Ludwig Meidner: An alle Künstler. Dichter. Musiker

Damit wir uns nicht mehr vor dem Firmament zu schämen haben, müssen wir uns endlich aufmachen und mithelfen, daß eine gerechte Ordnung in Staat und Gesellschaft eingesetzt werde.

             Wir Künstler und Dichter müssen da in erster Reihe mittun.

             Es darf keine Ausbeuter und Ausgebeuteten mehr geben!

             Es darf nicht länger sein, daß eine gewaltige Mehrheit in den kümmerlichsten, unwürdigsten und entehrendsten Verhältnissen leben muß, während eine Minderheit am übervollen Tisch vertiert. Wir müssen uns zum Sozialismus entscheiden: zu einer allgemeinen und unaufhaltsamen Vergesellschaftung der Produktionsmittel, die jedem Menschen Arbeit, Muße, Brot, ein Heim und die Ahnung eines höheren Zieles gibt. Der Sozialismus muß unser neues Glaubensbekenntnis sein!

             Er soll beide erretten: den Armen aus seiner Schmach der Knechtschaft, der Dumpfheit, Rohheit und Gehässigkeit – und den Reichen will er vom erbarmungslosesten Egoismus, von seiner Habgier und Härte erlösen für immerdar.

             Uns Maler und Dichter verbinde mit den Armen eine heilige Solidarität! Haben nicht auch viele unter uns das Elend kennen gelernt und das Beschämende des Hungerns und materieller Abhängigkeit?! Stehen wir viel besser und gesicherter in der Gesellschaft als der Proletar?! Sind wir nicht wie Bettler abhängig von den Launen der Kunst sammelnden Bourgeoisie!

             Sind wir noch jung und unbekannt, so wirft sie uns einen Almosen hin oder läßt uns lautlos verrecken.

             Wenn wir einen Namen haben, dann sucht sie uns durch Geld und eitle Wünsche vom reinen Ziele abzulenken. Und wenn wir längst im Grabe, dann deckt ihr Protzertum unsere lauteren Werke mit Bergen von Goldstücken zu. – Maler, Dichter, Musiker, schämt euch eurer Abhängigkeit und Feigheit und verbrüdert euch dem ausgestoßenen, rechtlosen, gering bezahlten Knecht!

             Wir sind keine Arbeiter, nein. Rausch, Wonne – Verglühen ist unser Tagewerk. Wir sind leicht und wissend und müssen wir Führer-Fahnen vor unsern schweren Brüdern wehen.

             Maler, Dichter….. wer sonst sollte für die gerechte Sache kämpfen als wir?! In uns pocht noch mächtig das Weltgewissen. Die Stimme Gottes in uns facht immer von Neuem unsere Empörerfäuste an.

             Seien wir auf der Hut!

             Wird nicht schon morgen wieder die Bourgeoisie die Staatsgewalt in ihre Hände reißen durch Putsche, Bestechung und skrupellose Wahlpraktiken? Wird dieses neue Deutschland der herrschenden Bourgeoisie nicht noch unverschämter menschliche Arbeitskraft ausnützen, den Armen noch brutaler ducken? Wird es nicht in allen geistigen Dingen noch arroganter und frecher triumphieren wollen, als es je das kaiserliche Deutschland getan?!

             Denn dieses, mit seiner aufgetakelten Macht von Kanonen, Kasernen und Eisenschiffen, ABC-Schulen, Polizisten und falschen Pfaffen, war zu plump und träg und unwissend, um ernsthaft in den Bezirken des Geistigen großen Schaden anrichten zu können. Wo aber der despotische Bourgeois aufkommt – wo der in den edlen Räumen des Geistes mit seiner wüsten Tatze hintritt – da wächst kein Gras mehr nach.

             Maler, Dichter! Scharen wir uns mit unseren eingeschüchterten wehrlosen Brüdern um den Geist!

             Der Arbeiter achtet den Geist. Er bemüht sich mit kräftigem Eifer um Erkenntnis und Wissenschaft.

             Der Bourgeois ist ehrfurchtslos. Er liebt nur Spielerei und ästhetisch verbrämte Stupidität und haßt und fürchtet den Geist – denn er fühlt, daß er von ihm entlarvt werden könnte.

