sondern durch Landschaft und Milieu an Sommerfrische, Bergpartie und Erholung erinnernden, also von vornherein angenehm und willkommenen Lektüre machte, weil es sich darin doch um die bekannten Schweizer Berge und Schweizer Herzen handelt.
So ungefähr stellte sich die literarische Konjunkturlage dar, als der Winterthurer Bauernsohn, spätere Volksschullehrer und damalige Feuilletonredakteur der Neuen Zürcher Zeitung mit seinem Erstling hervortrat, und was an Material, an Elementen und Ingredienzien zu einem guten Heimatroman nötig ist, das war in // diesen „Heiligen Wassern“ schon reichlich enthalten: das Bauerntum mit echtem Erdgeruch bieder (manchmal bis zur Borniertheit), fromm (oft bis zum Aberglauben), naturhaft (selbst bis zur Unmenschlichkeit) und bodenständig (bis zur erbitterten Feindschaft gegen Besserung des Lebens). Dieses Bauerntum wurzelt ausschließlich und unausreißbar angeklammert in seinem Boden, auch wenn er furchtbar mit ihm umgeht, auch wenn die Heimat zum Fluch wird und ihre Kinder einem Blutbann unterwirft, wie der, der dem Dorf Sankt Peter, hoch oben an der Gletschergrenze, von Zeit zu Zeit immer wieder ein oder ein paar Menschenopfer abfordert, ähnlich dem Lindwurm, der den Städten der Sage solchen Tribut auferlegt hatte. Das Bauerntum der Berge also mit all seinen Mühsalen und Schwierigkeiten ist sozusagen das Rückgrat seiner Romane, jenes harte Bauerntum, das im Sommerfrischler ein so wohltuendes Gruseln erzeugen kann. Daneben Landschaft, sehr viel Landschaft. Darin war Heer ja seit jeher groß, man kann sagen, als Meister vom Himmel gefallen. Durch seine Fähigkeit, eine Landschaft in ihrer Eigenart, ihrem Reiz, ihrem speziellen Charakter zu erfassen und das Erfaßte in Worten festzuhalten, hatte er zu allererst auf sich aufmerksam gemacht. Als der Reisende in den Adriagegenden und als Schilderer von Ballonfahrten und den dort gewonnenen Eindrücken, als der Beschreiber der Landschaft aus der Vogelschau war er bekannt geworden. Das alles ist mit großer Solidität und ausgesprochener Tüchtigkeit, ohne Extravaganz, allerdings auch ohne besonderen Schwung in diesen Roman gegeben und schließlich fehlt auch noch der Fremdenverkehr nicht, der Schutzpatron der ganzen schriftstellerischen Richtung, der dem Alpental sogar gegen dessen Wunsch neue, frische Impulse und endlich doch eine Lebensverbesserung zuführt.
Es ist wie ein Rezept, wonach der erste, wonach aber auch so ziemlich alle anderen seiner Romane gebaut sind, selbst sein nachdrücklichster Erfolg Joggeli und sein ausgebreitetster Der Wetterwart. Das Handwerkliche steht im Vordergrund und auch damit ist Heer der typische Vertreter der ganzen Heimatdichter.
Nicht nur ihrer Abstammung nach, die sich ja von bahnbrechenden Genialitäten herleitet, sondern ebenso in ihrer Wirkung ist diese Heimatskunst aber eine gute, löbliche und gesunde Erscheinung, mag sie auch oft in allzu weitgehender Überschätzung des Stoffes diesen zum Selbstzweck erheben und schwelgerisch in ihm verweilen, mag sie auch mitunter das persönliche Interesse des Autors und das erhoffte des Lesers durch übertriebenes Entgegenkommen auszeichnen. Eine gewisse, wenn auch beschränkte Garantie gegen die Gefahr allzu papierenen Literatentums liegt doch in ihr. Hie Kaffeehaus – hie Sommerwohnung! So stellt sich der literarische Antagonismus von Stadt und Land, genauer besehen, dar, so kann man (auch heute noch) das deutsche Schrifttum halbieren, soweit nicht die ganze dünne Schicht in Frage steht, die wirklich Kunst zu schaffen vermag. Und es ist eine Angelegenheit des Geschmacks, nach welcher Seite man sich schlagen will.
Das deutsche Lesepublikum hat seine Entscheidung getroffen: die psychologische Konstruktion der Kaffeehausliteratur bucht manchen Sensationserfolg für sich. Sie lockt mit den Mitteln des Unbekannten, des Seltsamen, des Pathologischen, des Abenteuers, das sich freilich hier meist nicht in geographisch, viel mehr in psychologisch und sozial fremden Regionen vollzieht. Diese Fremde übt gewiß ihre Anziehungskraft. Aber dauerhafter, solider ist jener andere Magnetismus, der von der Assoziation des Bekannten und Geläufigen, vom Wiederfinden eigener Stimmungen und Empfindungen ausgelöst wird. Er beherrscht jene sehr breite Sphäre, in der nicht der abenteuerliche Reiz (allerdings auch nicht die Adelung und Selbsterneuerung durch wahrhafte Kunst), sondern die gegenständige Solidität, die Bürgerlichkeit maßgebend sind. Dieser weit ausgedehnte Kreis des deutschen Bürgerhauses sucht sich die zu ihm passenden Bücher.
Es ist Gebrauchsliteratur, die da gefordert wird, so wie man von Gebrauchslyrik oder Gebrauchsmusik spricht, eine Literatur, die alle Kultur-,// Sozial- und Religionsprobleme nicht in ihrer voller Wucht und Größe erfaßt, sondern in den Regionen des Unterhaltungsbedürfnisses verharren bleibt, die, soweit es sich um Heimatdichtung handelt, einer im Grunde genommen intellektualistischen Neigung huldigt, nach welcher sich die Wechselbeziehungen zwischen Volk und Kunst nicht als ein gewiß beschränkter, aber natürlicher Widerhall eines machtvollen Klanges in mehr oder minder taubem Gestein vollziehen, nicht als das Spiegelbild eines Gipfels im See darstellen (wie es bei Keller war), einer Neigung vielmehr, die meint, über eine hier und dort auf der halben Höhe des Entgegenkommens gespannte Konzessionsbrücke den Wechselverkehr bequem vollziehen zu können. Es ist der Standpunkt, des Sommerfrischlers, des unbeteiligten zufriedenen Beschauers, der hier ganz augenscheinlich dominiert.
Dieses deutsche Bürgerhaus aber beherrscht als der Hauptkäufer den Markt, trägt das Buch, macht seinen Erfolg und bestimmt das Geschäft von Autor und Verleger. Würde denn das Trommelfeuer der Verlagsprospekte, Annoncen und Affichen, würde der Ertrag der glänzenden Abonnentenspekulation, die sich Buchgemeinschaften nennt, würde die nahezu undurchdringliche, sicher unausrottbare Organisation der Freundschafts- und Gefälligkeitskritik auch nur halb den Umfang haben, wenn es anders wäre?
Nicht das Buch als geistige Kraft und geistige Macht ist dabei zu betrachten, sondern das Buch in seiner kaufmännischen Realität, als Ware, deren Werk sich ausschließlich nach der Nachfrage, also nach einer, nicht durch die absoluten Maße der Idee, sondern durch das höchst subjektive Element der Bequemlichkeit bestimmten Skala richtet.
Das Bedürfnis der Käufer bestimmt die Art der Ware, Das leicht faßliche mußte über das ideentiefe Werk triumphieren, das bequem zugängliche über jedes eigenartige und originelle, das nur anschauliche über das symbolische und gedankenstarke, das stofflich reiche über das gegenständlich hochwertige. Dabei ist ein gewisser nicht zu reichlicher ideeller Gehalt als Gewürz höchst willkommen. Zu viel Gewürz aber verdirbt den Braten. Ohne Theatralik der Aufmachung geht es auch nicht ab. Sie muß das ideelle Rückgrat vortäuschen, wo es fehlt, oder die Idylle so lange verkünden, bis sie geglaubt wird. Rein künstlerische Fragen treten in den Hintergrund. Die Gestaltung des lebendigen Sprachorganismus wird unwesentlich verglichen mit dem Gegenstand, der aus leicht zu bearbeitendem Sprachmaterial geformt wird. Daß auch die Literatur eine bildende Kunst sein muß, ist in Vergessenheit geraten.
Mit der Bevorzugung des. Gegenstandes. Hängt aber auch eine andere Erscheinung eng zusammen, die fast erfreulich scheinen möchte und als ein Zeichen der Gesundheit gelten darf: unter all den Büchern, die sich deutsche Heimatliteratur nennen, ist nicht ein einziges, das im Sinne bürgerlicher Sittlichkeit anstößig, das seiner Tendenz nach nicht gut zu heißen wäre. Mag man auch feinen menschlichen Wert noch so sehr in Zweifel ziehen, irgendwo glimmt in jedem Heimatdichter ein Funken echten Idealismus.‘
Nach all diesen Seiten hin kann I. C. Heer als Typus und Vertreter einer ganzen Richtung gelten, als der Dichter der deutschen Bürgerfamilie mit höheren Ambitionen. Das ist vom Standpunkt höchster Kunstkritik aus gesehen nicht eben viel. Das ist aber um so mehr, betrachtet man die Funktion des geschriebenen und gedruckten Wortes im Lebensganzen einer breiten Volksschichte. Es ist im wesentlichen eine Lehreraufgabe, die zu bewältigen ist, um so schwieriger, als sie von den Belehrten nie bemerkt werden darf, auch undankbar, insofern kein ideeller Erfolg sichtbar wird. Es ist die Kleinarbeit des Zwischenhändlers der Kunst, der, in der Mitte des Weges vom Genie zum Banausen stehend, jedem, der beiden die Hand reichen möchte, ein Volksbildneramt, wie so viele andere, nur daß dabei etwas mehr Ertrag abfällt, bei dem es gar sehr auf die Menge des Gebotenen und die Menge der Aufnehmenden ankommt, damit nur irgend etwas vom Guten hängen bleibt.
