Ernst Fischer: Neue Kunst (1920)
Bis zum Ekel haben Dichter, Maler, Musiker, Schauspieler, Künstler und Intellektuelle jedes Grades und jeder Schattierung versucht, immer wieder versucht, Kunst an sich, ohne jede Relation, als etwas Wertvolles, für sich Bestehendes, als rein formale Gestaltung, ohne weiteren Zweck, hinzustellen. Diese Tendenzen finden wir bezeichnenderweise immer in Zeiten, die zermürbt, aufgelockert, müde und verfallend sind, fröstelnde Abendröte morschender Kulturen vergehender Gesellschaften. Die Kunst starker latenter Zeitalter, scharfumrissener Gesellschaftsbildung, selbstbewußter Klassen ist nichts anderes als geschlossener, konzentriert geballter Ausdruck der Zeit, ist im Spiegel das Erlebnis der Zeit (denn jede Zeit hat ihr eigentümliches Erlebnis) und, in ihrer höchsten Form, Deutung, Verklärung der Zeit, Ausblick und Überschwang. Dies ist eine historische Tatsache; starke Zeitalter (Griechentum, Gotik, Renaissance in Italien, England, Spanien, Frankreich) haben starken, eigenwilligen Stil, haben eine Kunst, die in ihren Ideen, ihrer Logik, ihrem inneren Aufbau, ihren formalen Ausdrucksmöglichkeiten nichts ist als Information des Zeitalters, eines bestimmten Grundwillens, der sich gleicherweise ausspricht, in Staat, Gesellschaft, Religion, Philosophie, in allem Größten und Kleinsten.
Aus dieser historischen Tatsache erhellen unmittelbar Wesen und Zweck der Kunst. Ein Volk, eine Gesellschaft – oder, noch richtiger: die herrschende Klasse eines Volkes, einer Gesellschaft, die kräftigste, geschlossenste, bewußteste, die der ganzen Zeit ihr Gepräge gibt, will sich selber, ihr Wesen, ihr Wollen, ihren historischen Sinn im vereinfachten Bilde erkennen, aus diesem Erkennen sich selber steigern, sich selber bereichern, sich stärken an ihrem eigenen Wesen, sich entflammen zu dem, was ihre historische Sendung ist.
Wir nehmen ein typisches Beispiel. Die französische Tragödie um die Zeit Ludwigs XIV. Herrschende Klasse war der kriegerische Adel des Landes, der, erst kürzlich seiner unbändigen politischen Macht beraubt, sich allmählich umbildet in einen höflichen Adel. Der Dichter dieser Zeit ist Corneille. In seinen Dramen verherrlicht er alle starken, umgebrochenen Instinkte des Edelmannes, diese Instinkte zu Tugenden verklärend. Das Ideal der Zeit wird uns die Verbindung von Held und Hofmann. Mut, Entschlossenheit, Königstreue, Ritterlichkeit, eine gewisse Erhabenheit der Gesinnung – aus diesen formt sich das typische Erlebnis der Zeit. Man verstehe nun ferner, daß im Künstler stoffliches und formales Erleben untrennbar verbunden sind. An einem Hofe, der um ein Zentrum, den absoluten Monarchen, erst kürzlich gebeugte Fürsten, Grafen und Ritter vereinigt, ihre stolzen und störrischen Instinkte durch ein strenges Zeremoniell bändigend, konnte nur die Tragödie, das Drama herrschende Kunstform werben. Und zwar das klassisch geschlossene, starren Regeln unterworfene Drama, dessen strenge Form die starken Leidenschaften der Handlung bändigt. So fand das Publikum, bestehend aus den Herren des Hofes, sein Schicksal gespiegelt in den Dramen, die vor ihm aufgeführt wurden. Dieses formale Gestalten der Zeit erstreckt sich natürlich bis auf die Sprache, deren ursprünglich saftige Kraft in dem strengen und feierlichen Prunk des alexandrinischen Versmaßes erstarrt. So ergreift uns Ahnung der Lust, die jener Hofstaat angesichts jener Kunstwerke empfand.
Dies Beispiel ist eines von Tausenden. Ich möchte noch, zum besseren Verständnis, auf Zola verweisen, dessen Romane ich als bekannt voraussetze. Dieser gewaltige Künstler steht am Tor einer neuen Zeit, in ungeheuren Visionen ihr tiefstes Wesen erkennend. Das Erlebnis dieser Zeit ist das Eintreten der Urbereitschaft in die Geschichte, die, als innerlich stärkste Klasse, ihre historische Sendung beginnt. Das künstlerische Erlebnis dieser Zeit ist das Erlebnis der Masse, die sinonyme Kunstform der Romane. Nur im Roman ist es möglich, die Masse künstlerisch widerzuspiegeln, formal auszudrücken.
Diese beiden Beispiele mögen genügen, das Wesen einer starken Kunst zu erläutern. Alles andere, das diesen großen, historischen Gesetzen nicht entspricht, ist nur Literatur. Neben den wenigen Künstlern läuft immer das Pack unzähliger Literaten, die dann gefährlich werden, wenn sie Talent besitzen. Sie betrachten ihr Talent nicht als eine Verpflichtung, es der Gesellschaft nutzbar zu machen, sondern als einen Freibrief, ihr auch lästig zu fallen.
Und nun die Frage: Wie stellt sich unsere Zeit bar im Spiegel der Kunst?
Es ist wesentlich leichter, diese Frage für vergangene Epochen der Geschichte zu beantworten. Die Distanz ermöglicht es, zwingt uns sogar, nur das Große, Bedeutsame, Wesentliche zu betrachten, das Überflüssige zu vermeiden. In der Gegenwart kann es uns leicht geschehen, die Kunst über dem Wucherwerk der Literatur zu übersehen. Immerhin sind starke Stimmen vernehmbar, selbst durch das Gebrodel der hundert schwachen hindurch, wenn auch das Katzenkonzert der Literaten uns jedes Zuhören verekeln könnte. Eine weitere Schwierigkeit, ein klares Bild zu gewinnen, liegt darin, daß unsere Zeit überhaupt keine Zeit klarer Bilder ist.
Immerhin: wer sich etwas mit Kunst beschäftigt hat, erkennt zwei wesentliche Faktoren: Masse und Rhythmus. Und ich glaube, wir haben es hier tatsächlich mit den beiden Faktoren zu tun, die das typische Erlebnis unserer Zeit bedingen. Auf einer Seite das rasende Tempo der Schnellzüge, Automobile Aeroplane, der Maschinen und technischen Ungeheuer – der stählerne Pulsschlag fiebernden Blutes – auf der anderen Seite die Tatsache, daß sich die große Masse als Masse fühlt, daß jenes viel mißbrauchte Wort vom „sozialen Gewissen“ Wirklichkeit wird.
Die Arbeiterschaft, das Proletariat, ist die Waffe, die der Zeit ihr Gepräge gibt, die Revolution in jedem Sinne ist das entscheidende Ereignis.
In diesem Zusammenhange muß die moderne Kunst gewertet werden. Ihr Inhalt ist die Revolution, ihre Form ist ebenfalls – die Revolution. Und wenn wir, mit einer gewissen Skepsis vielleicht, das Aufschießen unzähliger neuer Kunstrichtungen beobachten, erkennen wir doch das eine: die Künstler fühlen, es hat eine neue Zeit begonnen. Diese neue Zeit verlangt gebieterisch neuen Ausdruck. Man mag über Expressionismus, Futurismus und wie diese -ismen alle heißen, denken, wie man will – eines darf man nicht unterschätzen: Es ist ein ehrlicher Wille, der hier, oft unter Krämpfen, oft unter Fieberzuckungen, um das Neue kämpft. Es sind die Geburtswehen einer neuen Kunst. Diese Kunst wird und muß, wenn sie erst klar in Erscheinung tritt, Spiegel der Revolution, Ausdruck des Proletariats, Information einer neuen Gesellschaftsordnung sein.
Dies wird geschehen, trotz aller Salonexpressionisten und Kaffeehausmystikern, trotz aller hysterischen Ästheten und Konjunktursozialisten trotz aller Literaten, die sich um neue „Kunstrichtungen“ raufen und sich redlich bemühen, die Kunst in Tinte zu ersäufen – dies wird geschehen, weil es geschehen muß.
Das Proletariat wird seine Kunst haben, wie es seinen Staat, seine Gesellschaftsordnung, seine Welt erkämpfen wird, weil es heute die einzige Klasse ist, die um Gestaltung einer neuen Idee ringt.
In: Arbeiterwille, 9.11.1920, S. 9.
