Max Adler: Neue Menschen. Gedanken über sozialistische Erziehung (1924)

[…]

             Und nun begreifen wir es und erkennen aus tiefstem Grunde, warum Erziehung und Bildung nicht neutral sein können. Alle Erziehung und Bildung, welcher Art und welchen Inhalts immer sie sein mögen, will jedenfalls für das Leben tüchtig machen, ja dieses vollkommener gestalten. Aber dieses // Leben ist, wie persönlich es auch immer gestaltet und empfunden werden mag, durchaus vergesellschaftetes Leben steht unentrinnbar unter der Gesetzlichkeit desselben. Eine Erziehung, die hier neutral absehen wollte von den in dieser Gesetzlichkeit auftretenden Gegensätzen, um sich an deren Stelle eine „allgemeine Menschheitssphäre“ zu konstruieren, wäre eine Erziehung im luftleeren Raume, d.h. eine Erziehung außerhalb jener Atmosphäre, in der nun einmal ihr Gegenstand, das Leben ihres Zöglings, gegeben ist. Es wäre eine Erziehung, die aus Angst, parteiisch zu sein, gerade dort nicht Partei nehmen würde, wo es sich um ihre eigene Sache handelte, um die Entwicklung der Menschheit. Will sie diesem Zweck wirklich dienen, so kann sie unmöglich die notwendigen Entwicklungsrichtungen, wie sie aus der jedesmaligen gesellschaftlichen Situation hervorgehen, ignorieren. Sie muß der Gegensätzlichkeit sozialer Strebungen, die in ihrem Komplexe die konkrete geschichtliche Entwicklung ausmachen, sehenden Auges gegenübertreten, muß unter ihnen eine Wahl treffen, d.h. sie muß sich auf die eine oder andere Seite stellen, also Partei ergreifen. Denn die schier unausrottbare Vorstellung aller Verfechter einer neutralen Erziehung, daß es genüge, anständige Charaktere erzogen zu haben, welche Partei sie auch immer ergreifen mögen, sollte endlich als das erkannt sein, was sie ist, eine gedankenlose Sentimentalität, die noch dazu durchaus nicht ungefährlich ist. Mit solchem Raisonnement muß man es zulassen, daß zuletzt aus dieser neutralen Erziehung ebenso sehr kosmopolitische Menschheitsschwärmer wie nationalistische Hetzapostel hervorgehen, wenn nur jeder persönlich überzeugt von seiner Anschauung ist, und diese ganze vielgerühmte Neutralität der Erziehung endet in ödestem Relativismus und absoluten Kulturdefaitismus. Und dies ist noch das minder schädliche Resultat: viel //ärger, weil nicht zuletzt den unglaublich tiefen Stand der heutigen politischen Bildung und Moral weiter Kreise der Intelligenz ermöglichend, ist eben jene aus der „Neutralität“ entstandene fast gemeinplätzliche Ansicht, daß man ein „ganz anständiger“ Mensch und trotzdem z.B. Rassenantisemit oder Hakenkreuzler sein kann, wenn es nur „mit Überzeugung“ geschieht, daß man also sich noch immer auf Bildung und Erziehung berufen darf, wenn man „aus Überzeugung“ Juden nicht als Menschen betrachtet oder politische Gegner „erledigt“. Eine sonderbarere Anschauung von „Anständigkeit“ und „Charakterbildung“ dürfte es kaum geben, und sie genügt, um uns zu erkennen lassen, welch ungeheurer moralischer Widersinn sich hinter der „neutralen Erziehung“ verbirgt. Nein – ist einmal die notwendige Klassengegensätzlichkeit des heutigen gesellschaftlichen Lebens erkannt und sind die aus ihr sich ergebenden gesellschaftlichen Strebungen in ihrer Auswirkung auf die Ermöglichung einer Sicherung, ja Vervollkommnung des Lebens für alle erforscht – und beides vermittelt die Sozialwissenschaft, der Marxismus – dann muß jede Erziehung, die über ihr Ziel klar ist, Partei nehmen, und es kann gar nicht zweifelhaft sein, wie sie das tun wird. Ist ihr Ziel Lebensentfaltung und Lebenssteigerung eines jeden, dann muß sie sich in den Zug der Entwicklung des sozialen Lebens überhaupt einfügen, d.h. sie muß deren Partei ergreifen und zur Klassenerziehung der revolutionären Klasse werden, kurz, sie muß heute sozialistische Erziehung werden.[1]

[…]

Neue Menschen! – Das also ist das eigentliche Ziel einer revolutionären Erziehung, einer Erziehung, die jene neue Gesell-//schaft auch in den Seelen der Menschen vorbereitet, die sonst in ihrer Vorbereitung durch den ökonomischen Prozeß bloß eine objektive Möglichkeit bleibt. Es kann in der Welt nicht anders und besser werden, wenn jede neue Generation immer wieder in Gedanken und Empfindungen der vergangenen Geschlechter aufwächst, mögen dies auch ihre vernünftigsten und besten sein, mögen es selbst nicht so sehr ihre Laster als ihre Tugenden sein, die der Jugend übermittelt werden. Denn nirgends gilt das Dichterwort „Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage“ in tieferem Sinne als von einer Erziehung, die inmitten der ungeheuren Umwandlung in den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen immer wieder die neuen Inhalte in die unzugänglich gewordenen alten Geistes- und Willensformungen hineinpreßt. Man kann zwar eine Zeit-//lang den jungen Wein in alte Schläuche fassen, aber sind die Schläuche selbst einmal muffig geworden, dann verderben sie nur noch ihren feurigsten Inhalt. Darum haben auch die großen revolutionären Pädagogen seit Rousseau, Kant und Fichte es als den Krebsschaden aller den Menschen fortbildenden Erziehungsarbeit angesehen, daß die Kinder nur immer wieder recht und schlecht gelebt hatten. Besonders eindringlich hat diesen Gedanken Kant in seiner „Pädagogik“ ausgesprochen, wo es heißt: „Ein Prinzip der Erziehungskunst, das besonders solche Männer, die Pläne zur Erziehung machen, vor Augen haben sollten, ist: Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftig möglich besseren Zustand des Menschengeschlechtes, das ist der Idee der Menschheit und deren ganzer Bestimmung angemessen erzogen werden. Dieses Prinzip ist von großer Wichtigkeit. Eltern erziehen gemeiniglich ihre Kinder nur so, daß sie in die gegenwärtige Welt, sei sie auch verderbt, passen. Sie sollten sie aber besser erziehen, damit ein zukünftiger, besserer Zustand hiedurch hervorgebracht würde.

Diese Worte sollten in goldenen Lettern über allen proletarischen Kinderfreundeanstalten stehen. Sie bedeuten den grundsätzlichen Bruch mit der bürgerlichen Erziehung, der es nur darauf ankommt, „daß die Kinder“, wie abermals Kant rügt, „gut in der Welt fortkommen“; sie bedeuten das Ende jener echt bürgerlichen Auffassungm die nach der Anklage Fichtes nur den armseligen Wunsch kennt, mit der Erziehung rasch zu Ende zu kommen, um das Kind recht bald hinter die Maschine zu stellen. Das Ideal der bürgerlichen Erziehung, wie es so oft in offiziellen Kundgebungen sowohl von Staats- wie von Schulmännern verkündet wird, ist, aus den Kindern „nützlcihe Glieder der menschlichen Gesellschaft zu machen“, wobei freilich die eigentliche Meinung ist, nützlich für die Nutznießer dieser Gesellschaft, nützlich, das heißt, tauglich für die Ziele und Zwecke der herrschenden Klasse. Treffend hat bereits Georg Büchner, dieser geniale Jüngling, in dessen Seele schon so viel von proletarischem Empörergeist in ersten Regungen wach wurde, diese heuchlerische Phrase verspottet, indem er seinem nach einem wirklichen Lebensinhalt ringenden jugendlichen Prinzen Leonce auf die Worte: „So wollen wir nützliche Glieder der menschlichen Gesellschaft werden“, sagen läßt: „Lieber möchte ich meine Demission als Mensch geben.“ (Leonce und Lena, I. Akt, 5. Szene)

(Berlin 1924, Auszüge aus Klassenkampf und Erziehung bzw. Sozialismus und Erziehung, S. 42-44 bzw. 66-68)


[1] *(orig. Fußnote in der Publ. 1924): Alle große Pädagogik der Vergangenheit von Plato bis Pestalozzi war stets revolutionär. Sie variiert nur auf verschiedene Weise das Grundthema der Erziehung, das Kant einmal als „Prinzip der Erziehungskunst“ bezeichnet hatte: „Kinder sollen nicht dem gegenwärtigen, sondern dem zukünftigen möglich besseren Zustande des menschlichen Geschlechtes angemessen erzogen werden.“ [Immanuel Kant: Über Pädagogik. Königsberg 1803, S. 17; vgl. dazu die entsprechende Seite in der Erstausgabe gem. DTA: https://www.deutschestextarchiv.de/book/view/kant_paedagogik_1803?p=17; Zugriff 24.10. 2022, PHK] Daher kommt es, daß die Ideen aller der großen Pädägogen auch heute noch modern sind, und dies hat wieder andrerseits den Wahn einer neutralen Erziehung unterstützt, indem doch Kant oder Rousseau oder Pestalozzi sicher keine Sozialisten waren. Allein sie haben, wie überhaupt die großen Denker des Bürgertums in seiner vorrevolutionären Epoche infolge des soziologischen Gesetzes, daß die Ideologie jeder aufsteigenden Klasse universalistisch oder Menschheitsumfang haben muß, in ihrem Denken den späteren Klassenstandpunkt des herrschend gewordenen Bürgertums noch nicht gekannt. […]

Robert Müller: Die neue Erregung. (Aktivismus) (1918)

Im Wesen der zeitläufigen Erregung liegt der unduldsame Trieb nach Vereinfachung. Man sucht nach klassischer Lebensführung. Der Mensch schüttelt wieder einmal alles ab, um sein Lebenshaus von Grund auf neu zu bauen, sich in die Mitte zu stellen und die Dinge nach dem Mittelpunkt seiner – Sternbewußtheit zu ordnen, ohne dem Dingzwang zu dienen. Was wir wollen ist die Schlichtheit, die Logik, die fühlbare Verbindlichkeit, die vom Leben selbst ausgeht. Diese Schlichtheit ist aber nicht Gemeinplätzigkeit, sondern sie ist das Schwerste für den ungeübten und vertrakten Bürger. Ob der Kunstausdruck solcher Schlichtheit ein Buch von Paul Adler oder ein Bild von Campendonck ist, wagt der Expressionistischste unter uns Allen am wenigsten zu entscheiden. Er bekennt sein Schlichtheits-Erlebnis und sich selbst in den ihm innensichtig dafür gewordenen Formen. Um einem Mißverständnis vorzubeugen, sei gleich erklärt, daß diese Schlichtheit als Formforderung nicht identisch ist mit Klischee oder Stereotyp, sondern das neue Formgebären aus der seherischen Einfalt herausgefordert.