In: Wiener Zeitung, 18.7. 1929, S. 1-3.
Ernst Lothar: Gespräch über die besten Bücher des Jahres. Ratschläge, Urteile, Feststellungen
Der Bücherfreund (zum Kritiker): Sie haben kürzlich vom „Glück der Bücher“ gesprochen, das einem seither ja auch auf allen Plakatwänden mundgerecht gemacht wird. Wollten Sie nicht über das Allgemeine hinausgehen und bestimmte Werke nennen? Vor Weihnachten haben viele, die Bücher kaufen werden, den Wunsch nach einem Rat. Blättert man aber die Kataloge durch, dann erschreckt man vor der Quantität und wird noch konfuser. Welche Bücher empfehlen Sie?
Der Büchersnob: Die Frage des Herrn ist wohl in der Einzahl gemeint! Er will, hoffe ich, schlimmstenfalls sagen: welche zwei oder drei Bücher empfehlen Sie? Denn das, worum es sich hier handeln kann, ist doch nur: das Buch des Jahres. Das Buch, von dem man spricht. Sind Sie mehr für den Ulysses von James Joyce oder für das Chinabuch Die Eroberer von Malraux?
Der Kritiker: Auf diese Art werden wir uns schlecht verständigen. Rekommandationen für Fünfuhrgespräche zu liefern, bin ich außerstande. Auch ist es weder meine Sache, das Verstiegen-Abseitige zu bestätigen noch irgend etwas nur deshalb zu rühmen, weil es von Ausländern herrührt. Damit will ich nicht sagen, daß dieses Jahr nicht eine ganze Anzahl ausgezeichneter ausländischer Bücher, darunter etwa die genannten, hervorgebracht hat. Aber solange es ausgezeichnete neue Bücher deutscher Verfasser gibt, werde ich zuerst für diese stimmen. Besonders dann, wenn man ihre Autoren noch nicht gebührend kennt.
Der Bücherfreund: Gibt es denn neue wertvolle deutsche Namen?
Der Kritiker: Es gibt zwei. Sie heißen: Ernst Glaeser und Ernst Weiß. Ernst Glaeser steht im Beginn, Ernst Weiß hat sich trotz vielfachen Beweisen seiner Dichterschaft noch nicht „durchgesetzt“. Lassen Sie mich mit dem Unbekannten beginnen. Von Ernst Glaeser liegt ein Roman Jahrgang 1902 (Verlag Kiepenheuer) vor. Nichts ist mir zuwiderer als die fetten Lobkleckse, die fast jedem Druckwerk prompt und wahllos angepinselt werden. Aber bei ersten Buche eines jungen Deutschen, das die Epoche, die dem Krieg unmittelbar voranging, aus Knabenausgen sieht, das von lapidarer Sachlichkeit ist, ohne nüchtern oder roh zu sein, das die junge Generation hinreißend verteidigt, weil es ihre Defekte aus ihrem Erlebnis ursächlich erklärt und ihre Vorzüge wortlos sichtbar macht: bei diesem Buch, das überall dokumentarisch wirkt, ist das Wort „außerordentlich“ am Platze und vielleicht noch zu gering. Wer die höhnischen Schlagworte über die neue Jugend verlernen und die um 1902 Geborenen verstehen lernen will, erwerbe den Jahrgang 1902. Auch der Roman Boetius von Orlamünde (Verlag S. Fischer), der Ernst Weiß zum Dichter hat, formt das Problem des jungen Menschen dieser Zeit. Mit reinsten Mitteln, in einem beispielhaften Deutsch von // schöner epischer Ruhe wird das Heranreifen eines adeligen Konviktszöglings erzählt und der Sport monumentalisiert. Doch nicht auf die landläufige Zyniker-Art, welche den Erd- zu einem riesigen Fußball deformiert, sondern in einer neuen, persönlichen, harmonischen Verbindung von Muskel- und Seelentum. Ergreifend klingt ein Oberton von Güte und Zartheit aus diesen Blättern, die den Fäusten Reverenz erweisen… Ein Ton, der in den jüngeren geistigen Hervorbringungen Deutschlands selten wurde.
Der Büchersnob: Sie preisen also noch immer „Romane“ an? Haben Sie gelesen, was bei einer Rundfrage nach den besten Büchern Bert Brecht einer Berliner Zeitschrift jüngst geantwortet hat: er findet den Roman von heute „stumpfsinnig“ und nennt als „Prototyp der üblichen stumpfsinnigen Form unsres Romans“ den Fall Maurizius von Jakob Wassermann. Was sagen Sie dazu?
Der Kritiker: Dazu lache ich. Urteile solcher krassen Verantwortungslosigkeit kann man nicht ernst nehmen. Derselbe Bert Brecht spricht übrigens an derselben Stelle von der „respektablen Dummheit“, die er in Wells „Welt des William Clifford“ gefunden haben will. Ich, meinerseits, habe sie in seinem Werturteil über Wassermann und Wells gefunden, und nicht einmal so respektabel. Was aber den „Fall Maurizius“ betrifft, ist er der beste deutsche Roman dieses Jahres; in Problematik, Komposition und Ausdruck.
Der Bücherfreund: Wie denken Sie über Arthur Schnitzlers Therese? Ich habe in deutschen Blättern Beurteilungen gelesen, die miteinander nicht übereinstimmen.
Der Kritiker: Hier liegt ein kritisch sonderbarer Fall vor. Man hat, in Deutschland, der Therese ihren „grauen Ton“ zum Vorwurf gemacht. Man fand die chronikale, sozusagen protokollhafte Aneinanderreihung von Fakten des kargen Lebens einförmig und der Gesamtfarbe abträglich. Dieser Meinung kann ich nicht beipflichten. Denn hier wird als ein Manko betrachtet, was bewußte dichterische Absicht und wohl auch Notwendigkeit war. Nie hat sich Arthur Schnitzler um Vortrag oder Thema monoton gezeigt; immer als das absolute Gegenteil. Schon dieser sinnfällige Unterschied zwischen seinem bisherigen Werk und der „Therese“ hätte klarstellen müssen, daß dieser Unterschied gewollt war. Nicht also zufällig oder aus nachlassender Kraft hat hier ein großer Dichter einen Lebensalltag grau in grau gezeichnet, sondern: dies war strenges Darstellungsprinzip. Richtiges, wie ich glaube. Aus der Summe gleichbleibender Summanden sollte die ungeheure Differenz zwischen Anspruch und Erfüllung abgelesen werden; aus dem lebenslang Unveränderten die Überlebensgröße des Unabänderlichen; aus dem Oberflächengrau die unterirdische Blutröte der Sehnsucht. Deshalb wirkt das Buch ganz so beklemmend wie unser Leben. Die Französin Bovary hat in der Wienerin „Therese“ eine ebenbürtige Schwester gefunden.
Der Bücherfreund: Und wie steht es mit den Büchern anderer Autoren von anerkanntem Rang?
Der Kritiker: Es sind Nieten darunter. Dem Rang ihrer Dichter entsprechen: Heinrich Manns Eugenie (Verlag Zsolnay): eine faszinierende Frauenfigur, von einem bizarren Hintergrund meisterhaft abgehoben. Dann: Franz Werfels Abituriententag (Verlag Zsolnay); René Schickeles Blick auf die Vogesen (Verlag Kurt Wolff): Beide von innerem Blick, zeitnah, vollkommen erzählt.
Der Bücherfreund: Und das nichtdeutsche Ausland? Jetzt werden Sie doch wohl Ausländer nennen?
Der Kritiker: Ich habe noch nicht die Absicht. Ich fange geradezu erst an. Denn nun kommen die Bücher jener Autoren, die zwar bekannt, aber in Österreich nicht genug gelesen sind. Wappnen Sie sich mit Geduld, denn ihrer sind nicht wenig! Da ist vor allem Arnold Zweig. Kennen Sie seinen Roman Der Streit um den Sergeanten Grischa? (Verlag Kiepenheuer). Es ist der Kriegsroman Deutschlands. Ganz abgesehen davon, daß er (technisch) mit einer staunenswerten Kunst gebaut, gesteigert, vorgetragen ist, besitzt er eine Universalität der Anschauung, eine Objektivität des Urteils, eine Schlagkraft der gestalterischen Beweisführung, daß man diesem Buche anheimfällt wie einer Passion. Um dieses gräßlich abgegriffene Wort zu brauchen: das Buch ist ein Erlebnis. Arnold Zweig hat in diesem Jahre außerdem die Erzählung Pont und Anna veröffentlicht, die eine Figur aus dem „Sergeanten Grischa“ übernimmt und fortsetzt (Verlag Kiepenheuer). Auch diese Erzählung überragt durch Realität und Landschaftsbildnerschaft den Durchschnitt hoch. Hier nenne ich gleich Leonhard Frank, aus dessen Humanitätsschule der junge Ernst Glaeser kommt, mit dem entzückenden Ochsenfurter Männerquartett (Insel-Verlag); Heinrich Eduard Jacobs kleinen Roman Jacqueline und die Japaner (Verlag Rowohlt): Rassenfragen mit Takt und Feinfühligkeit gültig beantwortet und in schwebende Sprachmusik gesetzt; „Als Mariner im Krieg“ von Joachim Ringelnatz (Verlag Rowohlt): Berichte von einer Präzision, Vitalität und Ungeschminktheit, die ihresgleichen suchen; Bruno Frank: Politische Novelle (Verlag Rowohlt), fesselnde Verbindung von politischer und Menschenanschauung, die einem eminenten Stilisten gelang; erfreulicherweise auch zwei österreichische Erzähler: O. M. Fontanas Roman Gefangene der Erde (Verlag Knaur), der mit Recht den Preis der Stadt Wien erhielt, da er Phantasie, Feuer und ethische Kraft vereint; Paula Grogger, die steirische Dichterin, deren Roman Grimmingtor und deren Novelle Die Sternensinger (Ostdeutsche Verlagsanstalt) seit langem wieder ein großes österreichisches Frauentalent beglaubigen. Lassen Sie mich hier der herrlichen Gedichte gedenken, die Max Mell im Speidelschen Verlage hat erscheinen lassen. Es sind Strophen von einer solchen edlen Anmut, von solcher spürbaren Naturnähe, schlichten Macht und keuschen innersten Melodie, daß ich sie zum Kostbarsten zähle, was wir an deutscher Lyrik überhaupt besitzen.