Hugo Huppert: Der Sprechchor und die proletarische Kunst
Die proletarische Kunst ist ein Ausdruck des proletarischen Kampfes. Aber mehr noch, sie ist ein Mittel, die steht im Dienste dieses Kampfes selbst. Daraus leuchtet ein, daß sie nicht nur ihren Inhalt, sondern auch ihre Form und Gehalt dem Charakter des proletarischen Klassenkampfes entlehnt. Was ist nun das Kennzeichen dieses Kampfes, was unterscheidet seine allgemeine Taktik von der Kampfesweisen anderer Klassen und Gruppen? Die einmütige Bewegung der selbsttätigen Masse. Nicht ein Held, Erlöser, Drachentöter, Befreier, „kein Gott, kein Kaiser, kein Tribun“ wird den Kampf der Werktätigen um die Herrschaft und später um die klassenlose Gesellschaft entscheiden, sondern die Klasse selbst als kollektive Kampfformation, organisiert und geführt von der Partei der Revolution. So muß die proletarische Kunst zunächst schon der Struktur (dem Aufbau) der Klasse selbst entsprechen, der Klasse, wie sie lebt, arbeitet und kämpft.
Wenn wir die Architektur (Baukunst) betrachten, die in ihrer praktischen Verbundenheit mit dem Wohnbedürfnis der Gesellschaftsklassen die Zusammenhänge zwischen dem wirtschaftlichen Unterbau und dem künstlerischen Ausdrucksleben einer Gesellschaftsordnung deutlicher als andere Kunstgattungen aufzeigt, so sehen wir folgendes: Im Wohnparadies der Großbourgeoisie, etwa im Cottageviertel von Währing, stehen ältere und neuere Villen und Einfamilienhäuser neben kleinen Palästen und schloßartigen Gartenhäuchen in ungleichen Abständen mit allerlei Gartenschmuck, wobei aber das Auffallendste die durchgängige Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit dieser Gebäude ist, von denen nicht zwei einander ähnlich sein wollen und im Wettbewerb um Eigenart, Besonderheit und „Apartheit“ zu den geschmacklosesten Mitteln greifen. In diesen Bauformen drückt sich der Persönlichkeitskult und der Individualismus des in der freien Konkurrenz der Einzelnen erzogenen bürgerlichen Denkens und Fühlens aus. Dieses plan- und regellose Durcheinander von Ungleichartigem, oft Widerspruchsvollem ist eben das baukünstlerische Abbild der Anarchie der Produktion, wie sie die kapitalistische Wirtschaft beherrscht. Vergleichen wir damit die ungeheuer gleichförmigen, geradlinig ausgerichteten Mauerblöcke der Vorstädte, diese hausgewordenen Raumquader, in welchen das Proletariat wohnt, so erkennen wir darin den kollektiven Zug und das Massenmaß, welches den Aufbau der Arbeiterklasse, ihre Kampfesweise und damit auch die proletarische Kunst kennzeichnet. Nicht um der Schönheit willen ist die Kunst geschaffen, sondern sie wächst aus der sozialen Not wie die Zinskasernen. Und so wandelt sich „Stil“, Geschmack und Schönheitsbegriff mit dem Wechsel der Gesellschaftsform, welche großen ökonomischen Gesetzen folgt.
Ebenso wie die Riesenquader, Wolkenkratzer und Bienenhäuser dem sozialen Massenwohnen der Arbeiterklasse entsprechen, so entspricht der Epoche des revolutionären Massenaufzugs, der Straßendemonstration und des Straßenkampfes als sprachliches Ausdrucksmittel der Sprechchor. Die kollektiven Losungen der Partei des Proletariats sind der dem Sprechchor angeborene Stoff. Wie ist diese Kunstgattung entstanden? Wer am 25. März nach der Rote-Hilfe-Versammlung im Demonstrationszug über die Mariahilferstraße mitmarschiert ist und die Parolen des Tages im Marschtakt mitgerufen hat, der kennt durch eigene Erfahrung die Geburt des Sprechchors aus dem Kampf. Und als der erste Polizeikordon durchbrochen war, wie rasch und feurig kam im Rhythmus des anschwellenden Sprechchors wieder Ordnung und Geschlossenheit in den Zug! Wo die Starrheit des Marschliedes der vorwärtsstürmenden Bewegung inhaltlich nicht nachkommt, da ergreift der anpassungsfähigere Sprechchor die neue Parole. Und das der Parole entsteht das revolutionäre Gedicht.
Eine Masse, in der jeder Einzelne sein Wort und seine Stimme hören will, kann nicht sprechen, sondern nur rauschen wie ein totes Element. Der brausende Wind und das rauschende Meer kann beherrscht werden. Aber eine sprechende, weil wollende Masse kann kein Herr beherrschen. Sprechen kann aber nur ein Chor, eine organisierte Masse. Und hier zeigt sich wieder die Einheit von Kunstform und Kampfesform des Proletariats. Der Sprechchor ist das ausdrucksvollste Musikinstrument der zum Kampf organisierten Masse.
Wer sehen will, wie die kleinbürgerliche Verknöcherung der Sozialdemokratie bis in die ideologischen Höhen der Kunstteheorie hinaufsteigt, der lese, was Elise Karau in der Arbeiter-Zeitung vom 31. März zu sagen hat. Der Sprechchor, aus der antiken Tragödie hervorgegangen, ist nur da, um „proletarische Feste zu verschönern, ihnen eine neue Weihe zu geben…“, „zu unser aller Freue, frohes Fest mit tiefem Sinn…, ein stück Sozialismus, Festkultur der Zukunft! … wenn das Dichterwort: ‚Nur eine kleine Weile, dann habt ihr Zeit!‘ sich erfüllt haben wird.“ Ja, wir wissen, daß diese Stück-Sozialisten Zeit haben; und da wird’s doch dem Proletariat auf „kleine Weile“, die sie ihm durch „Reigen in schöner Harmonie“, „Schönheit des durchgebildeten Körpers“, „Wohllaut des Klanges“, „mit Geist und Empfindung des freien, bewußten Menschen“ kürzen, nicht ankommen! Auch ein Weg zum Sozialismus, der ja stückweise kommt: Man vertreibe // sich die Zeit bis dahin durch Vorbereitungen zur „Festkultur der Zukunft“! Wir würden der Arbeiterjugend raten, etwas anderes zu vertreiben… Aber weshalb denn? Elise Karau meint: „Ein Stückchen vom Himmelsblau, ein Sonnenstrahl vergoldet auch den kahlen Hof der Zinskaserne (und auch diese sieht heute schon anders aus als vor zwanzig Jahren) …“ Aber gemach! Sprechchöre sind alles, nur kein Einschläferungsmittel. Eine kleine Weile nur, und der überraschten Elise Karau schallt es aus tausenden Proletarierkehlen entgegen: „Hinaus aus der Festkultur der Zukunft! Hinein in die Kampfkultur der Gegenwart!!“
In: Die Rote Fahne, 19.4.1925, S. 6-7.
Max Eisler: Die Kunst unserer Zeit
Max Eisler: Die Kunst in unserer Zeit (1930)
Im Oberstock des Künstlerhauses ist seit einigen Tagen eine Ausstellung zu sehen, die den Formenwillen unserer Zeit bis auf den Grund klarlegen möchte. Sie setzt sich also ein geistiges Programm. Denn es geht ihr nicht um das vollkommene Beispiel, sondern um Sinn und Weise der modernen Gestaltung. Was sie will, ist eine Klärung des Wirrwarrs, in dem wir gedankenlos vegetieren, eine Atempause der Selbst- und Weltbesinnung in dem überhitzten Tempo, von dem wir uns treiben lassen, also den Weg zur Erkenntnis der tieferen Beweggründe und der Einheit im Schaffen der Gegenwart.
Um das aufzuzeigen, werden – besonders innerhalb der Malerei – die Werke dreier Generationen, aber auch sehr verschiedene Betätigungen – etwa Erzeugnisse der heutigen Technik, sozial-ökonomisches Bauen und endlich Bilderkunst – miteinander konfrontiert. Die Gegenüberstellung der drei malenden Generationen – von Hans Tietze, dem verdienstvollen Urheber der Aufstellung, schon einmal versucht – erweist sich auch diesmal sehr fruchtbar. Aber schon bei den zwei Zimmern, welche die Einrichtung in den Jahren 1900 und 1930 charakterisieren sollen, wird man grundsätzlich Bedenken haben; denn der Raum vom Jahre 1900 ist kein rein charakteristisches Beispiel, sondern ein mit drastischer Absicht zusammengebrachter Auswuchs der Zeit, wie er sich auch für die Gegenwart leicht hätte finden lassen. Bedenklicher noch scheint uns die Zusammenführung so entlegener Dinge wie etwa eines höchst rationellen Staubsaugers und der neuesten Malwerke. Denn da werden, nach unserm Gefühl, Brücken gelegt, wo besser Grenzen gezogen werden müßten. So ist es z. B. heute bei weitem nicht mehr so wichtig, an dem und jenem die gemeinsame „Sachlichkeit“ nachzuweisen, als dieses arg mißbrauchte Schlagwort durch eine feinere Unterscheidung von Fall zu Fall zu entkräften und wesentlich richtigzustellen. Und das ist vielleicht nirgends so wichtig, wie bei der Bestimmung des Verhältnisses von neuer Bau- und neuer Bildkunst, die in ihren Gegensätzen weit gründlicher verstanden werden können als in ihren vorgeblichen Gemeinsamkeiten. Jedenfalls bringt die Anhäufung so vieler disparater Arbeiten im engen Raume die Gefahr mit sich, daß das Publikum – dieses sollte ja erzogen werden – statt des Zusammenhanges eine Verwirrung wahrnimmt. Und das wäre furchtbar schade.