             Die sichtbarste Form solcher Schlichtheit und Umweltbefreiung des neu gewonnenen Menschen ist der Wille, die Gesellschaft auf menschlichste Verkehrsimpulse zu zerlegen und neuerlich, nun nach dem Schlüssel: Mensch, zu gruppieren. Und damit sind wir bei den Aktivisten angelangt.

             Sie verwandeln die Erregung, indem sie auf die Straße, in das Kaffeehaus, auf den geistigen Markt eilen, in ein Pathos. […] Ihre Manifeste, Bücher, Essays sind lang, das ist noch ein Fehler, weil sie das Schlichte, es Unschlichten zu beweisen, oft verwickelt vertreten. In ihrer Absicht liegt die Komplikation nicht. Daß ihr Pathos ihre direkt eingreifenden Akte überwiegt, liegt an der Schärfe und Jugend des ganzen Ereignisses. Sie sind so vielversprechend exakt, gebildet und praktisch, daß sie in kurzer Zeit die prägsamsten Vertreter in die Legislaturen des Planeten gesendet haben werden. Die Tatsache ihres Pathos gibt ihnen Affinität zur politischen Einstellung des Romanen. Dessen gleichlaufende Erscheinung an ihnen abzumessen, wird eine unten folgende Konfrontation mit dem Futurismus ermöglichen.

             Alle radikalen »Strömungen« beunruhigen ihr Blut, dessen Erregung durch keine dieser allein genügend befriedigt ist. Sozialismus, Mutterschutz, Eugenik, Schulreform, Körperkultur, Kapitalsabbau, Legierung der Nationen, Abrüstung, Friedensorganisierung, Weltrasse-Schöpfung, Neureligiosität, Kunstmehrung und Genußsteigerung, Verbesserung der für den Erdstern noch viel zu provinziellen Technik, Beseelung der Politik zugleich mit der Entsumpfung der materiellen Ordnung von Gefühlsmiasmen, all das ist Punkt in ihrem großen Programm. Sie sind nicht Bolschewisten, sie gehen darüber hinaus. Ist es ein fünfter Stand nach den Arbeitern: der der Geistigen? Kündet sich einfach eine neue Schichtbildung an? Dieser Schluß ist eine historische Unart, ein Gewohnheitsdenkerschwips. Die »Geistigen« sind kein neuer Stand. Sie setzen nicht die in der französischen Revolution begonnene lineare Entwicklungsgeschichte der Revolutionen fort. Sie sind keine arithmetische Errechenbarkeit, die einmal auch »Faktor« sein wird. Sie sind Dimension. Aus der Fläche des Bürgertums, die sich in dem Sozialismus fortgesetzt hat, knicken sie förmlich als ein Raum hervor. Die Geistigen sind Bürger, darüber laßt uns, so ohrfeigenhaft das klingt, hinwegkommen. Die Geistigen sind nicht Ultraproletarier. Sie sind nicht noch um ein Stückchen revolutionärer, Pünktchen oder zwei programmatischer. Die Arithmetik der französischen Revolution kann, wie Rußland beweist, fortgeführt werden. Dort taucht hinter einer Schicht immer eine andere auf. Die Geistigen sind nicht eine Originalrevolution. Sie führen durchaus den bürgerlichen Gedanken fort, sie sind sein Ausreifen. Das zu leugnen, sich dessen schämen zu wollen, wäre sentimental. Gerade weil sie die bürgerliche Epoche durch diesen Seitensprung viel gründlicher negieren als der Sozialismus, sei der der Trotzkys oder der englischen Gewerkschaften oder der anorganischen Massenerhebung des amerikanischen Proletariats unter Gompers zugunsten des Wilsonschen Staatswolkenkratzers, gerade draum haben sie ihren Ursprung im Bürgerlichen nötig. Mit dessen Produktivität, dem Individualismus, sind sei näher verwandt als mit dem kommunistischen Binnenstaat. Der Sozialist liegt in der Fläche des Bürgerlichen mehr als er denkt, siehe einmal den deutschen Staatssozialismus. In die Raummöglichkeit des Bürgers entsprang der Geistige. Taktisch hat der Geistige mit dem Proletarier viel gemeinsam, prinzipiell nur den Menschen.

             Der Aktivismus ist eine Partei, die noch keine Partei hat und nur eine nimmt; eine Partei, die noch keine gewählten, bloß geborene Vertreter und keine Körperschaften hat, in denen diese sprechen könnten. Um also von der Literatur in die forensische oder administrative Tat zu gelangen, wird der Aktivismus so ziemlich die gesamte bestehende Ordnung im Kern treffen müssen. Ob er es vermag, wird sich zeigen. Die Unsicherheit des Erfolgs ist für den Aktivisten keine Entschuldigung, den Versuch zu unterlassen.

             Der Aktivismus ist vorerst das Pathos zu einer Politik: er ist vorerst das Romanische zu etwas, das deutsch ausfallen soll.

             […]

             Die Aktivisten stellen sich der aktuellen Situation. Sie sind Journalisten mit Jahrhundert Wirksamkeit, nennen wir sie Säkularisten. Was am Tag Jahrhundert ist, bringt ihre Federn in Gang.

             Die Gegner des Aktivisten sind der Politiker und der Dichter. Der Dichter will das Subjekt ändern; er verzichtet auf die sofortige Änderung des Objektes. Der Politiker, der Sozialist oder Revolutionär etwa ändert nur das Objekt. Der Aktivist ändert das Objekt an Ort und Stelle, um die Änderung des Subjektes zu ermöglichen, zu beschleunigen. Der Zweifrontenkrieg reibt ihn auf. Viele geben ihm darum keine Chance. So muß er sie ergreifen. Wird er sich zum politischen Akt im gegebenen Momente bekennen?

             Verwandte Bewegungen laufen in Frankreich und Italien. Es hat keine die Höhe des Notwendigen erfaßt, wie der deutsche Aktivismus, sie sind alle politischer, aber sie sind ebenso menschlich stark. Das Futuristenorgan in Mailand „Italia Nuova“ stellt folgendes Programm auf:

             „Die politische Partei der Futuristen, die wir heute gründen, will ein freies starkes Italien, auf dem nicht mehr der Druck seiner großen Vergangenheit, des allzu sehr geliebten Fremden und der allzu sehr geduldeten Priester lastet: ein Italien, ohne Vormundschaft, in jeder Hinsicht eigener Herr seiner Kräfte, ein Italien, das stets den Blick auf seine große Zukunft gerichtet hat.“

             In den Einzelheiten des futuristischen Programmes steht an der Spitze das Problem der Erziehung. Sie soll vor allem patriotisch sein. Abgeschafft wird ein großer Teil der vielen unnötigen Universitäten sowie der klassische Unterricht. An seine Stelle tritt ein Obligatorium in technischen Fächern, Freilichterziehung, Sport ec. Der bisherige rhetorische Antiklerikalismus soll ersetzt werden durch einen Antiklerikalismus der Tat. Das Parlament soll umgewandelt werden im Sinne einer gleichmäßigen Anteilnahme der Industrie und der Handelswelt an der Regierung des Landes. Wählbar ist jeder Italiener, der das 22. Jahr erreicht hat, Möglichster Ausschluß der Advokaten (stets Opportunisten) und Professoren (stets „Rückblickler), Aufhebung des Senates. Wenn dieses vernunftgemäße und praktische Parlament sich nicht bewähren sollte, so ist eine technische Regierung ohne Parlament zu schaffen. Sie wird aus zwanzig, nach allgemeinem Stimmrecht gewählten Technikern bestehen. […]

             Dieses Programm nimmt hauptsächlich auf die bestehenden Verhältnisse Italiens Rücksicht, es will „Welt“ nach Italien bringen und die Fremden, auch die Bewohner früherer Jahrhunderte und ihre Wahrzeichen ausmerzen. Im Verhältnis dazu ist das aktivistische Programm elastischer und geistiger, es steht ohne Zweifel höher, aber es ist auch nicht so unmittelbar.

             Die Forderungen, die der Aktivist an Staat und Gesellschaft stellt, quellen aus den natürlichen menschlichen Bedürfnissen und haben keine Nation zur Voraussetzung, legen überhaupt kein Gewicht auf äußere Kraftentfaltung seiner Wunschgesellschaft, sondern allein auf deren Intensität. Sie verlangen persönliche Freiheit, eine Art Habeas-corpus-Akte für seiner Sinne Fähigen; freie Liebe und Ehereform; Rückführung der Erziehung auf die natürlichen Instinkte des Menschen; also kalokagathistische Ausbildung an Körper und Seele, das klassische Ideal; Abschaffung aller politischen Formalitäten, Weltstaatlichkeit, komplexe Menschheitspolitik, durch Bundesformen erreichbar; der politische Apparat müsse (ohne näher zu sagen, wie das geschehen kann) in die Hände der Auslese aus den Besten übergehen; also ein geistiger Aristokratismus. Verpönt sind Krieg, Wirtschaft um ihrer selbst willen, andererseits auch Ästhetizismus von nur Verfeinerten; die Gesellschaft soll möglichst so gebildet sein, daß sie ein Leben in geistigen Erregungen gestattet und fördert, weil nur auf diesem Wege der Mensch sich wesentlich ändern und hinaufbilden kann. […]

             Wir mußten historisch und genetisch vom Expressionismus ausgehen, um den Aktivismus erfassen zu können. Der Expressionismus ist eine Erregung; Aktivismus der letzte Effekt dieses endemischen Willens unter Geistigen, die Welt nicht mehr beschaulich zu zerlegen und zu bewissenschaften, sondern sie geistig zu bewirtschaften. Der Aktivismus ist Geistwirtschaft am Erdball. Die Parteinahme des postanalytischen schöpferischen Menschen gegenüber dem Gegenstande, dessen Ordnung nach einem Ausdrucksprinzip, das im Künstler liegt, hat notgedrungen zur Parteinahme gegenüber dem sinnfälligsten Totalgegenstand, unserer sozialen Umwelt, führen müssen.

