Der Mann, der hinter dem Schlagwerk der Jazzband sitzt, hält es durchaus mit den Schwächeren. Ein Freund der geringen, der unbetonten Taktteile ist er. Er tut für seine Schützlinge, war er nur kann, klopft sie in den Vordergrund, rettet sie, mit markigen Schlägen den Rhythmus teilend, wenn sie in diesem untergehen wollen. Etwas Justamentiges, Revolutionäres ist in seinem Getrommel. Gegen den Strich trommelt er.
Seinem Schlagwerk hat es sich zum Gesetz gemacht, dem rhythmischen Gesetz nicht zu folgen, dem die brave Geige und das brave Klavier bis zum letzten Hauch von Darm- und Metallsaite gehorchen. Es tut, was es will, zigeunert durch die Zeitmaße. Wenn die anderen vier Tempi machen, macht es fünf.
Ich kannte einen Jazzbandspieler, der schlug auf das gespannte Fell sieben Synkopen in den Viervierteltakt und verrührte sie drin mit Hilfe der kleineren Trommel , wie man ein Ei in der Suppe verrührt. Er hatte einen Hornbrille, sprach das reinste Südamerikanisch, warf die Schlegel in die Luft und klopfte indes, ihr Herabkommen lässig erwartend, seinen Part mit den Füßen. Die Instrumente genügten seinem Klangbedürfnis nicht. Er klopfte mit beiden Stäben auf den Klavierrücken, auf den Fußboden, auf den eigenen Kopf, auf das Weinglas; alles ward Trommel, Schallgelegenheit. Er stäubte unregelmäßiges Geräusch von sich wie ein Hund, der eben aus dem Wasser kommt, Tropfen. Er schneuzte sich in Synkopen. So entlud er sich, ein Glücklicher, aller Unzufriedenheit, die in ihm war, und förderte doch, ein Musikant, durch seinen Widerspruch, die Harmonie, der er diente, dienen mußte.
Die Synkope ist Salz und Würze der zeitgerechten Tanzmusik. Und nicht nur der Tanzmusik. Die Synkope ist ein Symbol unserer widerspenstigen Tage, das Symbol einer aus dem Takt geratenen Welt, die doch nicht aufhören mag und kann, in Brudersphären Wettgesang zu tönen.
Es macht sich allenthalben lebhafte Bewegung zugunsten der unbetonten Taktteile merkbar. Die Akzente verschieben sich, wackeln, stürzen.
Die kleinen Leute haben auch schon was mitzureden. Sie behaupten obstinat, daß sie da sind.
Der Rhythmus, nach dem die Himmelskörper kreisen, ist nicht so unverbrüchlich fixiert, wie wir dachten. Die Einstein-Synkope hat ihn auf ziemlich irritierende Weise gelockert.
Die Wissenschaft von der Seele legt auf das vom Bewußtsein nicht Betonte den gewichtigsten Ton.
Die Maler nehmen den Akzent vom Wesentlichen der Erscheinung fort und legen ihn auf das Un-Wesentliche.
Die Stückeschreiber trommeln drei Stücke über einem. „Nebeneinander“ von Georg Kaiser ist das Muster eines syncopated Drama.
Die Romanschriftsteller lassen die Kapitel ungeschrieben und schreiben das, was zwischen den Kapiteln steht.
Die Affekte werden, unter Patronanz der Psychoanalyse, verschoben. Die Ware wird verschoben. Das Geld wird verschoben. Vom Sinn des Lebens ganz zu schweigen.
In der Hotel-Hall sitzen die Damen und duften je nachdem. Der Akzent des Gewandes ist dort, wo es nicht ist. Der Rhythmus des Kleides wir durch die Betonung der Nacktheit angenehm inspiriert.
Frau Goldstein spielt mit Herrn Goldstein takt-voll die Ehepièce. Der Ton aber liegt auf dem Skilehrer mit den eisblauen Augen. Ehen ohne Synkopen gar es vielleicht zur Walzerzeit.
Die Musik der Sphären scheint sich mit einem Jazzbandspieler komplettiert zu haben. Und der Mensch muß ganz neue Schritte lernen, wenn er hiezu mit Grazie tanzen will.
Nachdem vor etlichen Sonnenjahren mit großem Lärm sich neue Menschen und neue Geschehnisse angekündigt hatten, bemerkt der gütige Leser aus der großen Stille, daß wieder einmal mehr Worte den Zähnen entrannen, als mit der Schwäche der Lungen vereinbar war, und geht zur Tagesordnung über. Ihm sei im folgenden ein kleines, harmloses Märchen, sozusagen eine sinnige Allegorie erzählt.
Der junge Autor hatte im Jahre x13 die kindische Idee, gänzlich unvorbereiteterweise ein Schauspiel zu schreiben. In diesem glücklichen Alter hat man natürlich keine Ahnung, wozu das weiter gut sein soll. Im übrigen ist es seinem auch völlig wurst. Also sandte der junge Autor das Produktum teils für fünfundzwanzig Mark einem literarischen Bureau, wo offenbar gleich mehrere Leute von dergleichen Späße lebten, teils einen „Autoritäten“.
Der junge Autor erhielt zwei Schreiben, in denen behauptet wurde, das Stück müsse und werde gedruckt werden. Es sei gleich bemerkt – und der gütige Leser wird mir’s aufrichtig danken –, daß dies bis heute nicht geschehen ist. Hierauf wurde das Produktum dem großen Verlage gesandt. Der große Verlag sandte es dem großen Theater, und das große Theater sandte es dem großen Verlage. So oder so ähnlich spielte sich dies anmutige „Vater, leih mir d’Scher“ ab.
Es würde den gütigen Leser ebenso langweilen wie den jungen Autor, wenn hier geschildert werden sollte, was sich im Jahre x14 ereignete, als der junge Autor auch weiterhin furchtbar einhertrat auf der eigenen Spur. Um es kurz zu sagen: es spielte sich dasselbe ab. […] Es kann also nicht behauptet werden, daß der junge Autor etwa an den falschen gekommen ist, wie dies dem Fräulein Säuselrot geschah, als sie ihre revolutionäre Lyrik im „Schwarz-Gelb-bis-auf-die-Knochen-Verlage“ veröffentlichen wollte. Nichts hiervon. Der Kern der Sache – lag wo anders.
Der Kaiser rief, das Volk stand auf. Der junge Autor legte rasch ein Ei und stürmte mit den k. und k. hinaus. In alter Ahnungslosigkeit wurde auch dieses Eich dem Laboratorium des großen Theaters zur Bebrütung eingesandt. Die Front verschluckte den Helden, während die Konjunktur der Kriegsstücke die Heimat ergriff, saß der junge Autor drei Jahre in der Sizilei. Andere Leute hätten in dieser freien Zeit hundert Dramen geschrieben; die gerührte Mitwelt dankte es dem jungen Autor, daß er nur ein halbes schrieb (und auch das war nichts wert).
Es sei bemerkt, wo nicht gar betont, daß der junge Autor bis dahin zu den Leuten gehörte, die das Gefühl hochgradiger Wurschtigkeit gegenüber den eigenen Produktionen beseelte. Ach, mit den Jahren wird es anders. Als gegen Ende des Jahres x19 der junge Autor in die schiebende Heimat zurückkehrte, da – dies läßt sich nicht länger verheimlichen – war es anders geworden. Man begann zu denken, man begann zu rechnen. Und die Rechnung lautete: sechseinhalb Jahre.
Sechseinhalb Jahre sind eine lange Zeit. Der große Verlag erhielt einen Brief, der sich gewaschen hatte. Die Gönner erhielten Briefe, die sie sich kaum auf den Hut stecken werden. Sie antworteten übrigens prompt, wie schon Gönner sind. Und nun wäre ohne Zweifel alles geblieben, wie es war, wenn nicht der große Verleger sich der geschlossenen Front seiner Lektoren gegenübergesehen hätte. Nun, er nahm zwei Sachen von vieren.
Und druckte eine. […]
Im weiteren Verlauf dieser Geschichte seien nur kurz gestreift die gebrochenen Verträge der Theater, die Sage von den Konventionalstrafen, die Legende vom modernen Theaterdirektor und die schwachen Nerven aller Beteiligten. […]
Diese Schauermär erzählt Ihnen, gütige Leser, Herr Bronnen aus folgenden Gründen: erstens weil sie wahr ist; zweitens weil sie ein sehr mild verlaufener Fall dessen ist, was täglich passiert; drittens weil dann dieselben Leute, die wissen, daß es passiert, ebenso täglich zu behaupten pflegen, daß die Jugend nichts wert ist; und viertens, weil sie das nicht nur behaupten, sondern auch noch beweisen, und sie beweisen es nicht nur, sondern es ist auch wahr, und es ist deshalb wahr, weil die ganze Generation von den kargen Brocken lebt, die ihnen eine schroffe Zunft von Verlegern vor die Füße wirft.
Und ich behaupte – und Gott strafe mich, wenn ich es je beweisen müßte: Niemals hat eine Zeit ihre Jugend mehr verhöhnt und frecher verhandelt als diese. Während aus den Hirnhöhlen der Verstorbenen die die Villen der Obengenannten aufbauen, vererbt sich das Wesen des Schaffenden gezwungen in Inzucht. Es geht die Epoche, ohne zu lernen, und es sterben die Jungen, ohne geben zu können.
In: B.T. (vermutlich Berliner Tagblatt, 1922; nicht verifizierbar; zit. nach F. Aspetsberger, A. Bronnen: Sabotage der Jugend. Kleine Schriften. Innsbruck 1989, S. 15-17)
http://litkult1920er.aau.at/wp-content/uploads/2018/06/body.png00litkultadminhttp://litkult1920er.aau.at/wp-content/uploads/2018/06/body.pnglitkultadmin2023-02-21 10:18:222023-02-21 10:18:23Arnolt Bronnen: Sabotage der Jugend
Selbst dem, dem oft Gelegenheit gegeben war, in die einzelnen Gemeindebauten zu kommen und alle ihrer Einrichtungen kennenzulernen, selbst dem, der häufig bei Eröffnungen der neuen Bauwerke, die die Gemeinde Wien aufgeführt hat, als Gast anwesend sein konnte, ist es wie eine Offenbarung, so eine Reise durch das rote Wien, wie sie jetzt unsere Bildungsstelle ganz regelmäßig an allen Sonntagen veranstaltet. Es ist ein politischer Anschauungsunterricht ersten Ranges, der da geboten wird, und es ist nur zu bedauern, daß verhältnismäßig nur so wenige diesen so lehrreichen Kursus in praktischer politischer Verwaltung mitmachen können.
Am ersten Aprilsonntag hatte sich eine Ottakringer Sektion — die 21.— zu so einer Fahrt zusammengefunden. Beileibe nicht die ganze Sektion. 300 hatten sich zu der Teilnahme an der Fahrt gemeldet. Es konnten in den vier Autobussen aber nur 180 Teilnehmer verstaut werden. Ueber die Friedensbrücke führte der Weg von Ottakring nach dem Winarsky-Hof[2], dem ersten Ziel. Die breite Brücke und dieser vielverheißende Name! Ein technisch vollkommenes Werk, das eine breite Verbindungsstraße zwischen zwei volkreichen Bezirken darstellt, und dazu ein Name, der wie ein Bekenntnis klingt— beides flog durch die Wagen, die über die Brücke rollten.
Winarsky-Hof.
Zuerst der Saal. Er beginnt sich gerade zu einer Vorführung der Wahlfilme zu füllen. Erwartungsvolle Spannung auf den Gesichtern und freudiges „Freundschaft!“ zwischen Brigittenau und Ottakring. Einzelne Vertrauensmänner erkennen und begrüßen sich. Und der Führer der Gruppe, Sektionsleiter Wolf, sagt es ihnen, daß sich die Ottakringer einmal den Winarsky-Hof ansehen wollten. Die wichtigsten Hausvertrauensmänner sind zur Stelle und führen die vier Gruppen in die verschiedenen Teile des Hauses. Im eigentlichen Winarsky-Hof fesselt neben dem Saal die große Bücherei die Aufmerksamkeit. Und es entgeht den aufmerksamen Besuchern auch nicht die Kunde der neuen Sittlichkeit, die ihnen mit dieser Bücherei wird. Da sagt irgendwo an der Wand ein handgeschriebenes Plakat: „Jedem stehen die Bücherschätze umsonst offen; wer aber kann, soll freiwillig spenden.“ Auch so eine Bücherei hat Hunger. In Nebenräumen sehen wir, wie immer neue Werke zur Einreihung vorbereitet werden, schauen wir hinter die Kulissen einer großen Arbeiterbücherei. Im ersten Stock der große, schmucke Beratungssaal mit den bequemen Lehnstühlen, mit dem gediegenen großen Tisch in Hufeisenform. Das lachende Antlitz unseres Leopold Winarsky in schönem Rahmen darüber, des ersten sozialdemokratischen Gemeinderates der Brigittenau, dessen Andenken zu Ehren der Hof so benannt wurde. Auch der Entwurf zum Lassalle-Denkmal ist sonst hier an der Wand zu sehen, aber nun muß ihn der Sektionsvertrauensmann erst aus einem Berg von Flugschriftenballen, hinter denen er verborgen ist, hervorholen, um ihn uns zu zeigen. Der Sitzungssaal ist zum Arbeitszimmer geworden, zwanzig Menschen sind den ganzen Sonntag über hier tätig, wahrscheinlich noch viel mehr, in Schichten abwechselnd, die Wahlaufrufe zu kuvertieren und zu versenden. Hochbetrieb! Wir stören nicht länger und gehen weiter. Eine ins Freie mündende Gasse, oder besser ein Straßenhof, nimmt zwei Turn- und Spielplätze auf, auf denen sich die Jugend ungefährdet tummeln kann. Diese „Gasse“ trennt das Hauptgebäude des Winarsky-Hofes von dem zweiten Gebäude, dem Grundsteinblock. Die Spielplätze, über die wir eben schreiten, bekommen dadurch ein besonders schönes Aussehen, daß die beiden Häuserfronten, die auf sie niedersehen, von vielen kleinen Balkons unterbrochen sind. Blumenbalkons, die im Sommer ganz besonders herrlich sein mögen.
Und dann kommen wir in den großen Hof des Grundsteinblocks, der mit seinen strengen Linien jetzt im ersten Vorfrühling den Beschauer fast kalt anspricht, der aber in wenigen Monaten durchzogen sein wird von der Sohle bis zum Dachfirst von rotleuchtenden Linien, denn alle 16 Stiegenhäuser, die in den Hof münden, haben an ihren Fenstern grüne Blumenwannen angebracht, die, sobald nur die erste Sicherheit gegeben ist, daß der Frost den Blüten nicht mehr gefährlich wird, von der Stadtgärtnerei mit leuchtenden Blumen versorgt werden. Und jede Wohnung hat mindestens ein in den Hof mündendes Fenster mit einer solchen Blumenwanne. Im Mai schon setzt der edle Wetteifer zwischen den Bewohnern und der Stadtgärtnerei und unter den einzelnen Bewohnern ein, wer wohl sein Fenster am schönsten hat. Oh, sie sind so schönheitshungrig, diese Proletarier! Man muß ihnen nur Sonne und Luft geben und sie tun dann alles selber dazu, was nötig ist. In einzelnen Ecken des Grundsteinhofes sind amerikanische Reben gepflanzt, sie kriechen an dem Rauhbewurf hinauf. Sie sind gehegt und gepflegt von den Bewohnern. In wenigen Jahren werden sie ihr grünes Sommerkleid über den ganzen Innenhof breiten. In einer Ecke hat ein Straßenbahner mit Hilfe der ganzen Mieter des Hausblocks eine besondere Einrichtung zur Verschönerung geschaffen. Er hat ein kleines Alpinum gebaut mit Wegen, kleinen Almhütten— die Freude der Kinder— und einem wirklichen, sprudelnden, murmelnden Bach. Man braucht nur aufzudrehen und der Bach beginnt zu rinnen und berieselt die Ränder, an denen jetzt schon die Vorfrühlingsblüten wachsen, die im Wienerwald und auf den Höhen weiter draußen zu finden sind. Aber auch einige exotische Primeln, die kinderfaustgroße, kugelrunde violette Blütenballen austreiben, sind schon zu sehen. Anschauungsunterricht für die Kleinen. Sie werden der Natur so nähergebracht. Und die Naturfreunde im Haus kommen selten von einer Wanderung zurück, auf der sie nicht in ihrem Rucksack irgendein Pflänzlein geborgen hätten, das hier, mitten im proletarischen Wohnhof, zu neuem Leben erblühen soll.
Mutter Gemeinde.
In die Mitte des Hofes springt von dem Kindergarten weg im Halbkreis eine Pergola, ein italienischer Laubengang, der zur sommerlichen Zeit vom Grün des wilden Weines umsponnen ist, ein Laufgang zugleich für die Kinder, und in der Mitte im weiten Halbkreis der eigentliche Garten für die Kinder, die dahinter ihre herrlichen Räume haben mit den kleinen Montessori-Möbeln und Tischchen und Stühlchen und kleinen Kasten und dem vielen Spielzeug. Genau so wie es die große italienische Pädagogin wollte, genau so ist es hier zur Wirklichkeit geworden. Während die Mütter oben kochen, spielen unten im Hof, geleitet von kundigen Frauen, ihre Kinder förmlich unter den Augen der Mutter. Ein Blick zum Fenster hinaus, und die Mutter sieht unten ihr Kleines im frohen Kreise der Gleichaltrigen; wohl behütet von den Augen der Mutter Gemeinde.
Da entringen sich den Seelen der Frauen, die mit bei der Besichtigung sind, die ersten Seufzer. Wenn man nur auch so etwas haben könnte!
Im Haus hat sich auch ein Doktor der Krankenkasse niedergelassen. Er öffnet die Tür seiner Wohnung und ladet uns alle ein, wenn wir schon eine Wohnung besichtigen, seine anzusehen. Die Räume sind wohl niedrig, aber die Fenster sind hoch, so daß bis in den letzten Winkel hinein Licht und Sonne scheinen kann. Sie gewinnen etwas Trauliches, etwas Gemütliches, und der Doktor ist glücklich, daß er hier inmitten der Proletarier wohnen kann, und die Vertrauensmänner des Hauses erzählen uns, wie glücklich die Frauen sind, daß sie einen kundigen Mann im Hause wohnen haben, der — und das trifft hier zu— zu jeder Stunde, bei Tag und Nacht, bereit ist, ihnen Hilfe zu leisten. Es ist ein Gefühl der Beruhigung, wenn man weiß, daß der Arzt immer gleich zur Stelle sein kann.
In der Ecke beim Alpinum ist die Badeanlage des Hauses. Sonntag vormittag. Alles vollbesetzt. Der Vorraum voll Wartender. Warme Wannen- und Duschbäder sind vorgesehen. Eine Männerabteilung, eine Frauenabteilung. Welche Wohltat! Welcher kulturelle Aufstieg, daß nun auch der Proletarier immer wieder sein Bad bereitfindet, daß Reinlichkeit kein Vorrecht mehr des Großbürgers ist, der es sich zahlen kann. Wenn die Gemeinde Hausherr ist, so kann auch der Proletarier sein Bad haben, so wie in der Kindergärtnerin auch das Proletarierkind seine Gouvernante haben kann. Warum denn auch nicht! Soll denn wirklich alles ein Vorrecht der Besitzenden sein! Glücklich und zugleich von leisem Neidgefühl beseelt, gehen die Frauen und Männer weiter.
Sechzehn Stiegen hier im Grundsteinhof, zweiunddreißig Stiegen im eigentlichen Winarskv-Hof, insgesamt achtundvierzig, und alle zusammen bilden eine Wohnungsgemeinschaft, die sich einen Mieterausschuß mit drei Untergruppen eingesetzt hat, einen Verwaltungsausschuß, einen Ordnungsausschuß und einen Schlichtungsausschuß. Sie brauchen keinen Administrator, der für alles sorgt, diese Mieter verwalten sich selbst ihr Haus. Der Ordnungsausschuß findet demokratische Mittel, um eine allen genehme Ordnung herbeizuführen, peinlichste Reinlichkeit und Sauberkeit im ganzen Hause, an mehreren Stellen in den Höfen die Colonia-Kübel[3], in die Abfälle hineingeworfen werden können, nirgends liegen Papierln oder Obstschalen herum – und schließlich, wie sie einen Kurator und eine Polizei nicht brauchen, so brauchen sie auch kein Bezirksgericht. Der Schlichtungsausschuß ist das Gericht dieser kleinen Stadt, die sich da in der Stromstraße aufgetan hat, einer in alter Zeit von allen guten Geistern verlassenen Gegend, in die nun das neue Leben Einzug gehalten hat. Aus dem alten Männerheim gegenüber ist ein Heim für alte Männer geworden, ein Versorgungsheim der Stadt Wien, umgeben von einem schönen Garten, und auch das Entbindungsheim der Stadt Wien hat dort seinen Platz gefunden, die jüngste, reichen Segen bringende Mutter- und Frauenanstalt der Gemeinde Wien.
Aus dem Verkehrshindernis wird ein Verkehrsweg.
Mit herzlichem „Freundschaft!“ geht es weiter, hinüber über die große Floridsdorfer Brücke. Wieder ein Werk der roten Gemeinde. Ein Unfertiges hat die bürgerliche Verwaltung hier zurückgelassen, und erst die Tatkraft der roten Gemeinde hat diesen breiten schönen Weg über den Donaustrom geschlagen. Aus dem Verkehrshindernis von gestern ist heute ein Verkehrsweg geworden, der die Mutterstadt mit dem rasch wachsenden Teil jenseits der Donau verbindet. In raschem Fluge geht es hinüber, und ehe noch die Wagen vor dem Schlinger-Hof halten, sehen wir zur Linken wieder ein Werk der Gemeinde Wien, den Paul-Hock-Park, links von der Brünnerstraße, in den der alte Friedhof verwandelt wurde, der einst an dieser Stelle war. Dem tapferen Vorkämpfer für die Freie Schule ein lebendes, unvergängliches Denkmal, der Bevölkerung eine Stätte der Erholung. Zur Rechten dann der Schlinger-Hof, ein neues Wahrzeichen von Floridsdorf. Ein Wahrzeichen der Tatkraft der sozialdemokratischen Gemeinde. Und vor dem Hofe der Markt. Er ist erst vor wenigen Wochen eröffnet worden.
Ist es wirklich gleichgültig, ob private Hausherren Häuser bauen oder die Gemeinde Wien? Nirgends wird einem der Unterschied so bewußt wie hier. Wenn man durch die auch gegen Regen geschützten, das heißt in den Mittelwegen überdachten Marktstände wandert, so fällt einem auf, daß der typische Marktgeruch hier nicht so stark auftritt. Der führende Marktinspektor sagt uns, daß das davon komme, weil die Marktkaufleute ihre Waren in den Kellern im Schlinger-Hof verstauen können. Die Gemeinde baut den Schlinger-Hof, die Gemeinde baut den Markt. Da weiß nun die Linke, was die Rechte tut, das Marktamt und das Wohnungsamt verständigen sich und es wird im Kellergeschoß des Schlinger-Hofes der Raum abgewonnen, um jedem zum Marktstand auch einen lüftbaren und gut gelüfteten Keller zu geben, in den der Marktkaufmann seine Waren mit Hilfe eines Aufzuges schaffen kann. Und an zwei Stellen dieser weiten Kellerräumlichkeiten sind auch große Waschbecken angebracht, in denen das Gemüse gewaschen werden kann. Vom gesundheitlichen und vom wirtschaftlichen Standpunkt bedeutet das einen Fortschritt. Die Ware ist einwandfrei und sie kann länger frisch erhalten werden. Es geht weniger Ware zugrunde. Je weniger Gemüse aber dem Händler zugrunde geht, desto billiger kann das Gemüse dann abgegeben werden. Hätten den Schlinger-Hof Wiener Hausherren gebaut und die Gemeinde hätte von ihnen verlangt, daß sie für die Marktkaufleute Keller einbauen sollen, so wäre dafür eine so hohe Miete begehrt worden, daß das Gemüse nicht verbilligt, sondern wahrscheinlich verteuert worden wäre. Letzten Endes hätten die Marktbudenbesitzer ihre Waren entweder täglich wieder nach Hause schleppen müssen, um sie zu Hause wieder gut aufbewahren zu können, oder sie hätten sie in ihren Buden nachtsüber aufstapeln müssen. Welcher Fortschritt das Heute [!]! Auch Konfiskationsräume sind da und brauchbare Räume für das Marktamt und eine ideale Wage [!], in der irgendeine Manipulation zugunsten oder ungunsten der Parteien darum ausgeschlossen ist, weil die Feststellung des Gewichts völlig auf automatischem Wege vollzogen wird.