Denn die Ausstellung ist, trotz allem, eine ernsthafte und mutige Tat. Schon als geistiges Ereignis steht sie hoch über unserm normal lässigen Ausstellungsbetrieb, der sich im besten Fall von irgend einer Konjunktur inspirieren läßt. Hier endlich ist ein umgreifender Gedanke Antrieb der Veranstaltung gewesen und von den Mitarbeitern Tietzes mit junger, schöner Hingabe verwirklicht worden. Gewiß nicht mehr als ein Experiment. Aber, selbst in seinen Irrtümern derart interessant, daß man so leicht davon nicht loskann. (Auch wir wollen ein nächstesmal noch genauer darauf zurückkommen.)
Heute schon das: Man mag gegen den Aufbau des Problems seine Bedenken haben und deshalb auch bezweifeln, ob er in breiteren Kreisen zu der erwünschten rechten Einsicht führen wird – gewiß ist, daß durch diese Ausstellung, namentlich auf dem Gebiet der neueren und neuesten Malerei, der von allen pfahlbürgerlichen Geistern verrammelte Horizont des Wiener Kunstfreundes mit einem Male kosmopolitisch erweitert wird. Man begegnet hier namhaften Meistern der Zeit mit bedeutenden Werken, man sieht, was einem bisher zu sehen versagt und nur durch das Gerücht, meist durch ein übelwollendes Gerücht, bekannt geworden war – man erhält endlich wieder einen weltgültigen Gesichtskreis und darin die Möglichkeit, einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Das ist das unbestreitbare Verdienst der Veranstaltung. Und schon das allein macht sie für alle aufrichtigen Freunde des Kunstlebens, ohne Unterschied ihrer Einstellung, wahrhaft sehenswert.
In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, 31.3.1930, S. 8.
Leopold Wolfgang Rochowanski: Formwille der Zeit
Wien 1922 (Auszüge; S. 10-11, 32-33)
[…]
Es gibt keine Arbeit von Cizekschülern, in der nicht der Atem, der Gedanke, die Triebkräfte unserer Zeit zu spüren sind.
Der Unterricht [o altes Wort!] beginnt mit der Aufforderung, sich hemmungslos, mit der zügellosen Wildheit vorhandener Energien zu geben. Es entsteht: das Chaos. Aber schon die nächste Stunde ruft: Besinnung. Und die nächste Steigerung heißt: Ordnung.
Schon die einleitenden Aufgaben sind eine prüfende Probe für das vorhandene Kraftvermögen des Schülers.
Die Expression ist eine Besitzentleerung zum Besitz für andere, sagt Rubiner. Was nun folgt, ist ein gewaltiges fortwährendes Sichentladen. Zuerst kommt das Projizieren bestimmter Gefühle: Freude, Trauer, Neid, Sehnsucht, Erhabenheit, Kälte, Wärme. Alle Superlative von Leidenschaften. Das Ausschöpfen von Bewegungsenergien: Sprießen, Drängen, Treiben, Sprengen, Emporstreben [wobei zugleich die Differenzierung des Sprachgefühls zum Ausdruck kommt und kontrollierbar wird]. Die Empfindungen durchs Auge: Licht, Finsternis. Durchs Ohr: Straßengeräusche, Donner, Musik. Eine Verbindung psychischer, auditiver und visueller Eindrücke: Donner und Blitz. Durch die Nase: Blumenduft, Brand. Aus dem Für und Wider der Kräfte springt: der Kampf. Kampf der Ordnung gegen die Unordnung [Aber beliebter ist: Kampf der Unordnung gegen die Ordnung und das ist begreiflich aus der Zeit, denn auch die Unordnung hat ihre Ordnung und die Ordnung der Ordnung ist uns verhaßt// seit langem! Bei manchen Schülern allerdings wird es – wie Professor Cizek lächelnd feststellt – ein Kampf der Unordnung gegen die Schlamperei]. Ewiges Kräftespiel, Auf und Ab, Überrennen, Überstürzen, Härte gegen Weichheit, Gut gegen Böse, Licht gegen Dunkelheit.
Rhythmus. Neuer Rhythmus. Bei seiner rein gefühlsmäßigen Gewinnung kommt der Musik dienende Bedeutung zu. Darum fehlt die Musik in dieser Schule fast niemals. Nicht nur, daß Musikstücke gezeichnet und schöne kleine Kapellen aus Geigen, Flöten, Waldhorn und Cellis zusammengestellt wurden, – über jede Unterrichtsstunde fließen die Rhythmen der Töne. Entweder singt einer Volkslieder [oft sehr ernste, traurige, die tiefe Ergriffenheit und Sichbesinnung bringen], oder ein Mädchen zupft lustig die Laute oder einer unterbricht seine Arbeit, setzt sich an das stets bereite Klavier und paraphrasiert seine Arbeit in Tönen zu Ende. Musik. Rhythmus.
[…]
[…] Kinetismus von ϰίνειν = bewegen. Bisher war alles Stilleben, nicht bloß die Rüben, Krautköpfe, Äpfel, Schinken und Weinbecher, die uns noch immer serviert werden, sondern auch der Mensch. Nun soll das Leben, die Bewegung gewonnen werden. Die Bewegung der Objekte: Erdbeben, Sturm, das rollende // Rad. Dann unsere Bewegung durch die Objekte [die sich auch bewegen können] hindurch: die Fahrt durch die Straßen mit eilenden Menschen.
Wir kommen also zuerst zur Wiedergabe des rhythmischen Ablaufes einer Bewegung. Weiters zur Häufung von Bewegungseindrücken. Schließlich zur Vereinigung beider.
Hinter dem Kinetismus aber steht noch vielmehr, weit Größeres als das Ausdrücken der Bewegung. Es ist kein Zufall, daß seine Geburt gerade in diese Zeit fiel. Die Gedanken darüber kommen, wenn man sich in die eine Keramik von Georg Kolb oder in die Zeichnung „Erwachen“ von Erika Giovanna Klien vergräbt. Unsere egozentrischen Gedanken [ich spreche nur von Menschen] sind erschlagen, wir leben nicht mehr für uns, unsere Liebe ist ausgezogen, sucht stündlich die anderen da draußen, läuft hinauf nach Hammerfest und hinab nach Feuerland, überallhin, in die entlegensten Hütten und unsere zwei Hände sind zu wenig, sie hinzureichen, wir brauchen mehr, und unsere zwei Wangen sind zu wenig, sie hinzulegen auf die Wunden der andern, wir brauchen mehr, und unsere zwei Augen sind zu wenig, alles zu sehen und zu melden, wir brauchen mehr!
Stehen nicht mehr in Scham
vor Blume und Baum,
vor schweigender Größe.
Gelöst aus endlosem Ängstezaum
geben wir uns,
teilen wir uns
überallhin.
Robert Musil: Intensismus
Verschwenden Sie nicht viel Zeit an die Kunst! Setzen Sie sich kurzerhand an die Spitze der Kenner! Ich gebe Ihnen dafür zwei Regeln.
Erklären Sie ein Bild, das Ihnen nicht gefällt oder das Sie nicht verstehen, unter allen Umständen für veraltet. Fügen Sie nichts hinzu, was daraus schließen läßt, ob Sie es für zweites oder zwanzigstes Jahrhundert, für ein Aquarell oder einen Holzschnitt gehalten haben. Denn darüber läßt sich streiten.
Zweitens, behaupten Sie, wenn man Sie nach den Gründen dieses Urteils frägt, die Malerei der Zukunft sei der Intensismus. Und wenn man Sie frägt, was das sei, verweigern Sie die Antworte und sagen, das verstände sich von selbst.
So macht man es nämlich immer. So hat es der Impressionismus gemacht und der Expressionismus. Ich sage Ihnen natürlich nicht, was diese beiden Worte bedeuten; das geht Sie glücklicherweise nichts mehr an. Und wenn ich Ihnen über den Intensismus etwas mehr andeute, so geschieht es nicht, um Ihnen eine Vorstellung von ihm zu geben – denn wenn die Anhänger einer Bewegung eine klare Vorstellung von ihr hätten, so würde das jeden Schwung lähmen –, sondern weil Sie das Gefühl empfangen sollen, daß diese kommende Kunst die Malerei Ihrer Nerven, Ihres Willens, Ihrer Vitalität sein wird: diesen Beschluß müssen Sie bewahren, alles übrige vergessen.