Die Aktivisten haben eine Zeitschrift in Zürich, „Das Zeitecho“, herausgegeben von Ludwig Rubiner. In Leipzig steht ihnen der Verlag „Tätiger Geist“ zur Verfügung, in dem soeben das zweite der „Ziel“-Jahrbücher erschienen ist. Wenn ein gebildeter und objektiver Ausländer, sagen wir ein Engländer oder ein Amerikaner aus dem Wilsonkreis, sich über die Entwicklung der deutschen Mentalität unter dem jungen Geschlecht unterrichten wollte, müßte man ihm dieses Buch, das von den ersten Schriftstellern geschrieben ist, darunter auch Heinrich Mann, in die Hände spielen. Und man würde dort draußen sehen, daß man mit Deutschland noch immer als dem Mittelpunkt der geistigen Welt rechnen kann.

 In: Die Wage, 30.9.1918, S. 615-619;(KS, II, 214-218)

Robert Müller: Bilanz des Aktivismus (1920)

             Der Aktivismus hat natürlich keine Saison. Als praktisches Ressort unseres modernen Geisteslebens, zu dem er sich seit Jahren herausgewachsen hat, ist er aber an den Rhythmus des allgemeinen Geschäftsgangs angeschlossen und hat mit ihm die Cäsuren, Abschnitte, Pausen und Kulminationen gemeinsam. Es ist also nur geschäftstechnisch zu verstehen, wenn wir mitteilen, daß ein Arbeitsjahr abgeschlossen hat und wie es abgeschlossen hat; und daß wir, die Bilanz des Gelernten und Getanen ziehend, uns ein Motto und eine Strategie fürs Kommende zurechtlegen.

             Wort und erster bewußter Inhalt des Aktivismus stammen aus der geistigen Atmosphäre der ungeheuer intensiven, amerikanisierten, apparatlich vehementen Kapitale des neudeutschen Reiches, Berlin. Daß die Kontemplation der immerhin geistig bleibenden Europäers sich der Dynamik der sprengkräftigen, kochenden Großstadt nicht entziehen können werde, hatten einige von uns vorausgesehen; wir sahen es voraus, weil wir hofften, es war der Wunsch Vater der Erkenntnis. Wenn jemand sich der sogenannten Ruf-Hefte erinnert, die im Jahre 1913/14 in Wien von damals allerjüngsten Studenten, Schriftstellern und Künstlern herausgegeben wurden und zum erstenmal sensationell eine neue Generation nach der Gerhart Hauptmann-Hermann Bahrschen anzukündigen schienen, so wird er in ihnen vieles von dem geahnt und empfunden vorfinden, was heute daran ist, sinnliche Gestalt zu werden. Ungefähr zur selben Zeit erschien in Deutschland Kurt Hillers Buch Weisheit der Langeweile, das ebenfalls schon die aktivistische Klaue verrät. In den Weißen Blättern des René Schickele war dieselbe deutsch-europäische Erscheinung als selbstständiges Symptom zum Ausdruck gekommen.

             Inzwischen hatten schlagfertige, aber durch die Erleichterung eines Initiative-empfindlichen technischen Verkehrsapparats auch schlagkräftige Berliner die ersten Organisierungsversuche unternommen. Eine literarisch-kulturpolitische Partei war gegründet, sie nannte sich „Die Aktivisten“. Die motorische Kraft der Bewegung dürfte schon damals der phantastisch konzeptive Kurt Hiller gewesen sein. Die Genesis und den weiteren historischen Verlauf möge er selbst erzählen, er hat eine bedeutende Fähigkeit, Ordnung in aktuelle Zusammenhänge und Relationen zu bringen. […] //

             Möglich, daß sich ein Dutzend Programme des Aktivismus in den nächsten Jahrzehnten auf den Kopf stellt; die Köpfe selbst werden, dürfen nicht aus ihrer Lage geraten. Sie gewährleisten, daß Programm-Revolutionen nicht frivol, zusammenhanglos und antilogisch vor sich gehen; vielmehr; daß sich ein solches Programm in seine stete und stetige Verbesserung verkehre.

             Nur auf diesem Wege, nicht auf dem einer dogmatischen Gesinnungsgleichheit haben sich die heutigen europäischen Aktivisten unterwegs getroffen. […] In Wien war der Aktivismus wie anderswo latent in voraktivistischen Gemeinschaften und Strebungen vorhanden. Er war mit ein Grund, daß die Revolution ausbrach; allerdings keiner, daß sie so ausbrach und einbrach. Das synthetische Element, das die nicht durch Bedürfnis, sondern Hunger und Autoritätslosigkeit entstandene allgemeine Tagesbericht-Revolution mit fortschwemmte, als sei es eine reaktionäre Erscheinung, flüchtete sich in ihn. Die Aktivisten in Wien waren die ersten und gründlichsten Umordner, nicht Unordner; ihre Programme griffen so radikal zu, daß sich die Wirtschaftsrevolutionäre, Marxisten und Klassenkämpfer in den ursprünglich breit gesteckten Debatten dialektisch überhaupt nicht halten konnten, sie verloren, aus ihrem volksversammelten Wortschatz gerissen, den Atem und, feuerfeste Ideologen, die sie damals waren, überschütteten sie uns mit Mißtrauen in unsere auf Seelenumwälzung losgehenden Sachpläne. Damals entstand eine Spaltung zwischen den Materie-Ideologen (Marxisten) und den Ideo-Materialisten. Die ganz brutalen Marxisten blieben weg; die feinen, die landauernden Intellektuelle des Sozialismus, möchte man sagen, hielten ihre personelle Affinität zur aktivistischen Gemeinschaft selbst unterm Druck des Dogmatischen, dem sie verschrieben sind, aufrecht. Es bildeten sich die persönlichen Respekte und Sympathien, diese geistige Erotik (das ist nur eine Metapher), die für den Aktivismus charakteristisch geworden sind und sein historisches Schicksal formen werden, denn der Aktivismus besteht nur mit seinen genuinen Trägern, außerhalb ihrer, als Dogma, als Lehre, als Massen-Entzückung gar nicht.

             Dies alles ereignete sich mit den Umsturztagen – es war kein Umsturz, sondern eine Schwankung von rechts nach links – im „Bund der geistig Tätigen“, nachdem ein einschichter Versuch, ein Raritätenkabinett von Königen ohne Portefeuille, von Ministern ohne politisches Kleingeld zu bilden, an seiner wunderschönen kristallenen Einsamkeit verschollen war. „Die Katakombe“ hatte exklusiv begonnen, um sich, wenn möglich, dem pragmatischen Leben zu inkludieren. Aus der Zusammenarbeit sehr vornehmer Intellekte ergaben sich geistige Wohlstandsbulletins, die eine Unsumme von Philologität in sich aufgespeichert haben; Wortliebhaberei für die Sprachreiniger. Ich kann heute darüber gut gelaunt sein; aber ich muß gestehen, daß mir die geistige Alm, auf die wir uns verstiegen hatten und von der es dann Abschied nehmen hieß, damals, als die Weltanschauungsberge ihre Opfer forderten und einer nach dem anderen abstürzte, als ein vorbildliches Fiasko sehr zu Herzen ging. Es waren ihrer nicht viel; und das Aussterben ging schnell. Daß ich so heiter geworden bin: Man sieht schon, daß ich noch einen Rest Traurigkeit zu vertuschen habe. Ich begrabe einen Lieblingsplan.//

             Im „Bund der Geistigen“ ging es flott. Die Aktivisten genieren sich nicht, amerikanische Worte in den Mund zu nehmen. Es ging flott. Ihr seid dabei gewesen, Freunde. Es beginnt eine neue – Saison. Seid wieder dabei!

             Über das Ergebnis hat der „Strahl“ an anderer Stelle (Chronik) berichtet. […]

             Die Bedeutung des engen Verhältnisses Berlin-Wien zeigt sich in der europäischen Resonanz. Nachdem zwei Manifeste, die wir an Henri Barbusse und die nachmaligen Pariser Clartisten gerichtet hatten, unbeantwortet geblieben waren, […] erlangten wir, von Hiller unterstützt, den gewünschten Kontakt. Victor Cyril fordert uns auf, in Wien eine lokale Sektion der „Internationale de la Pensée“ zu begründen. Wir sind daran, diese ehrende europäische Aufgabe zu erfüllen.

             Wie in den verschiedenen Regionen deutscher Zunge spontan, gleichzeitig und voneinander unabhängig die geistvereinenden Ideen auftauchten, so entwuchsen sie auch der französischen Mentalität. Die Frage ist nicht mehr, ob „Aktivismus“ oder „Internationale de la Pensée“, sondern in welcher Struktur. Die Gegensätze sind keine Epigramme, der Kooperativ-Instinkt ist es, der seinen Triumph feiern will, und nicht Grundsätze, sondern Menschen mit einigermaßen berechenbaren Lebensäußerungen sind es, die sich finden wollen. „Clarté“, „Zieljahrbücher“ und „Der Strahl“ sind Instrumente des Verständigungsvorganges, den Europa in reinster und reichster Form erleben will.

             Es will es.

             Europa ist keine Landkarte, sondern eine Geistkarte.

In: Der Strahl, H. 2/1920, S. 5-10 (auch in KS, II, 425-428)

Alfred Polgar: Dada. (= Teil 2 des Artikels: Ein paar Tage in Berlin) (1919)

             Den Dadaisten gehörte meine große Zuneigung. Sie schienen mir der Schrei und Geste gewordene Widerspruch gegen bürgerliche Vernunft und Vernünftigkeit. Sie pfiffen den gigantischen Unsinn des Lebens aus und selbst das „befreiende Gelächter“ noch verlachten sie. Sie setzten dem scheußlich-behaglichen Kulturbau aus Zeitungspapier und Ziegelsteinen, inklusive seiner heiligsten, geist-gestrichenen Räumlichkeiten und seiner Kunstkabinette mit esoterischer Wasserspülung, den roten Hahn der Verneinung aufs Dach. Sie störten die Comédie humaine-divine durch erquickend bübisches Dazwischenspielen und deckten die Szene mit einem Regen fauler Witze zu. Sie spieen ihren Haß in die Fratze der Zivilisation und nahmen überhaupt menschliche Beflissenheit als das, was sie ist: als dadaistische Angelegenheit.

             So schien es aus der Ferne. In der Nähe – bei einer Berliner Sonntags-Dada-Matinee – verblaßte der Zauber einigermaßen.