Der Büchersnob: Und das Ausland? Geben Sie doch endlich die Pfahlbürgerei auf, immer nur „Nationales“ // zu propagieren. Europäisch muß das Buch sein, wenn es mir gefallen soll. Nennen Sie mir europäische Bücher!
Der Kritiker: Entschuldigen Sie es, wenn ich bei meinen Ratschlägen und Feststellungen auf Ihre Privatmeinung nicht genügend Rücksicht nehme. Denn ich fürchte, daß Ihnen das Wort „europäisch“ nur deshalb so ans Herz gewachsen ist, weil es mit den drei anderen eisernen Intelligenzphrasen („Einstellung“, „Mentalität“, „Rhythmus“) zum täglichen Weltbürgerbedarf gehört. Was sich davor drängt – aber lassen wir das. Ich nenne Ihnen lieber einen ausländischen Roman, der mir den Begriff „europäisch“ vorbildhaft zu verkörpern scheint: „Die amerikanische Tragödie“ von Theodore Dreiser (Verlag Zsolnay). Halten Sie das für paradox: ein amerikanisches Erzeugnis als europäisch reklamiert? Dafür müßten gerade Sie Verständnis haben, obschon ich nichts weniger als ein Paradox beabsichtige. Doch in der Dreiserschen Trilogie manifestiert sich, wie in keinem Buche irgend einer Nation zuvor, der europäische Gedanke: Gegen die Todesstrafe! Wer gelesen hat, wir der junge Clyde Griffith im „Todeshaus“ auf den elektrischen Stuhl vorbereitet wird und ihn nach Jahresfrist erleidet… der ist so unsäglich erschüttert, ja wochenlang ans Kreuz dieser Vision genagelt, daß er für sein ganzes Leben erzogen worden ist. Europäisch erzogen.
Der Bücherfreund: Ich fürchte, das ist zu deprimierend. Ich für meinen Teil wäre für minder triste Bücher dankbar.
Der Kritiker: Dann lesen Sie Hamsuns letzten Roman: Landstreicher (Verlag Langen): Nicht ganz so bezaubernd wie „Segen der Erde“ und Die Weiber am Brunnen. Aber immer noch: Hamsun. Also göttliche Ironie der Darstellung. Leben aus der Distanz, trotzdem tief genähert. Und lesen Sie die beiden ersten Originalbände von J. Haseks Geschichte des braven Soldaten Schwejk (Verlag Synek): das ist nicht etwa der von Piscator plakatierte Theaterfilm, sondern ein Epos tiefgründigen Humors, eine gelassene entlarvende Auseinandersetzung mit Schändlichkeiten. Auch der Roman Das Schlangenhemd von Grigol Robakidse (Verlag Diederichs), einem neuen „Ausländer“, zeigt ein unvergeßliches Gesicht, das sich der „Monotonisierung der Welt“ entgegenstemmt und die Charakterzüge des Georgischen Volkes aus dem Hexenkessel europäischer Gleichmacherei erhebt.
Der Büchersnob: Das alles sind Romane, Novellen, Gedichte. Gibt es denn nichts, das im Grenzgebiet zwischen dem allen läge? Eine neue Form?
Der Kritiker: Gewiß gibt es das. Es ist die „kleine Form“, die Alfred Polgar meistert. Sein neues Buch Schwarz auf Weiß (Verlag Rowohlt) bereitet ein durch nichts geschmälertes Vergnügen. Delikatessen für literarische Feinschmecker, und noch etwas mehr. Denn in diesen Miniaturen unseres kleinen Lebens ist eine blendende Stilkunst, doch auch eine Beobachtungsschärfe am Werk, welche mit des Messers Schneide spielt und trifft. Überdies empfehle ich für jeden, der vor Allzumenschlichem fliehen will, Paul Eippers Tiere sehen dich an (Verlag Reimer) als Rettung.
Der Büchersnob: Und?
Der Kritiker: Ich nehme Ihnen das Wort vom Munde, das Sie vorwurfsvoll zurückhalten: Memoiren. Sie wollen (weil auch das zu den Gemeinplätzen gehört, auf denen „europäisch Eingestellte“ mit Vorliebe lustwandeln) vermutlich sagen: „Mir sind Memoiren hundertmal lieber als die besten Romane!“ Bedienen Sie sich. Ob Ihnen freilich Rudolf G. Bindings Erlebtes Leben (Verlag Rütten & Löning), das eines Dichters Dasein schildert, nicht zu „einfach“ sein wird? Diese Einfachheit ist, notabene, grandios. Und ob sie Vera Figner Nacht über Rußland (Malik-Verlag) nicht zu revolutionär finden werden? Ungeachtet diese Denkschrift das Gedächtnis der Welt für alle Zeiten wachrütteln müßte! Ohne mir indes den Kopf hierüber zu sehr zu zerbrechen, nenne ich auf exakteren Literaturgebieten: den zweiten Band von Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit (Verlag Beck): Barock und Rokokko in durchaus persönlicher Weise gesehen und sichtbar gemacht; falsche Meinungsfassaden glänzend blankgeputzt, eingekrustete Vorurteile rabiat abgerissen; eines wie das andere mit einer Polyhistorkenntnis, mit außerordentlicher Formulierung und mit bedeutender Kraft zu rebellischer Synthese. Wells Weltgeschichte (Verlag Zsolnay): Mehr als Wissenschaft, die es natürlich auch ist. Hier wird Welt- als Menschheitsgeschichte vorgetragen. Schließlich, vom Biographischen dieses Jahres: Josef Redlichs bewundernswertes Standard-Werk über Franz Joseph (Verlag für Kulturpolitik); André Maurois: Disraeli (Verlag S, Fischer), der die großartige Figur Lord Beaconsfields der Dauer überliefert; Paul Wieglers „Wilhelm I, und seine Zeit“ (Avalun-Verlag): eine Epoche nobel empfunden und ebenso beschrieben; Rudolf Kayser: „Stendhal“ (Verlag S. Fischer): Verlebendigung der schönen Gestalt durch Nach- und Nahgefühl; Werner Hegemann: Der gerettete Christus“ (Verlag Kiepenheuer): mißverständlich als Lästerung aufgefaßt, während der Autor im Gegenteil die heilige Idee stützt und reinigt; Emil Ludwig: Der Menschensohn (Verlag Rowohlt): Heilandsbiographie, nicht durchaus auf der Höhe von Ludwigs vorangegangenen historischen Porträts, doch um ihrer psychologischen Klarheit willen lesenswert. Damit bin ich am Ende.
Der Bücherfreund: Ist Ihre Liste vollständig?
Der Büchersnob: Meiner Meinung nach überkomplett! Und nun verraten Sie mir noch, was Sie bei der Auswahl aller dieser Bücher geleitet hat?
Der Kritiker: Sie irren in der Annahme, mein Lob-Index erhebe nur den mindesten Anspruch auf Vollständigkeit. Er ist unvollständig, weil subjektiv. Damit beantwortet sich auch Ihre Frage. Um gut zu sein, müssen Bücher, meiner Meinung nach, zwei Forderungen erfüllen: Die der Kunst: diese Forderung ist relativ. Die der Menschlichkeit: diese Forderung ist absolut.
In: Neue Freie Presse, 16.12.1928, S. 1-3.
Paul Stefan: Rasch noch einige Bücher
Rasch, das ist noch vor Weihnachten. Es sind vielleicht keine Weihnachtsbücher – die gibt es ja wohl auch gar nicht. Aber es sind Bücher für jedermann, und vor allem gute, sehr gute Bücher.
Ein merkwürdiger Roman, ein Buch, das alle unsere Ansichten über Amerika und amerikanische Literatur zu erschüttern imstande ist. Das ist die Amerikanische Tragödie von Theodor Dreiser. Dreiser ist deutscher Herkunft, aber der rechte Amerikaner und sein Buch ist selbstverständlich auch englisch geschrieben, jetzt aber in einer guten deutschen Übersetzung bei Zsolnay erschienen. Diese amerikanische Tragödie ist eine richtige Tragödie, nicht minder bedeutungsvoll, als die Schilderung der Schicksale Raskolnikows. Aber hier ist eine Tragödie, wie sie in ihrem erregenden Moment, in ihrer Katastrophe nur in Amerika Ereignis werden konnte. Ein Roman von über tausend Seiten erzählt das Leben und den Tod des jungen Clyde Griffith, dessen Eltern als religiöse Prediger in den Straßen der amerikanischen Provinz umherziehen. Dies ist überhaupt ein Provinzbuch, und so gibt es noch europäische Vergleichsmöglichkeiten, gibt es auch überraschend viele deutsche Familiennamen. Clyde lernt als Boy in einem Hotel die Sitten und den Luxus der großen Welt kennen, gerät dann als Arbeiter, später als Aufseher in die Fabrik seines reichen und angesehenen Onkels; schon winkt ihm die Hand einer reichen Erbin dieser Industriegesellschaft, da wird seine Geliebte, ein entzückendes Mädchen aus der Fabrik, guter Hoffnung. Man sucht die Folgen zu verhindern, aber da es nicht gelingen will, lockt der junge Mann das Mädchen im Ruderboot an eine entlegene Stelle im Seengebiet; er wollte sie töten, aber sie stürzt von selbst ins Wasser. Alsbald kommt die Tat auf und ein ehrgeiziger Staatsanwalt, der um seine Stelle kämpft, leistet sein Probestück, indem er bei den Geschworenen ein Todesurteil durchsetzt. Nun kämpft Clydes Mutter in allen religiösen Gemeinden verzweifelt um die Kosten eines Wiederaufnahmeverfahrens. Aber der Gouverneur lehnt einen neuen Prozeß ab und Clyde muß auf den elektrischen Stuhl. Keinen Augenblick verläßt den Autor, der ein ganz großer Dichter ist, seine psychologische Meisterschaft; Schuld und Sühne werden herzbewegend gedeutet. Furchtbar, aber auch großartig sind die Szenen im „Todeshaus“, etwa wenn der elektrische Lichtstrom schwächer wird, weil der Kraftstrom gerade einen tötet. Ein amerikanischer Dostojewsky hätte es nicht besser machen können.