Und im Hofe des Riesengebäudes eine der schon berühmt gewordenen Waschküchen der städtischen Wohngebäude, eine Waschküche, wo die Hausfrau in vier Stunden reinigen kann, was eine fünfköpfige Familie in vierzehn Tagen an Wäsche braucht. Neuerdings Bewunderung und Neid derer, die das noch nicht mitbenützen können. Aber auch hier ist schon wieder ein Schritt nach vorwärts gemacht. So wie der Kindergarten nicht nur den Kindern des Hauses zur Verfügung steht, so ist auch diese Waschküche gegen eine ganz bescheidene Miete andern Proletarierfrauen zugänglich, die außerhalb des Hauses wohnen. Die Leistungsfähigkeit der Waschküchen kann dadurch auf das äußerste ausgenützt werden. In einer Viertelstunde ist die Wäsche in den Trockenkulissen trocken und nicht rußig. Ueber jedem Waschtrog gibt es zwei Auslaufhähne für heißes und kaltes Wasser, daneben steht ein Dampfkessel mit Zulauf für heißes Wasser und einem Hebel für den Ablauf des Schmutzwassers. Nirgends braucht die beim Waschen sonst so gequälte Frau schwere Lasten zu heben: Wasser oder nasse Wäsche; immer wieder kommen ihr mechanische Vorrichtungen zu Hilfe. Die elektrische Rolle, die Streudüse zum Wäscheeinspritzen und das elektrische Bügeleisen vervollkommnen die Einrichtung. Da ist es wirklich ein Vergnügen, zu waschen, keine Last mehr, kein Schrecken mehr!
Schlinger-Hof und Bretteldorf.
Und dann der Gegensatz!
Eine rasche Fahrt in das benachbarte Bretteldorf, das auf Ueberschwemmungsgebiet gestellt, von den Kleinbesitzern der Bretterhütten verteidigt wird wie ein Heiligtum, das aber doch eine gesundheitliche Gefahr, nicht nur für die Bewohner des Bretteldorfes, sondern für die ganze Stadt bedeutet. Wir sehen die Kehrichtabfuhr nach dem Coloniasystem, wir sehen, wie oben ein ganzer Wagen gestürzt wird und unten ein Tankwagen seinen Inhalt aufnimmt und wie dieser Tankwagen dann über die neue „Mistg’stetten“ dahinrollt und irgendwo seinen Inhalt entleert, der dann noch sortiert wird von seinem Unternehmer, der da unten den Abfall der Großstadt und proletarische Kraft auswertet. Eine Milliarde Pachtschilling zahlt der Mann für die Erlaubnis, den Abfall der Großstadt auswerten zu dürfen und trotzdem wird er noch ein schwerreicher Mann dabei. Aber die armen Menschen, die diese Arbeit zu leisten haben, wie hausen sie hier! Es ist ein schauriger Einblick, den wir im Vorüberfahren gewinnen, wenn wir in die kleinen Eisenbahnwaggons oder Wagen sehen, die da mitten im Mist, aber ohne Räder, gestellt sind und deren eine Wohnung für ein paar Menschen darstellt. Berge von Glasscherben, Kondensbüchsen sind da und dort aufgestapelt und von anderm Gerümpel. Der Pächter hat einen eigenen Schmelzofen, in dem die Kondensbüchsen und andern Metallgegenstände in Barren gegossen und dann wieder verkauft werden. Ein Großbetrieb, aufgebaut auf die Arbeitskraft wahrer Enterbter. Schaudernd schauen wir in dieses Leben. Und wie Befreiung scheint es uns allen, als der Führer das Zeichen zum Aufbruch gibt, nach der letzten Station, die wir vor uns haben, nach dem Amalienbad in Favoriten[4].
Auf dem Wege dahin begegnen wir in der Rasumofskygasse[5] zwei Damen in Reithosen, die eine mit einer schwarzen Jockeimütze, die andre in schwarzem Schlapphut, beide in schwarzen Fräcken steckend, die eben auf ihren Pferden von dem Morgenritt in den Prater zurückkehren. Ein Blick in die andre Welt. in die Welt derer, die nur ihrer Pflege, nur ihrer Schönheit leben …
Verbrüderung Ottakring-Favoriten.
Ehe wir die herrlichen Hallen des Amalienbades betreten, das moderne „Tröpferlbad“ und das schöne Dampfbad besichtigen, laden uns noch die Vertrauensmänner eines städtischen Wohnbaues in der Bürgergasse in Favoriten zu kurzem Verweilen ein. Wir treten ein, sie empfangen uns in ihrem noch nicht völlig fertiggestellten Beratungssaal, aber was sich in dieser halben Stunde, die wir dort zubringen, abspielt, das ist ein herzerfreuendes Verbrüderungsfest zwischen den Proletariaten der beiden mächtigsten Wiener Proletarierbezirke, zwischen Favoriten und Ottakring. Im Nu ist aus der Exkursion eine Wählerversammlung geworden, in der ein Exkursionsteilnehmer den Gefühlen aller beredten Ausdruck gibt, den Gefühlen aller für die rote Gemeinde Wien auf der einen Seite, den Gefühlen aller aber auch gegen die Preßhelden der Einheitslistler[6], die begehren, daß alle diese Herrlichkeiten, die da in einem Vormittag geschaut werden konnten, erbaut werden sollen, indem sich die Gemeinde Wien dem internationalen Kapital tributpflichtig macht, ja nicht aus der eigenen Kraft, und die zugleich alles zu schön, alles zu luxuriös, finden. Für die Herren das schön verkachelte hygienische Bad, für das Proletariat das muffige Tröpferlbad, wie es einst war. Das ist die Meinung der Zeitungen der Einheitsfront von dem christlichsozialen Regierungsblatt bis zur „N. Fr. Pr.“.
Und dann geht es wirklich ins Amalienbad. Wir schauen den Zauber, den da die Gemeinde Wien wieder geschaffen hat, für das Proletariat geschaffen hat, damit auch das Proletariat seinem Körper in Gesundheit und Schönheit zugleich dienen könne.
***
Dann geht es wieder nach Hause in die alten Wohnungen und ein Stück Unzufriedenheit in dem Herzen zieht nun mit ein. Dabei aber belebt jeden Einzelnen der große Gedanke: Das, was wir heute geschaut haben, den kleinen Ausschnitt aus dem großen Wirken der sozialdemokratischen Gemeinde der letzten vier Jahre, das ist alles noch ein bescheidener Anfang, es soll noch viel mehr, es soll noch viel Schöneres kommen: 30.000 neue Wohnungen, Spielplätze und Bäder, und für Kinder und Mütter, alles was nötig ist, Krippen, Heime, Kliniken, und für die Kranken und Alten alles, und für die Hausgehilfinnen Heime und dazu Parks und schöne staubfreie Straßen für alle, und vieles andre, alles, alles will die rote Gemeinde leisten, wenn sie getragen ist, von dem Vertrauen des roten Wien. Möge der 24. April ein Tag des Segens werden für diese Stadt, für unser aller geliebtes Wien.
[1] Der Text erschien eine Woche vor der Nationalrats- sowie der Wiener Gemeinderatswahl 1927.
[2] 1924/25 nach Plänen von Josef Hoffmann, Peter Behrens, Oskar Strnad, Josef Frank, Oskar Wlach, Franz Schuster, Margarete Lihotzky und Karl Dirnhuber erbauter Gemeindebau
[4] Zwischen 1923 und 1926 in Favoriten erbaute Badeanstalt, benannt nach der 1924 verstorbenen Politikerin Amalie Pölzer, die seit 1919 als erste Favoritnerin dem Wiener Gemeinderat angehört hatte. Siehe dazu: http://www.dasrotewien.at/seite/amalienbad (Zugriff: 30.12.2022)
[6] Wahlgemeinschaft der Christlichsozialen Partei, der Großdeutschen Volkspartei sowie österreichischer Nationalsozialisten bei der Nationalrats- sowie Wiener Gemeinderatswahl 1927.
http://litkult1920er.aau.at/wp-content/uploads/2018/06/body.png00litkultadminhttp://litkult1920er.aau.at/wp-content/uploads/2018/06/body.pnglitkultadmin2022-12-30 09:40:002024-08-14 14:25:20Max Winter: Rundfahrt durchs rote Wien (1927)
Auf der Planke vor dem Gemeindepark sitzt Berta, die Heimarbeiterin.
Sie näht Pelzstreifen für eine Pelzfabrik. Sie hat Halbschuhe an; es ist Herbst und sie friert. Über ihre dunkelgraue Jacke hat sie ein Wolltuch mit Fransen sie hüllt sich ein, sitzt, schaut und wartet; manchmal hustet sie ein wenig.
Sie erwartet Franz, den Kellner aus dem Café Splendid. Pünktlich war sie da, sogar viele Minuten vorher.
Er läßt sich Zeit.
Da kann sie nachdenken.
Sie irrt sich nicht, er wird von einem Mal zum andern kälter.
Beim letzten Zusammensein hatte er ihr zum Abschied nicht einmal die Hand gereicht. Und zerstreut war er. Und als sie ihn, wie immer, ein Stück durch den Park, durch den abends niemand ging, begleitet hatte und sie sich fest an seine Brust gedrückt hatte, lange und fest, da hatte sie nicht mehr sein Herz heftiger schlagen, sie hatte auch nicht mehr seinen umfangenden Arm gefühlt. Er hatte auch nichts gesagt, kein Wort.
Und heute war es wie immer; sie erwartete ihn am gewohnten Platz. Wenn er durch den Park kam, saß sie hier aus der Planke, und dann gingen sie zusammen nach Hause, in ihr Zimmer, und blieben bis spät abends, bis Franz wieder seinen Dienst antreten mußte.
Sie wollte schon ein paarmal offen mit ihm reden, aber sie fand nicht den Mut. Sie glaubte, daß er eine andere hatte.
Das merkte man den Männern an; sie sind dann, während sie bei der einen sind, mit ihren Gedanken ganz woanders.
Sie wußte beinahe auch, wer die andere, sei. Er sprach manchesmal stockenden Atems von ihr; die Kassierin, eine blendende, blonde Person, die viele Ringe an ihren weißen, gepflegten Händen hatte.
Und sie wollte ihm doch längst sagen— sie, Berta, die Heimarbeiterin, die Pelzstreifen nähte —, daß es so weit mit ihr sei— und was nun mit ihnen beiden geschehen werde, ob sie beisammen bleiben wollten— oder was?
Wieder schreckt sie auf in ihrem Sinnen. Kleinigkeiten fallen ihr ein: Auf der Treppe war es dunkel gewesen und sie wollte nach seinem Arm greifen, da hatte er plötzlich seine kleine Taschenlampe herausgezogen und aus die Uhr geblickt, dann war er rasch ein paar Schritte vorausgegangen, so daß sie laufen mußte, um ihn einzuholen.
Und auf einmal stand es mit klarer, kalter Deutlichkeit vor ihr: Es war aus.
Vielleicht bietet ihm die andere mehr. Was hat er bei ihr? Ihr Zimmer, das nie ordentlich sein konnte, immer flogen die Fellhaare umher. Und alles war voller Pelzstreifen, und der Staub, der auf den Möbeln lag, man mochte ihn noch sooft wegfegen. Sie mußte immer erst lange seinen schwarzen Anzug bürsten, ehe er ging…
War es vielleicht schön bei ihr?
Und sie selbst?
Sie hustete und hatte manchmal in den Schultern Schmerzen, war daher schlecht gelaunt. Und jetzt war dieses geschehen. Die Arbeit begann sie mehr zu ermüden als früher.
Wieder fällt ihr etwas ein.
Sie blickt auf ihre Hände. Es sind recht häßliche Hände. Sie rnußte mit ihnen seit ihrer Kindheit schwer arbeiten. Das Pelznähen aber hatte sie erst so häßlich gemacht; sie waren breit, grau und rissig, zerstochene Finger, stumpfe, beschädigte Nägel, und sie fühlten sich hart und schwielig an, waren voll Verletzungen. Der Franz hatte ihre Hände nicht gern in seinem Gesicht. Und einmal hatte sie geweint und mit den Händen ihre Tränen fortgewischt, da hatte er sie zornig angeschrien: „Gib die Hände weg!“ Jetzt wußte sie es, er konnte sie ihrer Hände wegen nicht leiden. Ihre Hände waren schuld, daß es aus war.
O, sie waren auch wirklich zu entsetzlich häßlich. Wie eine Krankheit sahen sie aus. Da half nichts mehr.
Es war Abend geworden. Berta saß noch immer auf der Planke.
Ihre Beine waren steif vor Kälte. Franz war nicht gekommen. Ihre Augen starrten in die Dunkelheit des Parkes — starrten …
Zwei Bücher der letzten Tage, Ludwig Renns ‚Krieg‘ und Erich Maria Remarques ,Im Westen nichts Neues‘, beides Bekenntnisse der Frontgeneration, sind als die erfreuliche Gewähr dafür hingenommen worden, daß das Kriegserlebnis unverlierbar ist und fortwirken müsse, solange diese Generation atmet. Es war eine falsche Annahme, das Schweigen nach dem Kriege aus dem Willen zum Vergessen zu deuten; das vertiefte Erlebnis kommt erst jetzt zu Wort. Das Letzte und Tiefste, was unter Millionen Frontsoldaten empfunden wurde, ist wahrscheinlich noch zu erwarten.
Vor diesen Dokumenten des Krieges, die unvergleichbar sind und nichts mit der Kriegsliteratur früherer Zeit gemein haben, stellt sich als erste die Frage nach ihrer Wirkung ein. Man kann bei der Untersuchung außerachtlassen, ob die Kunst oder die exakte Reportage, ob Remarque oder Renn sich als wirksamer erweisen. Wichtiger ist: wo hört die Wirkung auf? Es ist eine Selbstverständlichkeit, wenn man sagt, daß der, Renn und Remarque gleichgesinnte Teil der Frontgeneration in beiden Bekenntnissen nur deutlicher, klarer wiederfindet, was er selber empfunden. Das Entsetzen, das die Bücher wachrufen, der Schrecken und die Erschütterung vor dem Bild der Hölle verleiten jedoch zu der Ansicht, der Krieg könne nur so und nicht anders erlebt worden sein.
Dem widerspricht die Tatsache, daß es neben der Million stummer Renns und Remarques eine andere Million gibt, die alles erlebt hat, was es an Barbarei, Vertierung, Scheußlichkeit gibt, und dennoch im Innersten unberührt die Hölle verließ. Objektiv liegt dasselbe Erlebnis vor: Morden, Todesangst, Qualen, Versinken ins Tierhafte, Schmutz, Gestank, Krankheit, Hunger, Überanstrengung des Leibes; in der Erinnerung aber stellt sich dieser Million das Erlebte anders dar, als den Renn und Remarque. Man darf sich nicht täuschen: die Bejahung des Krieges ist nicht nur eine Erfindung des Hinterlands; in jener ansehnlichen Masse, die jetzt noch mit Stolz den Stahlhelm als Symbol vor sich trägt, sind hunderttausende ehemaliger Frontsoldaten, mit Augen begabt wie die andern, mit Ohren, Nase und Nerven wie die eines Menschen. Sie haben gemordet und gelitten, Kameraden sterben gesehen, die Pest des Krieges an Kopf und Gliedern gespürt wie die andern. Und dennoch: diese respektable Armee wird auf einen Ruf bereit sein, morgen von neuem in den Krieg zu ziehen. Kann man das bestreiten?
Wie erklärt sich das Phänomen? Welche Motive sind so stark, daß sie das Höllenerlebnis zu glorifizieren und das Menschlichste, Allermenschlichste zum Schweigen zu bringen vermögen? Die Breughel-Bilder vom Kriege versagen hier ebenso wie die pazifistische Polemik, die sich um die Propagierung der Erkenntnis müht, daß der industrialisierte Krieg in seiner allzerstörenden Wirkung ein unzulängliches Mittel geworden ist, dem Feinde den eigenen Willen aufzuzwingen. Der Kriegsenthusiast denkt nicht an das Kriegsende, er denkt an den Krieg. Es berührt ihn nicht, daß der Krieg heute etwas Unabschätzbares, gänzlich Unberechenbares darstellt: dessen Bejahung also sich weder mit realpolitischen Erwägungen, noch mit nationalistischen Argumenten begründen läßt. Woher dann doch die Bejahung? Auch die Psychologie kommt zu keinem Schluß mit ihrer Behauptung, die Gefahr der Kriegsenthusiasten liege in ihrem Mangel an Phantasie. (Die Phantasie als die Fähigkeit gesehen, Erlebtes leibhaft zu rekonstruieren.) Des Rätsels Lösung ist einfacher. Sie führt ins Soziologische.
In unserer Gesellschaftsordnung leben Millionen „zwischen den Klassen“, über deren wahres Gesicht sich bisher alle Soziologen getäuscht haben. Sie sind nicht Bourgeois, nicht Kleinbürger, nicht Proletarier. Es sind Halbgebildete, Intelligenzen mindern Grades, deren Wollen und Können nicht ausreichte, die gewünschte Lebensbahn zu gehen; Unzufriedene, die im Beruf keinen Ersatz für die Kargheit ihres Daseins finden; Untaugliche im bürgerlichen Lebenskampf, die sich zu gut dünken, in die Reihen des Proletariats zu treten. Sie sind je nachdem Schreiber und Unterbeamte, Bureaudiener, Diurnisten, Hilfskräfte in Geschäften, Lehrer, Magazineure, Verkäufer, Agenten, Markenkleber, Aufseher, Türhüter, aber auch Professoren, Hochschullehrer, Ingenieure. Sie kommen von dem großem wirtschaftlichen Aufschwung vor dem Kriege her, der das rasche Emporblühen der Städte förderte, Millionen Existenzen aus ihrem angestammten Erdreich riß und in die großen Städte, in die Intelligenzberufe, in die Kaufmannshäuser, Magazine und Schreibstuben verpflanzte; die Industrialisierung des Lebens hat das ursprüngliche Denken und Fühlen dieser vom Lande stammenden jüngsten Städter verändert. Unsicher in Ihren Instinkten, unzufrieden in einer Ordnung, die augenscheinlich dem Erwerbssinn allein alle Vorteile des Daseins sichert, ihrem Ursprung nach aber zu bürgerlich, als daß sie der sozialen Opposition sich anschlössen, sehnen sie sich nach einem Regime, das ihre Fähigkeiten als die maßgebenden anerkennt.
Sie sind die eigentlichen Träger der militaristischen Ideologie. Denn nur in der Armee fanden sie das Glück, das ihnen im bürgerlichen Leben versagt blieb: über den Mitmenschen gestellt zu werden, einmal kommandieren zu dürfen (und sei es auch nur als Gefreite oder Korporäle). Die Deuter im Soziologischen stehen meist blind vor der Tatsache, daß gerade in dieser zum Dienen verurteilten Mittelschicht der Trieb nach Geltung ebenso stark ist wie in den andern Klassen. Er drückt sich nur, vermöge der anderen Fähigkeiten, anders aus. Nur der deutsche Arbeiter kennt ihn als Person nicht; die Leistung Karl Marxens hat hier wirklich das Wunder bewirkt, den Ehrgeiz des einzelnen in ein Gemeinschaftsideal zu verwandeln. Der unzufriedene Mittelständler, dem eine Erhöhung im bürgerlichen Leben versagt bleibt, konnte sich nur als Gefreiter, als Korporal und Feldwebel auszeichnen. Im Bureau, im Magazin und in der Schreibstube muß er kuschen und gehorchen; in der Kaserne durfte er befehlen. Das ist die psychologische Wurzel der militaristischen Ideologie, der wahre Grund, auf welchem der mittelständische „Heroismus“ wächst.
Der Krieg? Sie wissen es: er bedeutet Bajonettangriff, Todesgefahr, Verlausung, Krätze, Spital, Vegetieren in Kotlöchern, Schweinefraß und Vertierung. Er ist aber die große Zeit, die diesen Heroen die Erhöhung gewährt. Der Herr, der im Frieden kommandierte, muß jetzt seinem Bureaudiener parieren. Der Krieg ist das Avancement der Mediokrität.
Solange diese Wahrheit nicht so exakt dargelegt wird, daß auch die Mediokren die Scham lernen, so lange bleibt jede pazifistische Propaganda vergeblich. Mit den Argumenten der Menschlichkeit ist die Mauer der leeren Gehirne und vergifteten Seelen nicht zu brechen.
Der Krieg war nach einer kurzen expressionistischen Predigt aus dem Gesichtskreis des deutschen Geistes verwiesen worden. Die einen wollten ihn nicht wahrhaben. Die anderen schämten sich seiner. Die dritten wollten schweigen, vergessen. Man richtete sich auf ‚Frieden‘ ein. Man wollte so tun, als wäre nichts geschehen. Aber je länger dieser Zustand dauerte, desto mehr zeigte sich, daß er erlogen, eine Fiktion war, daß unter seiner Schminke immer das, was zwischen 1914 und 1918 gelebt worden war, durchstieß, durchbrannte. Der Krieg war das Erlebnis aller Heutigen. Sich an ihm vorbeizudrücken, ging nicht mehr. Die Seele konnte und kann nicht genesen, ehe sie sich nicht diesem Erlebnis gestellt, es aus Dumpfheit zur Erkenntnis gebracht und sich damit befreit hat. Das ist der Sinn, daß mit einemmal in der Literatur der Krieg so ‚aktuell‘ geworden ist.
In dieser Rückwendung zu Schützengräben und Hungerjahren geschieht es, was nicht mehr erwartet worden war: die vom Krieg verschüttete Generation, die Frontgeneration, arbeitet sich aus Schmutz und Lehm und Sand und zerschossenem Unterstand heraus und beginnt zu sprechen.
Darin sehe ich die große Bedeutung des im Verlag der Frankfurter Societäts-Druckerei erschienenen Berichts Krieg von Ludwig Renn. Er ist einer von denen, die um 1890 geboren, als erste in den Krieg geworfen wurden. Die hatten noch die ganze alte Welt durch Erziehung und Erfahrung in sich aufgenommen – die letzten. Die wenigen, die von ihnen wiederkehrten, fanden nicht mehr zurück, sie waren heimatlos in einer durchaus veränderten Welt, fühlten sich als Deserteure des Todes. Ihrem Gedenken ist Ludwig Renns Buch geweiht, auch wenn davon nirgends die Rede ist. Die toten Kameraden geistern um den Überlebenden. Das gibt seinen Schilderungen das Unheimliche, die Schatten eines Zugs von Gespenstern.
Dieses Buch in ästhetische Kategorien einordnen zu wollen, ist Hochmut literarischer Orthodoxie. Renn weiß und sagt es, daß ihm für die wichtigsten Dinge, also die seelischen, die Worte fehlen. Er kann nur sagen, was er gesehen hat, nicht mehr, nicht seine Einordnung in den Geist, nicht seine Erlösung durch das Gefühl. Nur das Greifbare, nur das Sichtbare ist bei ihm zu finden. Aber in welchem Maß. Mit welcher Prägnanz des Auges. Mit welcher Grauenhaftigkeit unvermittelter, unverbundener Eindrücke. Gewiß – Renn photographiert nur – seine Schilderungen sind wie ein Bündel nächster, allernächster Kriegsphotographien, aber sich erinnernd und erschaudernd fühlt man: So war es, so war der Angriff, so der Rückzug, so der Schützengraben, so die Verwundeten, so die Leichen, so die Latrinen, so die Führer, so die nicht auf den Frieden, nur noch auf den Todesschuß oder die Verwundung Wartenden, so die hilflose Nähe zu allem Geschehen, das geschah, ohne daß man es verstand, ohne daß man nur das Geringste dazu oder dagegen tun konnte.
Es ist notwendig, den Krieg, der zuerst nur in der Perspektive des Heeresberichtes, dann des revoltierenden ohnmächtigen Gefühls sichtbar war, zu sehen, nichts als zu sehen: seine alltägliche Existenz wie sein Grauen, seinen Stumpfsinn wie seinen fatalistischen Galgenwitz, seine Zermürbung wie seinen Hunger. Man kann die Dinge erst dann bewältigen, wenn man sich über ihre Existenz klar ist. Diese gibt Ludwig Renns „Krieg“. Ein Kunstwerk ist dieses Buch nicht. Dazu aber wäre nötig, innerlich mit dem Krieg fertig geworden zu sein, ihn seelisch liquidiert zu haben.