             Die Ordnung der Welt ist schlecht: also muß sie verrückt werden. Hierfür sorgt Dada. Lettern, Zahlen, Striche, Formen, Farben, Begriffe, Kausalitäten, Heiligkeiten, Betisen: alles stürzt, purzelbaumt durcheinander. Weiter als bis zu diesem Durcheinander ist Dada noch nicht gekommen.

              Der Wirrwarr hat manchmal, einfach dadurch, daß er vorhanden, etwas faszinierend Höhnisches, das leere oder lug- und mistgefüllte Innere der Ordnung unbarmherzig Aufspaltendes. Vor den Trompetenstößen der Dadaisten stürzen die kunstbeklexten Mauern der Kulturmenschensiedlungen, und Gestalten im Nachthemd, häßlich, aller Würde bloß, fallen der Lächerlichkeit zur Beute.

             Aber solche dadaistische Groß-Augenblicke hatte die Sonntagsmatinee keine. Sondern ein paar junge Leute machten allerlei Stegreif-Jux, verulkten ihre Zuschauer, trampelten, schrieen, pfiffen, telephonierten, warfen einander hinaus und herein, fistelten und brüllten, zogen einen gutmütigen Vorhang auf und zu, klatschten sich, quietschend vor Unsinnswollust, auf den Podex und sagten beiläufig: Ecce homo! Oder auch: Ecce ars!

             Sozusagen: „munteres Anarchistenvölkchen“.

             Es war erschreckend langweilig. Wenn man ihnen das aber sagte, würden sie antworten: Eben; wir sind gegen „Unterhaltung“. Und wenn man ihnen sagte: Aber warum so gottserbärmlich geistlos gegen Unterhaltung?, würden sie antworten; Eben; wir sind gegen „Geist“. Und wenn man ihnen sagte: Aber warum so jammervoll witzarm in der Verneinung von Geist?, würden sie antworten: Eben, wir sind gegen „Witz“.

             Man hat’s nicht leicht mit ihnen.

             Denn dies ist, scheint es, ein Wesentliches des Dadaismus: er ist gegen. Was immer in die Schußlinie dieses Gegen kommt, wird Zielobjekt und angeknallt.

             Dem Erlegten ziehen sie die Haut ab und treiben Schindluder mit dem armen Fell und verarbeiten es zu Dada.

             Und als höherer Sinn der Welt offenbart sich ihre tiefe Sinnlosigkeit. Oder auch umgekehrt.

             Es war die Pointe – (…wir sind gegen „Pointe“…) – der Sonntags-Matinee, als ein beleidigter dicker Bürger die Bühne berannte und von den Dadaisten, die sich die Röcke ausgezogen hatten und in Hemdsärmeln fochten, unter ungeheurem Getöse zurückgeschlagen wurde. //

             Frauen traten leider keine auf.

             Unter den Berliner Dadaisten gibt es ein Genie, einen Zeichner. Er arbeitet für zwei ultraradikale Blätter, für den „Blutigen Ernst“ und die „Die Pleite“. Seine Menschenbilder bestehen aus Kontur und Luft. Aber sei nehmen den Gesichtern und Bäuchen die Eingeweide heraus. Es sind Zeichnungen mit dem Apachen-Messer.

             Der schreckliche Mensch heißt George Groß.

             Ansonsten ist das Berliner Dada eine durchaus dadaistische Angelegenheit.

In: Der neue Tag, 25.12.1919, S. 3-4 (KS 4, 228-230).

Günther Hirschel-Protsch (Hirspro): Konstruktivismus und Dynamik (1925)

             Konstruktivismus ist die formale Ausdrucksweise körperlicher Starre nach logischen Gesetzmäßigkeiten. Dynamik ist das Prinzip bewegter Ruhe in der Übertragung von Raum auf Zeit, Fläche auf Raum, Fläche auf Zeit. Der Zusammenhang von Konstruktivismus und Dynamik ist nur durch Vitalität, Rotation und Mechanik lösbar. Sonst bleiben der Raum, Fläche, die Zeit pathetisch, bewegt erscheinend, so „als ob“. Die Gesetzmäßigkeit von Raum, Fläche, Zeit liegt begründet in ihrem gegenseitigen, zwingenden Verhältnis.

             Die Elektromechanik Lissitzkys ist der erste Schritt zur Überwindung des toten Raums. Auch Tatlins Versuche (Denkmal der 3. Internationale) müssen als Synthese der drei Polaritäten an dieser Stelle genannte werden. Die Forderung, welche Kurt Schwitters durch die „Merzbühne“ stellt, gehört in begrenzten Stellen ebenfalls hierher.

GEDICHT

ich sitze verquer durch den raum

baumloses astet und gilbt

ich lasse den raum

und schüttle den raum

und bebe den raum

und höhe den raum

leere stöhnt

leere weitet

leere fruchtet

Angst

In: MA, H. 3/1925, S. 7.

René Fülop-Miller: „Dividuum“, der Massenmensch (1923)

             Die neuen Lebensformen des kollektiven Menschen in Sowjetrußland sind unmittelbar aus dem sozialen Kampfe hervorgegangen. Dank einer straff organisierten Kollektivität wurde die für unerschütterlich gehaltene Zarenmacht gestürzt, sind die früher Unterdrückten zur herrschenden Klasse geworden. So ist es natürlich, daß sich das ganze Streben und Sehnen der zur Macht gelangten Klasse im heutigen Rußland darauf richtet, diese Kollektivität zu befestigen, alles aus dem Wege zu schaffen, was ihr widerspricht. Die Masse ist also die wichtigste Erscheinung im neuen Rußland; die Masse, die man heute freudejubelnd oder wider den Gegner empört auf den Straßen von Moskau fluten sieht – sie, der große Erfolg, die ureigene Schöpfung der russischen Revolution –, sie bildet unleugbar eine neue Realität im russischen Leben. Wenn sie sich mit ihrem Riesenkörper vom Theaterplatz über die breiten Straßen und Plätze dahinbewegt, wenn sich ihr Riesenleib in zähen Zuckungen aufbäumt, wenn sich ihm dröhnendes Gebrüll entringt oder wenn die Masse sich selbst friedsam über die Straßen Moskaus hinlagert, wie ein phantastisches Vorweltwesen, den Tag, die Sonne, ihre Kraft beschaulich genießend, immer, in allen ihren Äußerungen vergißt man völlig den einzelnen Arbeiter in seiner Arbeitsbluse oder die betriebsame Beamtin aus dem Sowjetamte, den Rotgardisten und den jungen Studenten und erkennt: hier ist eine einzige große Masse wirklich und lebendig. Wer sich noch außerhalb dieser Masse zu setzen vermag – ein Fremder, ein einzelner, also ein anderer –, errettet sich wohl das Gefühl, daß es auch hier noch Menschen gibt, ahnt aber schon dumpf in ihnen das fremde, das andere Wesen! Fremd die Stimme, die da aus Menschenkehle dringt, fremd die Bewegung, die sich dem Menschenleib entringt! Und deshalb empfindet sie der einzelne wie eine feindliche Macht, von der er nur mehr geduldet wird, die ihn aber früher oder später zu vernichten droht. Das ist das Bezeichnende: die Masse, die dem einzelnen heute in der russischen Stadt entgegentritt, wir als eine neue, andersartige Wesenheit unmittelbar empfunden. Die an die Revolution glauben, sagen, es sei der neue Mensch; so werde der neue Typus Mensch aussehen, der von nun an herrschen soll! So sah ich ihn, den hier im Sowjetlande vielgepriesenen und als siegreich und stark verkündeten Zukunftsmenschen, das neue „Dividuum“, den Massenmenschen!

             Einer, der zur Revolution gehörte und an jenem Tage mit mir umherwandelte, wies auf die Masse hin, die sich jetzt majestätisch und siegesbewußt vor uns bewegte, und sagte: „Die Organsation und ihr Geschöpf, der kollektive Mensch, sind die großen Errungenschaft des Jahrhunderts. Um seinetwillen, des Kommenden willen, mußten wir die Welt des einzelnen, sein Eigentum, seine Interessen und endlich die Seele, mit der er sein Eigenleben legitimierte, erbarmungslos zerstören! Wir erkannten das Geheimnis, daß die Erlösung des Menschen vom Leiden und damit sein Heil nicht in der Entwicklung seines geistigen Innenlebens bestehe, sondern allein in der Zusammenfassung und Organisierung jener Elemente, die die Millionen gemeinsam verbinden, des gemeinsam Menschlichen. Alles aber, was die vielen voneinander scheidet, was den Menschen Einzelbedeutung vorspiegelt (und dies ist eben die Seele!), muß abgeschafft werden! An Stelle des inneren Menschen entsteht so der herrliche äußere Mensch, den gemeinsame Interessen, gemeinsame Bewegungen und gemeinsame Aktionen verbinden. Jawohl, wir wollen den äußeren Menschen schaffen, denn nur er ist stark, und willen ihn organisatorisch, auf mechanistischer Grundlage, herstellen, denn nur der Mechanismus ist verläßlich.“

In: Neues Wiener Tagblatt, 30.9.1923, S. 2-3.

P. Stf [Stefan]: Zehn Jahre Ravag (1934)

Radio Wien feiert in diesen Wochen mit berechtigtem Stolz den Ablauf des ersten und wohl entscheidenden Jahrzehnts. Nur wenige Männer waren vor dieser Zeit großzügig genug, nicht verächtlich zu lachen, wenn ihnen die Möglichkeiten drahtloser Übertragung dargelegt wurden. Man muß da sogleich den Generaldirektor Czeija nennen, der nicht nur an diese Möglichkeit geglaubt, sondern auch Geld an seinen mutigen Glauben gewendet hat – und längst ist es so weit, daß die Ravag wohl in kapitalistischer Hinsicht ein „Geschäft“ darstellt, aber auch in gemeinwirtschaftlicher eine Institution, die es dem Bund gestattet, aus ihren Erträgnissen große Subventionen an Theater, Kunstschulen und Künstler zu gewähren.

Erst war das Radio eine „Konkurrenz“ für die verschiedensten Kunstveranstaltungen, namentlich für Theater und Konzerte – wenigstens wurde das geflissentlich behauptet. Heute wissen, und das seit langem, Theaterdirektoren und Konzertgeber, welche Hilfe ihnen schon rein ideell, bloß propagandistisch das Radio bieten kann. Ein Schauspiel, eine Oper, die durch das Radio übertragen wird, lockt Hunderte und Tausende in das Theater, statt sie daraus zu vertreiben. Die ganze Kunst- und Kulturpolitik hat durch den neuen Faktor Radio eine große Wendung genommen und ungeahnte Chancen angesammelt, zunächst auf Vorrat: sie sind noch keineswegs ausgenützt. Voraussetzung alles dessen war natürlich die Vervollkommnung der Technik. Anfangs war es schlechthin unmöglich, eine Oper oder Streicher-Kammermusik, ja auch nur Gesang mit Klavier zu übertragen und ein Theaterstück in drahtloser Wiedergabe anzuhören, schien eine Zumutung. Heute gelingt das alles so gut, daß man oft den Wunsch hat, auf alles Sichtbare zu verzichten und sich durch nichts von dem zu Hörenden ablenken zu lassen.