So jung Werfel ist – schon erscheinen (bei Zsolnay) seine Gesammelten Werke. Zunächst die Gedichte, die seinen Ruhm begründet haben, alle die Sammlungen, wie „Weltfreund“, „Einander“, „Wir sind“, „Gerichtstag“ und viel Neues in einem einzigen starken Band. Der ist nun ein europäisches Dokument, in Bruchstücken längst in viele fremde Sprachen übersetzt, in alle Literaturgeschichten aufgenommen. Was uns Werfel so wert macht, ist nicht nur seine lyrische Gewalt, nicht nur der klassische Ausdruck des Zeitgefühls, sondern insbesondere die starke, bezwingende Menschlichkeit, die aus jeder Zeile, jedem Vers dieses gütigen, vornehmen und doch um jeden Einzelnen werbenden Dichters spricht. Eine Sammlung seiner Gedichte, die übrigens mit höchster Kunst angeordnet und durchgeführt ist, war notwendig und ist auf das herzlichste zu begrüßen.
Der berühmteste Dichter der Generation vor Werfel, Arthur Schnitzler, gibt im Wiener Phaidon-Verlag ein Buch der Sprüche und Bedenken heraus. Es sind prachtvolle Aphorismen, die nicht nur den Meister der Sprache, sondern auch einen unerbittlichen und doch liebevollen Denker zeigen. Die Titel einzelner Abschnitte wie „Schicksal und Wille“, „Verantwortung und Gewissen“, „Wunder und Gesetze“, zeigen allein schon welche Fülle dieser schmale, aber wahrhaft bedeutende Band birgt. Wenn uns Schnitzler noch näher gebracht werden könnte, durch dieses Buch würde es geschehen.
Endlich ein Bilderbuch, ein Parallelband zu der reizenden Sammlung Wien in Bildern, die hier angezeigt wurde. Diesmal hat der Verlag Dr. Hans Epstein in Wien „Venedig in Bildern“ mit nicht minderem Glück und Geschick für die Erinnerung festgehalten. Es ist ja die uns nächste und wohl auch liebste italienische Stadt, die Stadt, in der sich jeder Wiener noch ein wenig heimisch fühlt. Und jedenfalls ist dieses neue und billige Bilderbuch vollständig; es läßt weder die bekannten Schönheiten, noch die verborgenen Winkel vermissen.
In: Die Stunde, 24.12.1927, S. 6.
Rudolf Lothar: Der Autor als Unternehmer
Als ich im Herbst vorigen Jahres zu Beginn der Saison in einem meiner Artikel an dieser Stelle den Berliner Theaterverhältnissen eine sehr pessimistische Diagnose stellte, waren die Berliner Theaterdirektoren über meinen Artikel sehr empört. Ich muß gestehen, daß diese Empörung mir sehr sympathisch war. Denn zu keinem anderen Beruf braucht man mehr Optimismus und Selbstvertrauen als zum Berufe des Theaterdirektors. Ein guter Theaterdirektor muß an sich, an seine Schauspieler, an seine Autoren glauben und muß diesen Glauben dem Publikum beibringen. Wenn ihm das gelang – in der guten alten Zeit – dann war er geborgen. Aber heute genügt auch der stärkste Optimismus nicht mehr, um ein Theater zu einem gewinnbringenden Unternehmen zu machen, selbst dann nicht, wenn das Publikum tatsächlich kommt und ein Stück tatsächlich Erfolg hat. Der Etat ist nicht hereinzubringen. Die Schauspielergagen sind nicht zu erschwingen. Auch darüber habe ich bereits an dieser Stelle gesprochen, wie die Gagenforderungen der Schauspieler heute jedes Theatergeschäft unmöglich machen. Leider hält das Frühjahr, was ich im Herbst prophezeite. Die großen Truste entlassen alle ihre Schauspieler. Ein so kluger Theatermann wie Dr. Zickel sagte, wie die Leser Ihres Blattes wissen, daß am 1. Mai wohl alle Berliner Theater geschlossen sein dürften. So schwarz sehe ich nun allerdings nicht, aber ich muß Zickel recht geben, wenn er behauptet, daß unter den gegenwärtigen Verhältnissen das Theaterführen unmöglich ist. Es müssen ganz neue Verhältnisse geschaffen werden, das Theater muß auf ganz neuer Basis aufgebaut werden. Aber auf welcher Basis?
In Paris ist eine solche neue Basis gefunden worden. Dort tritt immer mehr und mehr der Autor selbst als Unternehmer auf. Dort wird es nach und nach zur Regel, was bei uns noch verpönt ist. Der Theaterdirektor ist sein eigener Autor.
Die erfolgreichen französischen Dramatiker geben ihre Stücke in eigener Regie: das tut Bernstein, das tut Verneuil, das tun Savoir und andere. Wenn ein Dramatiker ein Stück hat, von dem er sich etwas verspricht, dann geht er zu einem Direktor, garantiert ihm den Etat und ein paar hundert Franc darüber und der Rest fließt in seine Tasche. Natürlich ist das Geschäft ausgezeichnet, wenn das Stück einschlägt. Geht es schief, so kann der Mißerfolg dem Autor Kopf und Kragen kosten. Allerdings hat der Pariser Autor weit mehr Möglichkeiten, den Erfolg zu forcieren als der deutsche Autor. Die Theaterreklame spielt in Paris eine viel größere Rolle als bei uns. Den wahren Sinn der Kritik verstehen nur die Leute vom Bau und die Eingeweihten, denn äußerlich ist fast jede Kritik so liebenswürdig und wohlwollend, daß der gewöhnliche Leser oft an einen Erfolg glaubt und gar nicht ahnt, wie der Kritiker den Autor verreißt. Eine geschickte Claque täuscht vollends den Provinzbesucher über den Wert des Stückes hinweg. Allerdings läßt sich ein Mißerfolg auch dort durch alle Mittel und Mittelchen nicht zu einem Erfolg stempeln, aber es ist immerhin möglich, vor allem, wenn man über genügend Geld verfügt, ein Stück statt zwanzigmal, wie es regulär gehen würde, hundertmal zu geben. Und hat einmal ein Stück die hundertste Aufführung erreicht, dann rollt es von selber weiter. Zum Theaterführen gehört nun einmal Geld, denn um einen richtigen Erfolg zu machen, braucht man Reklame und Reklame muß gut bezahlt werden. Der Autor also, der als Theaterdirektor auftritt, wenn auch nur vorübergehend und von Fall zu Fall, muß Kapitalist sein. Ich weiß nicht, ob sich heute deutsche Autoren finden würden, die bereit wären, Geld in ihre eigenen Stücke zu stecken. Ich betone: heute. Denn ich kann mir sehr gut den Fall vorstellen, daß es bald für den Autor keine andere Möglichkeit geben wird, sein Stück auf der Bühne zu sehen, als wenn er selbst als Unternehmer auftritt. Vielleicht läßt sich sogar einmal eine Formel finden, auch die Schauspieler am Risiko zu beteiligen und ihre Gage von der Größe des Erfolges abhängig zu machen.
Das Pariser System nähert sich, wie man sieht, sehr dem amerikanischen. Auch in Amerika übernimmt der Unternehmer stets nur das Risiko für ein Stück. Nur daß drüben der Unternehmer selten der Autor selbst ist. Ich möchte aber als Kuriosum erwähnen, daß der größte Erfolg, den die amerikanische Bühne je erlebt hat, das Stück Abie’s Irish Rose ist. Die Autorin Annie Nichols konnte das Stück nirgends anbringen und wagte endlich, es auf eigene Faust in einem ad hoc gemieteten Theater zu spielen. Dieses Wagnis hat ihr bis heute über drei Millionen Dollar eingebracht. Das Stück ist in New York allein über viertausendmal gespielt worden. Dieses Beispiel mag beweisen, daß der Autor als Unternehmer auch sehr gut reüssieren kann, wenn er Glück hat. Allerdings, ein bißchen Hasard wäre bei diesem System immer im Spiele. Noch kein Mensch mit irdischen Sinnen hat bis heute die Chancen eines Stückes vor der Aufführung voraussehen können. Es wirken zu viele Imponderabilien mit. Es kann passieren, daß ein Stück gegeben wird, das einem maßgebenden Kritiker außerordentlich gefallen hätte. Dieser Kritiker wird am Tage der Premiere krank, und dem Kollegen, der ihn ersetzt, gefällt das Stück ganz und gar nicht. Oder: an dem Tage, wo ein Lustspiel gegeben wird, passiert in den Nachmittagsstunden kurz vor der Aufführung etwas Schreckliches, was die ganze Stadt in Aufruhr versetzt. Die Stimmung ist vorbei. Das Lustspiel, das an einem anderen Tage vielleicht stürmische Heiterkeit erweckt hätte, findet bei dem zerstreuten, erregten Publikum nur eine kühle oder gar eisige Aufnahme. Zu jedem großen Erfolg gehört eine Dosis Glück. Also ist Theaterleben allemal ein Glückspiel. Der heutige Direktor kann die Scharte von gestern morgen auswetzen. Der Autor-Unternehmer hat keinen zweiten Pfeil im Köcher. Der Mißerfolg kann ihn finanziell so schwer schädigen, daß er Jahre braucht, um sich wieder hochzurappeln. Aber da wird es vielleicht auch Mittel geben, um die Gefahr abzuschwächen. Etwa eine Kombination zwischen Unternehmer und Autor, eine Paarung von Autor und Finanzmann, wobei natürlich der Autor auf einen Teil seines Gewinnes verzichten müßte. Jedenfalls aber glaube ich, daß die Erscheinung des Autors als Unternehmer nicht auf Paris beschränkt bleiben wird. Er ist gewiß eine der Formen des künftigen Theaterbetriebes.