Man hat früher größere Bilder gemalt als heute. Das kam davon, daß damals die Wohnungen größer waren. Sie sehen, wie einfach Kunstregeln sind.
Als man in Burgen wohnte, bedeckte man ganze Wände mit einem Bild. Später, als man ein Haus bewohnte, hatten die Bilder nur noch die Größe von höchstens 1,50 mal zwei Metern. Heute können selbst schwere Leute nur Wohnungen von ein paar Zimmern kaufen, die halb so hoch sind, als sie früher waren, und die Bilder haben demgemäß ein Format von bloß 1:0,8 Metern; und wenn, was vorauszusehen ist, die Bautätigkeit in Europa noch lange stockt so werden die Bilder noch kleiner werden.
Sie sind aber im Verhältnis nicht billiger geworden. Daraus folgt, daß der Grund und Boden des Bildes teurer, die Bodenrente per Quadratzentimeter Bildleinwand größer geworden ist und die gleiche geistige Rentabilität eine intensivere Bewirtschaftung der Leinwand verlangt. Dies ist die eine Wurzel des Intensismus.
Als zweites verlangt ihn die psychische Energie. Betrachten Sie eine Landschaft, so finden Sie gewöhnlich ein Drittel, wenn nicht die Hälfte des Bildes von Luft oder Wasser bedeckt. Solche Bilder sind gewissermaßen Brachland. Überdies ist nicht zu bestreiten, daß schon ein Quadratzentimeter, blau bestrichen oder gar mit einer Anmerkung versehen, vollauf genügt, um uns wissen zu lassen, daß Himmel oder Wasser beabsichtig sei; jeder Mensch weiß, wie sie aussehen, etwas Neues ist daran nicht zu zeigen, es handelt sich einfach um eine Verschwendung durch gewohnheitsmäßigen Schlendrian. Das gleiche finden Sie natürlich auch, wenn Sie ein Porträt betrachten. Der Maler füllt nicht das ganze Bild mit Ihnen aus, sondern spart sich einen Hintergrund aus, der mindestens die Hälfte ausmacht. Er könnte ja beispielsweise Sie zweimal malen oder Sie und dahinter Ihren Konkurrenten malen, wie Sie ihm den Fuß auf den Nacken setzen, den großen Tag, wo alle Effekten in die Höhe sprangen, oder den schwarzen Tag, wo alles schief lag. Scheuen Sie sich nicht vor solchen Forderungen; allen wahrhaft ursprünglichen Epochen der Kunst waren sie ganz natürlich. Denken Sie daran, daß man mehrere Bilder ineinander malen kann; aber ich will nicht vorgreifen, diese Kunst entwickelt sich bereits von selbst. Halten Sie also bloß still an dem Wunsch fest, daß sich die Malerei bald wieder Rennpferden, Jagdbildern, Automobilen, Flugzeugen und allem, was Sie wirklich schön finden, zuwenden möge und verlangen Sie vorläufig, daß mit den unausgenützten Geistflächen Schluß gemacht werde.
Intensivstes Leben im kleinsten Bildteil, nervöse Fläche, Einleitung der siegreichen Energie des modernen Lebens in den Bildrahmen: das ist der Intensismus! Wenn Sie irgendetwas sehen, das schon dahin weist, dann sagen Sie nichts als: Aber das ist ja intens! Wenn Ihnen das schwer fällt, so nehmen Sie immer Ihre Frau Gemahlin mit, die wird es treffen.
In: Prager Tagblatt, 17.12.1926, S. 3, Rubrik: Kunst und Leben
N.N.: Junge Kunst
N.N. [ -s]: Junge Kunst (1920)
Unter dem vielen Neuen und Ungewohnten, das der gründliche Umsturz nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch auf allen Gebieten des Geistes- und Kulturlebens mit sich gebracht hat, stoßen auch die neuen Erscheinungs- und Ausdrucksformen des modernen Kunstwillens vielfach auf starken Widerspruch, der wenigstens im Kreise der Gebildeten durchaus nicht immer einer philiströsen grundsätzlichen Ablehnung alles Neuen entspringt, sondern dem mehr oder weniger deutlichen Gefühle, daß sich unter den neuen Kunstpropheten noch zu viele falsche und solche, die selbst noch nicht wissen, was sie wollen, befinden. Kein vernünftiger Mensch wird bestreiten, daß die Gesetze der fortschreitenden Entwicklung alles Seienden auch die Kunst Geltung haben und daß also auch hier ein Wandel möglich, ja notwendig und der neue Geist über den alten zu siegen berufen ist. In diesem Sinn begegnet der Wille zu einer neuen Kunst sicherlich auch im gebildeten Publikum sogar einem latenten Bedürfnis oder mindestens einem mehr oder minder bereitwilligen Verständnis, das viel weiter verbreitet ist, als man gemeiniglich zu glauben scheint. Was trotzdem zu Widerspruch und Ablehnung reizt ist also nicht der in der neuen Kunstrichtung sich offenbarende revolutionäre Geist an sich, sondern vielmehr die oft recht willkürlich scheinende Gewaltsamkeit seiner Ausdrucksmittel, deren Berechtigung oder Richtigkeit von den Künstlern ebenso wenig begründet wie vom Publikum erkannt werden kann. Vorläufig wenigstens. Beide Teile fühlen sich im Rechte und sind es jeder von seinem Standpunkte aus, vielleicht auch. Vom Künstler wie vom Laien verlangt diese neue Richtung ein so radikales Umlernen, daß man sich nicht wundern darf, wenn jener im Ausdruck dessen, was er fühlt und was er uns mitteilen will, selbst noch unsicher und unklar ist, und dieser gar oft das, was ihm als die neue Kunst vorgesetzt wird, noch nicht ohneweiters bejaht, weil er „lange zur stärkster Kultur kondensierte Entwicklungen mit einem Male negiert“ sieht, als wäre sie nie dagewesen.
Es geschähe aber den ehrlichen Vorkämpfern dieser neuen expressionistischen Kunst ein großes Unrecht, wollte man verkennen, „daß diese Kunst, die so vieles nicht sagt, nicht zu sagen vermag und nicht sagen will, was eben noch hochgehaltenes Gemeingut der künstlerischen Sprache war, daß sie ihrerseits viel Neues, Bedeutsames, in die Tiefe Greifendes zu sagen weiß, das eben diese alte Sprache gar nicht sagen konnte, das gar nicht im Bereich dieser alten Sprache lag.“
Wir zitieren hier aus einer kleinen Monographie Lothar Briegers über einen der extremsten Expressionisten: Ludwig Meidner, der sich als Maler wie als Schriftsteller in bewußten krassen Gegensatz zur Tradition und Konvention stellt. Das genannte Buch gehört einer Serie von ähnlichen Monographien an, die im Verlag von Klinkhardt & Biermann unter dem Sammeltitel „Junge Kunst“ erschienen ist und noch fortgesetzt werden soll. Diese Bücher stellen einen ebenso interessanten wie dankenswerten Versucht dar, in das Wesen der neuen Kunst, das im Willen zur reinen Geistigkeit und zum freien Schöpfertum beruht, einzuführen, es zu erklären und an der Hand verschiedener Beispiele, die von den verschiedenen Trägern der neuen Ideen gegeben sind, alle seine Ausdrucks- und Deutungsmöglichkeiten darzutun und objektiv zu werten, kurz: sie wollen, wie der Verlag selbst sagt, „dem ungeheuren Bildungsbedürfnisse auch der breiten Massen entgegenkommen und die Werke einer expressionistischen Kunstrichtung, die ihrerseits Niederschlag und Ausdruck einer neuen Weltanschauung sind, dem Bewußtsein der Gegenwart nahebringen.“ Bisher sind außer dem schon genannten noch folgende Bände erschienen: Max Pechstein (von Georg Biermann), Paula Becker-Modersohn (von C. E. Uphoff), Bernhard Hoetger (vom vorgenannten), Cesar Klein (von Theodor Däubler), Franz Heckendorf (von Joachim Kirchner), Rudolf Großmann (von W. Hausenstein), Hugo Krayn (von Karl Schwarz).