In: Die Stunde, 29.9. 1934, S. 5.

Karl Maria Grimme: Die Kunst in unserer Zeit (1930)

                           Zur derzeitigen Ausstellung im Wiener Künstlerhaus

             Wir können uns die Tatsache, nicht verhehlen, daß die bildende Kunst heute im Bewußtsein der Allgemeinheit nur von geringer Bedeutung ist. Fragen der Kunst berühren innerlich nur einen sehr kleinen Kreis von Menschen, sie belangen nur die Künstler selbst und ein paar ästhetisch Orientierte. Darüber hinaus aber erfassen Malerei und Plastik nicht einmal jene, die wirklich an der Gestaltung des Heute mitarbeiten und somit der Welt etwas bedeuten, geschweige denn, daß sie die breiten Schichten des Volkes in ihren Bann ziehen würden.

Betrachten wir dagegen die Baukunst, so bietet sich ein völlig verändertes Bild. Die Baukunst ist heute ebenso revolutionär, wie es Malerei und Plastik sind, und dennoch hat sie sich durchgesetzt. Von konservativem Festhalten am Überkommenen ist gar keine Rede, wo immer bei uns gebaut wird, ob von Gemeinden oder Privaten, geschieht es im modernen Geist, es fällt niemandem mehr ein, alte Stile zu kopieren. Darüber hinaus aber setzen sich die Prinzipien zeitgemäßen Formgestaltens auch auf allen anderen Gebieten durch. Es kann nur noch ganz wenige Jahre dauern und fast niemand wird sich mehr Stilmöbel anschaffen; schon heute ist dieser Zustand nahezu erreicht. Und betrachten wir die Einrichtungen öffentlicher Lokale, betrachten wir selbst nur die oft verblüffend kühnen. Umbauten von Geschäftsläden, so finden wir, daß man sie sich oftmals gar nicht besser wünschen kann. Die Auftraggeber dieser Architekten sind aber Menschen, die selbst nicht die mindesten künstlerischen Bedürfnisse besitzen, geschweige denn, daß sie bestrebt wären, für ihre Person bewußt mitzuhelfen, den modernen Stil durchzusetzen. Es ist auf diesen Gebieten heute einfach eine Selbstverständlichkeit, nicht mehr vergangenen Zeiten nachzuäffen. Die Arbeiten des modernen Architekten sind also tief im Heute verwurzelt, sein Schaffen ist für die Allgemeinheit tatsächlich eine Notwendigkeit.

Ähnlich steht es um die Erzeugnisse der Technik. Vom Auto, vom Flugzeug kann man heute schon behaupten, daß ihnen hohe ästhetische Reize eignen. Verfolgt man aber auch den Entwicklungsgang anderer technischer Gegenstände, es braucht selbst nur ein Hängelager oder ein Motorzünder zu sein, es ist erst gar nicht nötig, auf die Turbinen oder Lokomotiven zu verweisen, so erkennen wir, daß auch sie nicht nur reine Zweckgegenstände sind, sondern daß ihre Zweckform so gebildet ist, daß sie ästhetischer Wirkungen fähig wird. Dabei verdanken sie aber diese Formen nicht so sehr der Absicht des Entwerfers, stilreinigend zu wirken, sondern vor allem der Erfahrung, daß die ästhetisch ansprechende, formklar gebaute Maschine bei gleicher Leistungsfähigkeit leichter verkauft wird als eine unschöne Maschine. Praktische Erwägungen führen zu einer wertvollen Formgestaltung, das aber zeigt, daß hier ästhetisch hochgrädiges Schaffen ein wirkliches Erfordernis der Zeit darstellt.

Wir sehen also, künstlerische Werte sind für die Allgemeinheit in der Baukunst und in den technischen Erzeugnissen eine Notwendigkeit, auf diesen Gebieten sind sie lebenskräftig, während sie den meisten Menschen in der Malerei und in der Plastik nichts bedeuten. Es drängte sich daher vielen die Vermutung auf – auch so mancher Maler wird durch die bestehenden Verhältnisse in diese Gedankenrichtungen gezwängt – die Vermutung, daß Malerei und Plastik absterbende Künste seien, die für den geistigen Haushalt der Menschen langsam jede Bedeutung verlieren. Diesen Schluß gerade in der heutigen Zeit zu ziehen, hat nun tatsächlich eine gewisse Berechtigung. Wir dürfen ja nicht vergessen, daß wir möglicherweise am einer Weltenwende stehen, wie sie es in der Weltgeschichte noch nicht gegeben hat. Was diese Wende bewirkt, ist die Technik. Sie hat in den letzten Jahrzehnten das Leben jedes einzelnen, sie hat das Gesicht unserer Erde von Grund auf verwandelt, mehr verwandelt, als es je in früheren Zeiten Kriegen, Entdeckungen oder Erfindungen gelang. Eine Umwälzung von solch außerordentlicher Gewalt muß aber genau so auch alle unsere Beziehungen zu den geistigen Gütern umstürzen. Noch wissen wir nicht, was abfällt, was bleibt. Noch wissen wir nicht, wie diese neue Zeit aussehen wird, die vielleicht die Menschheitsgeschichte in eine zweite Phase drängt. Man könnte nun auf Grund der vorhandenen Anzeichen zu dem Schluß kommen, daß sich schöpferisches künstlerisches Gestalten in Zukunft auf anderen Gebieten ausspreche, daß es sich von der Malerei und Plastik abwende, um seine Betätigung vor allem in Zweckgegenständen, in Bauwerken und technischen Erzeugnissen zu finden. Ist schon heute die Technik, wie wir gesehen haben, nicht mehr lediglich eine Zivilisationserscheinung, so würde die Zukunft nahezu ausschließlich im Zeichen einer technischen Kultur liegen. So zwingend nun auch diese Vermutungen derzeit auf Grund der vorliegenden Anzeichen erscheinen mögen, so ist dies aber doch – so weit es Malerei und Plastik betrifft – kaum anzunehmen.

Dies darzulegen kann allerdings nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, mancher wird auch sagen, daß hier bindende Schlußfolgerungen heute noch keine Berechtigung haben. Wie dem auch sei, wesentlich ist, daß wir überhaupt einmal diese Dinge in Betracht ziehen, daß wir wenigstens beginnen, uns mit diesen Fragen auseinanderzusetzen. Wir können nicht weiter den Kopf in den Sand stecken. Wir können nicht im Kunstleben ein Als-ob an Stelle von Tatsachen setzen, wir können nicht so tun, als nähme die bildende Kunst noch immer jene bevorzugte Stellung ein, die ihr einst zukam. Sonst spielt die Kunst die Rolle jenes vertriebenen Königs, der sich noch im Exil täglich mit Krone und Zepter auf einen Thronsessel setzt. Dazu ist uns aber die bildende Kunst wahrhaft zu gut. Und mit dem Jammern darüber, daß diese bösen Menschen eben so gar nicht einsehen wollen, welche Glücksgüter ihnen an der bildenden Kunst verloren gehen, ist natürlich gar nichts gemacht. Wir müssen der neuen Zeit die Tore öffnen, und je früher wir dann erkennen, was da kommen will, desto besser ist es.

Nun, der entscheidende Anfang zu dieser Auseinandersetzung geht diesmal von Wien aus. Hofrat Dr. Hans Tietze hat zusammen mit der Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst eben jetzt im Wiener Künstlerhaus eine Ausstellung veranstaltet, der es gar nicht darauf ankommt, wieder und wieder einmal Bilder zu zeigen, trotzdem wir hier eine Auswahl der bedeutendsten europäischen Werke der letzten Jahrzehnte versammelt finden. Tietze ist es an Hand dieses Materials viel mehr darum zu tun, Kunst einmal ganz unkünstlerisch auf den Besucher wirken zu lassen, indem er aufzeigt, daß die Kunst vor allem auch allgemein-geistige Inhalte habe. Man soll also in dieser Ausstellung nicht so sehr bewerten, ob ein Bild gut oder schlecht sei, ob das vom Künstler Erstrebte wirklich erreicht wurde, man braucht also von Kunst gar nichts zu verstehen, sondern man soll vor allem den Künstler als Träger außerkünstlerischer Ideen und Strebungen auf sich wirken lassen. Die Bilder werden somit nach Gruppen geordnet, die ihren wesentlichen Inhalt kennzeichnen. Die eine Abteilung zeigt den Künstler als Gestalter übersinnlicher Erlebnisse, die nächste seine Einstellung zur Umwelt, eine dritte weist auf die sozialen Tendenzen einzelner Maler und Graphiker. Neben Gruppen, die in außerordentlich anschaulicher Weise die zeitgeschichtliche Entwicklung der Kunst in den letzten Jahrzehnten dartun, interessiert dann vor allem jene Abteilung, die das Formbilden unserer Zeit auf allen anderen Gebieten, im Fabriks- und Maschinenbau, in der Inneneinrichtung und im Kunstgewerbe, in den technischen Erzeugnissen und selbst in der Mode darlegt. Hier spricht sich ja die Gegenwart am deutlichsten aus.

Wie von Scheinwerfern beleuchtet, zeigt also diese Ausstellung, daß die heutige Kunst tatsächlich Inhalte besitzt, die den Menschen von heute auch dann belangen, wenn er nichts von Kunst an sich versteht. Das ist das unerhört Mutige, das Bahnbrechende. Kunst verbleibt damit nicht mehr auf ihrer fernen Insel der Träume, die aus innerster Nötigung aufzusuchen fast niemand mehr das Verlangen trägt, sondern sie greift ein in das lebendige Leben der Gegenwart. Sie verlangt nicht, daß man ihr nur auf den Zehenspitzen nahe, sie will nicht von Weihrauchfässern umräuchert, sie will nicht anbetend verehrt werden, sondern sie verlangt nur, daß man ihre Stimme höre. Sie zeigt, daß sie jedem etwas zu sagen hat.

Mit dieser Ausstellung Tietzes wird also die Kunst dem Interessenkreis der Allgemeinheit wieder näher gerückt. Die Auseinandersetzung kann beginnen.