Renn ist nicht so weit, kann nicht so weit sein. Er steckt in seinem Erlebnis wie die Schnecke in ihrem Haus. Nicht er allein, die ganze Frontgeneration. Und daß diese in Renns Bericht enthalten ist, ebenso umfassend und genau wie der Krieg, das gibt ihm dokumentarischen Wert.
Wenn er das Gefühl einer Leere hat, die sich durch kein Erlebnis aufzufüllen vermag, wenn ihm eine Erkenntnis zu fehlen scheint, die ihm alles erklären könnte, so spricht daraus nicht ein Einzelner, sondern eine ganze Generation. Das Grauenhafte inmitten der Grauenhaftigkeit des Krieges wird klar, daß die im Krieg waren, einen Krieg führten, der sie gar nichts anging, den sie in einer großen Kälte des Nichts-über-sich-selber-Wissens, des Nichts-mit-sich-selber-anfangen-Könnens an sich herankommen ließen wie die Erlösung aus Langeweile. Diese seelenlose Neugier, dieses Fühlen, daß alles hohl sei, einschließlich einem selbst, dieses Unvermögen, irgendwo einen Halt zu finden, alle diese negativen Eigenschaften der Frontgeneration werden von Renn nicht verleugnet, sondern bekannt. Deutlich aber werden auch die politischen Eigenschaften: der Wille, einem Ganzen zu dienen (aber niemand führte ihn), die feine, zarte Reaktion auf kleinste menschliche Regungen, der Geist der Kameradschaft, die mehr aus Verantwortungsbewußtsein als aus Rauflust kommende Tapferkeit, auch auf einem verlorenen Posten, nicht nur des Krieges, auch des Lebens auszuharren, seinen Mann zu stellen. Im Urlaub sieht Renn einmal die Jugendphotographie seines toten Vaters. „Es mußte damals etwas an ihm gewesen sein, was ich an ihm nicht mehr gekannt hatte. Vielleicht hatte er auch hochfahrende Gedanken gehabt wie ich, und hat es eines Tages gefunden, daß wir nicht weiterkommen können.“ Das fand diese Frontgeneration im Krieg und nach dem Krieg, das zerbrach sie, das Gefühl: „daß wir nicht weiterkommen können.“ Wie hätte sie es nicht haben sollen? Als der Krieg verloren, die heimatliche Grenzen in langen Märschen wieder erreicht war, wurden alle in Viehwagen verladen. „Wohin wir fuhren, wußten wir nicht, nur daß es nicht gleich nach Hause ging.“ So endet Renns Buch. Kein zufälliger Schluß, ein sehr sinnbildlicher. Denn in diesem Ungewissen stand die Frontgeneration, durch dieses Ungewisse hat sie sich durchzuschlagen, immer mehr vom Gefühl ergriffen, es gebe überhaupt kein Zuhause mehr. Diese ungeheure Verlassenheit, die in Renns Bericht aus jedem seiner Teile fühlbar wird, gibt über alle Schilderung des Gegenständlichen die Tragik einer Zeit, eines Geschlechts.
Sie ist auch aus Erich Maria Remarques Buch „Im Westen nichts Neues“ (Propyläen-Verlag, Berlin) zu spüren, wenn auch nicht vielfältiger, so doch näher, qualvoller, erschütternder. Denn Erich Maria Remarque besitzt, was Ludwig Renn fehlt: das Wort, das mehr als Photographie gibt – das Wort mit allen seinen, dem Tatsachensinn unmerklichen Schwingungen und Flutungen der Seele, der Atmosphäre, des Unaussprechbaren – kurz, das dichterische Wort. Der Atem stockt einem, folgt man Remarque durch das Inferno des Krieges. Das Grauen ist wieder da, das Entsetzen, das unter dem Schutt der gelebten zehn Nachkriegsjahre noch immer glimmt und nie in uns verlöschen wird, solange uns Atem gegeben ist.
Die Frontgeneration spricht. In Erich Maria Remarque jene deutschen Achtzehn- und Neunzehnjährigen, die als zweiter Schub, von den Schulen geholt, zum Teil als Kriegsfreiwillige gelockt, in das Feuer der Granaten und Schrapnells geworfen wurden – jene erfahrungslose Jugend, die von den unregelmäßigen Verben ohne Umweg in die Regelmäßigkeit tötender Einschläge geriet – jene unglückliche Jugend, die nicht einmal die Welt gekannt hatte, die nur zerstörte und zerstört wurde, zu nichts anderem als zur Vernichtung getrieben wurde – jene Jugend, die der Krieg für alles verdorben hat. Bei Remarque heißt es einmal: „Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht mehr stürmen. Wir sind Flüchtende. Wir flüchten vor uns. Vor unserem Leben. Wir waren 18 Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben; wir mußten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf unser Herz. Wir sind abgeschlossen vom Tätigen, vom Streben, vom Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran; wir glauben an den Krieg.“
Wie diese Jugend im Trommelfeuer ausharrt, zurückgeworfen ins Tierhafte, Instinktive, das hier allein zu retten vermag, wie sie um ihre nackte Existenz kämpft, toll, blind, wie sie in der Kameradschaft noch etwas wie ein Licht schönen Lebens sieht und sich daran wärmt, wie sie die Kinder, die nach ihr an die Front in viel zu weiten Uniformen kommen, bedauert und sterben sieht, ohne helfen zu können ( „Auf einen alten Mann fallen fünf bis zehn Rekruten“) und wie sie selbst zugrunde geht, einer nach dem andern, und es noch als Glück empfinden muß, zu sterben, nicht als Verpfuschter weiterleben zu müssen – das ist Remarques Buch. Mehr als einmal kommen einem dabei die Tränen. Mehr als einmal kann man nicht weiterlesen, muß aufstehen, durch die Stube rennen, um nicht von seiner Verzweiflung, seinem Jammer erdrückt zu werden.
Ein grausames Buch. Ein notwendiges Buch.
In ihm ist „der Schmerz der Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der Menschen“. In ihm atmet hastig und keuchend wie ein Zerschossener die Vergangenheit einer Generation in den fortwährend von glühendem Eisen bestreuten Granattrichtern, aus denen es kein Entkommen mehr gibt, zu denen sich alles verwandelt hat: das gegenwärtige und das zu erwartende Leben, das Körperliche und das Seelische. „Man wird uns auch nicht verstehen, denn vor uns wächst ein Geschlecht, das zwar die Jahre hier gemeinsam mit uns verbrachte, das aber Bett und Beruf hatte und jetzt zurückgeht in seine alten Positionen, in denen es den Krieg vergessen wird, und hinter uns wächst ein Geschlecht, ähnlich uns früher, das wird uns fremd sein und uns beiseite schieben. Wir sind überflüssig für uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen, andere sich fügen und viele werden ratlos sein; – die Jahre werden zerrinnen und schließlich werden wir zugrunde gehen.“
Aber auch Abrechnung mit den Erziehern, denen man geglaubt und die einen verrieten, ist in dem Buch. „Mit dem Begriff der Autorität, dessen Träger sie waren, verband sich in unseren Gedanken größere Einsicht und menschliches Wissen. Doch der erste Tote, den wir sahen, zertrümmerte diese Überzeugung.“ Auch der Schrei nach Hilfe des Geistes schreit aus Remarques Aufzeichnungen, der Schrei, wie alles dieses möglich, der Tod im Felde und der noch schrecklichere im Lazarett, wenn dem Menschen der Geist gegeben sei.
Dann aber in aller Verzweiflung hebt sich der Mut der vom Krieg Verschütteten als ein ungeheurer Schatten über alle Zukunft. Ein unheimlicher Chor droht, der Chor der Frontgeneration: „Die Tage, die Wochen, die Jahre // hier vorn werden noch einmal zurückkommen und unsere toten Kameraden werden dann aufstehen und mit uns marschieren, unsere Köpfe werden klar sein, wir werden ein Ziel haben, und so werden wir marschieren, unsere toten Kameraden neben uns, die Jahre der Front hinter uns: – gegen wen, gegen wen?“
Die Frontgeneration marschiert hin und her, kreuz und quer – in allen Ländern, durch alle Straßen des Lebens. Was wir in den zehn Jahren nach dem Krieg erlebt, ist nichts anderes als der ruhelose Marsch der Frontgeneration. Ihre Unruhe ist die Unruhe der Welt. Und ein Dichter wie Erich Maria Remarque erster Frühschein eines Friedens – auch der Seele.
Aus einem demnächst im Verlag Hetz und Komp. erscheinenden Buch „Krise der Jugend“.
Von Jahr zu Jahr wächst in der Jugend das Gefühl, daß alles Bestehende versagt hat, daß alle Parolen, die man ihr gibt, Betrug und Schwindel sind. Was bis zum Zusammenbruch einer Welt im Trommelfeuer des Krieges, im Giftgasangriff der Massenarbeitslosigkeit, der Massenhoffnungslosigkeit gegolten hat, gilt heute nicht mehr. Die Jugend hat genug von allen Erklärungen, Versprechungen, Redensarten, sie will, daß endlich etwas Entscheidendes geschieht. Das Jugend hat genug von der zögernden Klugheit, von der wartenden Vorsicht, sie ist der Meinung, daß man zu lange gezögert, zu lange gewartet hat, sie will sich nicht länger mit dem tödlichen Stillstand abfinden, den man den Gang der Ereignisse nennt. Und wenn sie sich abfindet, geschieht es um einen übermäßigen Preis: um den Preis aller Ideale, aller Opferfreudigkeit und Zukunftsbereitschaft. Eine Jugend, die revoltiert (gegen alles Bestehende meinetwegen, gegen alle gültigen Weltanschauungen), ist nicht verloren; aber verloren ist eine Jugend, die sich abfindet, verloren für jede Bewegung, die das Neue will. Zehntausende junge Menschen lassen heute die Schultern hängen, die Fahnen fallen, ziehen sich in den Winkel eines fragwürdigen Privatlebens zurück, finden sich ab mit der allgemeinen Erstarrung, die man den Lauf der Dinge nennt. „Alles Bestehende hat versagt, alle Ideen sind zur Phrase, zur unverbindlichen Redewendung geworden!“, das Gefühl zernagt wie Rost die Seelen, entfremdet die junge Generation immer mehr der alten.
Ist es wahr, daß alle Ideen zur Phrase geworden sind? Hat nicht nur eine ganz bestimmte Ideologie, eine ganz bestimmte Lebenshaltung versagt? Und welche Ideologie, welche Lebenshaltung ist es, die heute durchaus anrüchig, durchaus unglaubwürdig geworden ist?
Was die Jugend heute klar oder unklar fühlt, ist der Widerwille gegen die Vernünftigkeit, die Wissenschaftlichkeit, den Fortschrittsoptimismus des neunzehnten Jahrhunderts. Was wir heute erleben, ist eine ungeheure Revolte gegen den Nationalismus.
Dieses neunzehnte Jahrhundert hat sich eingebildet, mit seinen Maschinen und seinen Apparaten, mit seinen wissenschaftlichen Methoden und seinen technischen Konstruktionen, mit seinen immer besseren Instrumenten und immer exakteren Erkenntnissen, mit seiner wachsenden Wirtschaftlichkeit und Vernunft alle Probleme ordentlich lösen und einen dauernden Wohlstand der Menschheit heraufbeschwören zu können. Die Idee des gediegenen und unaufhaltsamen Fortschritts war der Polarstern, an dem sich alle orientierten, die Unternehmer und die Arbeiter, die Kapitalisten und die Sozialisten, die Bürger und die Feinde der Bürgerwelt. Man hat diese ganze Welt als eine große Fabrik gesehen, deren Produktivität man durch Investitionen, Verbesserungen und Verbilligungen stetig erhöhen, stetig den Bedürfnissen anpassen kann, man war bestrebt, alles Irrationelle auszuschalten und mit Vernunft und Ruhe jede Stockung und Störung zu überwinden. Ja, die Vernunft war geradezu das Rauschmittel dieses Jahrhunderts: die Technik wurde wie eine Gottheit angebetet, der Wissenschaft traute man Unwahrscheinliches zu, von der Allmacht des Menschengeistes war man überzeugt. Daß Wissen Macht sei, wurde wie ein unumstößliches Dogma gepredigt, daß gegen jede Krankheit ein Kraut gewachsen sei, glaubte man unbedingt, daß die Gesellschaft sich einem dauernden Frieden, Reichtum und Humanitätsideal entgegenentwickelte, war man rückhaltlos überzeugt.
Dann kam die Katastrophe, triumphierte die Unvernunft des Massenmordes über alle Grundsätze der Vernunft. Und als man einige Jahre später meinte, nach diesem Zwischenspiel fortsetzen zu können, was so schnöd unterbrochen worden war, als man die Vorkriegsideale herausholte, als habe das Blut und Gas der großen Zeit ihnen keinen Schaden zugefügt, siehe, da war alles anders geworden, und was einst überzeugend klang, tönt nun so hohl und gespensterhaft, wie aus Gräbern.
Der Fortschrittsoptimismus der alten Generation wird von der neuen nicht mehr verstanden. Daß die Welt sich, kraft innerer Gesetzlichkeit, dem Guten und Schönen entgegenentwickle, glaubt die Jugend nicht mehr; daß man diesen Prozeß gewaltsam unterstützen müsse, davon ist sie durchdrungen. Und wenn man ihr erzählt, daß ja doch so manches besser geworden sei, daß es vor dem Krieg die jungen Leute viel schlechter gehabt hätten, oh, dann lächelt diese Jugend scharf und ironisch: Ja, was geht uns das eigentlich an, warum erzählt ihr uns Ammenmärchen aus der Vergangenheit? Wollt ihr uns etwa einreden, unser Leben sei gar nicht so schlimm, wie wir meinen? Wie uns das imponiert, wie uns das überzeugt! Wollt ihr uns etwa zumuten, Dankbarkeit sei unsere Pflicht? Wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; wofür auch? Dafür, daß wir keine Arbeit finden, nirgend hingehören, in der Welt nicht aus und ein wissen? Nein, wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; war ihr damals für uns getan habt, mag ja ganz ordentlich und anständig gewesen sein – aber heute? Was tut ihr heute für uns? Wie sieht diese Welt aus, mit der wir uns abfinden, mit der wir Geduld haben sollen? Begreift ihr denn überhaupt, daß wir nicht so leben können, daß wir verkommen und verkümmern müssen, wenn nicht endlich etwas für uns geschieht? Ihr habt leicht reden; ihr nährt euch von der Vergangenheit, materiell und ideologisch, für uns gibt es keinen Platz in der Welt, und daß es von selbst einmal besser wird, glauben wir nicht.
Nein, das glaubt die Jugend nicht. Der Zweifel ist ihr Element. Der Zweifel ist gut und produktiv, wenn er zur Waffe wird, die das Bestehende zerstört. Er ist schlecht und verhängnisvoll, wenn er nicht zur Aktion, zum Aufruhr werden kann, wenn er nach innen bohrt und gräbt, ohne nach außen wirken zu dürfen. Dazu aber, zu solchem unproduktivem Zweifel, ist die Jugend verdammt.
Immer problematischer wird die Technik, die von der alten Generation blindlings vergöttert wurde; daß man über den Ozean fliegt und Riesenluftschiffe baut, gefällt den jungen Menschen gewiß, sie sind entzückt von diesem Heroenmythos der Gegenwart, von diesem Aufschweben, Aufglänzen der Materie. Aber daß man mitten in den Wundern der Technik, in einer elektrisch illuminierten, mit Verkehrsmitteln, Radioapparaten, Telephonen, mit laufenden Bändern und riesigen Panzerkreuzern ausgestatteten Welt verhungert, das erlebt diese Jugend. Daß die Technik den Menschen überflüssig macht, daß sie ihn hinausdrängt ins Nichts der Arbeitslosigkeit und der Hoffnungslosigkeit, daß sie zwar imstande ist, das Überflüssige, nicht aber das Notwendige zu erzeugen, das ist der ungeheuerliche Eindruck, den die Jugend von dem Fortschritt der Rationalisierung gewinnt. Freilich: es ist der Kapitalismus, der die Technik mißbraucht, der die Vernunft in Wahnsinn verwandelt, aber das zu begreifen, ist manchmal nicht leicht und die unmittelbare Reaktion gegen den unerträglichen Zustand ist eine Reaktion gegen den rationalisierten Wirtschaftsapparat, ist ein Gefühl, das dem der Maschinenstürmer ungemein ähnlich ist. Die Maschine, von den einen zum Gott erhoben, wird im Empfinden der andern zum Dämon zum Schicksalsgötzen, der alles zermalmt, den zu preisen der bitterste Hohn gegen seine Opfer, gegen die aus Produktion und Lebensberechtigung ausgeschalteten Proletarier ist. Kommen wir wirklich weiter, wenn wir uns zu dem Fortschritt der Technik, zu dem Rationalisierungsprozeß bekennen? Sollten wir nicht vielmehr dagegen Stellung nehmen, diese Tollheit mit allen Mitteln bekämpfen? Das ist eine Frage, die man immer häufiger hört; aus den Tiefen des Zweifels steigt diese Frage empor, des Zweifels am Wert und Nutzen der Technik.
Die Tiefe des Zweifels aber ist damit nicht ausgeschöpft; nicht nur an der Technik, an dem ganzen System des Rationalismus, der selbstbewußten und selbstgefälligen Vernünftigkeit, zweifelt die Jugend.
Daß man mit der Vernunft etwas ausrichten könne, wird ernsthaft in Frage gestellt; ach, die Menschen, die verantwortlich sind für das Schicksal der Völker, diese Staatsmänner und Diplomaten, diese Minister und Parteiführer, diese Nationalökonomen und Sozialwissenschaftler sind alle bemerkenswert vernünftig, sie wissen viel, sie können alles erklären, mit hundert Argumenten beweisen sie, warum die Dinge so und nicht anders sind, und das Gefühl der Jugend schlagen sie mit der Überlegenheit der Statistik, der Wirtschaftskenntnis und der Geschichtsbetrachtung zu Boden. Schließlich muß der junge Mensch, der kleinlaut vor soviel Gelehrtheit kapituliert, zu der Überzeugung gelangen, es sei das Wesen der Vernunft, klipp und klar darzulegen, daß man um keinen Preis etwas tun dürfe. Ausgezeichnete Theorien, ausgezeichnete Reden, ausgezeichnete Lehrsätze – und das Ergebnis: Nichts. Weiterwursteln. Weiterberaten. Weiterverhandeln. Das ist das Schauspiel, das seit zehn Jahren vor der europäischen Jugend aufgeführt wird; wundert man sich, wenn diese ganze Gescheitheit den jungen Leuten eines Tages zu dumm wird? Wenn ihr Mißtrauen gegen staatsmännische Weisheit und wissenschaftliche Vernunft unüberwindlich wird? Wenn sie sich die Frage vorlegen: Wäre es nicht besser, gar nichts zu wissen, dafür aber kühn und entschlossen vorzugehen? Wundert man sich, wenn diese Frage äußerst gefährliche Formen annimmt? Wenn sie etwa lautet: Kann man überhaupt nach Vernunftgründen leben, handeln, Politik machen? Ist nicht vielmehr der Instinkt, die Gewalt, die Genialität eines Führers entscheidend? Ist der Geist, von dem man quatscht, nicht ein Unfug, kommt es nicht vielmehr auf Blut und Eisen, auf ein großes und wildes Hasardspiel an? Wundert man sich, wenn solche Fragen zu fascistischer Antwort, zu romantischen Aberglauben drängen? Nein, man darf sich nicht wundern, daß die Revolte gegen den Rationalismus losgebrochen ist, daß unzählige junge Menschen entschlossen sind, keinem Argument mehr zu glauben, sondern nur dem Beweis der Kraft, dem Erfolg?
Hundertfach zeigt sich diese Revolte, diese Sehnsucht nach dem Romantischen, das völlig anders ist als alles Bestehende. Die Alchymie kommt wieder zu Ehren, die mittelalterliche Goldmacherkunst; das Geld ist zum leeren Phantom geworden, her mit dem Zaubergold! Mit rationellen Methoden kommt man nicht zu Geld, helfe daher, was helfen kann, das Wunderrezept, die schwarze Magie. Die Quacksalberei kommt wieder zu Ehren; die medizinische Wissenschaft, die allen zu helfen versprach, wie wenigen hat sie geholfen! Helfe, was helfen kann! Der weiße Käse, der elektrische Zauberstab, der suggestive Zuspruch eines wundertätigen Charlatans, oder irgendein Naturheilverfahren auf eigene Faust, oder die Geheimlehre irgendeiner Sekte! Die Wissenschaft hat enttäuscht, alles ist unsicher geworden, vielleicht geschieht ein Wunder. Es ist eine wachsende Ungeduld zu spüren, niemand will seine Angelegenheiten auf die lange Bank schieben, für das kurze Verfahren, für den radikalen Umschwung ist man privat und öffentlich. Man hat zuviel gewartet, zu lange gewartet in dieser Welt.
Die in ihren Gedanken unverstandenen, in ihren Handlungen allein handelnden Künstler einer Klasse, die sich zum Menschentum erlösen will, rufen wir mit brüderlichen Worten an. Höret uns! Aus unseren Stimmen empören sich blutfarbene Frage- und Rufzeichen und was sich davon zum Sinn verdichtet, ist unser unwandelbarer Glaube an die ewige Revolution. Für uns gibt es nur ein Gesetz: Ein fortwährendes Vorwärtsdrängen im großen Leben, alles andere wäre ein Verkriechen vor dem feigen Selbst oder ein entsagungsvolles Warten auf den Tod. Und wir fürchten uns nicht vor uns und wollen nicht auf unser Leben verzichten. Unser Leben ist die Revolution, unsere Revolution ist das heiligste Bekenntnis zur Liebe.
1920 sind wir bereits über das romantische Emporsehnen hinausgewachsen, mit allen blutenden Wurzeln sind wir zum Absoluten herausgerissen worden, wir haben ein Recht auf das gestenlose Wort.
Wir haben das Leben erkannt, in uns ist das Gesetz.
Wir haben keine Wurzeln in der Vergangenheit, keine Zügel, die in die Zukunft führen.
Unser einziger Weltruf ist das unserem Leben entströmende Blut: Mensch, wo bist du?
Das Wesen der neuen Kunst ist das Aufspüren der tragischen Gegenwart und ihr Aufleuchten in der kreißenden Zeit. Die Bestimmung des neuen Künstlers ist das Zu-sich-Erwecken der Menschheit, [die] einerseits der Dummheit der Unterdrückten, andererseits der Krämerspekulation der Herrschenden verfallen ist.
Also keine individuelle Verklärung und keine Massenkunst im Sinne der Volkstribunen. Darüber müssen wir uns im klaren sein. Denn nur durch diese Erkenntnis führt der Weg zur Wahrheit der Gegenwart, zur einzigen Wahrheit, zum Leben, zu mir, zu dir, zur Einheit.
Das ist unsere Forderung sowohl an die Schöpfer, wir auch an die Empfänger der Kunst. Und dadurch machen wir mit einem Handgriff den Gebenden und den Nehmenden gleich. Denn wie einst die Bedienenden und die Bedienten verschwinden werden, sollen auch die Verklärten und die Erniedrigten verschwinden. Die Parole heißt: Der Mensch. Und wir sind Menschen in unserer Kunst und wie wir in der der Vergangenheit nicht die Diener der Bourgeoisie waren, wollen wir auch in der Zukunft keiner Klasse dienen, – auch dann nicht, wenn diese Klasse „Proletariat“ heißt. Wir glauben, daß die Dienstbarkeit für irgendeine Klasse nur eine neue Variante der heutigen sklavenhaften Gesellschaftsform vorbereitet. Wir wollen keiner neuen Klasse an die Stelle // der alten Klasse emporhelfen. Wir verkünden im Gegensatz zu jeder Klassenherrschaft die siegreiche menschliche Gemeinschaft, im Gegensatz zu jeder Staatsmoral die kollektive Ethik. Und von da aus strahlt die Wärme und der Glanz unserer Bruderworte. Unsere Wege führen in das Reich der Brüderlichkeit und unsere Fahne ruft die Verkündigung der Tat aus. Nicht die des Hasses, sondern die der Erlösung.