In: Neues Wiener Journal, 14.3.1926, S. 16.
Alexander Lernet-Holenia: Analyse des Publikums
Seit der Zeit des eigentlich großen, abendländischen Theaters, des elisabethinischen also etwa in England, des französischen in Versailles, des spanischen mit Calderon und der alles andere befruchtenden Variabilität des italienischen des 17. Und 18. Jahrhunderts, geht der Erfolg eines Stückes immer mehr auf den Zufall zurück als eigentlich auf bewußte Kunst und Fähigkeit des Dichters und der Schauspieler. Je größer, je ausgebreiteter ein Erfolg, wenn er nur überhaupt eintritt, im Vergleich zu früher heute sein kann, je unbestimmter und zufälliger, je unbekannter ist die Art geworden, auf die er herbeizuführen ist. Der Begriff dessen, was auf den Bühnen wirkt, ist völlig ins Schwankende gekommen, das Gute, oberflächlich betrachtet, steh schon im Gegensatz zum Wirkungsvollen, und Stücke sind im voraus auf ihre Wirksamkeit fast nicht mehr einzuschätzen. Unsere Zeit, als die eines Übergangs, läßt künstlerische Dramen immer weiter hinter sich und tendiert zu den natürlichen, in denen die Kunst zwar insgeheim mitwirkend notwendig ist, allein niemals sich auch als solche aussprechen darf. Wo man diese Direktion auch erkennt, hat man doch noch immer nicht das Herz, sich das Ältere, offensichtlich Künstlerische sozusagen aus dem Leib zu schneiden.
Schulen des Theaters, der Politik, der Religion waren gut für Zeiten von langem Bestand, in denen ältere Erfahrung irgendwie immer noch weiterhin gültig blieb. Heute, in so eminenter Veränderung der Welt, existiert Erfahrung fast nicht mehr. Wer jetzt auf Publikum angewiesen ist, muß in großer Schnelle aus demselben Tag selbst alle jene Kenntnis ziehen, die am selben Abend vor den Leuten wirken soll.
Es ist damit nicht gesagt, daß die Welt fortwährend in solcher sich überstürzender Veränderung weitergehen würde. Völlig verändert aber, wie sie ist, hat alles, was mit ihr und den Leuten zu tun hat, erst neu erkannt zu werden. So bedeutet auf dem Theater Genialität des Autors und der Schauspieler allein so lange nichts, als sie überhaupt eigentlich nicht wissen, vor wem sie ihre Stücke spielen; den dieses ihr Publikum ist vor dem den Jahres 1900, auf das sie alle noch eingestellt sind, weiter entfernt, als das Schillers von dem des Shakespeare.
Völlig unvorbereitet freilich, veralteter als alles klassizistische und etwa von solchem Bezug zu wirklichem Schauspiel wie eine Gipsfigur zu einem griechischen Marmor, trat das Theater in die Veränderungen dieser Jetzt-Zeit ein. Es hatte ja schon damals angefangen, so zu sein, wie es bis vor zehn Jahren blieb, als Goethe, das große theatralische Antitalent, die Bühnen von Weimar und Lauchstadt unter seine enorme Persönlichkeit unterwarf und von dort aus überallhin sich auswirkte. Dieser Mann ist dem Theater teuer zu stehen gekommen und als, wegen des Auftretens eines gewissen Pudels, der vielleicht immer noch theatralischer gewirkt haben möchte als der Egmont, er die Intendanz hinwarf, war es schon zu spät. Er hatte ein Publikum von Hofräten herangezüchtet, ein total unnatürliches, und das blieb und blieb und überdauerte das Jahrhundert, verdarb alles und ist immer noch stark genug, alles Natürliche des Neuen zu verwirren und schwankend zu machen, womit allerdings nicht gesagt sein soll, daß das meiste Neue nicht höchst unnatürlich wäre.
An jenes klassizistische Publikum sind die Theaterleute nun noch so ausschließlich gewöhnt sich zu wenden, daß sie das moderne kaum erst begreifen. Wenn das klassizistische Theater für alles eher als für ein wirkliches Publikum da war, so ist das heutige für nichts eher da. Hier nun hätte die augenblickliche Auffassung anzufangen, das Begreifen, was dieses neue Publikum eigentlich sei und wie es sei. Aber da zeigt es sich, daß der Versuch noch nicht im allgemeinen unternommen worden sei, bestenfalls im besonderen, indem es heißt: „Der kennt seine Leute“, oder: „Jener weiß, was die Stadt, in der sein Theater steht, für Aufführungen verlangt“. Aber man wird sich entschließen müssen, das höchst Schwankende des heutigen Theaters zu befestigen. System ins Umgestürzte und Neue zu bringen, damit das Theater über der ganzen gegenwärtigen Konsternation nicht zugrunde gehe. Es wird darauf ankommen, dort anzufangen, wo alles Theater anfängt: nämlich beim Publikum. Man wird alle behindernde Tradition zurücklassen müssen, alles Didaktische, die ganze Sucht, von der Bühne aus das Publikum zu antiquisieren, was es bis vor kurzem noch war: zu etwas Respektvollem vor dem Klassizismus. Aber es gibt nichts Überlebtes, das ein Theater noch bringen müßte, unbedingt bringen, um ein Theater noch zu sein: die deutschen Klassiker am wenigsten. Ein Theater ist nur das, zu dem die Gegenwart es macht. Ein Theater ist nur das, zu dem die Gegenwart es macht. Alle Einbildung, zu einem Spieljahr seien Klassiker unbedingt notwendig, wird sofort falsch, wenn das Publikum eben keine Klassiker will. Ein Theater ist kein Museum für sogenannte Unsterbliche und, wie das Theater heute ist, stört alle solche verfehlte Tradition, dieses ganze Zurückschauen auf etwas nur künstlich existent Gewesenes, den Theaterleuten den reinen Einblick ins Publikum und die klare Anschauung vom Gegenwärtigen und von dem, was aufzuführen jetzt notwendig ist. Viel weniger noch als Direktionen und Schauspieler versteht freilich die junge Generation der Autoren vom Publikum, die sich in einem fort bloß selbst aussagen will und ohne Rücksicht darauf ist, daß die Leute Stücke sehen wollen, nicht Beichten anhören. Aber man wird bald dazu kommen müssen, das Publikum zu analysieren, es anzuschauen und das Erschaute rasch zu überdenken, damit man es erkenne, denn dazu ist keine Zeit mehr, erst zu warten, bis Erfahrung und Versuche von Jahrzehnten ergeben würden, mit was für Leuten denn man’s eigentlich in dem inzwischen erloschenen Theater zu tun gehabt habe. Schon ist fast alles Interesse zu Revuen, zu Films und zu Kabaretts abgewandert, aber die Leute dort zu beobachten, wie sie auf das Dargestellte reagieren, und dann etwas aufs Theater zu bringen, was sie ebenso angeht, mit einem Wort: das Publikum für das man da ist, erst zu kennen, wird von allem dem, was die Theater zu tun haben werden, das Entscheidendste sein.
In: Der Tag, 23.6.1926, S. 8.
Was soll man lesen? Umfrage der Bukum-AG
Was soll man lesen? Umfrage der Bukum-AG (1924)
Die Bukum A.G. (vorm. Hugo Heller & Co.) hat ihrem diesjährigen Weihnachtskatalog eine interessante Rundfrage vorangestellt, deren Beantwortung sie iener großen Anzahl namhafter Schriftsteller überlassen hat.
„Welches Buch des Jahres hat auf Sie den stärksten Eindruck gemacht? Wodurch ist dieser Eindruck nach Ihrer Meinung begründet?“
So lautet die Frage. Mit Bewilligung der Bukum A.G. veröffentlichen wir nachstehend einige der interessantesten Antworten, doppelt interessant dadurch, daß es ja selbst Schriftsteller sind, welche ihrer Ansicht hier Ausdruck geben.