[…]
Als sehr wertvollen einführenden Beitrag hat der Verlag in gleicher Ausstattung eine sehr klug und verständig geschriebene Abhandlung von Prof. Dr. Franz Landsberger über „Impressionismus und Expressionismus“ erscheinen lassen, die sich mit den modernen künstlerischen Fragen, mit den Stärken und Schwächen der jungen Kunst mit vorurteilsloser Sachlichkeit und kritischem Scharfblick auseinandersetzt. Wie viele andere ehrliche Freunde jeder fortschreitenden künstlerischen Entwicklung warnt auch Prof. Landsberger bei aller Anerkennung größter Freiheit vor allzu einseitiger Betonung des Ausdrucks auf Kosten der rein formalen Gestaltung. Er weist darauf hin, daß (wofür die die hier erwähnten Bücher Beispiele geben) die rein formalen Prinzipien, deren sich kein Kunstwerk entheben darf und die näher zu bestimmen Sache der Aesthetik ist, in bedeutenden Werken des Expressionismus ebenso befolgt werden wie in den Kunstwerken aller Zeiten. Aber es besteht, sagt Prof. Landsberger, die Gefahr, „daß ein gar zu ungestümes Ausdrucksverlangen sich nicht mehr die Ruhe zu klarer Gestaltung nimmt, und solcher chaotischer Gesinnung gegenüber ist daran festzuhalten, daß, wenn im Kunstwerk schon der Schrei des Ursprünglichen gehört werden soll, er in unseren Ohren doch wie Musik ertönen muß.“
Wie überall, so macht sich auch in der neuen Kunst ein unberufenes Mitläuferstum breit, das von einem ernsten Wollen, der Kunst zu dienen, weit entfernt, nur die Modekonjunktur auszunützen und seine Unfähigkeit hinter extremem Bluff zu verbergen sucht. Es mag eine weitere dankbare Aufgabe der genannten Publikationen des Verlages Klinkhardt & Biermann sein, dem verwirrten Publikum eine Unterscheidung zwischen den wahren und falschen Propheten des Expressionismus, zwischen seinen berechtigten Entwicklungsformen und seinen Auswüchsen zu erleichtern.
In: Innsbrucker Nachrichten, 30.4. 1920, S. 7.
Ernst Fischer: Neue Kunst
Bis zum Ekel haben Dichter, Maler, Musiker, Schauspieler, Künstler und Intellektuelle jedes Grades und jeder Schattierung versucht, immer wieder versucht, Kunst an sich, ohne jede Relation, als etwas Wertvolles, für sich Bestehendes, als rein formale Gestaltung, ohne weiteren Zweck, hinzustellen. Diese Tendenzen finden wir bezeichnenderweise immer in Zeiten, die zermürbt, aufgelockert, müde und verfallend sind, fröstelnde Abendröte morschender Kulturen vergehender Gesellschaften. Die Kunst starker latenter Zeitalter, scharfumrissener Gesellschaftsbildung, selbstbewußter Klassen ist nichts anderes als geschlossener, konzentriert geballter Ausdruck der Zeit, ist im Spiegel das Erlebnis der Zeit (denn jede Zeit hat ihr eigentümliches Erlebnis) und, in ihrer höchsten Form, Deutung, Verklärung der Zeit, Ausblick und Überschwang. Dies ist eine historische Tatsache; starke Zeitalter (Griechentum, Gotik, Renaissance in Italien, England, Spanien, Frankreich) haben starken, eigenwilligen Stil, haben eine Kunst, die in ihren Ideen, ihrer Logik, ihrem inneren Aufbau, ihren formalen Ausdrucksmöglichkeiten nichts ist als Information des Zeitalters, eines bestimmten Grundwillens, der sich gleicherweise ausspricht, in Staat, Gesellschaft, Religion, Philosophie, in allem Größten und Kleinsten.
Aus dieser historischen Tatsache erhellen unmittelbar Wesen und Zweck der Kunst. Ein Volk, eine Gesellschaft – oder, noch richtiger: die herrschende Klasse eines Volkes, einer Gesellschaft, die kräftigste, geschlossenste, bewußteste, die der ganzen Zeit ihr Gepräge gibt, will sich selber, ihr Wesen, ihr Wollen, ihren historischen Sinn im vereinfachten Bilde erkennen, aus diesem Erkennen sich selber steigern, sich selber bereichern, sich stärken an ihrem eigenen Wesen, sich entflammen zu dem, was ihre historische Sendung ist.
Wir nehmen ein typisches Beispiel. Die französische Tragödie um die Zeit Ludwigs XIV. Herrschende Klasse war der kriegerische Adel des Landes, der, erst kürzlich seiner unbändigen politischen Macht beraubt, sich allmählich umbildet in einen höflichen Adel. Der Dichter dieser Zeit ist Corneille. In seinen Dramen verherrlicht er alle starken, umgebrochenen Instinkte des Edelmannes, diese Instinkte zu Tugenden verklärend. Das Ideal der Zeit wird uns die Verbindung von Held und Hofmann. Mut, Entschlossenheit, Königstreue, Ritterlichkeit, eine gewisse Erhabenheit der Gesinnung – aus diesen formt sich das typische Erlebnis der Zeit. Man verstehe nun ferner, daß im Künstler stoffliches und formales Erleben untrennbar verbunden sind. An einem Hofe, der um ein Zentrum, den absoluten Monarchen, erst kürzlich gebeugte Fürsten, Grafen und Ritter vereinigt, ihre stolzen und störrischen Instinkte durch ein strenges Zeremoniell bändigend, konnte nur die Tragödie, das Drama herrschende Kunstform werben. Und zwar das klassisch geschlossene, starren Regeln unterworfene Drama, dessen strenge Form die starken Leidenschaften der Handlung bändigt. So fand das Publikum, bestehend aus den Herren des Hofes, sein Schicksal gespiegelt in den Dramen, die vor ihm aufgeführt wurden. Dieses formale Gestalten der Zeit erstreckt sich natürlich bis auf die Sprache, deren ursprünglich saftige Kraft in dem strengen und feierlichen Prunk des alexandrinischen Versmaßes erstarrt. So ergreift uns Ahnung der Lust, die jener Hofstaat angesichts jener Kunstwerke empfand.
Dies Beispiel ist eines von Tausenden. Ich möchte noch, zum besseren Verständnis, auf Zola verweisen, dessen Romane ich als bekannt voraussetze. Dieser gewaltige Künstler steht am Tor einer neuen Zeit, in ungeheuren Visionen ihr tiefstes Wesen erkennend. Das Erlebnis dieser Zeit ist das Eintreten der Urbereitschaft in die Geschichte, die, als innerlich stärkste Klasse, ihre historische Sendung beginnt. Das künstlerische Erlebnis dieser Zeit ist das Erlebnis der Masse, die sinonyme Kunstform der Romane. Nur im Roman ist es möglich, die Masse künstlerisch widerzuspiegeln, formal auszudrücken.
Diese beiden Beispiele mögen genügen, das Wesen einer starken Kunst zu erläutern. Alles andere, das diesen großen, historischen Gesetzen nicht entspricht, ist nur Literatur. Neben den wenigen Künstlern läuft immer das Pack unzähliger Literaten, die dann gefährlich werden, wenn sie Talent besitzen. Sie betrachten ihr Talent nicht als eine Verpflichtung, es der Gesellschaft nutzbar zu machen, sondern als einen Freibrief, ihr auch lästig zu fallen.
Und nun die Frage: Wie stellt sich unsere Zeit bar im Spiegel der Kunst?
Es ist wesentlich leichter, diese Frage für vergangene Epochen der Geschichte zu beantworten. Die Distanz ermöglicht es, zwingt uns sogar, nur das Große, Bedeutsame, Wesentliche zu betrachten, das Überflüssige zu vermeiden. In der Gegenwart kann es uns leicht geschehen, die Kunst über dem Wucherwerk der Literatur zu übersehen. Immerhin sind starke Stimmen vernehmbar, selbst durch das Gebrodel der hundert schwachen hindurch, wenn auch das Katzenkonzert der Literaten uns jedes Zuhören verekeln könnte. Eine weitere Schwierigkeit, ein klares Bild zu gewinnen, liegt darin, daß unsere Zeit überhaupt keine Zeit klarer Bilder ist.
Immerhin: wer sich etwas mit Kunst beschäftigt hat, erkennt zwei wesentliche Faktoren: Masse und Rhythmus. Und ich glaube, wir haben es hier tatsächlich mit den beiden Faktoren zu tun, die das typische Erlebnis unserer Zeit bedingen. Auf einer Seite das rasende Tempo der Schnellzüge, Automobile Aeroplane, der Maschinen und technischen Ungeheuer – der stählerne Pulsschlag fiebernden Blutes – auf der anderen Seite die Tatsache, daß sich die große Masse als Masse fühlt, daß jenes viel mißbrauchte Wort vom „sozialen Gewissen“ Wirklichkeit wird.
Die Arbeiterschaft, das Proletariat, ist die Waffe, die der Zeit ihr Gepräge gibt, die Revolution in jedem Sinne ist das entscheidende Ereignis.