Nur diese kann die gerechte Stimme des Heute sein.
Brüder! Wenn wir von historischem Boden euch Signale zurufen, dann suchen wir in euch zu Revolutionen mit Streitäxten bewaffneter Vernichter und Baumeister mit erhellten Köpfen. Wir werben aus den von Bitternissen überschäumenden Massen die Pioniere des befreienden Gedankens. Aus diesen Massen, die noch immer nichts als ihren Magen werten, und an welchen wieder alle gute Hoffnung zu zerschellen scheint. Die Energien des sich empörenden Proletariats sind für Leben und Tod an das Geleise gebunden und über der bremsenden Welt erschallen die Glocken der Todesstunde.
Klar sollen die Sehenden sehen!
Die Revolution kann nicht zur Lösung einer einzigen Frage, eines einzigen Motivs dienen. Die die Revolution ist nicht ein Mittel zur Eroberung des Lebens: die Revolution ist das Ziel selbst: Das Leben.
Verstehen wir uns: das gegenwärtige Beben bedeutet noch nicht den Beginn einer neuen Welt, vielmehr nur den Abschluß der alten. Es bedeutet nicht das gemeinsame und individuelle Leugnen der Herrschaft, sondern die Eroberung dieser durch Kraftgenossenschaften. Nicht die sinnvolle Überentwicklung der bürgerlich gefärbten Sozialdemokratie, sondern bloß deren Entwicklung zur vollkommenen Form: der terroristischen Sozialdemokratie.
Doch das alles ist immer noch Politik.
Kampf einzelner Parteien um die Macht durch das Bewegen der Massen.
Positionswechsel mit Positionseifersucht.
Doch schon klaffen uns die Perspektiven entgegen!
Die tragischen Individuen, wie verwunschene Engel der Mythologie tragen schon in ihrer Seele und heben wie eine Monstranz über uns die einzig sichere Bürgschaft der Revolution: das aktive Selbstbewußtsein.
Und jetzt ist unsere und eure Zeit gekommen, Brüder, die wir auf der Basis des historischen Materialismus die Seele des Menschen in Brand stecken wollen. Im Gegensatz zu jeder Klassenmoral heben wir jetzt die ewige Stabilität der Ethik ans Licht. Denn sie ist der Sinne aller Kräfte. Die Betonung der materiellen Umgestaltung genügt nicht zur Lösung der menschlichen Lebensmöglichkeiten. Die Massen haben genügend gedarbt, um zu einer Meuterei immer bereit zu sein, dadurch ihr Schicksal momentan zu verbessern; – jetzt heißt es aber, wie vorher noch niemals, die instinktive Meuterei zu einer bewußten Revolution zu vertiefen und zu stabilisieren. Mit der Befreiung der realen Kräfte müssen auch die abstrakten Begriffe umgewertet werden.
Zur gleichen Zeit, in der der belastende Morast abgestreift wird, muß auch das einzige Ziel beleuchtet werden. Denn nur das ewige Vorwärtsgehen kann uns im Kampfe mit dem Augenblick festigen. Denn nur die befreite Seele allein kann den befreiten Körper vor einer neuen Unterjochung schützen.
Brüder, aus deren traurig-fröhlicher Seele das nach dem gleichen Ziele strebende Leben der Wissenschaft, Technik und Politik emporströmt, ihr wißte es so gut wie wir, – es ist nicht anders möglich! Wir wissen, daß es wirtschaftliche Gründe sind, die den ersten Stoß (den Stoß zur Form) der revolutionären Bewegung geben, aber ihre unwandelbaren, dauernden Stützen sind doch die erwachten seelischen Kräfte, das reine einheitliche Bewußtsein. Und jetzt ruft dieses in unserer Seele neugeborene Bewußtsein euch an. Ihr neuen Künstler! Reicht euch im Chaos der Revolution die Hand, auf daß die Harmonie der Revolution als Blut desselben Blutes in uns zusammenklinge. Hinaus über die Klasseninteressen für die universalen Interessen der gesamten Menschheit. Über die Diktatur der Klasse, – für die Diktatur der Idee.
Und weg mit den auf den Fahnen geschriebenen Namen, mit dem Scheinhumanismus und mit dem individuellen Imperialismus!
Kein Stehenbleiben!
Brüder, verbrüdert euch zum Aufbau des neuen Menschen, des kollektiven Individuums!
Denn unter den Fahnen des Kommunismus, des reinsten Glaubens, kann kein anderes Interesse bestehen, als das mächtige Lebensinteresse der Menschheit, von der sowohl Du als ich gleiche Teile sind ein und desselben Stammes!
Die Verwirklichung dieses Interesses unter der Diktatur der Idee kann einzig und allein durch die Revolutionierung der Seelen geschehen.
Diese Revolution kann nur durch moralische und zweckmäßig kulturelle Erziehung des Proletariats als für die Zukunft einzig gesunden Rohmaterials gesichert werden.
Also Kultur! Und wieder Kultur!
Das Proletariat rüttelt unaufhaltsam an der Macht der unterjochten Väter; – unsere Pflicht ist es gegen die Herrschaft der erstgeborenen Brüder den Kampf aufzunehmen.
Nieder mit der mit Menschenblut kalkulierenden Politik! Nieder mit den Talmudisten der Revolution!
Die Logik der Advokaten, der Mechanismus der Administratoren, die langweiligen Reden der Redner reichen bei weitem nicht aus.
Es lebe die gegen jede Tradition kämpfende Revolution! Es lebe das verantwortliche kollektive Individuum! Es lebe die Diktatur der Idee!
http://litkult1920er.aau.at/wp-content/uploads/2018/06/body.png00litkultadminhttp://litkult1920er.aau.at/wp-content/uploads/2018/06/body.pnglitkultadmin2022-09-10 12:36:122024-09-20 16:40:29Lajos Kassák: An die Künstler aller Länder! (1920)
Die folgenden Ausführungen Kurt Münzers stehen sicherlich nicht in Widerspruch mit den Bestrebungen, die eine stärkere Heranziehung und Förderung des wirklichen jungen Talents beinhalten.
Altern – einmal fast die Sehnsucht der Verständigen, selbst der Stürmischen – altern, also ernten, überblicken, resümieren: heut ist es Gespenst geworden. Die Frauen, einst ihren weißen Haaren, grauseidenen Roben, Enkeln und Lehnstuhl am Fenster glücklich entgegenalternd, kürzen heut mit jedem Jahrzehnt ihren Rock, halten entschwindende Wangenröte übertrieben fest, tragen die Haare à la Bubi, ziehen an, was den Töchtern zu jugendlich ist, flirten mit Fünfzig in Hotelhallen, auf Schiffdecks und Aussichtsterrassen. Sie lernen Black-Bottom und machen aus dem Schwiegersohn einen flotten jungen Herrn.
Künstler, einmal ihrer Reife froh, gesättigte Alterswerke gelassen vollendend, ihre Dichtung logisch zur höchsten Stufe der Entwicklung führend, ihre Bilder klassisch die Anfänge ihrer Jugend verklären lassend: heut fürchten sie, überwunden zu sein, altmodisch, abgeschmackt, von gestern. Sie lernen um, wo sie einst Lehrer ihrer Errungenschaften wurden. In den Jahren der Meisterschaft werden sie wieder Lehrlinge, sie bemühen sich um den neuen Stil, um die Mode des Jahrhunderts oder Jahrzehnts oder des Jahres, sie verleugnen ihre Götter und tanzen, dennoch altersschwach, um die Götzen des Tages, sie brechen mit sich selbst, brechen sich selbst die Treue, werfen sich in das Gewühl der Jugend, den Kampf der Werdenden, die Ekstasen der Dilettanten.
Man schämt sich, alt zu werden. Man fürchtet, erkannt zu werden als Generation von damals, als Traditioneller, als stetig sich Vollendender. Man marschiert unter fremden, andersweltigen Fahnen: die Menge läuft ja mit. Zurückbleiben? Warten, bis die Einsichtigen um uns wiederkehren? Was glauben sie, zu versäumen? Die Zeit… Ach, die Zeit! Ist das Werk nicht wichtiger? Und haben wir es nicht erlebt? Sie kehren um und wieder! Einmal geht die Sonne über den herrlichsten künstlichsten Lichtern auf, einmal verfault die Erfindung doch in der Glut organisch gewachsenen Seins. Alles zerstiebt, alle zerstreuen sich. Das Große, das Gewordene bleibt und zieht an.
Und dennoch: Wir laufen ihr nach! Ach, wie verirrt müssen wir sein, daß wir von der Jugend uns führen lassen! Und da es Jugend ist, ist es nur Verführung, übermütige Irreführung der Gutgläubigen, der Ratlosen. Niemand leugnet ihre historische Notwendigkeit, ihren schöpferischen Stachel, ihre revoltierende Aufrüttelung. Wir brauchen der Jugend alles enthaltendes Chaos, ihre stürmische Kritik, ihre anarchistischen Widerstände. Aber was nur ein Element der Zeit sein darf, ein Teil des Schöpfungsstoffes, macht sich zurzeit selbst zum allein gültigen schöpferischen Prinzip; und die alten Dichter und Weisen stehen frierend im Winkel.
Herrlich, Freunde, ist die Jugend, ihre Grausamkeit bezaubernd, ihr Übermut göttlich, sie ist zu lieben auch in ihrer Ausschweifung, anzubeten auch in ihren Stürzen Aber – darf sie uns Führer, Tyrann, Gott selbst sein? Bezaubernd sind ihre Unternehmungen, mögen sie sich in Kunstsalons, Theatern, auf Wiesen, Wanderungen, Festen abspielen. Bezaubernd fast noch ist selbst ihre Art, das Alte zu entthronen, ihre Frechheit, mit dem Ewigen abzurechnen, ihre Unbedenklichkeit, sich zu inszenieren, sich zu proklamieren, ihren Imperialismus unbeschränkt zu bekennen. Und haben sie nicht recht? Der Diktator, der sich durchsetzt, die zu dem sie schwören, ist im Recht. Hat er es auch nicht: die Menge gibt es ihm.
Seht euch um: Welcher Theaterdirektor wagt es, ein Programm ohne Zwanzigjährige zu gestalten? Welcher Verleger fürchtet nicht, ausgeschaltet zu werden, wenn er nicht stammelnde Unreife eines Abiturienten in Pappe, Leinen und nummeriertem Leder bringt? In Symphoniekonzerten, die sich zu Bruckner entschließen können, winseln atonale Halluzinationen von Lehrlingen und an den Wänden der Ausstellungen hängen gegenüber von Munch, Degas und Liebermann Kinderzeichnungen. Jugend wird zum Meister erhoben, Stilübung zum Werk; täppisches Lallen ist die neue, die vollendete Sprache, ungehemmte Klänge die neue Musik.
Ihr habt die Jugend verwöhnt, wie ihr einen Meister verwöhnt habt. Nun ist sie abscheulich verzogen. Sie krittelt bis zur Dummheit, sie verwirft alles, was nicht von ihr kommt. Sie vergißt, daß sie auch im Wachsen ist, und macht – mit eurer begeisterten Zustimmung – die Flegeljahre zum Ziel der Entwicklung.
Durchgangstadien, die man früher scham- und rücksichtslos verschwieg, produzieren heut die Kunst des Tages. Alles ist verkehrt, auch das Schamgefühl. Einst redete man nicht von der Pubertät, man wartete das Ergebnis ihrer Krisen ab. Heut sind die Krisen in Büchern festgehalten, in Bildern gemalt, in Dramen ausgeführt. Die Qual, die Unappetitlichkeit, die Zwitterhaftigkeit und Peinlichkeit des Werdens ist künstlerisches Objekt, das Gereifte, Harmonische, Geklärte ist veraltet, lächerlich und fluchwürdig. Nicht mehr das Geborne, sondern die Geburt ist Sinn und Ziel, die Schwangerschaft wertvoller als die reife Frucht.
Ja, ich weiß wohl: Jugend ist das beste und einzige Mittel gegen die Verkalkung des Weltgeistes, der Herzarterien der Menschlichkeit. Aber sie ist nur ein Mittel. Jetzt läßt man es um seiner selbstwillen gelten und schlürft es wie himmlischen Trank.
Alte Weiber zeugen die besten Söhne. War Jugend jemals, kann Jugend in großem Sinne schöpferisch sein? Die Werke unserer Klassiker, die sie mit zwanzig schufen… Ach, ihr Lieben, das ist ja wohl das Merkmal des Genius, daß er schon in der Jugend die wunderbare Reife hat, daß schon die Jugendarbeit die Fügung der Altersweisheit und höchsten Kunsteinsicht hat, während die zwanzig Jahre dem vollendeten Ganzen nur den Flaum, den Duft geben.
Wo haben wir heute das Werk eines Jungen, das die Jünglinge von 1930 noch lesen werden? Ist nicht, was vor fünf Jahren den harmlosen Mitmenschen auf den Kopf stellte, heut schon vergessen, begraben? Über dem Brio eines Werkchens übersehen wir die Leere des Gehaltes. Im Tempo vergessen wir, daß das Thema ein Nichts ist. Das, was an einem Jugendwerk positive Leistung ist, ist immer über Jugend hinaus Gereiftes, ist Altersanwandlung, Vorglanz späterer Meisterschaft.
Sieht die Jugend die Welt nicht falsch an? Ausschließlich vom Standpunkt ihrer saftigen Beine, mit dem Kraftgefühl ihrer trainierten Arme, mit dem Lustgefühl ihrer erlaubten Sinneskräfte? Der Boxer ist Heros und der Ingenieur Weltüberwinder. Der Kanalschwimmer wird von Königen und Präsidenten begrüßt. Der Chauffeur bekommt Banketts und der Läufer Denkmäler. Und der Geist?… Motoren und Maschinen zermalmen ihn schnell. Die Tänzerin schreibt ihre Memoiren und der Filmstar bekommt seine Literatur, denn er kann nicht selber schreiben und zufällig hat er nicht, wie die Tänzerin, einen Dichter, der ihn liebt und ihm das Manuskript liefert. Alles dreht sich. Zurzeit stehen wir auf dem Kopf.
Sie hassen die Jugend. Glauben Sie mir: die meisten hassen sie. Sie sehen ein: auf die Dauer können sie doch nicht mit ihr mithalten. Man verleugnet sich; aber so was kann nicht Dauerzustand werden. Es kommt das Capua der Mitläufer. Oder: wird die Jugend noch früher innehalten, sich bewußt werden, einsichtig werden sich auf ihre Sonderrechte beschränken und höflich Platz machen vor grauen Haaren und wankendem Gebein? Wird sie?
Warum – o, warum, warum schämt man sich, alt zu sein? Innerlich ihr abgewandt – ach, wie unehrlich ist der öffentliche Mensch! – bekennt man sich zur Jugend um selbst noch zu ihr zu gehören. Man will sich nicht „alt“ schelten lassen. O, daß es ein Schimpf geworden ist, fünfzig zu sein! Ich – ich gebe für ein Buch Wassermanns die ganze Bibliothek unserer Zwanzigjährigen her und für ein Finale Bruckners, ein Scherzo Mahlers die ganze erdachte Musik unserer Komponistensäuglinge.
Nichts ist beglückender – und gerade für das Alter – als Jugend zu erleben, ihren Überschwang, ihren Übermut, ihre anfeuernde Torheit und Begeisterung, aber nicht ihre unverständige Tyrannis. Unser Schoßkind macht sich zu unserem Diktator. Und wir werden erliegen, wenn wir es nicht bald wieder in unseren Schoß niederzwingen. Holen wir die versteckte Rute hervor. Schämen wir uns nicht. Weisheit, geläuterter Wille, erprobtes Können, der größere Horizont, weitere Einsicht und also gereinigte Schöpferkraft ist nur bei den Älteren. Denn die haben das ewige Leben, die Jugend aber nur das unaufhörliche Erlebnis.
Frida Rubiner: Die Kunst dem Volke – durch die Revolution
In den »Erinnerungen an Lenin«, die uns Clara Zetkin übermittelt hat, spricht Lenin auch über die Kunst in Sowjetrußland. Dabei spricht er folgende Sätze aus: „Das Erwachen, die Betätigung von Kräften, die Sowjetrußland eine neue Kunst und Kultur schaffen wollen, ist gut. Das stürmische Tempo dieser Entwicklung ist begreiflich und nützlich. Die chaotische Gärung, das fieberhafte Suchen nach neuen Lösungen und Losungen, „Hosiannah“ für bestimmte Kunst- und Geistesrichtungen heute, das „kreuzigt sie“ morgen, all das ist unvermeidlich. Die Revolution entfesselt alle zurückgehaltenen Kräfte und treibt sie aus der Tiefe an die Oberfläche. Wichtig ist nicht, was die Kunst einigen Hundert, ja einigen Tausend von einer Bevölkerung gibt, die nach so vielen Millionen, wie die unsrige zählt. Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln.“
Diese Worte Lenins zeichnen ein Programm vor, das die Oktoberrevolution getreulich durchgeführt hat.
Eine alte russische Sage, eine Byline, erzählt von Ilja Murometz, der dreiunddreißig Jahre auf einem Flecke mit starren Gliedern dasaß, bis eines Tages ein Wanderer ihm einen Trank reichte; von da an erhob sich Ilja, empfand Riesenstärke und vollzog Heldentaten. Wie der märchenhafte Ilja Murometz, so wurde das russische Volk, das jahrhundertelang unter dem Zarismus, starr und gelähmt verblieben war, durch die Oktoberrevolution geweckt und mit ungeahnten Riesenkräften erfüllt. Im politischen Leben nicht allein, in den „Kultur- und Lebensäußerungen“ zeigte der Riese Proletariat, Führer der Massen, seine schöpferische Kraft.
Es gab eine Zeit, wo viele (in ein Verkennen des wahren marxistischen Sinnes der Lehre von der Kultur als dem ideologischen Überbau) glaubten, daß am Tage nach dem Sieg des Proletariats eine neue „proletarische Kultur“ und „proletarische Kunst“ wie Venus aus dem Kopfe des Zeus fix und fertig entspringen würde. Lenin aber hatte stets darauf hingewiesen, daß das proletarische Rußland noch in der allgemeinen Kultur weit hinter der Europas zurückstände. In einem seiner letzten Artikel vor der Erkrankung sagt er wörtlich: „Während wir über Proletkult geschwätzt haben, ist das Analphabetentum nicht zurückgegangen.“ Das künstlerische Schaffen der breiten Massen mußte zuerst die materiellen Voraussetzungen für es schaffen. In dem zitierten Gespräch mit Genossin Clara Zetkin sagt Lenin:
„Damit die Kunst zum Volk und das Volk zur Kunst kommen kann, müssen wir erst das allgemeine Bildungs- und Kulturniveau heben. Wie sieht es damit in unserem Lande aus? Sie (Clara Z.) schwärmen von dem ungeheuren Kulturwerk, das wir seit der Machtergreifung verrichtet haben. Nun ja, ohne ruhmredig zu sein, können wir sagen, daß von uns viel in dieser Hinsicht geschehen ist, sehr viel … Riesengroß steht vor uns das erwachte und von uns angestachelte Bedürfnis der Arbeiter und Bauern nach Bildung und Kultur … Und wir sind ein armes Volk, ein bettelarmes Volk! … Während in Moskau vielleicht heute zehntausende und morgen wieder zehntausende sich an einer glänzenden Aufführung im Theater berauschen, schreit das Bedürfnis von Millionen nach der Kunst, buchstabieren, den Namen schreiben und rechnen zu lernen, schreit nach der Kultur, zu erfahren, daß die Erde eine Kugel und nicht eine Scheibe ist, daß Naturgesetze und nicht zusammen mit dem „himmlischen Väterchen“ Hexen und Zauberer das Weltall regieren.“
(Arbeiterliteratur I-II S. 69 ff.)
In den neun Jahren der Sowjetmacht hat die leninistische Partei am Staatsruder ein großes Stück auf diesem Wege zurückgelegt: Die Kunst zum Volke und das Volk zur Kunst zu bringen. Wenn heute, neben der riesigen Arbeit zur Liquidierung der Unkultur bereits neue Formen der Kunst in den Massen der Werktätigen sich regen, so sind diese nicht in den Köpfen einzelner Genies zu suchen, sondern in den Massen selbst. In den Theateraufführungen der „Dramatischen Zirkel“ in den Arbeiterklubs, in den Kunstateliers der Betriebe, in den Dichtungen von Arbeiter- und Bauernkorrespondeten finden wir bereits neue Ausdrucksformen, die die Keime einer neuen proletarischen Kunst sind. Noch sind diese Formen im Keimzustand, aber sie sind da.
Wenn wir von „Kunst“ reden, meinen wir im allgemeinen nicht die Wurzeln, sondern die Spitzen des Baumes. Was hat die Sowjetunion mit der „alten“ bürgerlichen Kunst getan? Lenin war es, der unaufhörlich die Notwendigkeit der kapitalistischen Erfahrungen für den Aufbau des Sozialismus betonte: „Wir stellen uns nicht anders den Sozialismus vor, als auf Grund aller Lehren der großen kapitalistischen Kultur.“ (Werke Band 15, Seite 244.) Was für den Aufbau der Wirtschaft gilt, trifft auch für den Bau der neuen proletarischen Kunst zu. Die Sowjetmacht hat das Theater, die Malerei, die Dichtung, das ganze Kunstgewerbe, das sie von der alten, von ihr zerschlagenen bürgerlichen Gesellschaft übernommen hat, nicht einfach vernichtet und zum alten Eisen geworfen, sondern hat sie übernommen, sich weiter entwickeln lassen, hat es in den Dienst des Proletariats gestellt und in neue Wege geleitet. So sehen wir, daß das russische Theater unter der Sowjetmacht, an der Spitze der gesamten Europäischen Bühnenkunst marschiert. Wenn das Theater Meyerhold kein proletarisches Theater ist, so steht es in seiner Kunst dem Proletariat doch nahe. Dabei: das Künstlerische Theater „Tairoff“, ja die alte hebräische Bühne „Habima“ – alle diese Kunstbestrebungen würden auch die Zierde jedes bürgerlichen Staates bilden. Sie finden die größtmöglichste Förderung seitens der Arbeiter- und Bauernregierung- sie entfalten sich frei im proletarischen Staate, und wenn sie ihrem Inhalt nach jetzt nicht direkt dem Proletariat dienen, so werden sie als fortschrittlicher Faktor in die Gesamtkultur des Proletariats an der Macht eingehen.
Aus Sowjetrußland kommen bereits die ersten literarischen Werke, die aus dem Schoß der Revolution geboren sind. Es sei hier z.B. auf den Roman von Gladkow „Zement“ hingewiesen, ein Werk der Revolution. Sowjetrußland hat gerade in der Literatur neue Formen aufzuweisen, die nur im proletarischen Staate möglich sind. Außer der proletarischen Presse der Arbeiterkorrespondeten, die in der Sowjetunion einen ausschlaggebenden Faktor des öffentlichen Lebens darstellen, sei noch auf die neue Form der Journalistik hingewiesen, wie sie im Sosnowsky, Kolzow, Soritsch usw. vertreten ist. Das sind die „Feuilletonisten“, die nicht nur „dichten, sondern die zugleich in das soziale Getriebe eingreifen und aktiv mitwirken.
Die russische Revolution hat gezeigt, daß die alte Parole aller „Kultursozialisten“: „Die Kunst dem Volke!“ – verwirklicht werden kann, und zwar nur verwirklicht werden kann – durch die Revolution.
http://litkult1920er.aau.at/wp-content/uploads/2018/06/body.png00litkultadminhttp://litkult1920er.aau.at/wp-content/uploads/2018/06/body.pnglitkultadmin2022-09-10 12:33:362022-09-10 12:33:38Frida Rubiner: Die Kunst dem Volke – durch die Revolution (1926)
Alfred Polgar: Synkope
Der Mann, der hinter dem Schlagwerk der Jazzband sitzt, hält es durchaus mit den Schwächeren. Ein Freund der geringen, der unbetonten Taktteile ist er. Er tut für seine Schützlinge, war er nur kann, klopft sie in den Vordergrund, rettet sie, mit markigen Schlägen den Rhythmus teilend, wenn sie in diesem untergehen wollen. Etwas Justamentiges, Revolutionäres ist in seinem Getrommel. Gegen den Strich trommelt er.