*
Ich bin ein viel zu unpünktlicher Leser, als daß ich es wagen dürfte, das beste Buch des letzten Jahres zu nennen; schon ein rein subjektives Urteil wäre unfair gegen die vielen guten Bücher, die ich offenbar im letzten Jahr nicht gelesen habe. Hätten Sie mich nach dem schlechtesten Buch des Jahres gefragt oder nach dem Buch, das mir am stärksten mißfiel, dann hätte ich leichter antworten können: ich hätte, einem bewährten Instinkt folgend, unter den großen Schlagererfolgen des Jahres gesucht, und ich verrate Ihnen, obwohl Sie mich nicht gefragt haben, daß die Versuchung nahegelegen hätte, blindlings und ohne Wahl Ossendowskis verlogenes Buch über Tierische Menschen und Götter zu nennen. Wenn ich aber ein gutes Buch nennen soll, kann ich Ihnen höchstens sagen, daß unter allen Büchern, nicht des letzten Jahres, sondern der letzten Jahre, der Roman Babbit des Amerikaners Sinclair Lewis mich am stärksten angepackt hat – diese große Anklage gegen die Bourgeiosie nicht als soziale Klasse, sondern als Lebensform; ich denke an dieses Buch mindestens einmal am Tag, seitdem ich es gelesen habe. Ich liebe dieses Buch, weil es zugleich revolutionär und geduldig ist, weil es zugleich zu verurteilen und zu begnadigen weiß, weil der Autor, als der erste Dichter nach Thackeray, jenen höchsten Grad erlangt hat, den des tragischen Humoristen…
Aber Sie wollen ja, daß ich von einem Buch spreche, das vor höchstens zwölf Monaten erschienen ist. Ich unterdrücke eine Neigung, noch von dem Roman Goha le Simple der Ägypter Albert Adès und Albert Josipovia zu schwärmen (es erschien in Paris im Jahre 1922) – und beschließe resolut, Ihnen das meiner Meinung nach beste Buch dieses, wie mir scheint, nicht sehr reichen Jahres 1924 nicht zu nennen. Ich begnüge mich damit, ohne Vergleich, ohne Rangordnung, ohne sie anderen guten Büchern ungerecht vorziehen zu wollen, von zwei ausgezeichneten Büchern dieses Jahres die Titel herzusetzen: das erste, Andreas Reischks Buch über Neuseeland, wird in Ihrer Buchhandlung viel gekauft – die Leute mögen es, obwohl es ein scheues, schüchternes, eigentlich unscheinbares Buch ist – es ist herrlich, voll von einer Wanderlust, Natursehnsucht, Schlichtheit! – und das andere kauft niemand, der Autor, Josef Weinheber, ist noch nicht berühmt, und der Roman Das Waisenhaus auch nicht. Ich nehme an, die Durchschnittskunden Ihrer Buchhandlung werden dieses Buch noch einige Zeit nicht kaufen – und daher nicht erfahren, warum es so gut ist.
Richard A. Beermann
*
Welches Buch des letzten Jahres den stärksten Eindruck auf mich gemacht hat? Die Denkwürdigkeiten des Grafen Waldersee. Und weshalb? Weil sie ganze Bibliotheken selbst guter Romane an Anschaulichkeit, Interessantheit und Spannungsreiz aufwiegen. Wäre die deutsche Republik eine; sie würde einen Auszug aus diesen Denkwürdigkeiten – mehr als acht Druckseiten brauchten es nicht zu sein – in 60 Millionen Exemplaren anfertigen lassen und damit der nationalistischen Kriegsschuld- und der Dolchstoß-Legende für immer ein Ende machen.
Siegfried Jacobsohn
*
Ich bin mit der Nicht-Abfassung meiner eigenen Werke so intensiv beschäftigt, daß ich nicht die Zeit fand, irgend ein Buch des Jahres 1924 kennenzulernen.
Anton Kuh
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Unter den wenigen Büchern von allgemeinerem Interesse, die ich in diesem Jahr gelesen habe, möchte ich das Buch von Rolf Schott „Reise in Italien“ (Sibyllen-Verlag) herausheben. Rolf Schott ist Maler und Dichter zugleich, er schildert italienische Landschaften und südliche Gesittung mit einer so tiefen Kenntnis aller Kultur und einem so klaren Künstlerbild, daß diesem Buch nicht viele Reisebücher gleichgesetzt werden können. Ganz zarte Zeichnungen sind dem Text beigegeben. Niemand, der Italien kennt, wird dieses Buch lesen, ohne ihm dankbar zu sein.
Emil Lucka
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Maria Mayer
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Von neuen Büchern hat mir zuletzt ein historisches Werk, Die Wiedertäufer in Münster 1534/35, – Berichte, Aussagen und Aktenstücke von Augenzeugen und Zeitgenossen, ausgewählt von Klemens Löffler, Jena bei Diederichs – großen Eindruck gemacht. Warum? Weil darinnen, im Bild eines politisch-religiösen Umsturzes, steht, was nicht alle Tage in Büchern zu finden ist: ein ganzes Bild menschlichen Lebens.
Max Mell
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Ich nenne lieber einige Bücher, aus verschiedenen Gebieten; denn Eindrücke sind durchaus nicht immer vergleichbar:
Den im Verlag Die Schmiede erschienenen Gedichtband Sprung auf die Straße von Victor Wittner. Neuer Mann, Österreicher. Es sind Bildchen der Großstadtstraße, aus dem sechsten Stockwerk eines vielfenstrigen Hauskäfigs gesehen. Von einem, der hinabspringen möchte, um dabei zu sein, aber auch, aus, Gott weiß, welchen Gründen.
Die bei Gunther Langes erschienene Erzählung Oskar Maurus Fontanas Die Insel Elephantine. Sie behandelt bildhaft, in einem Hotel am Nil, einen Niederbruch der Zivilisation im Zusammenstoß mit Naturkräften. Sie ist eine Parabel und das Entscheidende an ihr ist „der unendlich ferne Punkt“, zu dem hin jede Parabel deutet und sich wendet, was wir in der Geometrie gelernt, aber im Leben vergessen haben. Pessimismus und Erlösung, Zivilisation und Natur, unheilbare Widersprüche mögen sich dort schließen, das Buch selbst hat keinen Schluß: es flieht etwas hindurch, hinterläßt als Zeichen den wie aus Vogelfedern gewebten Stil des Dichters.
Eine bei E. Reiß erschienene Feuilletonsammlung Der rasende Reporter, weil der „Tagesschriftsteller“ Egon Erwin Kisch kein durchgefallener, sondern ein aus der Ewigkeitsschule davongelaufener Dichter ist. Er wurde lieber Pilot, U-Bootsmann, Reporter bei Mördern, Henker, Diplomaten, Taschenspielern und Hochöfen; alles nur für einen Tag oder ein Feuilleton, ungeduldig, witzig, essentiell; der Leser, der die Nase in dieses Buch steckt, sieht durch ein Periskop Gebiete der Welt (samt Beleuchtung), die er sonst nie kennenlernen könnte; diese Art der Reportage ist eine Zeitnotwendigkeit.
Das Kuriositäten-Kabinett der Literatur, bei Paul Steegemann erschienen. Nicht nur, weil diese Essais Führer der zu wenig bekannten amüsanten oder wertvollen Erscheinung der Weltliteratur sind. Oder weil Franz Blei, ihr Dichter, einer der gescheitesten und belesensten europäischen Schriftsteller ist. Sondern auch, weil er einer der größten Kritiker ist, der sein Geschäft leider nie anders ausübt, als im Vorübergehen mit ein paar Bemerkungen.
Den Fall Elli Link von Alfred Döblin, welcher im Verlag Die Schmiede, Sammlung Außenseiter der Gesellschaft, erschienen ist, weil Döblin hier nackter als es in der Dichtung üblich ist, seine geistige Arbeit zeigt. Dieser im jüngeren Deutschland ganz vorne stehende, in Wein merkwürdig wenig bekannte Dichter ist Arzt, und seine Psychologie ist stark psychoanalytisch gefärbt, Doch kann man menschenpsychologisch zwar zerlegen, unmöglich ist es, sie aus solchen Elementen aufzubauen; es bleibt etwas übrig, das Ungesetzliche, Tatsächliche, die Art der Mischung, das Schicksal, das Zufällige und eben deshalb Individuelle: dafür hat Döblin in dieser kleinen Arbeit ganz sachlich und unsentimental ergreifende Ausdrucksmöglichkeiten gefunden.
Nachtrag: Die bedeutende Drammaturgie des Films Der sichtbare Mensch von Béla Balázs, Deutschösterreichischer Verlag, habe ich nur deshalb aufzuzählen vergessen, weil ich gerade einen großen Essai über sie schreibe.
Robert Musil
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Stärkster Bucheindruck dieses Jahres: Brandes, Voltaire.
Arthur Schnitzler
In: Der Tag, 10.12.1924, S. 10.
Eugen M. Kogon: Theater- und Buchzensur – eine kulturreaktionäre Einrichtung?
Eugen M. Kogon: Theater- und Buchzensur – eine kulturreaktionäre Einrichtung?
Ohne Kampf gegen das Schlechte geht es nicht ab in unserer Welt, also auch nicht ohne Zensur. Alle sind wir wahrscheinlich eins in der Überzeugung, daß es besser wäre, wenn zensurwürdige „Kunst“objekte nicht entstünden oder unmöglich bestehen könnten. Von diesem Ideal, welches anzustreben bleibt, auch wenn es nie völlig erreicht wird, sind wir weiter entfernt denn je. Es muß einer schon Walter von Molo heißen und Präsident der Preußischen Dichterakademie, gleichzeitig auch Leitartikler des Berliner Tageblatts sein, um das nicht zu sehen.
Worum geht der Streit, hervorgerufen durch den Antrag im Preußischen Parlament, die Regierung Preußens möge die Reichsregierung veranlassen, gegen Auswüchse im Theaterwesen einzuschreiten? Um die Frage, ob vieles von dem, was man heute Kultur oder Zivilisation nennt, den Namen Kultur verdient; wenn nein, ob es dann, damit Kultur wieder entstehen, der Errichtung eines Dammes gegen die zerstörerischen Kräfte bedarf. Daß der Damm seine Nachteile hat, z.B. die Aussicht versperrt, verkennt niemand.