In: Die Moderne Welt, H. 15 (1930), S. 14-15.

Hans Markowitz: Die soziale Bedeutung der Kunst (1927)

Es ist sehr zu begrüßen, daß Hans Tietze das Thema „Sozialismus und moderne Kunst“ im Dezemberheft des „Kampfes“ zur Diskussion gestellt hat. Die Wichtigkeit, die Probleme zu erörtern, die es in sich begreift, wird in der Regel unterschätzt, weil man die Kunst im allgemeinen zwar für einen sehr edlen, aber doch nur für einen Luxus hält. Dabei übersieht man aber, daß sie ihren Zweck durchaus nicht mit der Befriedigung höherer geistiger Bedürfnisse erschöpft, sondern daß sie auch eine sehr wichtige soziale Aufgabe zu erfüllen hat.

Die Menschen sind viel mehr Gefühls- als Verstandsmenschen. Der primitive Mensch ist ganz und gar Gefühlsmensch. Er denkt nicht verstandesmäßig, sondern gefühlsmäßig, nicht logisch, sondern emotional. So setzt er nicht nur Dinge einander gleich, die die gleichen objektiven Merkmale besitzen, sondern auch solche, die nur irgend etwas gemeinsam haben, das ihn interessiert und das die gleichen subjektiven Gefühle in ihm erweckt. Ja, er setzt solche Dinge nicht nur einander gleich, sondern er identifiziert sie geradezu. Er glaubt daher, daß Handlungen, die er an dem einen von zwei von ihm identifizierten Dingen vornimmt, ohne weiteres entsprechende Wirkungen in dem anderen nach sich ziehen. Die Widersprüche zwischen seiner objektiven Erfahrung und seinen subjektiven Vorstellungen stören ihn ebensowenig wie die, die sich daraus ergeben, daß er sich zwei Dinge als eines und doch wieder als zwei Dinge denkt. Der Satz vom Widerspruch, der für das logische Denken unverbrüchliches Gesetz ist, besteht für ihn nicht. Aus dieser Art des Denkens ist zunächst der Analogiezauber hervorgegangen. Aus der Fortbildung und mannigfachen Verknüpfung solcher und ähnlich entstandener Vorstellungen haben sich des weiteren die gesamte Magie und im engsten Zusammenhang mit dieser Ritus, Religion, Sitte und Brauch, kurz alle die Vorstellungskomplexe entwickelt, die für das gesellschaftliche Leben irgendwie von Bedeutung wurden. Darum erscheint dem logisch denkenden Kulturmenschen das Leben der Primitiven oft so ungereimt. Dafür hat es allerdings vor dem des seinen manches andere woraus: es ist vor allem ganz und gar von Kunst durchtränkt und das hat seine Ursache in dem innigen Verhältnis, in dem die Kunst zum emotionalen Denken steht.

Was immer der Ursprung der Kunst gewesen sein mag, jedenfalls war sie von jeher Ausdruck von Gefühlen. Da nun alle Vorstellungen des primitiven Menschen ihren Ursprung in seinen Gefühlen haben, so haben sie von vornherein immer auch ihren Ausdruck in der Kunst gefunden. Aus der gemeinsamen Quelle der Gefühle sind auf der einen Seite die Vorstellungen, auf der anderen ihr künstlerischer Ausdruck in sinnlich sichtbarer Form entsprungen.

Man erblickt die soziale Bedeutung der Kunst gewöhnlich darin, daß sie eines der stärksten Bindemittel der sozialen Gemeinschaft sei. Das soll nicht bestritten werden. Das Kunstwerk bringt nicht nur Gefühle zum Ausdruck, es ist nicht lediglich eine Privatangelegenheit seines Gestalters, sondern dieser gestaltet es immer so, daß die Gefühle, die es zum Ausdruck bringt, in allen anderen wiedererweckt werden. So werden Gestaltende und Aufnehmende zu einer Gefühlsgemeinschaft zusammengeschlossen und die sozialisierende Wirkung einer solchen Gefühlsgemeinschaft darf nicht unterschätzt werden. Allein noch mehr als die auf die Gefühlsgemeinschaft überhaupt, kommt es auf die Art der Gefühle an, die ihr zugrunde liegen. Die Kunst erlangt ihre volle soziale Bedeutung erst dadurch, daß sie Gefühle sozialisiert, die selbst soziale Bedeutung besitzen, daß sie also die Gefühle zum Ausdruck bringt, die bestimmte Formen des gesellschaftlichen Lebens aus sich hervorgebracht haben. Wenn die Eingebornenstämme der brasilianischen Wälder ihre totemistischen Maskentänze aufführen, wobei Tanz und Masken in grotesker Weise und daher um so eindrucksvoller das Totemtier nachahmen, von dem sie abzustammen meinen., so umschlingt Ausführende und Zuschauer nicht nur das Band innigen Gemeinschaftsgefühls, sondern es werden auch den Gefühlen verstärkter Impuls verliehen, die zur Totemvorstellung geführt haben. Hier liegt die soziale Bedeutung der Kunst auf der Hand. Denn auf der Totemvorstellung beruht das gesamte soziale System dieser Stämme.

Die totemistischen Maskentänze der Eingebornen Brasiliens sind nur ein Beispiel für viele. Überall ist es bei primitiven Völkern so, daß die Kunst vor allem sozial bedeutsame Vorstellungen in ihrer mächtig zu den Gefühlen sprechenden Art gestaltet und daß sie damit die Gefühle immer wieder neu belebt und verstärkt, die sich zu jenen Vorstellungen verdichtet haben.

Bei den höheren Kulturvölkern ist es nicht viel anders. Auch bei ihnen kann ein Kunstwerk die Gefühle vieler zu einer Gefühlsgemeinschaft zusammenschweißen. Aber es ist bekannt, daß doch namentlich kompliziertere Kunstwerke individuell sehr verschieden aufgefasst werden und daß die Menschen, selbst wenn sie sich wirklich einmal in einem Gefühl begegnet haben, hinterher doch auseinandergehen, als ob sie einander nichts angingen. Auch bei höheren Kulturvölkern gewinnt daher die sozialisierende Wirkung der Kunst erst dann ihre größte soziale Bedeutung, wenn sie sich auf sozial bedeutsame, in jedem einzelnen bereits latent vorhandene und von dem Kunstwerk neu entfachte Gefühle erstreckt. Da scheinen nun die Dinge bei den höheren Kulturvölkern ungünstiger zu liegen als bei den primitiven Völkern, weil bei ihnen die das soziale Leben regelnden Vorstellungen nicht gefühlsmäßige, sondern rein verstandesmäßige Reaktionen auf die tatsächlichen Verhältnisse zu sein und daher auch keine unmittelbare Beziehung zu den Gefühlen und damit zur Kunst zu haben scheinen. In der Tat spielt die Kunst bei höheren Kulturvölkern nicht ganz dieselbe Rolle wie bei den primitiven Völkern. Das hängt aber mehr damit zusammen, daß das Kulturleben höher entwickelter Völker differenzierter ist und nicht alle Volksgenossen in gleicher Weise an allen seinen verschiedenen Äußerungen tätigen Anteil nehmen, als damit, daß bei ihnen das logische Denken das emotionale verdrängt hätte. Denn ganz hat es dieses keineswegs verdrängt. Vor allem haben sich viele ursprünglich aus emotionalem Denken hervorgegangene Vorstellungen mit größter Zähigkeit durch Jahrtausende hindurch behauptet. Vom Aberglauben, dem letzten Rest magischer Denkweise, soll hier nicht weiter die Rede sein. Er spielt keine erhebliche Rolle mehr und hat jedenfalls seine soziale Bedeutung längst eingebüßt. Dagegen hat die Religion ihre Macht über die Gemüter und damit auch ihre soziale Bedeutung sehr lange aufrechterhalten. Zwar hat man bald den Widerspruch entdeckt, in dem das in ihr verdichtete emotionale Denken zu dem die Erfahrung logisch bearbeitenden Denken steht und hat wiederholt versucht, sie zu rationalisieren; daß der Erfolg stets nur sehr gering war, konnte ihr aber erst im Verlauf von Jahrhunderten merklichen Abbruch tun. Diese Erscheinung läßt sich nicht nur aus der Macht der Überlieferung erklären, sondern hat zweifellos ihren Grund auch darin, daß die Menschen, obwohl sie gelernt haben, logisch zu denken, doch immer noch mehr Gefühlsmenschen geblieben als Verstandesmenschen geworden sind und den Verstand in der Regel nur dort gebrauchen, wo es ihre praktischen Interessen gebieterisch erfordern. Gleichwohl hätten sich die aus verhältnismäßig noch sehr primitiven emotionalem Denken hervorgegangenen religiösen Vorstellungen kaum so lange erhalten können, wenn das gefühlsmäßige Denken nicht wie in den Vorstellungen selbst, so auch in der Kunst seinen unmittelbaren Ausdruck gefunden hätte und ihm nicht durch die Kunst immer wieder neue Impulse zugeführt worden wären. Die innige Verbindung zwischen Religion und Kunst ist eine natürliche Folge ihrer gemeinsamen emotionalen Grundlage. Darum hat es niemals Religionen gegeben, die sich nicht wenigstens künstlerischer Symbole bedient hätten. Die meisten haben sogar den Bilderdienst gepflegt. Ursprünglich geschah das eine wie das andere unbewußt. Später mit bewußter Absicht. Das Christentum hat sich zuerst nur symbolischer Ausdrucksmittel bedient. Es war seinem innersten Wesen nach dem Bilderdienst abgeneigt. Überdies hatte es zu befürchten, daß der Bilderdienst zum heidnischen Götzendienst, gegen den es sich durchzukämpfen hatte, zurückführen werde. Als es aber in die breiteren Massen gedrungen war, brach das Bedürfnis nach unmittelbarem Ausdruck der religiösen Vorstellungen mit urwüchsiger Kraft durch, und an die Stelle der Symbole traten Bildnisse Gottes, Christi, Mariä und den übrigen Heiligen. Im vierten Jahrhundert erfolgte die Reaktion gegen den Bilderdienst. Es begann der Bilderstreit. Sehr schlau hat sich damals Karl der Große, dessen geläutertes religiöses Bewußtsein den Bilderdienst verwarf, der aber aus staatspolitischen Gründen eine rasche Ausbreitung des Christentums in seinen Landen wünschte, aus der Affäre gezogen: er verbot die Bilderverehrung, gestattete aber den Bilderschmuck der Kirchen und Klöster, was auf die theoretische Verdammung, aber praktische Zulassung des Bilderdienstes hinauslief. Die byzantinischen Kaiserinnen, die sich für den Bilderdienst erklärt hatten, mögen als Frauen, bei denen das Gefühlsleben eine noch viel größere Rolle spielt als bei Männern, wirklich aus innerem Bedürfnis für ihn gewesen sein; Karl der Große dagegen hatte zweifellos ein sehr klares Bewußtsein von der großen Bedeutung der Kunst für die Religion, als er ihn praktisch duldete, sonst hätte er sich nicht bemüßigt gefühlt, ihn theoretisch zu verwerfen. Der Bilderdienst hat schließlich auf der ganzen Linie gesiegt. Diesem Sieg verdankt das Christentum die lange Behauptung seiner Machtposition. Jedenfalls ist es heute unmöglich, sich die Macht zu vergegenwärtigen, die die Kirche im Mittelalter und bis tief in die Neuzeit hinein auf die Gemüter ausübte, ohne der Hilfe zu gedenken, die ihr dabei die Kunst geleistet hat.