Seinem Schlagwerk hat es sich zum Gesetz gemacht, dem rhythmischen Gesetz nicht zu folgen, dem die brave Geige und das brave Klavier bis zum letzten Hauch von Darm- und Metallsaite gehorchen. Es tut, was es will, zigeunert durch die Zeitmaße. Wenn die anderen vier Tempi machen, macht es fünf.
Ich kannte einen Jazzbandspieler, der schlug auf das gespannte Fell sieben Synkopen in den Viervierteltakt und verrührte sie drin mit Hilfe der kleineren Trommel , wie man ein Ei in der Suppe verrührt. Er hatte einen Hornbrille, sprach das reinste Südamerikanisch, warf die Schlegel in die Luft und klopfte indes, ihr Herabkommen lässig erwartend, seinen Part mit den Füßen. Die Instrumente genügten seinem Klangbedürfnis nicht. Er klopfte mit beiden Stäben auf den Klavierrücken, auf den Fußboden, auf den eigenen Kopf, auf das Weinglas; alles ward Trommel, Schallgelegenheit. Er stäubte unregelmäßiges Geräusch von sich wie ein Hund, der eben aus dem Wasser kommt, Tropfen. Er schneuzte sich in Synkopen. So entlud er sich, ein Glücklicher, aller Unzufriedenheit, die in ihm war, und förderte doch, ein Musikant, durch seinen Widerspruch, die Harmonie, der er diente, dienen mußte.
Die Synkope ist Salz und Würze der zeitgerechten Tanzmusik. Und nicht nur der Tanzmusik. Die Synkope ist ein Symbol unserer widerspenstigen Tage, das Symbol einer aus dem Takt geratenen Welt, die doch nicht aufhören mag und kann, in Brudersphären Wettgesang zu tönen.
Es macht sich allenthalben lebhafte Bewegung zugunsten der unbetonten Taktteile merkbar. Die Akzente verschieben sich, wackeln, stürzen.
Die kleinen Leute haben auch schon was mitzureden. Sie behaupten obstinat, daß sie da sind.
Der Rhythmus, nach dem die Himmelskörper kreisen, ist nicht so unverbrüchlich fixiert, wie wir dachten. Die Einstein-Synkope hat ihn auf ziemlich irritierende Weise gelockert.
Die Wissenschaft von der Seele legt auf das vom Bewußtsein nicht Betonte den gewichtigsten Ton.
Die Maler nehmen den Akzent vom Wesentlichen der Erscheinung fort und legen ihn auf das Un-Wesentliche.
Die Stückeschreiber trommeln drei Stücke über einem. „Nebeneinander“ von Georg Kaiser ist das Muster eines syncopated Drama.
Die Romanschriftsteller lassen die Kapitel ungeschrieben und schreiben das, was zwischen den Kapiteln steht.
Die Affekte werden, unter Patronanz der Psychoanalyse, verschoben. Die Ware wird verschoben. Das Geld wird verschoben. Vom Sinn des Lebens ganz zu schweigen.
In der Hotel-Hall sitzen die Damen und duften je nachdem. Der Akzent des Gewandes ist dort, wo es nicht ist. Der Rhythmus des Kleides wir durch die Betonung der Nacktheit angenehm inspiriert.
Frau Goldstein spielt mit Herrn Goldstein takt-voll die Ehepièce. Der Ton aber liegt auf dem Skilehrer mit den eisblauen Augen. Ehen ohne Synkopen gar es vielleicht zur Walzerzeit.
Die Musik der Sphären scheint sich mit einem Jazzbandspieler komplettiert zu haben. Und der Mensch muß ganz neue Schritte lernen, wenn er hiezu mit Grazie tanzen will.
In: Der Tag, 24.2.1924, S. 3.
Arnolt Bronnen: Sabotage der Jugend
Arnolt Bronnen: Sabotage der Jugend (1922)
Nachdem vor etlichen Sonnenjahren mit großem Lärm sich neue Menschen und neue Geschehnisse angekündigt hatten, bemerkt der gütige Leser aus der großen Stille, daß wieder einmal mehr Worte den Zähnen entrannen, als mit der Schwäche der Lungen vereinbar war, und geht zur Tagesordnung über. Ihm sei im folgenden ein kleines, harmloses Märchen, sozusagen eine sinnige Allegorie erzählt.
Der junge Autor hatte im Jahre x13 die kindische Idee, gänzlich unvorbereiteterweise ein Schauspiel zu schreiben. In diesem glücklichen Alter hat man natürlich keine Ahnung, wozu das weiter gut sein soll. Im übrigen ist es seinem auch völlig wurst. Also sandte der junge Autor das Produktum teils für fünfundzwanzig Mark einem literarischen Bureau, wo offenbar gleich mehrere Leute von dergleichen Späße lebten, teils einen „Autoritäten“.
Der junge Autor erhielt zwei Schreiben, in denen behauptet wurde, das Stück müsse und werde gedruckt werden. Es sei gleich bemerkt – und der gütige Leser wird mir’s aufrichtig danken –, daß dies bis heute nicht geschehen ist. Hierauf wurde das Produktum dem großen Verlage gesandt. Der große Verlag sandte es dem großen Theater, und das große Theater sandte es dem großen Verlage. So oder so ähnlich spielte sich dies anmutige „Vater, leih mir d’Scher“ ab.
Es würde den gütigen Leser ebenso langweilen wie den jungen Autor, wenn hier geschildert werden sollte, was sich im Jahre x14 ereignete, als der junge Autor auch weiterhin furchtbar einhertrat auf der eigenen Spur. Um es kurz zu sagen: es spielte sich dasselbe ab. […] Es kann also nicht behauptet werden, daß der junge Autor etwa an den falschen gekommen ist, wie dies dem Fräulein Säuselrot geschah, als sie ihre revolutionäre Lyrik im „Schwarz-Gelb-bis-auf-die-Knochen-Verlage“ veröffentlichen wollte. Nichts hiervon. Der Kern der Sache – lag wo anders.
Der Kaiser rief, das Volk stand auf. Der junge Autor legte rasch ein Ei und stürmte mit den k. und k. hinaus. In alter Ahnungslosigkeit wurde auch dieses Eich dem Laboratorium des großen Theaters zur Bebrütung eingesandt. Die Front verschluckte den Helden, während die Konjunktur der Kriegsstücke die Heimat ergriff, saß der junge Autor drei Jahre in der Sizilei. Andere Leute hätten in dieser freien Zeit hundert Dramen geschrieben; die gerührte Mitwelt dankte es dem jungen Autor, daß er nur ein halbes schrieb (und auch das war nichts wert).
Es sei bemerkt, wo nicht gar betont, daß der junge Autor bis dahin zu den Leuten gehörte, die das Gefühl hochgradiger Wurschtigkeit gegenüber den eigenen Produktionen beseelte. Ach, mit den Jahren wird es anders. Als gegen Ende des Jahres x19 der junge Autor in die schiebende Heimat zurückkehrte, da – dies läßt sich nicht länger verheimlichen – war es anders geworden. Man begann zu denken, man begann zu rechnen. Und die Rechnung lautete: sechseinhalb Jahre.
Sechseinhalb Jahre sind eine lange Zeit. Der große Verlag erhielt einen Brief, der sich gewaschen hatte. Die Gönner erhielten Briefe, die sie sich kaum auf den Hut stecken werden. Sie antworteten übrigens prompt, wie schon Gönner sind. Und nun wäre ohne Zweifel alles geblieben, wie es war, wenn nicht der große Verleger sich der geschlossenen Front seiner Lektoren gegenübergesehen hätte. Nun, er nahm zwei Sachen von vieren.
Und druckte eine. […]
Im weiteren Verlauf dieser Geschichte seien nur kurz gestreift die gebrochenen Verträge der Theater, die Sage von den Konventionalstrafen, die Legende vom modernen Theaterdirektor und die schwachen Nerven aller Beteiligten. […]
Diese Schauermär erzählt Ihnen, gütige Leser, Herr Bronnen aus folgenden Gründen: erstens weil sie wahr ist; zweitens weil sie ein sehr mild verlaufener Fall dessen ist, was täglich passiert; drittens weil dann dieselben Leute, die wissen, daß es passiert, ebenso täglich zu behaupten pflegen, daß die Jugend nichts wert ist; und viertens, weil sie das nicht nur behaupten, sondern auch noch beweisen, und sie beweisen es nicht nur, sondern es ist auch wahr, und es ist deshalb wahr, weil die ganze Generation von den kargen Brocken lebt, die ihnen eine schroffe Zunft von Verlegern vor die Füße wirft.
Und ich behaupte – und Gott strafe mich, wenn ich es je beweisen müßte: Niemals hat eine Zeit ihre Jugend mehr verhöhnt und frecher verhandelt als diese. Während aus den Hirnhöhlen der Verstorbenen die die Villen der Obengenannten aufbauen, vererbt sich das Wesen des Schaffenden gezwungen in Inzucht. Es geht die Epoche, ohne zu lernen, und es sterben die Jungen, ohne geben zu können.
In: B.T. (vermutlich Berliner Tagblatt, 1922; nicht verifizierbar; zit. nach F. Aspetsberger, A. Bronnen: Sabotage der Jugend. Kleine Schriften. Innsbruck 1989, S. 15-17)
Max Winter: Rundfahrt durchs rote Wien (1927)
Selbst dem, dem oft Gelegenheit gegeben war, in die einzelnen Gemeindebauten zu kommen und alle ihrer Einrichtungen kennenzulernen, selbst dem, der häufig bei Eröffnungen der neuen Bauwerke, die die Gemeinde Wien aufgeführt hat, als Gast anwesend sein konnte, ist es wie eine Offenbarung, so eine Reise durch das rote Wien, wie sie jetzt unsere Bildungsstelle ganz regelmäßig an allen Sonntagen veranstaltet. Es ist ein politischer Anschauungsunterricht ersten Ranges, der da geboten wird, und es ist nur zu bedauern, daß verhältnismäßig nur so wenige diesen so lehrreichen Kursus in praktischer politischer Verwaltung mitmachen können.
Am ersten Aprilsonntag hatte sich eine Ottakringer Sektion — die 21.— zu so einer Fahrt zusammengefunden. Beileibe nicht die ganze Sektion. 300 hatten sich zu der Teilnahme an der Fahrt gemeldet. Es konnten in den vier Autobussen aber nur 180 Teilnehmer verstaut werden. Ueber die Friedensbrücke führte der Weg von Ottakring nach dem Winarsky-Hof[2], dem ersten Ziel. Die breite Brücke und dieser vielverheißende Name! Ein technisch vollkommenes Werk, das eine breite Verbindungsstraße zwischen zwei volkreichen Bezirken darstellt, und dazu ein Name, der wie ein Bekenntnis klingt— beides flog durch die Wagen, die über die Brücke rollten.
Winarsky-Hof.
Zuerst der Saal. Er beginnt sich gerade zu einer Vorführung der Wahlfilme zu füllen. Erwartungsvolle Spannung auf den Gesichtern und freudiges „Freundschaft!“ zwischen Brigittenau und Ottakring. Einzelne Vertrauensmänner erkennen und begrüßen sich. Und der Führer der Gruppe, Sektionsleiter Wolf, sagt es ihnen, daß sich die Ottakringer einmal den Winarsky-Hof ansehen wollten. Die wichtigsten Hausvertrauensmänner sind zur Stelle und führen die vier Gruppen in die verschiedenen Teile des Hauses. Im eigentlichen Winarsky-Hof fesselt neben dem Saal die große Bücherei die Aufmerksamkeit. Und es entgeht den aufmerksamen Besuchern auch nicht die Kunde der neuen Sittlichkeit, die ihnen mit dieser Bücherei wird. Da sagt irgendwo an der Wand ein handgeschriebenes Plakat: „Jedem stehen die Bücherschätze umsonst offen; wer aber kann, soll freiwillig spenden.“ Auch so eine Bücherei hat Hunger. In Nebenräumen sehen wir, wie immer neue Werke zur Einreihung vorbereitet werden, schauen wir hinter die Kulissen einer großen Arbeiterbücherei. Im ersten Stock der große, schmucke Beratungssaal mit den bequemen Lehnstühlen, mit dem gediegenen großen Tisch in Hufeisenform. Das lachende Antlitz unseres Leopold Winarsky in schönem Rahmen darüber, des ersten sozialdemokratischen Gemeinderates der Brigittenau, dessen Andenken zu Ehren der Hof so benannt wurde. Auch der Entwurf zum Lassalle-Denkmal ist sonst hier an der Wand zu sehen, aber nun muß ihn der Sektionsvertrauensmann erst aus einem Berg von Flugschriftenballen, hinter denen er verborgen ist, hervorholen, um ihn uns zu zeigen. Der Sitzungssaal ist zum Arbeitszimmer geworden, zwanzig Menschen sind den ganzen Sonntag über hier tätig, wahrscheinlich noch viel mehr, in Schichten abwechselnd, die Wahlaufrufe zu kuvertieren und zu versenden. Hochbetrieb! Wir stören nicht länger und gehen weiter. Eine ins Freie mündende Gasse, oder besser ein Straßenhof, nimmt zwei Turn- und Spielplätze auf, auf denen sich die Jugend ungefährdet tummeln kann. Diese „Gasse“ trennt das Hauptgebäude des Winarsky-Hofes von dem zweiten Gebäude, dem Grundsteinblock. Die Spielplätze, über die wir eben schreiten, bekommen dadurch ein besonders schönes Aussehen, daß die beiden Häuserfronten, die auf sie niedersehen, von vielen kleinen Balkons unterbrochen sind. Blumenbalkons, die im Sommer ganz besonders herrlich sein mögen.
Und dann kommen wir in den großen Hof des Grundsteinblocks, der mit seinen strengen Linien jetzt im ersten Vorfrühling den Beschauer fast kalt anspricht, der aber in wenigen Monaten durchzogen sein wird von der Sohle bis zum Dachfirst von rotleuchtenden Linien, denn alle 16 Stiegenhäuser, die in den Hof münden, haben an ihren Fenstern grüne Blumenwannen angebracht, die, sobald nur die erste Sicherheit gegeben ist, daß der Frost den Blüten nicht mehr gefährlich wird, von der Stadtgärtnerei mit leuchtenden Blumen versorgt werden. Und jede Wohnung hat mindestens ein in den Hof mündendes Fenster mit einer solchen Blumenwanne. Im Mai schon setzt der edle Wetteifer zwischen den Bewohnern und der Stadtgärtnerei und unter den einzelnen Bewohnern ein, wer wohl sein Fenster am schönsten hat. Oh, sie sind so schönheitshungrig, diese Proletarier! Man muß ihnen nur Sonne und Luft geben und sie tun dann alles selber dazu, was nötig ist. In einzelnen Ecken des Grundsteinhofes sind amerikanische Reben gepflanzt, sie kriechen an dem Rauhbewurf hinauf. Sie sind gehegt und gepflegt von den Bewohnern. In wenigen Jahren werden sie ihr grünes Sommerkleid über den ganzen Innenhof breiten. In einer Ecke hat ein Straßenbahner mit Hilfe der ganzen Mieter des Hausblocks eine besondere Einrichtung zur Verschönerung geschaffen. Er hat ein kleines Alpinum gebaut mit Wegen, kleinen Almhütten— die Freude der Kinder— und einem wirklichen, sprudelnden, murmelnden Bach. Man braucht nur aufzudrehen und der Bach beginnt zu rinnen und berieselt die Ränder, an denen jetzt schon die Vorfrühlingsblüten wachsen, die im Wienerwald und auf den Höhen weiter draußen zu finden sind. Aber auch einige exotische Primeln, die kinderfaustgroße, kugelrunde violette Blütenballen austreiben, sind schon zu sehen. Anschauungsunterricht für die Kleinen. Sie werden der Natur so nähergebracht. Und die Naturfreunde im Haus kommen selten von einer Wanderung zurück, auf der sie nicht in ihrem Rucksack irgendein Pflänzlein geborgen hätten, das hier, mitten im proletarischen Wohnhof, zu neuem Leben erblühen soll.
Mutter Gemeinde.
In die Mitte des Hofes springt von dem Kindergarten weg im Halbkreis eine Pergola, ein italienischer Laubengang, der zur sommerlichen Zeit vom Grün des wilden Weines umsponnen ist, ein Laufgang zugleich für die Kinder, und in der Mitte im weiten Halbkreis der eigentliche Garten für die Kinder, die dahinter ihre herrlichen Räume haben mit den kleinen Montessori-Möbeln und Tischchen und Stühlchen und kleinen Kasten und dem vielen Spielzeug. Genau so wie es die große italienische Pädagogin wollte, genau so ist es hier zur Wirklichkeit geworden. Während die Mütter oben kochen, spielen unten im Hof, geleitet von kundigen Frauen, ihre Kinder förmlich unter den Augen der Mutter. Ein Blick zum Fenster hinaus, und die Mutter sieht unten ihr Kleines im frohen Kreise der Gleichaltrigen; wohl behütet von den Augen der Mutter Gemeinde.
Da entringen sich den Seelen der Frauen, die mit bei der Besichtigung sind, die ersten Seufzer. Wenn man nur auch so etwas haben könnte!
Im Haus hat sich auch ein Doktor der Krankenkasse niedergelassen. Er öffnet die Tür seiner Wohnung und ladet uns alle ein, wenn wir schon eine Wohnung besichtigen, seine anzusehen. Die Räume sind wohl niedrig, aber die Fenster sind hoch, so daß bis in den letzten Winkel hinein Licht und Sonne scheinen kann. Sie gewinnen etwas Trauliches, etwas Gemütliches, und der Doktor ist glücklich, daß er hier inmitten der Proletarier wohnen kann, und die Vertrauensmänner des Hauses erzählen uns, wie glücklich die Frauen sind, daß sie einen kundigen Mann im Hause wohnen haben, der — und das trifft hier zu— zu jeder Stunde, bei Tag und Nacht, bereit ist, ihnen Hilfe zu leisten. Es ist ein Gefühl der Beruhigung, wenn man weiß, daß der Arzt immer gleich zur Stelle sein kann.
In der Ecke beim Alpinum ist die Badeanlage des Hauses. Sonntag vormittag. Alles vollbesetzt. Der Vorraum voll Wartender. Warme Wannen- und Duschbäder sind vorgesehen. Eine Männerabteilung, eine Frauenabteilung. Welche Wohltat! Welcher kulturelle Aufstieg, daß nun auch der Proletarier immer wieder sein Bad bereitfindet, daß Reinlichkeit kein Vorrecht mehr des Großbürgers ist, der es sich zahlen kann. Wenn die Gemeinde Hausherr ist, so kann auch der Proletarier sein Bad haben, so wie in der Kindergärtnerin auch das Proletarierkind seine Gouvernante haben kann. Warum denn auch nicht! Soll denn wirklich alles ein Vorrecht der Besitzenden sein! Glücklich und zugleich von leisem Neidgefühl beseelt, gehen die Frauen und Männer weiter.
Sechzehn Stiegen hier im Grundsteinhof, zweiunddreißig Stiegen im eigentlichen Winarskv-Hof, insgesamt achtundvierzig, und alle zusammen bilden eine Wohnungsgemeinschaft, die sich einen Mieterausschuß mit drei Untergruppen eingesetzt hat, einen Verwaltungsausschuß, einen Ordnungsausschuß und einen Schlichtungsausschuß. Sie brauchen keinen Administrator, der für alles sorgt, diese Mieter verwalten sich selbst ihr Haus. Der Ordnungsausschuß findet demokratische Mittel, um eine allen genehme Ordnung herbeizuführen, peinlichste Reinlichkeit und Sauberkeit im ganzen Hause, an mehreren Stellen in den Höfen die Colonia-Kübel[3], in die Abfälle hineingeworfen werden können, nirgends liegen Papierln oder Obstschalen herum – und schließlich, wie sie einen Kurator und eine Polizei nicht brauchen, so brauchen sie auch kein Bezirksgericht. Der Schlichtungsausschuß ist das Gericht dieser kleinen Stadt, die sich da in der Stromstraße aufgetan hat, einer in alter Zeit von allen guten Geistern verlassenen Gegend, in die nun das neue Leben Einzug gehalten hat. Aus dem alten Männerheim gegenüber ist ein Heim für alte Männer geworden, ein Versorgungsheim der Stadt Wien, umgeben von einem schönen Garten, und auch das Entbindungsheim der Stadt Wien hat dort seinen Platz gefunden, die jüngste, reichen Segen bringende Mutter- und Frauenanstalt der Gemeinde Wien.
Aus dem Verkehrshindernis wird ein Verkehrsweg.
Mit herzlichem „Freundschaft!“ geht es weiter, hinüber über die große Floridsdorfer Brücke. Wieder ein Werk der roten Gemeinde. Ein Unfertiges hat die bürgerliche Verwaltung hier zurückgelassen, und erst die Tatkraft der roten Gemeinde hat diesen breiten schönen Weg über den Donaustrom geschlagen. Aus dem Verkehrshindernis von gestern ist heute ein Verkehrsweg geworden, der die Mutterstadt mit dem rasch wachsenden Teil jenseits der Donau verbindet. In raschem Fluge geht es hinüber, und ehe noch die Wagen vor dem Schlinger-Hof halten, sehen wir zur Linken wieder ein Werk der Gemeinde Wien, den Paul-Hock-Park, links von der Brünnerstraße, in den der alte Friedhof verwandelt wurde, der einst an dieser Stelle war. Dem tapferen Vorkämpfer für die Freie Schule ein lebendes, unvergängliches Denkmal, der Bevölkerung eine Stätte der Erholung. Zur Rechten dann der Schlinger-Hof, ein neues Wahrzeichen von Floridsdorf. Ein Wahrzeichen der Tatkraft der sozialdemokratischen Gemeinde. Und vor dem Hofe der Markt. Er ist erst vor wenigen Wochen eröffnet worden.
Ist es wirklich gleichgültig, ob private Hausherren Häuser bauen oder die Gemeinde Wien? Nirgends wird einem der Unterschied so bewußt wie hier. Wenn man durch die auch gegen Regen geschützten, das heißt in den Mittelwegen überdachten Marktstände wandert, so fällt einem auf, daß der typische Marktgeruch hier nicht so stark auftritt. Der führende Marktinspektor sagt uns, daß das davon komme, weil die Marktkaufleute ihre Waren in den Kellern im Schlinger-Hof verstauen können. Die Gemeinde baut den Schlinger-Hof, die Gemeinde baut den Markt. Da weiß nun die Linke, was die Rechte tut, das Marktamt und das Wohnungsamt verständigen sich und es wird im Kellergeschoß des Schlinger-Hofes der Raum abgewonnen, um jedem zum Marktstand auch einen lüftbaren und gut gelüfteten Keller zu geben, in den der Marktkaufmann seine Waren mit Hilfe eines Aufzuges schaffen kann. Und an zwei Stellen dieser weiten Kellerräumlichkeiten sind auch große Waschbecken angebracht, in denen das Gemüse gewaschen werden kann. Vom gesundheitlichen und vom wirtschaftlichen Standpunkt bedeutet das einen Fortschritt. Die Ware ist einwandfrei und sie kann länger frisch erhalten werden. Es geht weniger Ware zugrunde. Je weniger Gemüse aber dem Händler zugrunde geht, desto billiger kann das Gemüse dann abgegeben werden. Hätten den Schlinger-Hof Wiener Hausherren gebaut und die Gemeinde hätte von ihnen verlangt, daß sie für die Marktkaufleute Keller einbauen sollen, so wäre dafür eine so hohe Miete begehrt worden, daß das Gemüse nicht verbilligt, sondern wahrscheinlich verteuert worden wäre. Letzten Endes hätten die Marktbudenbesitzer ihre Waren entweder täglich wieder nach Hause schleppen müssen, um sie zu Hause wieder gut aufbewahren zu können, oder sie hätten sie in ihren Buden nachtsüber aufstapeln müssen. Welcher Fortschritt das Heute [!]! Auch Konfiskationsräume sind da und brauchbare Räume für das Marktamt und eine ideale Wage [!], in der irgendeine Manipulation zugunsten oder ungunsten der Parteien darum ausgeschlossen ist, weil die Feststellung des Gewichts völlig auf automatischem Wege vollzogen wird.