Eine Schar bürgerlich-freisinniger Herren (das gibt es immer noch!) hat sich in Berlin zusammengetan und ein Manifest „an das Volk“ erlassen. „Der Kampfausschuß von 17 Verbänden lehnt jede kulturwidrige Absicht ab, die freie Entwicklung der Kunst, des Schrifttums und der Wissenschaft durch Wiedereinführung eines auch nur verschleierten Zensursystems zu hemmen. – Er wird über den heutigen Abend hinaus eine dauernde Schädigung intellektueller Interessen zu verhindern wissen. – Der Kampfausschuß gegen die Zensur bleibt in Permanenz.“ Preußische Heeresbefehle sind ein Schmarren gegen die Entschließungen preußischer Literaten. Erinnerte der Name des Vorlesers, Ludwig Fulda, nicht an Schilda und der eines Mitredners, des Filmregisseurs Lupu Pick, nicht an den Jammer dieser Republik, man könne den Zwang verspüren, die Hände an die Hosennaht zu legen und in ehrfürchtigem Gehorsam zu ersterben. Die Zensur, jede Zensur wird also von unseren Dichter-Vorgesetzten abgelehnt. Warum? Erstens, weil es keinen sicheren Maßstab zur Unterscheidung von Kunst und „Kunst“ gebe; zweitens, weil die Zensoren nicht objektiv seien (also müßte man auch auf jede Regierung verzichten? Man gewöhne sich doch einmal an, aus seinen Behauptungen die Folgerungen zu ziehen!); drittens, weil die Zensur nichts ausrichten werde (woher wissen die Herren das? Zensuren haben im Lauf der Geschichte sehr viel Gutes und sehr viel Böses bewirkt!); viertens, weil die Öffentlichkeit selbst entscheiden könne und keine Bevormundung nötig habe; fünftens, weil die Freiheit des Künstlers nicht eingeschränkt werden dürfe; sechstens überhaupt, denn „die ganze Richtung paßt uns nicht!“
Der letztgenannte Grund ist der tiefste. Herr von Molo hat das in einer Rede vor der Preußischen Akademie der Künste ausgiebig abgewandelt, hoffentlich in besserem Deutsch als dem der Presseberichterstatter, die, zugunsten des Dichterpräsidenten sei’s angenommen, von seinen Halb und Viertelgedanken benebelt, offenkundig die Herrschaft über ihren Bleistift verloren. „Wir wollen offen sein,“ meinte er sympathischerweise, „es geht den Freunden für Einführung einer neuen Zensur gar nicht darum, ob ein Werk ein Kunstwerk ist oder nicht. Es handelt sich heute, von niemandem zugegeben, aber jedem Einsichtigen klar, darum, daß eine Gruppe die Werke als Nichtkunst bezeichnet haben will, die ihr nicht in den Kram passen! Das ist die größte Gefahr für den Staat, und darum stehen wir gegen dieses Verlangen… Kein Staat kanndie volle Freiheit der schöpferischen Menschen entbehren.“ […]
Kram! Da von einer Gruppe die Rede ist und wir zu ihr gehören, müssen Sie auch uns meinen Herr von Molo. Unser Kram nun ist die christliche Auffassung von Welt, Leben und Menschen. Eine kaum übersehbare Schar von Heilen, Heiligen und Künstlern ist uns im Lauf von 2000 Jahren mit diesem Kram vorangegangen. Wir werden ihn also nicht aufgeben, weil ein Molo behauptet, „Weltanschauungen sind Anschauungen, sie gegen nicht den Besitz des Steins aller Weisheit, sie sind Einseitigkeit; Einseitigkeit kann nicht über Kunstwerke zu Gericht gesetzt werden. Ein Kunstwerk ist ein Ganzes, das nicht von dem begriffen werden kann, dessen Finger nur zu einem Stückchen heranreichen.“ Haben Sie schon einmal einige kunstkritische Briefe von Claudel oder etwas über die Freiheit des Künstlers von Chesterton gelesen? Verengung, Einseitigkeit…, so schwatzen Sie doch nicht so ausgelaugtes Zeug! Die ganze Welt steht dem Künstler zur Gestaltung offen, alles Gute und alles Schlechte, wir verlangen nur, daß das Gute gut, das Schlechte schlecht erscheine, nicht umgekehrt; und daß der Künstler sich nicht darauf kapriziere, sich im Dreck zu suhlen. Wahrhaft grenzenlos ist die Freiheit des katholischen Künstlers, sie reicht von Unendlichkeit zu Unendlichkeit Gottes, der alles Geschaffene erhält, selbst das Schlechte in seinem Sein. Ist Dante von seiner katholischen Weltanschauung behindert worden? Der Herr von Molo weiß es freilich besser, Er spielt zwar darauf an, daß er ein Christ sei oder wenigstens eine Ethik habe, die doch, wenn sie wirklich eine ist, im Grunde christlich sein muß, weil der Logos spermatikos auch in den Heiden wirkt, aber er nennt den Kampf gegen das Böse doch Rückschrittlichkeit, denn der Hasenclever hat es partout auf die Gotteslästerung abgesehen (Motto: Das woll’n wir doch sehen, ob ich den Tempel nicht bedrecken darf, vonwejen Freiheit des Künstlers!), und den Berliner Literaten möchte ich kennen, der ich nicht lieber Arm in Arm mit Hasenclever sehen ließe, als an der Seite eines Dante! Das Maß dieses Riesens würde nämlich selbst dem Romanischen Café plötzlich klar machen, daß es doch Maßstäbe zur Beurteilung von Kunst und „Kunst“ gibt.
Ist das Romanische Café überzeugt, daß unsere Weltanschauung ein Kram ist, so weiß das Café des Westens genau, daß wir „den schöpferischen Geist knebeln“ wollen. Fürs Knebeln sind wir aber nicht, nur für einen eisernen Besen, der ersetzt, was die väterliche Zuchtrute bei den Literaturschwengeln unserer Zeit, den jungen und den alten, versäumt hat. Für die Aufführung von Anja und Esther z.B. hätte ich den noch nicht stubenreinen Kleckser auf ein paar Jahre in eine Besserungsanstalt, statt nach Amerika geschickt, von wo er nur noch frecher und eingebildeter zurückgekommen ist. Wenn Gerhart Hauptmann eine Dorothea Angermann schreibt, so wünschen wir, auch wenn wir sie ablehnen, nicht ihr Verbot, weil wir wissen, daß das Stück nicht die Kunst eines Großen erschöpft, der auch Hanneles Himmelfahrt gedichtet hat. Wenn aber Klaus Mann oder Hasenclever oder sonst einer von dem Gewimmel –, da verwandelt sich unser einheitliches Maß sofort in ein doppeltes, und beide werden zur Peitsche, die wir am liebsten in der Hand eines weisen Zensors sähen. Aber wer macht denn diese Öffentlichkeit aus? Die Marktschreier, die Händler, die Verantwortungslosen. Und das Volk läßt sich immer wieder beschwatzen, in deren Theater zu gehen, statt ihnen endlich einmal die Hosen zu stäuben. Woher denn das ganze Theater- und Literaturelend, über das die Brüder vom Freisinn selbst immer wieder ihre Feuilletontränen vergießen? Generalintendant Jessner lehnte Probeaufführungen vor einem Zensorenparkett (die wir übrigens gar nicht verlangen, weil die Zensur viel früher einzusetzen hat) ab, denn ein solches Zensorenkollegium könne nicht über die öffentliche Meinung entscheiden. Als ob der Koofmich vom Kurfürstendamm, der für Jessner schwärmt („Sin Se jewesen bei de letzte Prämiär bei Jessner? Was? Ham Se nich jesehn? Müßn Se anschaun gehen, das Stück, kolossal sar’ch Ihnen!“), als ob sowas öffentliche Meinung wäre, jene aber, die es tatsächlich ist, nicht längst entschieden hätte! Sind die Theaterpleiten kein Beweis? Der Herr Regisseur Emil Lind indes hob bei der Kundgebung im Preußischen Herrenhaus, ohne daß ihm schallendes Gelächter zum Verstummen ge-//bracht hätte, hervor, alle Bühnenkünstler seien die ersten im Kampf um die Lebensinteressen des Geistes und der Kunst. Das sagt er, anno 1929, gegen die Zensur, nicht für sie! Welch groteske Situation: In Berlin, wo nach dem Urteil aller dortigen und dortgewesenen Kulturmenschen die Musen nicht etwa bloß auf den Hund gekommen, sondern in manchen Theatern geradezu unter die Säue geraten sind, soll ein Regisseur von diesen seinen Bedrängern befreit werden. Was tut er? Atmet er beglückt auf über die nahende Hilfe? Feuert er die Helfer zu rascherer Arbeit an? Nein, er macht den Versuch, die Säue und die Perlen, die andere mit ihnen verdient haben, zu schützen! Man höre gut und mißverstehe nicht: zu schützen!
Der Präsident der Dichtersektion, Herr von Molo, geht noch weiter, wenn es auch nicht möglich zu sein scheint. Er leugnet die Existenz des ganzen Schweinestalls. Man soll erst die Wohnungsnot beseitigen, rät er, die Arbeitslosigkeit, meint er, den politischen Kuhhandel, schreit er, dann könne man erst feststellen, ob schädliche Literatur überhaupt Schaden stifte. […]
Man sollte von unserer Seite die Frage: „Für oder wider eine Zensur?“ nicht auf den Schutz der Jugendlichen einschränken. Nicht nur meine Kinder will ich beschützt wissen, mich will ich bewahrt und geschont sehen vor dem Geblödel, das mir blasphemischen Schleim entgegenhustet und die Frechheit besitzt, den Auswurf seiner geistigen Unzucht auf dem literarischen Jahrmarkt auch nur feilzubieten! Daß ich den Brüdern vom dunklen Gewerbe des Freisinns weder für Pofel noch Dreck etwas zahle, versteht sich von selbst. Aber sie sollen auch nicht hausieren dürfen, weil sie die Kultur verpesten. Wenn die Abzugskanäle als Volksküchen aufgetan werden, appelliere ich heute und allezeit an die Ordnungsgewalt. Wir opfern unsere Steuergelder schließlich nicht nur zum Schutz der „Errungenschaften“ liberaler Literaturkaufleute, welche die Probleme der Zeit so lange schinden, bis diese notgedrungen die erpreßten Prozente herausgeben. Und Leute, die Dichter, Leute, die Künstler sein wollen, versichern uns zeternd, daß es kein Merkmal gebe, sie unter Schwindlern als Gottgezeichnete zu erkennen!