Aberglaube und Religion sind nicht die einzigen Überbleibsel emotionalen Denkens. Alles Denken selbst der logisch Geschultesten baut sich auch heute noch auf emotionaler Grundlage auf. Alle Verbindungen von Vorstellungen erfolgen zunächst gefühlsmäßig und erst hinterher prüft der logische Verstand diese Verbindungen, scheidet die unannehmbaren aus und gibt den annehmbaren die entsprechende Form. Freilich ist logisch Geschulten das logische Denken so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie auch gefühlsmäßig niemals so naive Verbindungen vornehmen, wie die sind, die der Religion oder gar der Magie zugrunde liegen; aber oft genug behauptet sich eine immerhin zweifelhafte gefühlsmäßige Verbindung gegenüber dem kritischen Verstand nicht nur ihres Urhebers, sondern auch anderer in ihren Gefühlen ähnlich Disponierter, und einzig und allein daraus erklären sich die oft weitgehenden Meinungsunterschiede in der Wissenschaft.

Ist der gefühlsmäßige Bestandteil des Denkvorganges in der theoretischen Wissenschaft lediglich eine Fehlerquelle, so ist er auf allen praktischen Gebieten natürlich auch eine Fehlerquelle, aber auch eine unentbehrliche Notwendigkeit. Namentlich auf sozialem Gebiete muß alles Denken, wenn es einen Sinn haben soll, von vornherein darauf angelegt sein, zu Handlungen zu führen. Eine Handlung geht aber nur aus einem Wollen hervor, und das Wollen entwickelt sich nicht aus Überlegungen, sondern aus Gefühlen. Überlegungen dienen nur dazu, dem Wollen, das sich aus den Gefühlen entwickelt, den rechten Weg zu weisen. In allen Reaktionen des menschlichen Bewußtseins auf die tatsächlichen Verhältnisse geht also die gefühlsmäßige Reaktion voran, erst hinterher überprüft sie der Verstand und die durch ihn berichtigten Vorstellungen erleuchten schließlich dem sich aus den Gefühlen entwickelnden Wollen die Bahn.

Unter diesen Umständen müßten eigentlich auch bei höheren Völkern die jeweiligen Ideologien ihren unmittelbaren, auf die ihnen zugrunde liegenden Gefühle zurückwirkenden künstlerischen Ausdruck finden. Nun spiegelt sich zwar der Wandel im Fühlen, Denken und Wollen der höheren Völker zweifellos im Wandel ihrer Kunst wider; aber doch tritt die Beziehung dieses Ausdrucks zum sozialen Leben nicht so klar zutage wie bei den niederen Völkern. Das hat seinen Grund darin, daß bei den höheren Völkern immer die überlieferte religiöse Weltanschauung noch lange eine alle beherrschende Rolle spielt und der Wandel in ihrem Fühlen, Denken und Wollen nur im Rahmen dieser zum Ausdruck kommt. Die Entwicklung der höheren Völker spielt sich ferner stets unter mehr oder weniger heftigen Klassenkämpfen ab, und die Kunst ist zu einem Beruf geworden. Nicht die, in deren Fühlen, Denken und Wollen die vorwärtstreibenden Ideen geboren werden, sind auch diejenigen, die berufen sind, sie zum Ausdruck zu bringen, sondern die Künstler. Könnten sich diese vorwärtstreibenden Ideen zu einer alle umfassenden Weltanschauung ausbreiten, so hätte das wenig zu bedeuten. Das können sie aber nicht, weil sie eben Klassenkampfideen sind, und so hängt alles davon ab, inwieweit die Künstler von ihnen ergriffen werden. Nun hängen die Künstler immer von den herrschenden Klassen ab, und die herrschenden Klassen sind gewöhnlich nicht die revolutionären, sondern die konservativen. Die revolutionären Ideen hätten daher wenig Aussicht, ihren künstlerischen Ausdruck zu finden, wenn die Künstler nicht eben deshalb, weil sie Künstler sind, ein sehr feines Gefühl für die revolutionären Zeitideen besäßen. Sie bringen sie zwar infolge ihrer Abhängigkeit von den herrschenden Klassen nur selten in konkreter Gegenständlichkeit zum Ausdruck, aber immer doch in dem, was man den Stil einer Zeit nennt. Bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein bildete bei den Völkern des Abendlandes die Weltanschauung des Christentums den Rahmen, innerhalb dessen sich die vorwärtstreibenden Ideen zur Geltung brachten. In der Kunst zeigt sich das zweifellos auch in einem gewissen Wandel der religiösen Stoffe, die sie vorzüglich behandelte. Vom fünfzehnten Jahrhundert an traten überdies unter dem Einfluß der humanistischen Strömung neben die religiösen Darstellungen immer mehr und mehr solche aus der Mythologie der Alten und andere profane aus dem Leben der jeweiligen Gegenwart gegriffene. Nichtsdestoweniger wäre es unmöglich, die Kunst der Zeiten vom frühesten Mittelalter an bis in die Neuzeit nach den von ihnen dargestellten Gegenständen voneinander zu unterschieden. Romantik, Gotik, Renaissance und Barock bezeichnen nicht bestimmte Darstellungsgegenstände, sondern ein bestimmtes Formgepräge das allen Arten von Gegenständen gegeben wurde. Neben verschiedenartigen Gegenständen wurden in allen diesen Stilen auch immer wieder die gleichen Gegenstände behandelt. So etwa das Madonnenmotiv. Um wie vieles unterscheidet sich aber eine romantische Madonna von einer gotischen, eine Renaissancemadonna von einer Barockmadonna! Im Formengepräge äußert sich vor allem der Stil und damit auch der Geist einer Zeit.

Die kapitalistische Gesellschaft hat in dem Maße, in dem sie selbst zur Macht gelangte, die Macht der religiösen Weltanschauung gebrochen. Aber sie vermochte an die Stelle der alten keine neue, die Gesamtheit der Menschen umfassende Weltanschauung zu setzen. Sie vermochte es um so weniger, als ihre Ideologie nicht nur, wie die Ideologien aller höheren, sich in der Form des Klassenkampfes entwickelnden Völker, bloß die Ideologie einer Klasse ist, sondern auch ihrem ganzen Wesen nach eher geeignet ist, die einzelnen voneinander zu trennen, als sie organisch miteinander zu verbinden. Die mittelalterliche Gesellschaft war trotz aller Klassenkämpfe, die auch sie erschütterten, doch eine organisierte Gesellschaft. Infolgedessen war eine alle umfassende Weltanschauung, in die sich die zeitlichen Ideologien eingliedern konnten, möglich. Überlieferung und Kunst wirken zusammen diese Weltanschauung noch lange zu erhalten, und die Kunst, die ihr Ausdruck verlieh, konnte daher auch noch lange ihre soziale Wirksamkeit entfalten. Sie verlor sie aber, als diese Weltanschauung bedeutungslos geworden war, weil an ihre Stelle keine neue, der sie wieder hätte Ausdruck verleihen können, getreten war. Die Kunst war ganz auf sich selbst gestellt. Der Gedanke des L’art pour l’art, des Selbstzweckes der Kunst, kam auf und wurde schließlich zum Siege geführt. Und das macht es, daß sie heute eben nur mehr als ein zwar edler, aber doch eben nur als ein Luxus angesehen wird.

Allein wie einst die Kirche, so hat heute die kapitalistische Gesellschaft bereits den Höhepunkt ihrer Machtentfaltung überschritten, und das muß wieder zu einem Wendepunkt in dem Verhältnis der Kunst zum sozialen Leben führen. Denn der Sozialismus, der im Begriffe ist, den Kapitalismus zu überwinden, muß um so eher wieder zu einer aller erfüllenden Weltanschauung führen, als er nicht nur auf eine organische Gliederung der Gesellschaft abzielt, sondern letzten Endes die Überwindung aller Klassengegensätze anstrebt. Die sozialistische Weltanschauung wird dieselbe soziale Bedeutung gewinnen, die einst die religiöse besaß. Und wie die religiöse Weltanschauung ihren unbewußten Ausdruck in der Kunst fand, so wird ihn auch die sozialistische finden, und wie die religiöse Kunst verstärkend auf die religiösen Gefühle zurückgewirkt hat, so wird die sozialistische Kunst verstärkend auf die sozialistischen Gefühle zurückwirken. Die Kunst wird ihre uralte und nur vorübergehend verlorengegangene soziale Bedeutung wieder erlangen.