Und im Hofe des Riesengebäudes eine der schon berühmt gewordenen Waschküchen der städtischen Wohngebäude, eine Waschküche, wo die Hausfrau in vier Stunden reinigen kann, was eine fünfköpfige Familie in vierzehn Tagen an Wäsche braucht. Neuerdings Bewunderung und Neid derer, die das noch nicht mitbenützen können. Aber auch hier ist schon wieder ein Schritt nach vorwärts gemacht. So wie der Kindergarten nicht nur den Kindern des Hauses zur Verfügung steht, so ist auch diese Waschküche gegen eine ganz bescheidene Miete andern Proletarierfrauen zugänglich, die außerhalb des Hauses wohnen. Die Leistungsfähigkeit der Waschküchen kann dadurch auf das äußerste ausgenützt werden. In einer Viertelstunde ist die Wäsche in den Trockenkulissen trocken und nicht rußig. Ueber jedem Waschtrog gibt es zwei Auslaufhähne für heißes und kaltes Wasser, daneben steht ein Dampfkessel mit Zulauf für heißes Wasser und einem Hebel für den Ablauf des Schmutzwassers. Nirgends braucht die beim Waschen sonst so gequälte Frau schwere Lasten zu heben: Wasser oder nasse Wäsche; immer wieder kommen ihr mechanische Vorrichtungen zu Hilfe. Die elektrische Rolle, die Streudüse zum Wäscheeinspritzen und das elektrische Bügeleisen vervollkommnen die Einrichtung. Da ist es wirklich ein Vergnügen, zu waschen, keine Last mehr, kein Schrecken mehr!
Schlinger-Hof und Bretteldorf.
Und dann der Gegensatz!
Eine rasche Fahrt in das benachbarte Bretteldorf, das auf Ueberschwemmungsgebiet gestellt, von den Kleinbesitzern der Bretterhütten verteidigt wird wie ein Heiligtum, das aber doch eine gesundheitliche Gefahr, nicht nur für die Bewohner des Bretteldorfes, sondern für die ganze Stadt bedeutet. Wir sehen die Kehrichtabfuhr nach dem Coloniasystem, wir sehen, wie oben ein ganzer Wagen gestürzt wird und unten ein Tankwagen seinen Inhalt aufnimmt und wie dieser Tankwagen dann über die neue „Mistg’stetten“ dahinrollt und irgendwo seinen Inhalt entleert, der dann noch sortiert wird von seinem Unternehmer, der da unten den Abfall der Großstadt und proletarische Kraft auswertet. Eine Milliarde Pachtschilling zahlt der Mann für die Erlaubnis, den Abfall der Großstadt auswerten zu dürfen und trotzdem wird er noch ein schwerreicher Mann dabei. Aber die armen Menschen, die diese Arbeit zu leisten haben, wie hausen sie hier! Es ist ein schauriger Einblick, den wir im Vorüberfahren gewinnen, wenn wir in die kleinen Eisenbahnwaggons oder Wagen sehen, die da mitten im Mist, aber ohne Räder, gestellt sind und deren eine Wohnung für ein paar Menschen darstellt. Berge von Glasscherben, Kondensbüchsen sind da und dort aufgestapelt und von anderm Gerümpel. Der Pächter hat einen eigenen Schmelzofen, in dem die Kondensbüchsen und andern Metallgegenstände in Barren gegossen und dann wieder verkauft werden. Ein Großbetrieb, aufgebaut auf die Arbeitskraft wahrer Enterbter. Schaudernd schauen wir in dieses Leben. Und wie Befreiung scheint es uns allen, als der Führer das Zeichen zum Aufbruch gibt, nach der letzten Station, die wir vor uns haben, nach dem Amalienbad in Favoriten[4].
Auf dem Wege dahin begegnen wir in der Rasumofskygasse[5] zwei Damen in Reithosen, die eine mit einer schwarzen Jockeimütze, die andre in schwarzem Schlapphut, beide in schwarzen Fräcken steckend, die eben auf ihren Pferden von dem Morgenritt in den Prater zurückkehren. Ein Blick in die andre Welt. in die Welt derer, die nur ihrer Pflege, nur ihrer Schönheit leben …
Verbrüderung Ottakring-Favoriten.
Ehe wir die herrlichen Hallen des Amalienbades betreten, das moderne „Tröpferlbad“ und das schöne Dampfbad besichtigen, laden uns noch die Vertrauensmänner eines städtischen Wohnbaues in der Bürgergasse in Favoriten zu kurzem Verweilen ein. Wir treten ein, sie empfangen uns in ihrem noch nicht völlig fertiggestellten Beratungssaal, aber was sich in dieser halben Stunde, die wir dort zubringen, abspielt, das ist ein herzerfreuendes Verbrüderungsfest zwischen den Proletariaten der beiden mächtigsten Wiener Proletarierbezirke, zwischen Favoriten und Ottakring. Im Nu ist aus der Exkursion eine Wählerversammlung geworden, in der ein Exkursionsteilnehmer den Gefühlen aller beredten Ausdruck gibt, den Gefühlen aller für die rote Gemeinde Wien auf der einen Seite, den Gefühlen aller aber auch gegen die Preßhelden der Einheitslistler[6], die begehren, daß alle diese Herrlichkeiten, die da in einem Vormittag geschaut werden konnten, erbaut werden sollen, indem sich die Gemeinde Wien dem internationalen Kapital tributpflichtig macht, ja nicht aus der eigenen Kraft, und die zugleich alles zu schön, alles zu luxuriös, finden. Für die Herren das schön verkachelte hygienische Bad, für das Proletariat das muffige Tröpferlbad, wie es einst war. Das ist die Meinung der Zeitungen der Einheitsfront von dem christlichsozialen Regierungsblatt bis zur „N. Fr. Pr.“.
Und dann geht es wirklich ins Amalienbad. Wir schauen den Zauber, den da die Gemeinde Wien wieder geschaffen hat, für das Proletariat geschaffen hat, damit auch das Proletariat seinem Körper in Gesundheit und Schönheit zugleich dienen könne.
***
Dann geht es wieder nach Hause in die alten Wohnungen und ein Stück Unzufriedenheit in dem Herzen zieht nun mit ein. Dabei aber belebt jeden Einzelnen der große Gedanke: Das, was wir heute geschaut haben, den kleinen Ausschnitt aus dem großen Wirken der sozialdemokratischen Gemeinde der letzten vier Jahre, das ist alles noch ein bescheidener Anfang, es soll noch viel mehr, es soll noch viel Schöneres kommen: 30.000 neue Wohnungen, Spielplätze und Bäder, und für Kinder und Mütter, alles was nötig ist, Krippen, Heime, Kliniken, und für die Kranken und Alten alles, und für die Hausgehilfinnen Heime und dazu Parks und schöne staubfreie Straßen für alle, und vieles andre, alles, alles will die rote Gemeinde leisten, wenn sie getragen ist, von dem Vertrauen des roten Wien. Möge der 24. April ein Tag des Segens werden für diese Stadt, für unser aller geliebtes Wien.
In: Arbeiter-Zeitung, 17. April 1927, S. 19-21.
[1] Der Text erschien eine Woche vor der Nationalrats- sowie der Wiener Gemeinderatswahl 1927.
[2] 1924/25 nach Plänen von Josef Hoffmann, Peter Behrens, Oskar Strnad, Josef Frank, Oskar Wlach, Franz Schuster, Margarete Lihotzky und Karl Dirnhuber erbauter Gemeindebau
[3] 1923 in Wien eingeführtes „Umschüttsystem nach dem reichsdeutschen Patent Colonia“. Siehe dazu: http://www.dasrotewien.at/seite/coloniakuebel (Zugriff: 30.12.2022)
[4] Zwischen 1923 und 1926 in Favoriten erbaute Badeanstalt, benannt nach der 1924 verstorbenen Politikerin Amalie Pölzer, die seit 1919 als erste Favoritnerin dem Wiener Gemeinderat angehört hatte. Siehe dazu: http://www.dasrotewien.at/seite/amalienbad (Zugriff: 30.12.2022)
[5] Gasse im dritten Wiener Gemeindebezirk, benannt nach Andrej Fürst Rasumofsky (1752-1836), 1793-1809 russischer Gesandter in Wien. Siehe dazu: https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Rasumofskygasse (Zugriff: 30.12.2022)
[6] Wahlgemeinschaft der Christlichsozialen Partei, der Großdeutschen Volkspartei sowie österreichischer Nationalsozialisten bei der Nationalrats- sowie Wiener Gemeinderatswahl 1927.
Else Feldmann: Hände (1925)
Es ist Sonntag nachmittag.
Auf der Planke vor dem Gemeindepark sitzt Berta, die Heimarbeiterin.
Sie näht Pelzstreifen für eine Pelzfabrik. Sie hat Halbschuhe an; es ist Herbst und sie friert. Über ihre dunkelgraue Jacke hat sie ein Wolltuch mit Fransen sie hüllt sich ein, sitzt, schaut und wartet; manchmal hustet sie ein wenig.
Sie erwartet Franz, den Kellner aus dem Café Splendid. Pünktlich war sie da, sogar viele Minuten vorher.
Er läßt sich Zeit.
Da kann sie nachdenken.
Sie irrt sich nicht, er wird von einem Mal zum andern kälter.
Beim letzten Zusammensein hatte er ihr zum Abschied nicht einmal die Hand gereicht. Und zerstreut war er. Und als sie ihn, wie immer, ein Stück durch den Park, durch den abends niemand ging, begleitet hatte und sie sich fest an seine Brust gedrückt hatte, lange und fest, da hatte sie nicht mehr sein Herz heftiger schlagen, sie hatte auch nicht mehr seinen umfangenden Arm gefühlt. Er hatte auch nichts gesagt, kein Wort.
Und heute war es wie immer; sie erwartete ihn am gewohnten Platz. Wenn er durch den Park kam, saß sie hier aus der Planke, und dann gingen sie zusammen nach Hause, in ihr Zimmer, und blieben bis spät abends, bis Franz wieder seinen Dienst antreten mußte.
Sie wollte schon ein paarmal offen mit ihm reden, aber sie fand nicht den Mut. Sie glaubte, daß er eine andere hatte.
Das merkte man den Männern an; sie sind dann, während sie bei der einen sind, mit ihren Gedanken ganz woanders.
Sie wußte beinahe auch, wer die andere, sei. Er sprach manchesmal stockenden Atems von ihr; die Kassierin, eine blendende, blonde Person, die viele Ringe an ihren weißen, gepflegten Händen hatte.
Und sie wollte ihm doch längst sagen— sie, Berta, die Heimarbeiterin, die Pelzstreifen nähte —, daß es so weit mit ihr sei— und was nun mit ihnen beiden geschehen werde, ob sie beisammen bleiben wollten— oder was?
Wieder schreckt sie auf in ihrem Sinnen. Kleinigkeiten fallen ihr ein: Auf der Treppe war es dunkel gewesen und sie wollte nach seinem Arm greifen, da hatte er plötzlich seine kleine Taschenlampe herausgezogen und aus die Uhr geblickt, dann war er rasch ein paar Schritte vorausgegangen, so daß sie laufen mußte, um ihn einzuholen.
Und auf einmal stand es mit klarer, kalter Deutlichkeit vor ihr: Es war aus.
Vielleicht bietet ihm die andere mehr. Was hat er bei ihr? Ihr Zimmer, das nie ordentlich sein konnte, immer flogen die Fellhaare umher. Und alles war voller Pelzstreifen, und der Staub, der auf den Möbeln lag, man mochte ihn noch sooft wegfegen. Sie mußte immer erst lange seinen schwarzen Anzug bürsten, ehe er ging…
War es vielleicht schön bei ihr?
Und sie selbst?
Sie hustete und hatte manchmal in den Schultern Schmerzen, war daher schlecht gelaunt. Und jetzt war dieses geschehen. Die Arbeit begann sie mehr zu ermüden als früher.
Wieder fällt ihr etwas ein.
Sie blickt auf ihre Hände. Es sind recht häßliche Hände. Sie rnußte mit ihnen seit ihrer Kindheit schwer arbeiten. Das Pelznähen aber hatte sie erst so häßlich gemacht; sie waren breit, grau und rissig, zerstochene Finger, stumpfe, beschädigte Nägel, und sie fühlten sich hart und schwielig an, waren voll Verletzungen. Der Franz hatte ihre Hände nicht gern in seinem Gesicht. Und einmal hatte sie geweint und mit den Händen ihre Tränen fortgewischt, da hatte er sie zornig angeschrien: „Gib die Hände weg!“ Jetzt wußte sie es, er konnte sie ihrer Hände wegen nicht leiden. Ihre Hände waren schuld, daß es aus war.
O, sie waren auch wirklich zu entsetzlich häßlich. Wie eine Krankheit sahen sie aus. Da half nichts mehr.
Es war Abend geworden. Berta saß noch immer auf der Planke.
Ihre Beine waren steif vor Kälte. Franz war nicht gekommen. Ihre Augen starrten in die Dunkelheit des Parkes — starrten …
Aus: Arbeiter-Zeitung, 7. Februar 1925, S. 5.
Karl Tschuppik: Kriegsliteratur
Zwei Bücher der letzten Tage, Ludwig Renns ‚Krieg‘ und Erich Maria Remarques ,Im Westen nichts Neues‘, beides Bekenntnisse der Frontgeneration, sind als die erfreuliche Gewähr dafür hingenommen worden, daß das Kriegserlebnis unverlierbar ist und fortwirken müsse, solange diese Generation atmet. Es war eine falsche Annahme, das Schweigen nach dem Kriege aus dem Willen zum Vergessen zu deuten; das vertiefte Erlebnis kommt erst jetzt zu Wort. Das Letzte und Tiefste, was unter Millionen Frontsoldaten empfunden wurde, ist wahrscheinlich noch zu erwarten.
Vor diesen Dokumenten des Krieges, die unvergleichbar sind und nichts mit der Kriegsliteratur früherer Zeit gemein haben, stellt sich als erste die Frage nach ihrer Wirkung ein. Man kann bei der Untersuchung außerachtlassen, ob die Kunst oder die exakte Reportage, ob Remarque oder Renn sich als wirksamer erweisen. Wichtiger ist: wo hört die Wirkung auf? Es ist eine Selbstverständlichkeit, wenn man sagt, daß der, Renn und Remarque gleichgesinnte Teil der Frontgeneration in beiden Bekenntnissen nur deutlicher, klarer wiederfindet, was er selber empfunden. Das Entsetzen, das die Bücher wachrufen, der Schrecken und die Erschütterung vor dem Bild der Hölle verleiten jedoch zu der Ansicht, der Krieg könne nur so und nicht anders erlebt worden sein.
Dem widerspricht die Tatsache, daß es neben der Million stummer Renns und Remarques eine andere Million gibt, die alles erlebt hat, was es an Barbarei, Vertierung, Scheußlichkeit gibt, und dennoch im Innersten unberührt die Hölle verließ. Objektiv liegt dasselbe Erlebnis vor: Morden, Todesangst, Qualen, Versinken ins Tierhafte, Schmutz, Gestank, Krankheit, Hunger, Überanstrengung des Leibes; in der Erinnerung aber stellt sich dieser Million das Erlebte anders dar, als den Renn und Remarque. Man darf sich nicht täuschen: die Bejahung des Krieges ist nicht nur eine Erfindung des Hinterlands; in jener ansehnlichen Masse, die jetzt noch mit Stolz den Stahlhelm als Symbol vor sich trägt, sind hunderttausende ehemaliger Frontsoldaten, mit Augen begabt wie die andern, mit Ohren, Nase und Nerven wie die eines Menschen. Sie haben gemordet und gelitten, Kameraden sterben gesehen, die Pest des Krieges an Kopf und Gliedern gespürt wie die andern. Und dennoch: diese respektable Armee wird auf einen Ruf bereit sein, morgen von neuem in den Krieg zu ziehen. Kann man das bestreiten?
Wie erklärt sich das Phänomen? Welche Motive sind so stark, daß sie das Höllenerlebnis zu glorifizieren und das Menschlichste, Allermenschlichste zum Schweigen zu bringen vermögen? Die Breughel-Bilder vom Kriege versagen hier ebenso wie die pazifistische Polemik, die sich um die Propagierung der Erkenntnis müht, daß der industrialisierte Krieg in seiner allzerstörenden Wirkung ein unzulängliches Mittel geworden ist, dem Feinde den eigenen Willen aufzuzwingen. Der Kriegsenthusiast denkt nicht an das Kriegsende, er denkt an den Krieg. Es berührt ihn nicht, daß der Krieg heute etwas Unabschätzbares, gänzlich Unberechenbares darstellt: dessen Bejahung also sich weder mit realpolitischen Erwägungen, noch mit nationalistischen Argumenten begründen läßt. Woher dann doch die Bejahung? Auch die Psychologie kommt zu keinem Schluß mit ihrer Behauptung, die Gefahr der Kriegsenthusiasten liege in ihrem Mangel an Phantasie. (Die Phantasie als die Fähigkeit gesehen, Erlebtes leibhaft zu rekonstruieren.) Des Rätsels Lösung ist einfacher. Sie führt ins Soziologische.
In unserer Gesellschaftsordnung leben Millionen „zwischen den Klassen“, über deren wahres Gesicht sich bisher alle Soziologen getäuscht haben. Sie sind nicht Bourgeois, nicht Kleinbürger, nicht Proletarier. Es sind Halbgebildete, Intelligenzen mindern Grades, deren Wollen und Können nicht ausreichte, die gewünschte Lebensbahn zu gehen; Unzufriedene, die im Beruf keinen Ersatz für die Kargheit ihres Daseins finden; Untaugliche im bürgerlichen Lebenskampf, die sich zu gut dünken, in die Reihen des Proletariats zu treten. Sie sind je nachdem Schreiber und Unterbeamte, Bureaudiener, Diurnisten, Hilfskräfte in Geschäften, Lehrer, Magazineure, Verkäufer, Agenten, Markenkleber, Aufseher, Türhüter, aber auch Professoren, Hochschullehrer, Ingenieure. Sie kommen von dem großem wirtschaftlichen Aufschwung vor dem Kriege her, der das rasche Emporblühen der Städte förderte, Millionen Existenzen aus ihrem angestammten Erdreich riß und in die großen Städte, in die Intelligenzberufe, in die Kaufmannshäuser, Magazine und Schreibstuben verpflanzte; die Industrialisierung des Lebens hat das ursprüngliche Denken und Fühlen dieser vom Lande stammenden jüngsten Städter verändert. Unsicher in Ihren Instinkten, unzufrieden in einer Ordnung, die augenscheinlich dem Erwerbssinn allein alle Vorteile des Daseins sichert, ihrem Ursprung nach aber zu bürgerlich, als daß sie der sozialen Opposition sich anschlössen, sehnen sie sich nach einem Regime, das ihre Fähigkeiten als die maßgebenden anerkennt.
Sie sind die eigentlichen Träger der militaristischen Ideologie. Denn nur in der Armee fanden sie das Glück, das ihnen im bürgerlichen Leben versagt blieb: über den Mitmenschen gestellt zu werden, einmal kommandieren zu dürfen (und sei es auch nur als Gefreite oder Korporäle). Die Deuter im Soziologischen stehen meist blind vor der Tatsache, daß gerade in dieser zum Dienen verurteilten Mittelschicht der Trieb nach Geltung ebenso stark ist wie in den andern Klassen. Er drückt sich nur, vermöge der anderen Fähigkeiten, anders aus. Nur der deutsche Arbeiter kennt ihn als Person nicht; die Leistung Karl Marxens hat hier wirklich das Wunder bewirkt, den Ehrgeiz des einzelnen in ein Gemeinschaftsideal zu verwandeln. Der unzufriedene Mittelständler, dem eine Erhöhung im bürgerlichen Leben versagt bleibt, konnte sich nur als Gefreiter, als Korporal und Feldwebel auszeichnen. Im Bureau, im Magazin und in der Schreibstube muß er kuschen und gehorchen; in der Kaserne durfte er befehlen. Das ist die psychologische Wurzel der militaristischen Ideologie, der wahre Grund, auf welchem der mittelständische „Heroismus“ wächst.
Der Krieg? Sie wissen es: er bedeutet Bajonettangriff, Todesgefahr, Verlausung, Krätze, Spital, Vegetieren in Kotlöchern, Schweinefraß und Vertierung. Er ist aber die große Zeit, die diesen Heroen die Erhöhung gewährt. Der Herr, der im Frieden kommandierte, muß jetzt seinem Bureaudiener parieren. Der Krieg ist das Avancement der Mediokrität.
Solange diese Wahrheit nicht so exakt dargelegt wird, daß auch die Mediokren die Scham lernen, so lange bleibt jede pazifistische Propaganda vergeblich. Mit den Argumenten der Menschlichkeit ist die Mauer der leeren Gehirne und vergifteten Seelen nicht zu brechen.
In: Der Tag, 10.2.1929, S. 19 bzw.: Die literarische Welt H. 2/1929, S. 1-2.
Oskar Maurus Fontana: Antlitz des Krieges (1929)
Der Krieg war nach einer kurzen expressionistischen Predigt aus dem Gesichtskreis des deutschen Geistes verwiesen worden. Die einen wollten ihn nicht wahrhaben. Die anderen schämten sich seiner. Die dritten wollten schweigen, vergessen. Man richtete sich auf ‚Frieden‘ ein. Man wollte so tun, als wäre nichts geschehen. Aber je länger dieser Zustand dauerte, desto mehr zeigte sich, daß er erlogen, eine Fiktion war, daß unter seiner Schminke immer das, was zwischen 1914 und 1918 gelebt worden war, durchstieß, durchbrannte. Der Krieg war das Erlebnis aller Heutigen. Sich an ihm vorbeizudrücken, ging nicht mehr. Die Seele konnte und kann nicht genesen, ehe sie sich nicht diesem Erlebnis gestellt, es aus Dumpfheit zur Erkenntnis gebracht und sich damit befreit hat. Das ist der Sinn, daß mit einemmal in der Literatur der Krieg so ‚aktuell‘ geworden ist.
In dieser Rückwendung zu Schützengräben und Hungerjahren geschieht es, was nicht mehr erwartet worden war: die vom Krieg verschüttete Generation, die Frontgeneration, arbeitet sich aus Schmutz und Lehm und Sand und zerschossenem Unterstand heraus und beginnt zu sprechen.
Darin sehe ich die große Bedeutung des im Verlag der Frankfurter Societäts-Druckerei erschienenen Berichts Krieg von Ludwig Renn. Er ist einer von denen, die um 1890 geboren, als erste in den Krieg geworfen wurden. Die hatten noch die ganze alte Welt durch Erziehung und Erfahrung in sich aufgenommen – die letzten. Die wenigen, die von ihnen wiederkehrten, fanden nicht mehr zurück, sie waren heimatlos in einer durchaus veränderten Welt, fühlten sich als Deserteure des Todes. Ihrem Gedenken ist Ludwig Renns Buch geweiht, auch wenn davon nirgends die Rede ist. Die toten Kameraden geistern um den Überlebenden. Das gibt seinen Schilderungen das Unheimliche, die Schatten eines Zugs von Gespenstern.
Dieses Buch in ästhetische Kategorien einordnen zu wollen, ist Hochmut literarischer Orthodoxie. Renn weiß und sagt es, daß ihm für die wichtigsten Dinge, also die seelischen, die Worte fehlen. Er kann nur sagen, was er gesehen hat, nicht mehr, nicht seine Einordnung in den Geist, nicht seine Erlösung durch das Gefühl. Nur das Greifbare, nur das Sichtbare ist bei ihm zu finden. Aber in welchem Maß. Mit welcher Prägnanz des Auges. Mit welcher Grauenhaftigkeit unvermittelter, unverbundener Eindrücke. Gewiß – Renn photographiert nur – seine Schilderungen sind wie ein Bündel nächster, allernächster Kriegsphotographien, aber sich erinnernd und erschaudernd fühlt man: So war es, so war der Angriff, so der Rückzug, so der Schützengraben, so die Verwundeten, so die Leichen, so die Latrinen, so die Führer, so die nicht auf den Frieden, nur noch auf den Todesschuß oder die Verwundung Wartenden, so die hilflose Nähe zu allem Geschehen, das geschah, ohne daß man es verstand, ohne daß man nur das Geringste dazu oder dagegen tun konnte.
Es ist notwendig, den Krieg, der zuerst nur in der Perspektive des Heeresberichtes, dann des revoltierenden ohnmächtigen Gefühls sichtbar war, zu sehen, nichts als zu sehen: seine alltägliche Existenz wie sein Grauen, seinen Stumpfsinn wie seinen fatalistischen Galgenwitz, seine Zermürbung wie seinen Hunger. Man kann die Dinge erst dann bewältigen, wenn man sich über ihre Existenz klar ist. Diese gibt Ludwig Renns „Krieg“. Ein Kunstwerk ist dieses Buch nicht. Dazu aber wäre nötig, innerlich mit dem Krieg fertig geworden zu sein, ihn seelisch liquidiert zu haben.