In diesem Zusammenhange muß die moderne Kunst gewertet werden. Ihr Inhalt ist die Revolution, ihre Form ist ebenfalls – die Revolution. Und wenn wir, mit einer gewissen Skepsis vielleicht, das Aufschießen unzähliger neuer Kunstrichtungen beobachten, erkennen wir doch das eine: die Künstler fühlen, es hat eine neue Zeit begonnen. Diese neue Zeit verlangt gebieterisch neuen Ausdruck. Man mag über Expressionismus, Futurismus und wie diese -ismen alle heißen, denken, wie man will – eines darf man nicht unterschätzen: Es ist ein ehrlicher Wille, der hier, oft unter Krämpfen, oft unter Fieberzuckungen, um das Neue kämpft. Es sind die Geburtswehen einer neuen Kunst. Diese Kunst wird und muß, wenn sie erst klar in Erscheinung tritt, Spiegel der Revolution, Ausdruck des Proletariats, Information einer neuen Gesellschaftsordnung sein.
Dies wird geschehen, trotz aller Salonexpressionisten und Kaffeehausmystikern, trotz aller hysterischen Ästheten und Konjunktursozialisten trotz aller Literaten, die sich um neue „Kunstrichtungen“ raufen und sich redlich bemühen, die Kunst in Tinte zu ersäufen – dies wird geschehen, weil es geschehen muß.
Das Proletariat wird seine Kunst haben, wie es seinen Staat, seine Gesellschaftsordnung, seine Welt erkämpfen wird, weil es heute die einzige Klasse ist, die um Gestaltung einer neuen Idee ringt.
In: Arbeiterwille, 9.11.1920, S. 9.
V. Eggeling, R. Hausmann: Zweite präsentistische Deklaration
V. Eggeling, R. Hausmann: Zweite präsentistische Deklaration (1923)
Gerichtet an die internationalen Konstruktivisten
Im ersten präsentistischen Manifest erklärten wir den Aspekt einer Welt, die real ist, eine Synthese des Geistes und der Materie. Wir streben wieder nach der Konformität mit dem mechanischen Arbeitsprozeß. Wir fordern die Erweiterung und Eroberung aller unserer Sinne; wir werden in der Optik weiterschreiten bis zu den Grundphänomenen des Lichtes. Wir sprachen es unzweideutig aus: Unserer Aufgabe ist es, gegen die Allerweltsromantik in ihrer letzten und feinsten Form noch zu kämpfen wir fordern ein Ende des kleinen Individualistischen und wir erklären, daß wir die Forderung nach einer Erweiterung und Erneuerung der menschlichen Sinnessemanationen nur erheben, weil ihr die Geburt eines unerschrockenen und unhistorischen Menschen in der Klasse der Werktätigen vorangegangen ist! Und nun wenden wir uns gegen die Deklaration der ungarischen Konstruktivisten im „Egység“ und rufen ihnen und den internationalen Konstruktivisten überhaupt zu: Unser Arbeitsgebiet ist weder der Proletkult der kommunistischen Partei noch das Gebiet des l’art pour l‘art! Der Konstruktivismus ist eine Angelegenheit der russischen Malerei und Plastik, die die ideoplastische (gehirnlich-nützliche) Einstellung des Ingenieurs als Spiel mit beliebigem Material nachahmt und damit weit unter der Ingenieursarbeit rangiert, die funktionell und erzieherisch ist. Versuchen wir auch keine intellektuelle Einwirkung auf das Proletariat, bevor wir uns über unsere Rolle als Deklassierte klar geworden sind. Unsere Aufgabe ist es, im Sinne einer universalen Verbindlichkeit an den physikalischen und physiologischen Problemen der Natur und des Menschen zu arbeiten und wir werden unsere Arbeit dort beginnen müssen, wo die moderne Wissenschaft aufhört, weil sie inobjektiv ist, weil sie nur das System der Ausbeutungsfähigkeit verfolgt und fortwährend Standpunkte einnimmt, die einer erledigten Zivilisationsform angehören. Wir haben voraussetzungslos und unvoreingenommen die ersten Schritte einer Naturbetrachtung zu unternehmen, die die Physik und Physiologie auf ihre eigentliche Wirkungsebene bringt, im Sinne einer kommenden klassenlosen Gesellschaft, ohne dabei in Utopismus zu verfallen, und völliger Klarhiet über die noch innerhalb der bestehenden Gesellschaftswissenschaft und ihrer Methoden zu leistende Destruktionsarbeit. Wir haben die Zeit eines objektiven und positiven Aufbaues nur vorzubereiten, weil wir aus der Bedingtheit unserer Welt nicht hinaustreten können und wollen.
Unsere sinnesphysiologische und formfunktionell-physikalische Orientierung stellt uns im Gegensatz zu den bisherigen Techniken und Künsten vor die Einsicht, daß kein menschliches Erfahrungs- und Arbeitsgebiet um seiner selbst willen da ist, es ist in jedem ein analytisches Vorgehen im Unterbewußtsein über die Organmängel und Funktionshemmungen der menschlichen Psychophysis gebunden; dieses Tasten muß, in die Bewußtheit gerückt, eine unterste Annäherungs- und Ausgleichsgrenze zur Steigerung der somatischen Funktionalität ergeben. Von hier aus gesehen, ist die Maschine kein Apparat zur bloßen Ökonomisierung der Arbeitsleistung und die Kunst als einziges Produktionsgebiet, auf das das Kausalitätsprinzip keine Anwendung finden kann, trotzdem das Gesetz der Erhaltung der Energie auch dafür gilt, verliert ihren Charakter des Nutzlosen und Abstrakten. Die universale Funktionalität des Menschen verändert die Gesamteinstellung aller Arbeitsgebiete im Sinne erdatmosphärischer Bedingtheit und Notwendigkeit. Hieraus ergibt sich die dynamische Naturanschauung und die allgemeine Erweiterung aller menschlichen Funktionen, eine Anschauungsform wird geschaffen, die sich von der Dreidimensionalität als allzumenschlicher Hilfskonstruktion loslöst, ebenso wie sie die Vorstellung von der Trägheit aller Materie ablehnt. Der Generalnenner aller unserer Sinne ist der Zeit-Raum-Sinn. Die Sprache, der Tanz und die Musik waren Höchstleistungen der intuitiven Zeit-Raum-Funktionalität, und die Optik, Haptik etc. müssen auf einem neuen Wege nachfolgen, für den Ernst Marcus im Problem der exzentrischen Empfindung wichtige Vorarbeit geleistet hat. Das Zentralorgan Gehirn ergänzt gewissermaßen einen Sinn durch den andern, es vervollkommnet jeden durch gegenseitige Schwingungssteigerung unter Zeitübereinstimmung der Größe von Frequenz und Amplitude. Die dynamische Naturanschauung kennt hierfür nur ein Funktionalitätsprinzip der Zeit, die als kinetische Energie Raum und Materie bildet.
In: MA 8 (1923) H. 5, S. 6.