Daß die Kunst dazu berufen ist, im wesentlichen Maße daran mitzuwirken, die sozialistische Weltanschauung in den Gemütern der Menschen zu verankern, wird wohl von wenigen Sozialisten bestritten werden, wohl aber, daß dazu nur die moderne Kunst berufen sein kann. Gibt es doch überzeugte Sozialisten, die meinen, es genüge, in allen politischen und sozialen Fragen fortschrittlich zu sein, in künstlerischen könne man ruhig konservativ sein. Wer dieser Meinung ist, kann sich allerdings auf die Tatsache berufen, daß auch umgekehrt manche Künstler, die in der Kunst Pioniere des Fortschrittes sind, politisch konservativ sind. Allein diese wegen der Abhängigkeit der Künstler von dem besitzenden Bürgertum begreifliche Inkonsequenz rechtfertigt nicht die Inkonsequenz jener Sozialisten. Und es ist nicht nur inkonsequent, sondern sogar ein geradezu eklatanter Widerspruch, den Entwicklungsgedanken in der Kunst zu verneinen, wenn man die Wissenschaft des Sozialismus auf ihn gründet und insbesondere wenn man mit Marx überzeugt ist, daß eine Veränderung der ökonomischen Grundlage der Gesellschaft notwendigerweise eine Veränderung ihrer ideologischen Formen, zu denen nicht nur die Politik, sondern auch die Kunst zu zählen ist, herbeiführen muß. Daß dieser Zusammenhang zwischen fortschrittlicher Politik und moderner Kunst nicht immer recht begriffen wird, ist darauf zurückzuführen, daß man in der Kunst eben mehr auf den Gegenstand der Darstellung achtet als auf die Art seiner Darstellung, mehr darauf was, als darauf wie, gleichgültig was, dargestellt wird und daß man daher nicht die befremdliche moderne Kunst als den ideologischen Reflex der geänderten ökonomischen Grundlage der Gesellschaft ansieht, sondern die gewohnte konservative Kunst, sofern sie nur Gegenstände aus dem Leben und den Kämpfen der Arbeiterklasse darstellt. Es kann hier nur wiederholt werden, daß sich der Geist einer Zeit gewiß auch in bestimmten Gegenständen der Darstellung, daß er sich aber noch viel stärker in dem Formengepräge ausdrückt, das irgendwelchen Gegenständen gegeben wird. Gewiß kommt beispielsweise der Geist der Gotik auch in den religiösen Stoffen, die sie vorzugsweise behandelt, zum Ausdruck, aber dieselben religiösen Vorwürfe sind auch zu anderen Zeiten gestaltet worden, ohne daß die Darstellungen auch nur das geringste mit Gotik zu tun haben, und die Gotik hat auch profane Gegenstände gestaltet und diese Darstellungen atmen denselben Geist wie ihre religiösen. So ist es auch heute. Gewiß äußern sich die vorwärtstreibenden sozialistischen Ideen der Gegenwart auch darin, daß sozialistische Stoffe behandelt werden, aber noch viel mehr in der Art, wie von der modernen Kunst irgendwelche und auch nichtsozialistische Stoffe zur Darstellung gebracht werden, und wenn sozialistische Stoffe in der Art der konservativen Kunst behandelt werden, so hat das weniger mit dem Geiste des Sozialismus zu tun als Darstellungen irgendwelcher und auch nichtsozialistischer Gegenstände in der Art der modernen Kunst. Wie sich der Geist einer Zeit in ihrem Stil manifestiert, und insbesondere der Geist des Sozialismus in der modernen Kunst, das näher auszuführen sei einem besonderen Aufsatz vorbehalten.

In: Der Kampf H. 2/1927, S. 92-96.

Berta Zuckerkandl: Eine Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst in Wien. (1923)

Eine soeben ins Leben getretene Vereinigung ist seit langen Jahren der Stagnation das erste begrüßenswerte Zeichen wiedererwachter europäischer Gesinnung und neuerstandener nationaler Pflichtbesinnung. Denn solche Polarität der Ziele zeichnet jede echte, wahre Förderung bildender Kunst aus. Sie muß ihre Aufgabe darin erblicken, durch die Heranziehung aller bedeutenden Erscheinungen, die jenseits der vaterländischen Grenzen wirken, jene Atmosphäre zu schaffen, die für die eigenen nationalen Kräfte erlösend, bestätigend und wegweisend in Wirkung treten kann.

             Diesmal sind es nicht Künstler, die Ludwig Hevesi’s seinerzeit über den Eingang zur Sezession gemeißelten Worte zur Tat werden lassen wollen: „Der Zeit ihre Kunst – der Kunst ihre Freiheit!“ Es sind Männer, die als Diener der Kunst, oder als ihre Förderer, sich auf eine Aufgabe besonnen haben, die in früheren Zeiten zu den stolzesten Pflichten der Kulturträger gehörten. Die beiden Direktoren der großen Kunstinstitute: der Direktor der Österreichischen Galerie, Dr. Haberditzl, und der Direktor der Albertina, Dr. Stix, gehören dem Ausschuß der neuen Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst an. Um diese schließt sich ein Kreis bedeutender Sammler und Mäzene, von Kunstgelehrten und anderen aktiv mit Kunstinteressen verknüpften Persönlichkeiten. Kein Künstler jedoch wird in die Gesellschaft zur Förderung moderner Kunst aufgenommen. Diese lehnt jede aktive Vereinsbeteiligung seitens der Künstler ab. (Mit Zustimmung aller die Neugründung wirklich begrüßender Künstler.) Weil der Verein ja ausschließlich idealen Interessen der Kunst, losgelöst von jeder wirtschaftlichen Kunstpolitik dienen will. Jedes Parteiwesen, das unausweichlich sonst wuchern würde, soll dadurch vermieden werden. Ohne Rücksicht auf kaufmännische Notwendigkeiten ohne jeden wirtschaftlich orientierten Zwang: frei von den Fesseln, welche im allgemeinen jetzt die Künstlervereinigungen zu Sklaven des Marktes machen, soll nach dem Willen der neuerstandenen Kämpfer die um ihre Entwicklungsmöglichkeiten schwer ringende Zeitkunst Schutz und Pflege finden.

             Es gilt also wieder einmal durch Konzentrierung williger geistiger Kräfte der Verdorfung Wiens entgegenzutreten. Als das Dringlichste erscheinen den neuen Förderern neuer Kunst vorerst zwei Dinge. Diese sind: Wien endlich wieder Gelegenheit zu bieten, mit europäischer Kunst in Kontakt zu treten. Und innig verwebt damit ist die zweite Aufgabe: der energische Versuch, eigene Talente, das Streben der Wahrhaften im Lande zu suchen, zu finden und ungestörter Entwicklung zuzuführen, so wie dies in Zeiten jedes intensiven Mäzenatentums das künstlerische Profil einer Epoche stolz, eigenartig und dennoch demütig gestaltete. Hier denkt die G. Z. F. M. K. eine neue, für Kunstliebende und Künstler gleich erzieherische Methode einzuführen. Nämlich, sie wird, um jungen Künstlern, die entweder dem Stil der Zeit allzu genialisch vorauseilen (wie es einst bei Kokoschka der Fall war), oder für jene Schaffenden, die für den starken Inhalt ihres Ausdruckswillens die erlösende Form erst allmählich zu finden imstande sind, folgendes in Szene zu setzen. Um dem brutalen Mißverstehen oder der Laien Ungeduld sowie der öffentlichen Aburteilung die Produktion noch unklar Strebender zu entziehen, werden geschlossene, dem allgemeinen Publikum nicht zugängliche Ausstellungen geplant, die allein nur den Vereinsmitgliedern zugänglich sein werden. Auf diese Weise ist dem jungen Künstler eine Atmosphäre geschaffen, in der er furchtlos an sich arbeiten kann.

             Die Programmpunkte der neuen Kunstgesellschaft sind vorläufig diese: Eine repräsentative Ausstellung österreichischer Kunst in gedrängter, aber aussagender Auswahl in Wien zu zeigen. Wahrscheinlich als eine deutsch-französisch-russische Ausstellung. Dieser soll dann eine hochqualifizierte kleine internationale Ausstellung folgen.

             Vor allem aber ist als Auftakt der Tätigkeit, die die G.Z.F.M.K. entwickelt, die gestern (Samstag) im Theseus-Tempel eröffnete kleine Ausstellung von einigen Skulpturen und Zeichnungen Anton Hanaks zu betrachten. Denn damit wollte der neue Verein seine Stellung zu Hanak, dem größten deutschen Bildhauer, dem die die Stadt seines Wirkens, dem Wien so viel schuldig geblieben ist, feierlich kundtun. Im Mai wird dann eine umfassende Kokoschka-Ausstellung folgen. Seit zehn Jahren schafft dieser österreichische Künstler, den einst die Klimt-Gruppe trotz des deshalb gegen sie inszenierten Entrüstungssturmes mit seinem Erstlingswerk eingeführt hatte, fort von Wien in Deutschland. Nun hofft die G.Z.F.M.K. die Marksteine dieses zehnjährigen Schaffens vereinigen zu können. Kokoschka ist heute der höchst bezahlte Künstler deutschen Landes und einer der gesuchtesten im Auslande. Es gibt kaum ein Bild von ihm, das sich nicht in Mäzenenbesitz befände. Und es wird schwerfallen, aus Museen und Sammlungen seine Werke zu erhalten.

             Was in Zeiten wie diese jetzt durchlebten die Verwirklichung auch nur eines Teils dieses Programms an Energie und Hingebung verlangt, ist kaum zu werten. Auch an Enttäuschungen wird und kann es bei einer so intensiven Arbeit nicht fehlen. Aber jede Zeit hat das Recht auch auf ihre eigenen, selbst erworbenen, selbst erlebten Enttäuschungen. Auch sie sind produktiv. Denn von jeder Kunstentwicklung gilt das Wort, welches George Clémenceau einst auf die große französische Revolution geprägt hat: „La revolution est un bloc!“. Als ein ganzes muß und soll der Versuch beurteilt werden. Wien wieder zur Stadt wacher Kunst zu erheben. Und die außerordentliche Teilnahme, // welche sich, noch ehe die eigentliche Werbung, die erst jetzt einsetzt, begonnen hat, durch die spontane Anmeldung von zweihundert Mitgliedern kundgibt, zeigt, daß die G.Z.F.M.K. einer tiefen Sehnsucht Form zu geben im Begriffe ist.

             Die äußeren Zeitverhältnisse erscheinen vielleicht ungünstig. Aber gerade an dem Druck, unter dem Wien gegenwärtig steht, entzündet sich die Überzeugung, daß eben nur die Anspannung aller geistigen und künstlerischen Kräfte Wien seine führende Rolle wieder gewinnen kann.

             Nun gilt es vor allem, dies zu begrüßen: Daß die Warte eingerichtet worden ist, von deren Höhe man Kunstland überblickend, die Frage, welche die bildenden Künste seit dem Weltkrieg nicht mehr stellen konnte, entscheidend beantworten wird. Die Frage: Wo halten wir?

             Der Vorstand der Gesellschaft moderner Kunst in Wien besteht aus den Herren Dr. Emil Franck (Vorsitzender), Doktor H. Eißler, W. W. Gartenberg, Regierungsrat Doktor F. M. Haberditzl (Direktor der Österreichischen Galerie), Dr. F. Halle, Dr. K. Rathe, Direktor F. Steinitz, Professor Dr. Alfred Stix (Leiter der Albertina).

In: Neues Wiener Journal, 22.4.1923, S. 4-5.