Renn ist nicht so weit, kann nicht so weit sein. Er steckt in seinem Erlebnis wie die Schnecke in ihrem Haus. Nicht er allein, die ganze Frontgeneration. Und daß diese in Renns Bericht enthalten ist, ebenso umfassend und genau wie der Krieg, das gibt ihm dokumentarischen Wert.
Wenn er das Gefühl einer Leere hat, die sich durch kein Erlebnis aufzufüllen vermag, wenn ihm eine Erkenntnis zu fehlen scheint, die ihm alles erklären könnte, so spricht daraus nicht ein Einzelner, sondern eine ganze Generation. Das Grauenhafte inmitten der Grauenhaftigkeit des Krieges wird klar, daß die im Krieg waren, einen Krieg führten, der sie gar nichts anging, den sie in einer großen Kälte des Nichts-über-sich-selber-Wissens, des Nichts-mit-sich-selber-anfangen-Könnens an sich herankommen ließen wie die Erlösung aus Langeweile. Diese seelenlose Neugier, dieses Fühlen, daß alles hohl sei, einschließlich einem selbst, dieses Unvermögen, irgendwo einen Halt zu finden, alle diese negativen Eigenschaften der Frontgeneration werden von Renn nicht verleugnet, sondern bekannt. Deutlich aber werden auch die politischen Eigenschaften: der Wille, einem Ganzen zu dienen (aber niemand führte ihn), die feine, zarte Reaktion auf kleinste menschliche Regungen, der Geist der Kameradschaft, die mehr aus Verantwortungsbewußtsein als aus Rauflust kommende Tapferkeit, auch auf einem verlorenen Posten, nicht nur des Krieges, auch des Lebens auszuharren, seinen Mann zu stellen. Im Urlaub sieht Renn einmal die Jugendphotographie seines toten Vaters. „Es mußte damals etwas an ihm gewesen sein, was ich an ihm nicht mehr gekannt hatte. Vielleicht hatte er auch hochfahrende Gedanken gehabt wie ich, und hat es eines Tages gefunden, daß wir nicht weiterkommen können.“ Das fand diese Frontgeneration im Krieg und nach dem Krieg, das zerbrach sie, das Gefühl: „daß wir nicht weiterkommen können.“ Wie hätte sie es nicht haben sollen? Als der Krieg verloren, die heimatliche Grenzen in langen Märschen wieder erreicht war, wurden alle in Viehwagen verladen. „Wohin wir fuhren, wußten wir nicht, nur daß es nicht gleich nach Hause ging.“ So endet Renns Buch. Kein zufälliger Schluß, ein sehr sinnbildlicher. Denn in diesem Ungewissen stand die Frontgeneration, durch dieses Ungewisse hat sie sich durchzuschlagen, immer mehr vom Gefühl ergriffen, es gebe überhaupt kein Zuhause mehr. Diese ungeheure Verlassenheit, die in Renns Bericht aus jedem seiner Teile fühlbar wird, gibt über alle Schilderung des Gegenständlichen die Tragik einer Zeit, eines Geschlechts.
Sie ist auch aus Erich Maria Remarques Buch „Im Westen nichts Neues“ (Propyläen-Verlag, Berlin) zu spüren, wenn auch nicht vielfältiger, so doch näher, qualvoller, erschütternder. Denn Erich Maria Remarque besitzt, was Ludwig Renn fehlt: das Wort, das mehr als Photographie gibt – das Wort mit allen seinen, dem Tatsachensinn unmerklichen Schwingungen und Flutungen der Seele, der Atmosphäre, des Unaussprechbaren – kurz, das dichterische Wort. Der Atem stockt einem, folgt man Remarque durch das Inferno des Krieges. Das Grauen ist wieder da, das Entsetzen, das unter dem Schutt der gelebten zehn Nachkriegsjahre noch immer glimmt und nie in uns verlöschen wird, solange uns Atem gegeben ist.
Die Frontgeneration spricht. In Erich Maria Remarque jene deutschen Achtzehn- und Neunzehnjährigen, die als zweiter Schub, von den Schulen geholt, zum Teil als Kriegsfreiwillige gelockt, in das Feuer der Granaten und Schrapnells geworfen wurden – jene erfahrungslose Jugend, die von den unregelmäßigen Verben ohne Umweg in die Regelmäßigkeit tötender Einschläge geriet – jene unglückliche Jugend, die nicht einmal die Welt gekannt hatte, die nur zerstörte und zerstört wurde, zu nichts anderem als zur Vernichtung getrieben wurde – jene Jugend, die der Krieg für alles verdorben hat. Bei Remarque heißt es einmal: „Wir sind keine Jugend mehr. Wir wollen die Welt nicht mehr stürmen. Wir sind Flüchtende. Wir flüchten vor uns. Vor unserem Leben. Wir waren 18 Jahre und begannen die Welt und das Dasein zu lieben; wir mußten darauf schießen. Die erste Granate, die einschlug, traf unser Herz. Wir sind abgeschlossen vom Tätigen, vom Streben, vom Fortschritt. Wir glauben nicht mehr daran; wir glauben an den Krieg.“
Wie diese Jugend im Trommelfeuer ausharrt, zurückgeworfen ins Tierhafte, Instinktive, das hier allein zu retten vermag, wie sie um ihre nackte Existenz kämpft, toll, blind, wie sie in der Kameradschaft noch etwas wie ein Licht schönen Lebens sieht und sich daran wärmt, wie sie die Kinder, die nach ihr an die Front in viel zu weiten Uniformen kommen, bedauert und sterben sieht, ohne helfen zu können ( „Auf einen alten Mann fallen fünf bis zehn Rekruten“) und wie sie selbst zugrunde geht, einer nach dem andern, und es noch als Glück empfinden muß, zu sterben, nicht als Verpfuschter weiterleben zu müssen – das ist Remarques Buch. Mehr als einmal kommen einem dabei die Tränen. Mehr als einmal kann man nicht weiterlesen, muß aufstehen, durch die Stube rennen, um nicht von seiner Verzweiflung, seinem Jammer erdrückt zu werden.
Ein grausames Buch. Ein notwendiges Buch.
In ihm ist „der Schmerz der Kreatur, die furchtbare Schwermut des Lebens und die Erbarmungslosigkeit der Menschen“. In ihm atmet hastig und keuchend wie ein Zerschossener die Vergangenheit einer Generation in den fortwährend von glühendem Eisen bestreuten Granattrichtern, aus denen es kein Entkommen mehr gibt, zu denen sich alles verwandelt hat: das gegenwärtige und das zu erwartende Leben, das Körperliche und das Seelische. „Man wird uns auch nicht verstehen, denn vor uns wächst ein Geschlecht, das zwar die Jahre hier gemeinsam mit uns verbrachte, das aber Bett und Beruf hatte und jetzt zurückgeht in seine alten Positionen, in denen es den Krieg vergessen wird, und hinter uns wächst ein Geschlecht, ähnlich uns früher, das wird uns fremd sein und uns beiseite schieben. Wir sind überflüssig für uns selbst, wir werden wachsen, einige werden sich anpassen, andere sich fügen und viele werden ratlos sein; – die Jahre werden zerrinnen und schließlich werden wir zugrunde gehen.“
Aber auch Abrechnung mit den Erziehern, denen man geglaubt und die einen verrieten, ist in dem Buch. „Mit dem Begriff der Autorität, dessen Träger sie waren, verband sich in unseren Gedanken größere Einsicht und menschliches Wissen. Doch der erste Tote, den wir sahen, zertrümmerte diese Überzeugung.“ Auch der Schrei nach Hilfe des Geistes schreit aus Remarques Aufzeichnungen, der Schrei, wie alles dieses möglich, der Tod im Felde und der noch schrecklichere im Lazarett, wenn dem Menschen der Geist gegeben sei.
Dann aber in aller Verzweiflung hebt sich der Mut der vom Krieg Verschütteten als ein ungeheurer Schatten über alle Zukunft. Ein unheimlicher Chor droht, der Chor der Frontgeneration: „Die Tage, die Wochen, die Jahre // hier vorn werden noch einmal zurückkommen und unsere toten Kameraden werden dann aufstehen und mit uns marschieren, unsere Köpfe werden klar sein, wir werden ein Ziel haben, und so werden wir marschieren, unsere toten Kameraden neben uns, die Jahre der Front hinter uns: – gegen wen, gegen wen?“
Die Frontgeneration marschiert hin und her, kreuz und quer – in allen Ländern, durch alle Straßen des Lebens. Was wir in den zehn Jahren nach dem Krieg erlebt, ist nichts anderes als der ruhelose Marsch der Frontgeneration. Ihre Unruhe ist die Unruhe der Welt. Und ein Dichter wie Erich Maria Remarque erster Frühschein eines Friedens – auch der Seele.
In: Der Tag, 20.1.1929, S. 17-18.
Ernst Fischer: Ungeduld der Jugend
Aus einem demnächst im Verlag Hetz und Komp. erscheinenden Buch „Krise der Jugend“.
Von Jahr zu Jahr wächst in der Jugend das Gefühl, daß alles Bestehende versagt hat, daß alle Parolen, die man ihr gibt, Betrug und Schwindel sind. Was bis zum Zusammenbruch einer Welt im Trommelfeuer des Krieges, im Giftgasangriff der Massenarbeitslosigkeit, der Massenhoffnungslosigkeit gegolten hat, gilt heute nicht mehr. Die Jugend hat genug von allen Erklärungen, Versprechungen, Redensarten, sie will, daß endlich etwas Entscheidendes geschieht. Das Jugend hat genug von der zögernden Klugheit, von der wartenden Vorsicht, sie ist der Meinung, daß man zu lange gezögert, zu lange gewartet hat, sie will sich nicht länger mit dem tödlichen Stillstand abfinden, den man den Gang der Ereignisse nennt. Und wenn sie sich abfindet, geschieht es um einen übermäßigen Preis: um den Preis aller Ideale, aller Opferfreudigkeit und Zukunftsbereitschaft. Eine Jugend, die revoltiert (gegen alles Bestehende meinetwegen, gegen alle gültigen Weltanschauungen), ist nicht verloren; aber verloren ist eine Jugend, die sich abfindet, verloren für jede Bewegung, die das Neue will. Zehntausende junge Menschen lassen heute die Schultern hängen, die Fahnen fallen, ziehen sich in den Winkel eines fragwürdigen Privatlebens zurück, finden sich ab mit der allgemeinen Erstarrung, die man den Lauf der Dinge nennt. „Alles Bestehende hat versagt, alle Ideen sind zur Phrase, zur unverbindlichen Redewendung geworden!“, das Gefühl zernagt wie Rost die Seelen, entfremdet die junge Generation immer mehr der alten.
Ist es wahr, daß alle Ideen zur Phrase geworden sind? Hat nicht nur eine ganz bestimmte Ideologie, eine ganz bestimmte Lebenshaltung versagt? Und welche Ideologie, welche Lebenshaltung ist es, die heute durchaus anrüchig, durchaus unglaubwürdig geworden ist?
Was die Jugend heute klar oder unklar fühlt, ist der Widerwille gegen die Vernünftigkeit, die Wissenschaftlichkeit, den Fortschrittsoptimismus des neunzehnten Jahrhunderts. Was wir heute erleben, ist eine ungeheure Revolte gegen den Nationalismus.
Dieses neunzehnte Jahrhundert hat sich eingebildet, mit seinen Maschinen und seinen Apparaten, mit seinen wissenschaftlichen Methoden und seinen technischen Konstruktionen, mit seinen immer besseren Instrumenten und immer exakteren Erkenntnissen, mit seiner wachsenden Wirtschaftlichkeit und Vernunft alle Probleme ordentlich lösen und einen dauernden Wohlstand der Menschheit heraufbeschwören zu können. Die Idee des gediegenen und unaufhaltsamen Fortschritts war der Polarstern, an dem sich alle orientierten, die Unternehmer und die Arbeiter, die Kapitalisten und die Sozialisten, die Bürger und die Feinde der Bürgerwelt. Man hat diese ganze Welt als eine große Fabrik gesehen, deren Produktivität man durch Investitionen, Verbesserungen und Verbilligungen stetig erhöhen, stetig den Bedürfnissen anpassen kann, man war bestrebt, alles Irrationelle auszuschalten und mit Vernunft und Ruhe jede Stockung und Störung zu überwinden. Ja, die Vernunft war geradezu das Rauschmittel dieses Jahrhunderts: die Technik wurde wie eine Gottheit angebetet, der Wissenschaft traute man Unwahrscheinliches zu, von der Allmacht des Menschengeistes war man überzeugt. Daß Wissen Macht sei, wurde wie ein unumstößliches Dogma gepredigt, daß gegen jede Krankheit ein Kraut gewachsen sei, glaubte man unbedingt, daß die Gesellschaft sich einem dauernden Frieden, Reichtum und Humanitätsideal entgegenentwickelte, war man rückhaltlos überzeugt.
Dann kam die Katastrophe, triumphierte die Unvernunft des Massenmordes über alle Grundsätze der Vernunft. Und als man einige Jahre später meinte, nach diesem Zwischenspiel fortsetzen zu können, was so schnöd unterbrochen worden war, als man die Vorkriegsideale herausholte, als habe das Blut und Gas der großen Zeit ihnen keinen Schaden zugefügt, siehe, da war alles anders geworden, und was einst überzeugend klang, tönt nun so hohl und gespensterhaft, wie aus Gräbern.
Der Fortschrittsoptimismus der alten Generation wird von der neuen nicht mehr verstanden. Daß die Welt sich, kraft innerer Gesetzlichkeit, dem Guten und Schönen entgegenentwickle, glaubt die Jugend nicht mehr; daß man diesen Prozeß gewaltsam unterstützen müsse, davon ist sie durchdrungen. Und wenn man ihr erzählt, daß ja doch so manches besser geworden sei, daß es vor dem Krieg die jungen Leute viel schlechter gehabt hätten, oh, dann lächelt diese Jugend scharf und ironisch: Ja, was geht uns das eigentlich an, warum erzählt ihr uns Ammenmärchen aus der Vergangenheit? Wollt ihr uns etwa einreden, unser Leben sei gar nicht so schlimm, wie wir meinen? Wie uns das imponiert, wie uns das überzeugt! Wollt ihr uns etwa zumuten, Dankbarkeit sei unsere Pflicht? Wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; wofür auch? Dafür, daß wir keine Arbeit finden, nirgend hingehören, in der Welt nicht aus und ein wissen? Nein, wir haben keinen Grund, dankbar zu sein; war ihr damals für uns getan habt, mag ja ganz ordentlich und anständig gewesen sein – aber heute? Was tut ihr heute für uns? Wie sieht diese Welt aus, mit der wir uns abfinden, mit der wir Geduld haben sollen? Begreift ihr denn überhaupt, daß wir nicht so leben können, daß wir verkommen und verkümmern müssen, wenn nicht endlich etwas für uns geschieht? Ihr habt leicht reden; ihr nährt euch von der Vergangenheit, materiell und ideologisch, für uns gibt es keinen Platz in der Welt, und daß es von selbst einmal besser wird, glauben wir nicht.
Nein, das glaubt die Jugend nicht. Der Zweifel ist ihr Element. Der Zweifel ist gut und produktiv, wenn er zur Waffe wird, die das Bestehende zerstört. Er ist schlecht und verhängnisvoll, wenn er nicht zur Aktion, zum Aufruhr werden kann, wenn er nach innen bohrt und gräbt, ohne nach außen wirken zu dürfen. Dazu aber, zu solchem unproduktivem Zweifel, ist die Jugend verdammt.
Immer problematischer wird die Technik, die von der alten Generation blindlings vergöttert wurde; daß man über den Ozean fliegt und Riesenluftschiffe baut, gefällt den jungen Menschen gewiß, sie sind entzückt von diesem Heroenmythos der Gegenwart, von diesem Aufschweben, Aufglänzen der Materie. Aber daß man mitten in den Wundern der Technik, in einer elektrisch illuminierten, mit Verkehrsmitteln, Radioapparaten, Telephonen, mit laufenden Bändern und riesigen Panzerkreuzern ausgestatteten Welt verhungert, das erlebt diese Jugend. Daß die Technik den Menschen überflüssig macht, daß sie ihn hinausdrängt ins Nichts der Arbeitslosigkeit und der Hoffnungslosigkeit, daß sie zwar imstande ist, das Überflüssige, nicht aber das Notwendige zu erzeugen, das ist der ungeheuerliche Eindruck, den die Jugend von dem Fortschritt der Rationalisierung gewinnt. Freilich: es ist der Kapitalismus, der die Technik mißbraucht, der die Vernunft in Wahnsinn verwandelt, aber das zu begreifen, ist manchmal nicht leicht und die unmittelbare Reaktion gegen den unerträglichen Zustand ist eine Reaktion gegen den rationalisierten Wirtschaftsapparat, ist ein Gefühl, das dem der Maschinenstürmer ungemein ähnlich ist. Die Maschine, von den einen zum Gott erhoben, wird im Empfinden der andern zum Dämon zum Schicksalsgötzen, der alles zermalmt, den zu preisen der bitterste Hohn gegen seine Opfer, gegen die aus Produktion und Lebensberechtigung ausgeschalteten Proletarier ist. Kommen wir wirklich weiter, wenn wir uns zu dem Fortschritt der Technik, zu dem Rationalisierungsprozeß bekennen? Sollten wir nicht vielmehr dagegen Stellung nehmen, diese Tollheit mit allen Mitteln bekämpfen? Das ist eine Frage, die man immer häufiger hört; aus den Tiefen des Zweifels steigt diese Frage empor, des Zweifels am Wert und Nutzen der Technik.
Die Tiefe des Zweifels aber ist damit nicht ausgeschöpft; nicht nur an der Technik, an dem ganzen System des Rationalismus, der selbstbewußten und selbstgefälligen Vernünftigkeit, zweifelt die Jugend.
Daß man mit der Vernunft etwas ausrichten könne, wird ernsthaft in Frage gestellt; ach, die Menschen, die verantwortlich sind für das Schicksal der Völker, diese Staatsmänner und Diplomaten, diese Minister und Parteiführer, diese Nationalökonomen und Sozialwissenschaftler sind alle bemerkenswert vernünftig, sie wissen viel, sie können alles erklären, mit hundert Argumenten beweisen sie, warum die Dinge so und nicht anders sind, und das Gefühl der Jugend schlagen sie mit der Überlegenheit der Statistik, der Wirtschaftskenntnis und der Geschichtsbetrachtung zu Boden. Schließlich muß der junge Mensch, der kleinlaut vor soviel Gelehrtheit kapituliert, zu der Überzeugung gelangen, es sei das Wesen der Vernunft, klipp und klar darzulegen, daß man um keinen Preis etwas tun dürfe. Ausgezeichnete Theorien, ausgezeichnete Reden, ausgezeichnete Lehrsätze – und das Ergebnis: Nichts. Weiterwursteln. Weiterberaten. Weiterverhandeln. Das ist das Schauspiel, das seit zehn Jahren vor der europäischen Jugend aufgeführt wird; wundert man sich, wenn diese ganze Gescheitheit den jungen Leuten eines Tages zu dumm wird? Wenn ihr Mißtrauen gegen staatsmännische Weisheit und wissenschaftliche Vernunft unüberwindlich wird? Wenn sie sich die Frage vorlegen: Wäre es nicht besser, gar nichts zu wissen, dafür aber kühn und entschlossen vorzugehen? Wundert man sich, wenn diese Frage äußerst gefährliche Formen annimmt? Wenn sie etwa lautet: Kann man überhaupt nach Vernunftgründen leben, handeln, Politik machen? Ist nicht vielmehr der Instinkt, die Gewalt, die Genialität eines Führers entscheidend? Ist der Geist, von dem man quatscht, nicht ein Unfug, kommt es nicht vielmehr auf Blut und Eisen, auf ein großes und wildes Hasardspiel an? Wundert man sich, wenn solche Fragen zu fascistischer Antwort, zu romantischen Aberglauben drängen? Nein, man darf sich nicht wundern, daß die Revolte gegen den Rationalismus losgebrochen ist, daß unzählige junge Menschen entschlossen sind, keinem Argument mehr zu glauben, sondern nur dem Beweis der Kraft, dem Erfolg?
Hundertfach zeigt sich diese Revolte, diese Sehnsucht nach dem Romantischen, das völlig anders ist als alles Bestehende. Die Alchymie kommt wieder zu Ehren, die mittelalterliche Goldmacherkunst; das Geld ist zum leeren Phantom geworden, her mit dem Zaubergold! Mit rationellen Methoden kommt man nicht zu Geld, helfe daher, was helfen kann, das Wunderrezept, die schwarze Magie. Die Quacksalberei kommt wieder zu Ehren; die medizinische Wissenschaft, die allen zu helfen versprach, wie wenigen hat sie geholfen! Helfe, was helfen kann! Der weiße Käse, der elektrische Zauberstab, der suggestive Zuspruch eines wundertätigen Charlatans, oder irgendein Naturheilverfahren auf eigene Faust, oder die Geheimlehre irgendeiner Sekte! Die Wissenschaft hat enttäuscht, alles ist unsicher geworden, vielleicht geschieht ein Wunder. Es ist eine wachsende Ungeduld zu spüren, niemand will seine Angelegenheiten auf die lange Bank schieben, für das kurze Verfahren, für den radikalen Umschwung ist man privat und öffentlich. Man hat zuviel gewartet, zu lange gewartet in dieser Welt.
In: Arbeiter-Zeitung, 1.5.1931, S. 17.
Lajos Kassák: An die Künstler aller Länder! (1920)
Die in ihren Gedanken unverstandenen, in ihren Handlungen allein handelnden Künstler einer Klasse, die sich zum Menschentum erlösen will, rufen wir mit brüderlichen Worten an. Höret uns! Aus unseren Stimmen empören sich blutfarbene Frage- und Rufzeichen und was sich davon zum Sinn verdichtet, ist unser unwandelbarer Glaube an die ewige Revolution. Für uns gibt es nur ein Gesetz: Ein fortwährendes Vorwärtsdrängen im großen Leben, alles andere wäre ein Verkriechen vor dem feigen Selbst oder ein entsagungsvolles Warten auf den Tod. Und wir fürchten uns nicht vor uns und wollen nicht auf unser Leben verzichten. Unser Leben ist die Revolution, unsere Revolution ist das heiligste Bekenntnis zur Liebe.
1920 sind wir bereits über das romantische Emporsehnen hinausgewachsen, mit allen blutenden Wurzeln sind wir zum Absoluten herausgerissen worden, wir haben ein Recht auf das gestenlose Wort.
Wir haben das Leben erkannt, in uns ist das Gesetz.
Wir haben keine Wurzeln in der Vergangenheit, keine Zügel, die in die Zukunft führen.
Unser einziger Weltruf ist das unserem Leben entströmende Blut: Mensch, wo bist du?
Das Wesen der neuen Kunst ist das Aufspüren der tragischen Gegenwart und ihr Aufleuchten in der kreißenden Zeit. Die Bestimmung des neuen Künstlers ist das Zu-sich-Erwecken der Menschheit, [die] einerseits der Dummheit der Unterdrückten, andererseits der Krämerspekulation der Herrschenden verfallen ist.
Also keine individuelle Verklärung und keine Massenkunst im Sinne der Volkstribunen. Darüber müssen wir uns im klaren sein. Denn nur durch diese Erkenntnis führt der Weg zur Wahrheit der Gegenwart, zur einzigen Wahrheit, zum Leben, zu mir, zu dir, zur Einheit.
Das ist unsere Forderung sowohl an die Schöpfer, wir auch an die Empfänger der Kunst. Und dadurch machen wir mit einem Handgriff den Gebenden und den Nehmenden gleich. Denn wie einst die Bedienenden und die Bedienten verschwinden werden, sollen auch die Verklärten und die Erniedrigten verschwinden. Die Parole heißt: Der Mensch. Und wir sind Menschen in unserer Kunst und wie wir in der der Vergangenheit nicht die Diener der Bourgeoisie waren, wollen wir auch in der Zukunft keiner Klasse dienen, – auch dann nicht, wenn diese Klasse „Proletariat“ heißt. Wir glauben, daß die Dienstbarkeit für irgendeine Klasse nur eine neue Variante der heutigen sklavenhaften Gesellschaftsform vorbereitet. Wir wollen keiner neuen Klasse an die Stelle // der alten Klasse emporhelfen. Wir verkünden im Gegensatz zu jeder Klassenherrschaft die siegreiche menschliche Gemeinschaft, im Gegensatz zu jeder Staatsmoral die kollektive Ethik. Und von da aus strahlt die Wärme und der Glanz unserer Bruderworte. Unsere Wege führen in das Reich der Brüderlichkeit und unsere Fahne ruft die Verkündigung der Tat aus. Nicht die des Hasses, sondern die der Erlösung.