Es gibt die Merkmale schon, Herr von Molo! Wenn einer z.B. den Mut aufbringt, vom hohen Pult der Preußischen Akademie der Künste, als Präsident den Dichtersektion überdies, so erbarmungswürdiges Geschwätz über Religion und Kirche […]vorzutragen, dann brauche ich seinen Luther-Roman gar nicht gelesen haben, um zu wissen, daß der einstmalige Augustinermönch, lebte er heute, die Zensur nicht nur gefordert, sondern so streng gehandhabt hätte, daß es zu Resolutionen sog. Kampfausschüsse von Literaten, G’schaftlhubern und G’schäftlemachern gar nicht gekommen wäre. Denn er eher von ihnen auch nur ein Wort hätte vorbringen können, wäre ihm der Junker von Wittenberg übers Maul gefahren. Und wie, Herr von Molo!
In: Schönere Zukunft, 7.4. 1929, S. 565-566.
N.N.: Der Geburtstag der Republik
N.N. (Leitartikel): Der Geburtstag der Republik (1918)
Deutschösterreich ist seit gestern Republik und ein Teil des großen Deutschen Reiches. Damit verläßt unsre Geschichte ihren alten Weg und kehrt zurück zu jenen Jahren des bürgerlichen Freiheitskampfes, da der beste Teil der deutschen Nation ein geeintes und demokratisches Deutschland erstrebte. Die deutsche Freiheitssehnsucht ist blutig erstickt worden durch die Gegenrevolution der alten Mächte und mußte siebzig Jahre schweigen. Aber auch der Traum von dem Deutschen Reich, das alle Stämme der Nation umfassen sollte, schien für immer versunken. Nachdem Preußen die Geschicke Norddeutschlands in die Hand genommen hatte, verlor Österreich im Kampfe um die Vorherrschaft jeden Anspruch auf ein Führeramt und auch jeden inneren Zusammehang mit Deutschland. Es schlug seinen eigenen Weg ein, während das neue Deutsche Reich zehn Millionen deutscher Volksgenossen preisgab. Mit diesem Schicksal, das zwei Kriege und der Wille Bismarcks so gestaltet hatten, fanden sich sowohl die Deutschen des Reiches wie Deutschösterreich ab; es schien für alle Zeiten unabänderlich zu sein. Erst der Krieg und seine jähre Wendung, die das alte Österreich auseinanderriß, haben das deutsche Volk in Österreich vor die unerbittliche Frage gestellt, entweder unter slawische Oberhoheit zu geraten oder kraft der Selbstbestimmung sich eine neue Zukunft zu zimmern.
Der gestrige Tag hat die Entscheidung gebracht: der Beschlußantrag des Staatsrates, Deutschösterreich als demokratische Republik und als einen Teil der Deutschen Republik zu erklären, ist von der Nationalversammlung einstimmig angenommen und unter dem Jubel einer vieltausendköpfigen Menschenmenge verkündet worden. Der Kanzler unsres neuen Staates Dr. Karl Renner hat in seiner gestrigen Rede mit überzeugenden Worten die Notwendigkeit dieses Entschlusses dargetan, er hat bewiesen, daß die Deutschen Österreichs gar keinen andern Weg hatten als den natürlichen Pfad, der sie zu ihrer Mutter, dem großen deutschen Volk, zurückführte, zumal da die Tschechen in Überspannung des Machtgefühles jede Verhandlung an die Voraussetzung knüpften, daß deutsches Gebiet ihnen überantwortet werde. Dr. Renner hat in einem lauten Bekenntnis davor gewarnt, das Recht der Deutschen auf den vollen Umfang ihres Siedlungsgebietes und auf die Freiheit ihrer Entschließung verkümmern zu wollen. Nur das Schwert eines fremden Siegers, das alle Rechte mißachtet, könnte den Deutschen diesen Weg verlegen und dies auch nur vorübergehend, denn so groß ist keine Macht, daß sie heute noch die zur Freiheit und Selbstbestimmung erwachte deutsche Nation dauernd unter fremdes Joch beugen könnte.
Die neugeschaffene deutschösterreichische Republik ist nur möglich und entwicklungsfähige, wenn die drei werteschaffenden Klassen, Bürger, Arbeiter und Bauern, zusammenstehen und sich gegenseitig fördern. Nach dem furchtbaren Zusammenbruch des alten Staates und unsrer Wirtschaft wird es des gesammelten Aufgebotes aller Kräfte bedürfen, um die Not dieser Zeit zu überwinden und dem neuen Gebilde eine sichere Grundlage zu leihen. Es ist zu hoffen, daß durch den Anschluß an das Deutsche Reich auch zu uns ein Teil jenes Stromes von unversiegbarer Arbeitskraft und unüberwindlicher Energie herüberkommt, der Deutschland groß gemacht hat und das beste Unterpfand für seine neue Zukunft ist. Aber zu ehedem ist erforderlich, daß sich die Wiedergeburt Deutschösterreichs im Rahmen der großen Deutschland in Ruhe und Ordnung und ohne gewaltsame Eingriffe in den Gang der Geschichte vollzieht.
Der erfreuliche Ordnungssinn, den die großen Massen des arbeitenden Volkes gestern bewiesen, ihre anerkennenswerte Disziplin und ihr reifes Verständnis für die Größe der Stunde geben uns Gewähr dafür, daß wir von den kommenden Tagen nichts zu befürchten haben. Aber ein dunkler Schatten fiel auf die hehre Feier des gestrigen Tages, ein Schatten auf die Geburt der Republik. Die unverantwortliche Szene vor dem Parlament, der Versuch ungezügelter Elemente, sich dem Willen des gesamten Volkes entgegenzustellen und mit einem unklaren, gewalttätigen Experiment die neugeschaffene Macht des jungen Staates zu terrorisieren, hat gestern Blut fließen lassen, die große Feier ernsthaft gestört, und wenn auch nur für wenige Stunden, so doch in häßlicher Weise das Gespenst der Anarchie erstehen lassen. Hoffen wir, daß der Vorfall eine düstere Episode bleibe. Wäre er von Vorbedeutung für den weiteren Gang der Dinge, so müßte man mit lebhafter Sorge in die Zukunft blicken. Macaulay stellte der großen englischen Revolution das Zeugnis aus, sie sei das Muster aller Umwälzungen gewesen, da sie „die Existenz jedes einzelnen mit menschlichem Respekt behandelt, die alten Symbole entfernt, aber nicht zerschlagen hat“. Noch sind die Beweggründe, die gestern eine Gruppe unreifer Elemente veranlaßt haben, auf das Volkshaus zu schießen und unter der Menge eine Panik anzurichten, nicht völlig aufgeklärt, aber der Vorfall, der den sonst schönen Tag befleckte, legt der Regierung die ernsthafte Pflicht auf, die Ordnung, deren der neue Staat bedarf, von keiner Seite gefährden zu lassen. Es darf nicht gestattet sein, daß in die Freiheit der Republik der Schrecken der Anarchie einzieht; es darf auch nicht sein, daß das Bild der demokratischen Republik durch die Fratzengestalt hemmungsloser Fanatiker verunstaltet wird. Den Versuch, auf sehr abruzzenhafte Art eine große Tageszeitung in die Hände zu bekommen, haben die Urheber dieser Tat bald wieder aufgegeben; aber die Regierung wird gut daran tun, sehr deutlich zu beweisen, daß der Respekt vor der Äußerung jeder freien Meinung zu den unveräußerlichen Rechten eines wirklichen Volksstaates gehört. Die wahre Freiheit besteht nicht darin, daß alle dasselbe Lied singen,// sondern in der Möglichkeit, jede Meinung äußern zu dürfen. „Rasche Mitläufer“ siegreicher Anschauungen hat es immer gegeben; sie sind oft die ersten, die wieder untreu werden. Es sind nicht die schlechtesten Elemente, die ihre Überzeugung wahren, und Achtung wird auch genießen müssen, wer nicht allem, was er heute hört, sofort begeistert zustimmt, sondern seinem eigenen unabhängigen Urteil vertraut. Eines aber darf und muß man von allen gleichmäßig fordern: Unterordnung unter das Gesetz und Zusammenwirken zum gemeinsamen Wohl. Gewaltanwendung und Beugung des Rechtes des einzelnen sind um so weniger notwendig, als diese Umwälzung sich ohne Widerstand der alten Mächte vollzogen hat, die kampflos das Feld räumten.
Der neue Staat, das republikanische Österreich, will uns von vielem befreien, was dem alten Reich als Überbleibsel aus alten Zeiten anhaftete. Doch ein selbstbewußtes Volk, würdig der großen deutschen Nation, können wir nur werden, wenn der gestern verkündete neue Staat jedem die volle Freiheit des Gedankens und die ganze Entfaltung seiner natürlichen Kräfte beläßt. Unser neues Vaterland, das heute aus tausend Wunden blutet, wird gesunden und erstarken im Zeichen der Ideen, die der Aufruf der provisorischen Nationalversammlung verkündet: Vertrauen und Eintracht, Selbstzucht und Gemeinsinn.
In: Neues Wiener Tagblatt, 13.11.1918, S. 1-2.