Ludwig Kassák: Bildarchitektur
Bewegung ist Leben. Die ewige Bewegung des Lebens ist mit der ewigen Neuerzeugung und Erhaltung des Gleichgewichtes gleichbedeutend. Denn das ewig bewegliche Leben bedeutet letzten Endes nicht die Mannigfaltigkeit der Bewegung, sondern den Zustand einer aus der konstruktiven Bewegung der Weltkräfte sich ergebenden, immer neuen, mithin unendlichen Stabilität. Jede lebendige Konstruktion oder Organisation, deren innere Kraftbewegungen aus welchen Gründen auch immer stillstehen, fällt tot zusammen, verliert ihre dominante Gegenwart, ihr Symbolsein. Wir sehen also, daß der Exponent des Lebens die Bewegung, die Gesamtheit der Bewegung aber die Stabilität, das universale Leben ist. Auch der Mensch verdankt sein Dasein der Kraft der Bewegung: er wurde lebensfähig, mit beweglichen Kräften erfüllt, mitten unter die sich außer ihm bewegenden Kräfte als ebenfalls bewegliche Kraft versetzt. Und wir sehen im Organismus des Menschen den unaufhörlichen Kampf der physischen und psychischen Kräfte um den „normalen Zustand“, um das das Leben bedeutende Gleichgewicht, wie wir auch den Kampf der Revolutionen und Konterrevolutionen um das soziale Gleichgewicht sehen. Unser Zeitalter ist eine Periode der losgelösten und irren Bewegungen. Der Mensch unseres Zeitalters ist der verzweifelte Mensch. Die Kunst des heutigen Menschen ist die dynamische Kunst. Sie ist eine Bewegung, die zuweilen als Reaktion der Gegenbewegung, zuweilen als Bewegung um sich selbst willen auftritt. Diese Phase der Kunst wurde als Erfühlen des Lebens durch den Futurismus eingeleitet, fand ihre Fortsetzung mit gesteigerten ästhetischen Ansprüchen im Suprematismus und lebte zuletzt als aggressiv angreifende, ja eroberungslüsterne Kraft im Proun fort. In all diesen künstlerischen Bestrebungen ist noch alles um der Bewegung willen da, ihre Farben- und Formgesetze bedeuten die Gesetze der Bewegung, die Bewegung als Element des Schaffens und nicht das Schaffen selbst. Statt Synthese Analyse. Aber Kunst ist Schaffen, sie ist Synthese der konstruktiven Bewegungen, ein neues Gleichgewicht in der großen Lebensdynamik als Dokument dessen, daß wir mit unserem Willen und Sicherheitsgefühl zur Erzeugung eines neuen stabilen Punktes da sind. Auf die Suche nach diesem stabilen Punkte zog der Kubismus aus. Er verlor sich in seinen kompositionellen Doktrinen, schuf aber die Grundlage des plastischen Bewußtseins und des architektonischen Gefühls des neuen Menschen. Während also der Futurismus die Bewegung als ernährendes Element des Lebens entdeckte und das Proun die Konstruktivität der Bewegung fand, deutete der Kubismus auf die Möglichkeit der Stabilität, auf die neue Architektur hin. Auf die auf konstruktiver Basis beruhende Architektur, als synthetische Möglichkeit des künstlerischen Suchens unserer Tage. Der Kampf um die neue konstruktive Architektur schlug zwei Wege ein: im Raume und auf der Fläche. Erstere ist Baukunst, das zweite Bildarchitektur. Der Suprematismus setzte in der Malerei „den letzten Punkt über dem Buchstaben l“. Und die Bildarchitektur versucht, mit der Schwungkraft des Proun ihre ersten Schritte nach der Architektur als der einzigen, stofflich und geistig konstruktiv-kollektiven Kunst. Die Kraft der Bildarchitektur, sowie des Lebens selbst wird durch die Bewegung gegeben, sie selbst aber stellt bereits das Ergebnis der Bewegung, die Stabilität, dar. Und deshalb sehe ich in der Bildarchitektur fortan nicht die in den suchenden Künsten vorherrschenden Stoff-, Form- und Farbenprobleme, sondern den Anfang einer neuen synthetischen Kunst. Die Bildarchitektur gehört zu den ersten Dokumenten dessen, daß der sich in Kämpfen aufreibende Mensch von heute sein Sicherheitsgefühl wiedererlangte und seiner in Farben und Formen objektivierten Weltanschauung im Wege der primitiven Kunst zum erstenmal auf die Beine helfen will.
In: MA, H.1/1922, S. 6.
Otto Groß: Orientierung der Geistigen
Otto Groß: Orientierung der Geistigen (1919)
Unmeßbar allgemein ist das dunkle und drängende Ahnen, erstickend beschränkt das klare Begreifen der Urgründe und Erfüllung des großen Geschehens, das kommen soll. Die schönste neue Erscheinung, die im Bereich extremst gerichteter revolutionärer Gruppierung erblüht, das fortan unverlierbare Erleben tiefsten Einssein und nicht mehr lösbare Waffenbrüderschaft der Proletarier und der Geistigen, ist auch das erste Zeichen bewußtseinsnäheren Erkennens der ewig menschlichen Motive der Revolution. Wo immer geistige Menschen heute noch abseits geblieben sind, wird man sich überzeugen können, daß ihnen jede Kenntnis von anderen Bestrebungen fehlt. Fast jeder Hinweis auf den Welt und Leben umfassenden Horizont der wirklichen Perspektive des Kommunismus – von deren Reichtum zu erfahren ihnen in der Tat nur in geringem Maße Gelegenheit geboten wird – vermag hier Wandlung zu schaffen.
Verbindender und trennender als Rasse, Geschlecht, Kultur und Klasse ist der typische Gegensatz zwischen dem revolutionären und dem konservativen Menschen, sagt Grete Fantl.[1]
Das elementare Prinzip in der menschlichen Seele, dessen quantitative individuelle Verschiedenheit, dessen // Ausreichen und Versagen also die Menschen in diese beiden Kategorien trennt und einteilt, dieses im höchsten Sinne Wert und Wesen bestimmende Prinzip ist die Widerstandskraft des einzelnen Menschen, besonders des Menschen im Zustande der Entwicklung, gegen die Suggestionen von außen her, gegen die aufgedrängten Gefühle, Werturteile und Normen: die Selbsterhaltungskraft des angeborenen Menschentums, das an der eigenen Individualität wie an der Freude und dem impulsiven Ja zu allem Individuellen in allen anderen ringsum, am unbeschränkten eigenen Sein wie an der unbeschränkten Liebe festhält und seinen Widerstand der Vergewaltigung entgegensetzt wie der Verführung, dem ewigen und ringsgeschlossenen Druck zur Anpassung an die Anderen…
[…]
Die freie grenzenlose Entwicklung des Menschentums, der Liebe und des Geistes setzt eine Ordnung der Welt voraus, welche in Allem und Jedem tödlich ist für die Angepaßten an jene andere Ordnung, // welche bis jetzt die herrschende ist und immer und überall tödlich war für Menschentum, Liebe und Geist… Es ist darum stets und ausnahmslos Lüge von vornherein, was immer gesprochen wird von allmählichem Übergang und Ausgleichung der Interessen, von Mäßigung und Vergleich – Lüge ist Alles und Jedes, in dem ein einziges gemeinsames Interesse des Revolutionären und des Angepaßten als existierend oder auch nur möglich vorausgesetzt wird.
Was jeweils die Vermittlungspolitik erreichen kann, das ist allein ein Kompromiß von Interessen von absolut nur wirtschaftlicher Narur – mit ewiger Erhaltung des Unzuänglichen sogar auf diesem Gebiete selbst, mit definitivem Verzicht auf alle Werte des Lebens außer dem abgrenzbaren der reinen Zahl… Hier ist der Boden, auf welchem die Revolutionen sich auflösen, in Verhandlungen zwischen den Parteien, hinter welchen kein Unterschied steht von Mensch und Mensch: Verhandlungen zwischen verschieden Situierten, ohne Voraussetzung überhaupt mehr von verschiedenen seelischen Typen und deren verschiedenen Ansprüchen auf das Sein. –
Noch nie hat eine kämpfende Partei sich einen Namen gegeben, so sehr als Ausdruck eines seelischen Typus geprägt und das gemeinsam psychologische Moment in allen ihren schöpferischen Charakteren bezeichnend, als der der »Höchstes fordenden« – das ist Derer ohne Kompromiß.
In Jedem, dem der Kommunismus innere Berufung ist, wirkt ein lebendiger, ursprungnaher, von einer Jugendzeit der Menschheit her im besten Blut noch fortgeerbter Urgeist: ein unmittelbares Wissen vom Unterschied zwischen Mensch und Mensch: ein selbstverständliches dort ewig heimatlos und hier zu Hause Sein, dort losgelöst und hier ins Leben eingegliedert vom dominierenden Element im eigenen Innersten, der revolutionären Menschheitseele, die jedem Menschen solcher Art den Dienst des unbe-//schränkten großen Lebens zur Schicksalsbestimmung macht: ein reflektorisches Sich-Distanzieren von Allem Angepaßten, der Anpassung and das Inferiore, an Macht und Unterwerfung, Besitz, Gewohnheit, Tradition und Sittefähigen.
Deswegen ist uns nichts so wesensinnerlich cerhaßt, erscheint uns keine je noch aufgestellte Politik so furchtbar korrumpierend und gefährlich als diese heutige des Kompromißes, dieser realpolitische Sozialismus der Vielzuvielen, der für das Proletariat und die Bourgeoisie mit einander den Boden gemeinsamer Anpassung herzustellen erraten hat – gemeinsamer Anpassung an den Geist des Bisherigen, um den Preis materieller Auskommensmöglichkeiten ein Mithinüberschleppen alles Wesentlichen aus der alten Ordnung: mit reduziertem Flügelschlag nun auch der kapitalistischen Ideen ein Realisieren von Durchschnittsmassen in Allem und Jedem, aber basiert wie früher auf die Selbstverständlichkeit von Macht und Vormacht zwischen Allen, um jeden Einzelnen herum die endlose Einsamkeit.
Es ist diese Demokratie des »letzten Menschen«, die Nietzsche prophetisch vorhergesagt hat und vor welcher die Diktatur des Proletariats die Zukunft des Menschengeschlechtes erretten soll.