Nur diese kann die gerechte Stimme des Heute sein.
Brüder! Wenn wir von historischem Boden euch Signale zurufen, dann suchen wir in euch zu Revolutionen mit Streitäxten bewaffneter Vernichter und Baumeister mit erhellten Köpfen. Wir werben aus den von Bitternissen überschäumenden Massen die Pioniere des befreienden Gedankens. Aus diesen Massen, die noch immer nichts als ihren Magen werten, und an welchen wieder alle gute Hoffnung zu zerschellen scheint. Die Energien des sich empörenden Proletariats sind für Leben und Tod an das Geleise gebunden und über der bremsenden Welt erschallen die Glocken der Todesstunde.
Klar sollen die Sehenden sehen!
Die Revolution kann nicht zur Lösung einer einzigen Frage, eines einzigen Motivs dienen. Die die Revolution ist nicht ein Mittel zur Eroberung des Lebens: die Revolution ist das Ziel selbst: Das Leben.
Verstehen wir uns: das gegenwärtige Beben bedeutet noch nicht den Beginn einer neuen Welt, vielmehr nur den Abschluß der alten. Es bedeutet nicht das gemeinsame und individuelle Leugnen der Herrschaft, sondern die Eroberung dieser durch Kraftgenossenschaften. Nicht die sinnvolle Überentwicklung der bürgerlich gefärbten Sozialdemokratie, sondern bloß deren Entwicklung zur vollkommenen Form: der terroristischen Sozialdemokratie.
Doch das alles ist immer noch Politik.
Kampf einzelner Parteien um die Macht durch das Bewegen der Massen.
Positionswechsel mit Positionseifersucht.
Doch schon klaffen uns die Perspektiven entgegen!
Die tragischen Individuen, wie verwunschene Engel der Mythologie tragen schon in ihrer Seele und heben wie eine Monstranz über uns die einzig sichere Bürgschaft der Revolution: das aktive Selbstbewußtsein.
Und jetzt ist unsere und eure Zeit gekommen, Brüder, die wir auf der Basis des historischen Materialismus die Seele des Menschen in Brand stecken wollen. Im Gegensatz zu jeder Klassenmoral heben wir jetzt die ewige Stabilität der Ethik ans Licht. Denn sie ist der Sinne aller Kräfte. Die Betonung der materiellen Umgestaltung genügt nicht zur Lösung der menschlichen Lebensmöglichkeiten. Die Massen haben genügend gedarbt, um zu einer Meuterei immer bereit zu sein, dadurch ihr Schicksal momentan zu verbessern; – jetzt heißt es aber, wie vorher noch niemals, die instinktive Meuterei zu einer bewußten Revolution zu vertiefen und zu stabilisieren. Mit der Befreiung der realen Kräfte müssen auch die abstrakten Begriffe umgewertet werden.
Zur gleichen Zeit, in der der belastende Morast abgestreift wird, muß auch das einzige Ziel beleuchtet werden. Denn nur das ewige Vorwärtsgehen kann uns im Kampfe mit dem Augenblick festigen. Denn nur die befreite Seele allein kann den befreiten Körper vor einer neuen Unterjochung schützen.
Brüder, aus deren traurig-fröhlicher Seele das nach dem gleichen Ziele strebende Leben der Wissenschaft, Technik und Politik emporströmt, ihr wißte es so gut wie wir, – es ist nicht anders möglich! Wir wissen, daß es wirtschaftliche Gründe sind, die den ersten Stoß (den Stoß zur Form) der revolutionären Bewegung geben, aber ihre unwandelbaren, dauernden Stützen sind doch die erwachten seelischen Kräfte, das reine einheitliche Bewußtsein. Und jetzt ruft dieses in unserer Seele neugeborene Bewußtsein euch an. Ihr neuen Künstler! Reicht euch im Chaos der Revolution die Hand, auf daß die Harmonie der Revolution als Blut desselben Blutes in uns zusammenklinge. Hinaus über die Klasseninteressen für die universalen Interessen der gesamten Menschheit. Über die Diktatur der Klasse, – für die Diktatur der Idee.
Und weg mit den auf den Fahnen geschriebenen Namen, mit dem Scheinhumanismus und mit dem individuellen Imperialismus!
Kein Stehenbleiben!
Brüder, verbrüdert euch zum Aufbau des neuen Menschen, des kollektiven Individuums!
Denn unter den Fahnen des Kommunismus, des reinsten Glaubens, kann kein anderes Interesse bestehen, als das mächtige Lebensinteresse der Menschheit, von der sowohl Du als ich gleiche Teile sind ein und desselben Stammes!
Die Verwirklichung dieses Interesses unter der Diktatur der Idee kann einzig und allein durch die Revolutionierung der Seelen geschehen.
Diese Revolution kann nur durch moralische und zweckmäßig kulturelle Erziehung des Proletariats als für die Zukunft einzig gesunden Rohmaterials gesichert werden.
Also Kultur! Und wieder Kultur!
Das Proletariat rüttelt unaufhaltsam an der Macht der unterjochten Väter; – unsere Pflicht ist es gegen die Herrschaft der erstgeborenen Brüder den Kampf aufzunehmen.
Nieder mit der mit Menschenblut kalkulierenden Politik! Nieder mit den Talmudisten der Revolution!
Die Logik der Advokaten, der Mechanismus der Administratoren, die langweiligen Reden der Redner reichen bei weitem nicht aus.
Es lebe die gegen jede Tradition kämpfende Revolution! Es lebe das verantwortliche kollektive Individuum! Es lebe die Diktatur der Idee!
Im Namen der ungarischen Aktivisten
Wien, am 15. April 1920.
In: MA, H. 1/1920, S. 2-4.
Kurt Münzer: Diktatur der Jugend (1927)
Kurt Münzer: Diktatur der Jugend
Die folgenden Ausführungen Kurt Münzers stehen sicherlich nicht in Widerspruch mit den Bestrebungen, die eine stärkere Heranziehung und Förderung des wirklichen jungen Talents beinhalten.
Altern – einmal fast die Sehnsucht der Verständigen, selbst der Stürmischen – altern, also ernten, überblicken, resümieren: heut ist es Gespenst geworden. Die Frauen, einst ihren weißen Haaren, grauseidenen Roben, Enkeln und Lehnstuhl am Fenster glücklich entgegenalternd, kürzen heut mit jedem Jahrzehnt ihren Rock, halten entschwindende Wangenröte übertrieben fest, tragen die Haare à la Bubi, ziehen an, was den Töchtern zu jugendlich ist, flirten mit Fünfzig in Hotelhallen, auf Schiffdecks und Aussichtsterrassen. Sie lernen Black-Bottom und machen aus dem Schwiegersohn einen flotten jungen Herrn.
Künstler, einmal ihrer Reife froh, gesättigte Alterswerke gelassen vollendend, ihre Dichtung logisch zur höchsten Stufe der Entwicklung führend, ihre Bilder klassisch die Anfänge ihrer Jugend verklären lassend: heut fürchten sie, überwunden zu sein, altmodisch, abgeschmackt, von gestern. Sie lernen um, wo sie einst Lehrer ihrer Errungenschaften wurden. In den Jahren der Meisterschaft werden sie wieder Lehrlinge, sie bemühen sich um den neuen Stil, um die Mode des Jahrhunderts oder Jahrzehnts oder des Jahres, sie verleugnen ihre Götter und tanzen, dennoch altersschwach, um die Götzen des Tages, sie brechen mit sich selbst, brechen sich selbst die Treue, werfen sich in das Gewühl der Jugend, den Kampf der Werdenden, die Ekstasen der Dilettanten.
Man schämt sich, alt zu werden. Man fürchtet, erkannt zu werden als Generation von damals, als Traditioneller, als stetig sich Vollendender. Man marschiert unter fremden, andersweltigen Fahnen: die Menge läuft ja mit. Zurückbleiben? Warten, bis die Einsichtigen um uns wiederkehren? Was glauben sie, zu versäumen? Die Zeit… Ach, die Zeit! Ist das Werk nicht wichtiger? Und haben wir es nicht erlebt? Sie kehren um und wieder! Einmal geht die Sonne über den herrlichsten künstlichsten Lichtern auf, einmal verfault die Erfindung doch in der Glut organisch gewachsenen Seins. Alles zerstiebt, alle zerstreuen sich. Das Große, das Gewordene bleibt und zieht an.
Und dennoch: Wir laufen ihr nach! Ach, wie verirrt müssen wir sein, daß wir von der Jugend uns führen lassen! Und da es Jugend ist, ist es nur Verführung, übermütige Irreführung der Gutgläubigen, der Ratlosen. Niemand leugnet ihre historische Notwendigkeit, ihren schöpferischen Stachel, ihre revoltierende Aufrüttelung. Wir brauchen der Jugend alles enthaltendes Chaos, ihre stürmische Kritik, ihre anarchistischen Widerstände. Aber was nur ein Element der Zeit sein darf, ein Teil des Schöpfungsstoffes, macht sich zurzeit selbst zum allein gültigen schöpferischen Prinzip; und die alten Dichter und Weisen stehen frierend im Winkel.
Herrlich, Freunde, ist die Jugend, ihre Grausamkeit bezaubernd, ihr Übermut göttlich, sie ist zu lieben auch in ihrer Ausschweifung, anzubeten auch in ihren Stürzen Aber – darf sie uns Führer, Tyrann, Gott selbst sein? Bezaubernd sind ihre Unternehmungen, mögen sie sich in Kunstsalons, Theatern, auf Wiesen, Wanderungen, Festen abspielen. Bezaubernd fast noch ist selbst ihre Art, das Alte zu entthronen, ihre Frechheit, mit dem Ewigen abzurechnen, ihre Unbedenklichkeit, sich zu inszenieren, sich zu proklamieren, ihren Imperialismus unbeschränkt zu bekennen. Und haben sie nicht recht? Der Diktator, der sich durchsetzt, die zu dem sie schwören, ist im Recht. Hat er es auch nicht: die Menge gibt es ihm.
Seht euch um: Welcher Theaterdirektor wagt es, ein Programm ohne Zwanzigjährige zu gestalten? Welcher Verleger fürchtet nicht, ausgeschaltet zu werden, wenn er nicht stammelnde Unreife eines Abiturienten in Pappe, Leinen und nummeriertem Leder bringt? In Symphoniekonzerten, die sich zu Bruckner entschließen können, winseln atonale Halluzinationen von Lehrlingen und an den Wänden der Ausstellungen hängen gegenüber von Munch, Degas und Liebermann Kinderzeichnungen. Jugend wird zum Meister erhoben, Stilübung zum Werk; täppisches Lallen ist die neue, die vollendete Sprache, ungehemmte Klänge die neue Musik.
Ihr habt die Jugend verwöhnt, wie ihr einen Meister verwöhnt habt. Nun ist sie abscheulich verzogen. Sie krittelt bis zur Dummheit, sie verwirft alles, was nicht von ihr kommt. Sie vergißt, daß sie auch im Wachsen ist, und macht – mit eurer begeisterten Zustimmung – die Flegeljahre zum Ziel der Entwicklung.
Durchgangstadien, die man früher scham- und rücksichtslos verschwieg, produzieren heut die Kunst des Tages. Alles ist verkehrt, auch das Schamgefühl. Einst redete man nicht von der Pubertät, man wartete das Ergebnis ihrer Krisen ab. Heut sind die Krisen in Büchern festgehalten, in Bildern gemalt, in Dramen ausgeführt. Die Qual, die Unappetitlichkeit, die Zwitterhaftigkeit und Peinlichkeit des Werdens ist künstlerisches Objekt, das Gereifte, Harmonische, Geklärte ist veraltet, lächerlich und fluchwürdig. Nicht mehr das Geborne, sondern die Geburt ist Sinn und Ziel, die Schwangerschaft wertvoller als die reife Frucht.
Ja, ich weiß wohl: Jugend ist das beste und einzige Mittel gegen die Verkalkung des Weltgeistes, der Herzarterien der Menschlichkeit. Aber sie ist nur ein Mittel. Jetzt läßt man es um seiner selbstwillen gelten und schlürft es wie himmlischen Trank.
Alte Weiber zeugen die besten Söhne. War Jugend jemals, kann Jugend in großem Sinne schöpferisch sein? Die Werke unserer Klassiker, die sie mit zwanzig schufen… Ach, ihr Lieben, das ist ja wohl das Merkmal des Genius, daß er schon in der Jugend die wunderbare Reife hat, daß schon die Jugendarbeit die Fügung der Altersweisheit und höchsten Kunsteinsicht hat, während die zwanzig Jahre dem vollendeten Ganzen nur den Flaum, den Duft geben.
Wo haben wir heute das Werk eines Jungen, das die Jünglinge von 1930 noch lesen werden? Ist nicht, was vor fünf Jahren den harmlosen Mitmenschen auf den Kopf stellte, heut schon vergessen, begraben? Über dem Brio eines Werkchens übersehen wir die Leere des Gehaltes. Im Tempo vergessen wir, daß das Thema ein Nichts ist. Das, was an einem Jugendwerk positive Leistung ist, ist immer über Jugend hinaus Gereiftes, ist Altersanwandlung, Vorglanz späterer Meisterschaft.
Sieht die Jugend die Welt nicht falsch an? Ausschließlich vom Standpunkt ihrer saftigen Beine, mit dem Kraftgefühl ihrer trainierten Arme, mit dem Lustgefühl ihrer erlaubten Sinneskräfte? Der Boxer ist Heros und der Ingenieur Weltüberwinder. Der Kanalschwimmer wird von Königen und Präsidenten begrüßt. Der Chauffeur bekommt Banketts und der Läufer Denkmäler. Und der Geist?… Motoren und Maschinen zermalmen ihn schnell. Die Tänzerin schreibt ihre Memoiren und der Filmstar bekommt seine Literatur, denn er kann nicht selber schreiben und zufällig hat er nicht, wie die Tänzerin, einen Dichter, der ihn liebt und ihm das Manuskript liefert. Alles dreht sich. Zurzeit stehen wir auf dem Kopf.
Sie hassen die Jugend. Glauben Sie mir: die meisten hassen sie. Sie sehen ein: auf die Dauer können sie doch nicht mit ihr mithalten. Man verleugnet sich; aber so was kann nicht Dauerzustand werden. Es kommt das Capua der Mitläufer. Oder: wird die Jugend noch früher innehalten, sich bewußt werden, einsichtig werden sich auf ihre Sonderrechte beschränken und höflich Platz machen vor grauen Haaren und wankendem Gebein? Wird sie?
Warum – o, warum, warum schämt man sich, alt zu sein? Innerlich ihr abgewandt – ach, wie unehrlich ist der öffentliche Mensch! – bekennt man sich zur Jugend um selbst noch zu ihr zu gehören. Man will sich nicht „alt“ schelten lassen. O, daß es ein Schimpf geworden ist, fünfzig zu sein! Ich – ich gebe für ein Buch Wassermanns die ganze Bibliothek unserer Zwanzigjährigen her und für ein Finale Bruckners, ein Scherzo Mahlers die ganze erdachte Musik unserer Komponistensäuglinge.
Nichts ist beglückender – und gerade für das Alter – als Jugend zu erleben, ihren Überschwang, ihren Übermut, ihre anfeuernde Torheit und Begeisterung, aber nicht ihre unverständige Tyrannis. Unser Schoßkind macht sich zu unserem Diktator. Und wir werden erliegen, wenn wir es nicht bald wieder in unseren Schoß niederzwingen. Holen wir die versteckte Rute hervor. Schämen wir uns nicht. Weisheit, geläuterter Wille, erprobtes Können, der größere Horizont, weitere Einsicht und also gereinigte Schöpferkraft ist nur bei den Älteren. Denn die haben das ewige Leben, die Jugend aber nur das unaufhörliche Erlebnis.
In: Neue Freie Presse, 15.5.1927, S. 31.
Frida Rubiner: Die Kunst dem Volke – durch die Revolution (1926)
Frida Rubiner: Die Kunst dem Volke – durch die Revolution
In den »Erinnerungen an Lenin«, die uns Clara Zetkin übermittelt hat, spricht Lenin auch über die Kunst in Sowjetrußland. Dabei spricht er folgende Sätze aus: „Das Erwachen, die Betätigung von Kräften, die Sowjetrußland eine neue Kunst und Kultur schaffen wollen, ist gut. Das stürmische Tempo dieser Entwicklung ist begreiflich und nützlich. Die chaotische Gärung, das fieberhafte Suchen nach neuen Lösungen und Losungen, „Hosiannah“ für bestimmte Kunst- und Geistesrichtungen heute, das „kreuzigt sie“ morgen, all das ist unvermeidlich. Die Revolution entfesselt alle zurückgehaltenen Kräfte und treibt sie aus der Tiefe an die Oberfläche. Wichtig ist nicht, was die Kunst einigen Hundert, ja einigen Tausend von einer Bevölkerung gibt, die nach so vielen Millionen, wie die unsrige zählt. Die Kunst gehört dem Volke. Sie muß ihre tiefsten Wurzeln in den breiten schaffenden Massen haben. Sie muß von diesen verstanden und geliebt werden. Sie muß Künstler in ihnen erwecken und entwickeln.“
Diese Worte Lenins zeichnen ein Programm vor, das die Oktoberrevolution getreulich durchgeführt hat.
Eine alte russische Sage, eine Byline, erzählt von Ilja Murometz, der dreiunddreißig Jahre auf einem Flecke mit starren Gliedern dasaß, bis eines Tages ein Wanderer ihm einen Trank reichte; von da an erhob sich Ilja, empfand Riesenstärke und vollzog Heldentaten. Wie der märchenhafte Ilja Murometz, so wurde das russische Volk, das jahrhundertelang unter dem Zarismus, starr und gelähmt verblieben war, durch die Oktoberrevolution geweckt und mit ungeahnten Riesenkräften erfüllt. Im politischen Leben nicht allein, in den „Kultur- und Lebensäußerungen“ zeigte der Riese Proletariat, Führer der Massen, seine schöpferische Kraft.
Es gab eine Zeit, wo viele (in ein Verkennen des wahren marxistischen Sinnes der Lehre von der Kultur als dem ideologischen Überbau) glaubten, daß am Tage nach dem Sieg des Proletariats eine neue „proletarische Kultur“ und „proletarische Kunst“ wie Venus aus dem Kopfe des Zeus fix und fertig entspringen würde. Lenin aber hatte stets darauf hingewiesen, daß das proletarische Rußland noch in der allgemeinen Kultur weit hinter der Europas zurückstände. In einem seiner letzten Artikel vor der Erkrankung sagt er wörtlich: „Während wir über Proletkult geschwätzt haben, ist das Analphabetentum nicht zurückgegangen.“ Das künstlerische Schaffen der breiten Massen mußte zuerst die materiellen Voraussetzungen für es schaffen. In dem zitierten Gespräch mit Genossin Clara Zetkin sagt Lenin:
„Damit die Kunst zum Volk und das Volk zur Kunst kommen kann, müssen wir erst das allgemeine Bildungs- und Kulturniveau heben. Wie sieht es damit in unserem Lande aus? Sie (Clara Z.) schwärmen von dem ungeheuren Kulturwerk, das wir seit der Machtergreifung verrichtet haben. Nun ja, ohne ruhmredig zu sein, können wir sagen, daß von uns viel in dieser Hinsicht geschehen ist, sehr viel … Riesengroß steht vor uns das erwachte und von uns angestachelte Bedürfnis der Arbeiter und Bauern nach Bildung und Kultur … Und wir sind ein armes Volk, ein bettelarmes Volk! … Während in Moskau vielleicht heute zehntausende und morgen wieder zehntausende sich an einer glänzenden Aufführung im Theater berauschen, schreit das Bedürfnis von Millionen nach der Kunst, buchstabieren, den Namen schreiben und rechnen zu lernen, schreit nach der Kultur, zu erfahren, daß die Erde eine Kugel und nicht eine Scheibe ist, daß Naturgesetze und nicht zusammen mit dem „himmlischen Väterchen“ Hexen und Zauberer das Weltall regieren.“
(Arbeiterliteratur I-II S. 69 ff.)
In den neun Jahren der Sowjetmacht hat die leninistische Partei am Staatsruder ein großes Stück auf diesem Wege zurückgelegt: Die Kunst zum Volke und das Volk zur Kunst zu bringen. Wenn heute, neben der riesigen Arbeit zur Liquidierung der Unkultur bereits neue Formen der Kunst in den Massen der Werktätigen sich regen, so sind diese nicht in den Köpfen einzelner Genies zu suchen, sondern in den Massen selbst. In den Theateraufführungen der „Dramatischen Zirkel“ in den Arbeiterklubs, in den Kunstateliers der Betriebe, in den Dichtungen von Arbeiter- und Bauernkorrespondeten finden wir bereits neue Ausdrucksformen, die die Keime einer neuen proletarischen Kunst sind. Noch sind diese Formen im Keimzustand, aber sie sind da.
Wenn wir von „Kunst“ reden, meinen wir im allgemeinen nicht die Wurzeln, sondern die Spitzen des Baumes. Was hat die Sowjetunion mit der „alten“ bürgerlichen Kunst getan? Lenin war es, der unaufhörlich die Notwendigkeit der kapitalistischen Erfahrungen für den Aufbau des Sozialismus betonte: „Wir stellen uns nicht anders den Sozialismus vor, als auf Grund aller Lehren der großen kapitalistischen Kultur.“ (Werke Band 15, Seite 244.) Was für den Aufbau der Wirtschaft gilt, trifft auch für den Bau der neuen proletarischen Kunst zu. Die Sowjetmacht hat das Theater, die Malerei, die Dichtung, das ganze Kunstgewerbe, das sie von der alten, von ihr zerschlagenen bürgerlichen Gesellschaft übernommen hat, nicht einfach vernichtet und zum alten Eisen geworfen, sondern hat sie übernommen, sich weiter entwickeln lassen, hat es in den Dienst des Proletariats gestellt und in neue Wege geleitet. So sehen wir, daß das russische Theater unter der Sowjetmacht, an der Spitze der gesamten Europäischen Bühnenkunst marschiert. Wenn das Theater Meyerhold kein proletarisches Theater ist, so steht es in seiner Kunst dem Proletariat doch nahe. Dabei: das Künstlerische Theater „Tairoff“, ja die alte hebräische Bühne „Habima“ – alle diese Kunstbestrebungen würden auch die Zierde jedes bürgerlichen Staates bilden. Sie finden die größtmöglichste Förderung seitens der Arbeiter- und Bauernregierung- sie entfalten sich frei im proletarischen Staate, und wenn sie ihrem Inhalt nach jetzt nicht direkt dem Proletariat dienen, so werden sie als fortschrittlicher Faktor in die Gesamtkultur des Proletariats an der Macht eingehen.
Aus Sowjetrußland kommen bereits die ersten literarischen Werke, die aus dem Schoß der Revolution geboren sind. Es sei hier z.B. auf den Roman von Gladkow „Zement“ hingewiesen, ein Werk der Revolution. Sowjetrußland hat gerade in der Literatur neue Formen aufzuweisen, die nur im proletarischen Staate möglich sind. Außer der proletarischen Presse der Arbeiterkorrespondeten, die in der Sowjetunion einen ausschlaggebenden Faktor des öffentlichen Lebens darstellen, sei noch auf die neue Form der Journalistik hingewiesen, wie sie im Sosnowsky, Kolzow, Soritsch usw. vertreten ist. Das sind die „Feuilletonisten“, die nicht nur „dichten, sondern die zugleich in das soziale Getriebe eingreifen und aktiv mitwirken.
Die russische Revolution hat gezeigt, daß die alte Parole aller „Kultursozialisten“: „Die Kunst dem Volke!“ – verwirklicht werden kann, und zwar nur verwirklicht werden kann – durch die Revolution.
In: Rote Fahne, 10.11.1926, S. 6.