Das Endziel alles Kommunismus ist ein Zustand, in welchem Niemand irgend eine Vormacht politischer, ökonomischer, autoritativer Natur über Irgendeinen erhalten kann. Wir wissen, daß es niemals eine Ordnung geben kann, die etwa garantierte, daß nur der seelisch Höhere über den niedriger Organisierten Macht bekäme; und würde eine solche Ordnung je gefunden, so brächte sie die Korruption der hohen Seelen… Allein die völlige Unmöglichkeit jedweder Vormacht Irgendeines über Irgendeinen gewährt die Sicherheit, daß nie ein Mensch, in dem der freie schöpferische Urgeist lebt, sich Elementen zweiten Ranges beugen muß. //
Wir wollen die Macht den Machtlosen geben, den Räten der Armen, damit die Macht wieder ohne Sünde werde, ein Kollektivgefühl der Menschen miteinander und unpersönlicher Besitz des unpersönlichen Gesellschaftskörpers.
Bis einst die Menschen noch einmal beginnen, als Ausdruck eines schrankenlosen Einander-Verstehens und ihrer Freude aneinander einen Turm in den Himmel hinauf zu bauen.
Erst dieser Bau wird dann den Namen tragen dürfen: Kultur…
In: Sowjet. Kommunistische Monatsschrift, Nr. 5, Nov. 1919, S. 1-5.
[1] Neue Rundschau, Berlin, 1919/3.
Friedrich Lorenz: Gibt es revolutionäre Kunst?
Friedrich Lorenz: Gibt es revolutionäre Kunst? (1932)
Seit jeher ist es der größte Kummer der Sozialisten in allen Ländern, daß der revolutionäre Elan des Jahres 1918 zwar Throne stürzen, Wirtschaftsgebiete zerreißen und uralte Kulturtraditionen vernichten konnte, aber nicht imstande war, Kunst zu schaffen, Künstler zu inspirieren.
Es gibt natürlich Künstler, die eingeschriebene Mitglieder revolutionärer Parteien sind. Aber diese Männer sind darum noch keine revolutionären Künstler. Sie schaffen trotzdem, nicht weil sie Marxisten sind, ihr Werk hat mit ihrer politischen Überzeugung im wesentlichen nichts zu tun, es wird aus dem unerschöpflichen Born der Menschheitsprobleme gespeist, nicht aus dem Parteistatut. Ich kenne einen sehr begabten marxistischen Schriftsteller, der bisher noch mit keinem größeren Werk vor die Öffentlichkeit getreten ist; darum nicht, weil die Partei, der er politisch angehört, es ihm niemals verzeihen würde, daß sein Talent universell und daher unmarxistisch geblieben ist, Sein Talent streikt, wenn es in den Dienst revolutionärer Propaganda gestellt werden soll, die Partei aber würde streiken, wollte der Dichter schreiben, wie ihm ums Herz ist. Also ist er zum Schweigen verurteilt. Denn ein[en] Kompromiß gibt es zwar in der Parteipolitik, nicht aber in der Kunst.
Nun taucht die Frage auf, ob es ein Zufall ist, daß gerade der letzte und folgenschwerste revolutionäre Stoß gegen die Weltordnung, der des Jahres 1918, kraftlos erlahmte, als er auf das Gebiet des künstlerischen Lebens übergreifen sollte. Es taucht die Frage auf, ob nicht zwischen Kunst und Revolution vielleicht eine prinzipielle Unvereinbarkeit besteht, die im Wesen der Kunst begründet wäre, da die Erfahrung zeigt, daß die größte aller Revolutionen nicht einmal ein anständiges Gedicht inspirieren konnte, das Gebiet des Künstlerischen vollkommen unberührt ließ. (Außer man wollte die Zweckbauart der Breitnerschen Wohnkasernen als einen neuen architektonischen Kunststil, die marxistischen Wahlplakate als revolutionäre Malerei und ein paar Versammlungsreden und Tendenzartikel als sozialistische Dichtung bezeichnen!) Heute schreiben wir 1932. Und 1918 schrieben wir, als die umwälzendste aller Revolutionen die mitteleuropäische Welt über den Haufen warf. Längst hat dieser revolutionäre Stoß sich stabilisiert, längst sind aus den revolutionären Führern der Umsturzzeit bourgeoise Nutznießer und Verteidiger ihrer Pfründen geworden. Mit allen Segnungen der Revolution sind wir ausgiebig bedacht worden; von der Tragödie der Massenarbeitslosigkeit bis zur Aufreibung des Mittelstandes ist uns nichts erspart geblieben; das revolutionäre Programm wurde also politisch und wirtschaftlich Punkt für Punkt durchgeführt. Nur die revolutionäre Kunst ist man uns schuldig geblieben, den Dramatiker der Revolution, den Epiker des Umsturzes, den Lyriker des Klassenkampfes, den Maler des Weltbrandes hat man uns vorenthalten. „Weil die Revolution noch zu jung ist“, sagen die Marxisten. Ist sie aber wirklich so jung? Wenn aus einem revolutionärem Stürmer in der Zwischenzeit ein arrivierter Parteibureaukrat werden konnte, dann hätte dieser Zeitablauf doch auch die Entwicklung eines revolutionären Dichters ermöglichen müssen. Damit ist es also nichts. Warum aber gibt es heutzutage zwar marxistische Plakatzeichner, marxistische Tendenzjournalisten und Volksredner, aber keinen einzigen revolutionären Maler oder Dichter? Warum gibt es zwar eine sozialdemokratische Kunststelle, aber keine sozialdemokratische Kunst?
Bevor wir darauf antworten, eine Feststellung: Es gibt eine revolutionäre Kunst, ja mehr noch, jede Kunst ist notwendig revolutionär. Aber diese Freiheit, die der Geist meint, ist nur in den seltensten Fällen identisch mit dem Freiheitsbegriff der politischen Parteien. Solange gab es revolutionäre Kunst, als Revolutionen noch vom Geiste diktiert waren, als der Geist den Revolutionen den Weg wies, als die Revolution noch nicht bureaukratisiert, noch nicht parteihörig war und darum hellhörig für die Winke des fortschrittlichen Prinzips. Die Revolution des Jahres 1918 aber konnte für die Kunst schon darum nicht produktiv werden, weil das wenige Positive, was sie brachte, von der Geistesgeschichte, dem Kunstleben schon seit Jahrzehnten im voraus eskomptiert worden war, weil ihr das geistige Überraschungsmoment fehlte. Was uns ein Parteiapparat schließlich bescheren kann, das ist nicht geistige Revolution, überhaupt nicht Revolution im fortschrittlichen Sinne des Wortes, sondern bloß der widerlich-dilettantische Versuch, ideelle Forderungen durch Maschinengewehre und Massenaufmärsche zu kompromittieren. Jede geistige Revolution beginnt in der Kunst. Jede Kunst ist Revolution, jedes neue Kunstwerk ein Schritt vorwärts auf dem geistigrevolutionären Wege in die zukünftige Welt. Aber nicht jeder Sturm im Wasserglas der Parteipolitik ist eine Revolution, nicht jedes Knallen von Parteiflinten bedeutet schon Fortschritt.
Wenn also die Frage, ob die revolutionären Ereignisse der letzten Zeit das Kunstleben zu beeindrucken vermochten, verneint werden muß, so spricht das nicht gegen die Kunst, sondern gegen die Revolution. Denn es beweist, daß diese Revolution ein rein parteimaschineller Vorgang war, ohne mehr Ideen hinter sich zu haben. Ganz anders die französische Revolution, ganz anders etwa die Epoche der Freiheitskriege. Diese Revolutionen waren noch Revolutionen des Geistes, nicht aber, wie die heutigen, Revolutionen politischer Parteien. Ihnen konnte die Kunst darum auch auf gefährlichem Wege folgen, mit ihnen konnte die Kunstübung in ständigem, fruchtbarem Kontakt bleiben. Die Frage also, ob eine Revolution Ausfluß einer geistigen Notwendigkeit ist, ob ihr eine Idee, ein Fortschrittsideal zugrunde liegt, läßt sich leicht beantworten, wenn man untersucht, ob diese Revolution für die Kunst produktiv werden konnte, ob sie den Künstler inspirierte oder abschreckte. So wird die Kunst zu einer unerbittlichen Richterin jeder revolutionären Strömung. Und solcherart dient der Umstand, daß der Sozialismus nach 1918 nirgends in der Welt Kunst zu schaffen vermochte, zum Beweis dafür, daß der Sozialismus längst zu einer hohlen bureaukratischen Form erstarrt ist, in der es keinerlei Ideeninhalt mehr gibt, daß der Sozialismus vergreist ist und der künstlerische Instinkt über seine Leiche hinweg in die Welt zukünftiger Entwicklungen schweift.
Kunst ist revolutionär. Darum hat sie nur mit wirklich revolutionären Handlungen geistig zu tun, nicht aber mit Palastrevolutionen ungeistiger Parteiorganisationen. Kunst ist Politik, weil Weltanschauung. Darum hat sie nur mit wirklich politischen Tendenzen und Strömungen zu tun, aber nicht mit Parteipolitik, dem bureaukratischen Tod jedes gesunden politischen Strebens.
In: Neues Wiener Journal, 27.3.1932, S. 19.