             Der Bourgeois kennt nur eine Freiheit, seine eigene – d.h. die Anderen ausbeuten zu können. Das ist der bleiche Terror, der geht schweigend und Millionen sinken hin und verwelken früh.

             Der Bourgeois kennt keine Liebe – nur Ausnutzung und Übervorteilung.

             Auf, auf zum Kampfe gegen das häßliche Raubtier, den beutelüsternen, tausendköpfigen Kaiser von morgen, den Gottesleugner und Anti-Christ!

             Maler, Baukünstler, Skulptoren, denen der Bourgeois hohe Löhne für eure Werke zahlt – aus Eitelkeit, Snobtum und Langeweile – höret: an diesem Gelde klebet Schweiß und Blut und Nervensaft von tausend armen, abgejagten Menschen – höret: das ist ein unreinlicher Gewinn.

  • Ach, wir wollen ja nur leben können und unsere Werke tun zum Preise Gottes!

Maler, Dichter und alle Künstler, alle aufrichtigen Freunde der Künstler, Kameraden

alle; wir müssen uns stark machen: es geht um den Sozialismus. Wir wollen keinen blutbefleckten Lohn mehr. Wollen frei sein, zu unserer und der Menschheit Lust uns hinströmen.

             Kameraden, höret weiter: wir müssen Ernst machen mit unserer Gesinnung. Wir müssen uns der Arbeiterpartei anschließen, der entschieden unzweideutigen Partei. Wir müssen wahrhaft sozialistische Kämpfer werden, den Brüdern helfen, den Bürger stellen und brandmarken, wo wir ihn treffen. Wir müssen uns unter die Armen mischen, belehrend wirken, unterrichten, aufklären, anfeuern, eifern, hetzen, schüren und wenn die Stunde kommt – mit angetreten in Reih und Glied gestellt – mit der Flinte gegen den Feind – O, einen blutheißen Leiberwall der Herzen und Geister gegen den Feind!

             Ich bin organisierter Sozialdemokrat gewesen seit fünfzehn Jahren, aber ich habe die Jahre nutzlos vertan, die Zeit vertrödelt, verträumt. Nun muß ich mich in Gewühle stürzen, meine Liebe, meinen Haß zu verströmen, wie mein Blut! – O, entfachte einen nimmersatten Haß – um der Gerechtigkeit willen schüret diesen Haß in euch.

             Was nützt uns Reichtum und üppiges, parasitäres Schwelgen?! Ist’s nicht der Ruin eines jeden Talentes gewesen? Wie habt ihr Maler vor dem Kriege gepraßt und gesoffen und hirnlos eure Kraft verpufft!! Machet euch frei, so weit es geht, vom gleißnerischen Bourgeois. Und nicht mehr scharwenzelt in der Salons und die reichen Schmarotzer umwedelt. Arm sein mit den Armen! Die Hauptsache, es reicht auf den Suppen- und Farbentopf.

             Jetzt heißt es: Emanzipation der Arbeiterklasse. Aber auch: Emanzipation der Künstler und Dichter. Wir wollen keine Spaßmacher mehr sein für die gute Verdauung der reichen Narren, Snobs und Fanfarons!

             Hinan, hinan! auf die Tribünen – auf die Bastionen der kommenden Menschheit: für Menschenwürde, Menschenliebe, Gleichheit und Gerechtigkeit. Ja, wir sind alle gleich. Vom einen Ursprung sind wir ausgeschickt. Wer will sich über seinen Bruder erhöhen?!

             Entschließen wir uns zum Menschheitskampfe, wir Maler! Wir werden einen herrlichen Gewinn davontragen –: unser Werk wird tiefer werden, die Linien edler, das Pathos sublimer. Denn die Werke sind immer aufs Haar Ausdruck unseres Denkens und Tuns. Wir müssen unsere Trägheit meistern, uns anschließen den kämpfenden sozialistischen Reihen. O, uns leite an diesem dunklen Tag die göttliche Stimme: Gerechtigkeit und Liebe.

             Mit Leib und Seele, mit unseren Händen müssen wir mittun. Denn es geht um den Sozialismus – das heißt: um Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit und Menschenliebe – um Gottes Ordnung in der Welt.

In: Der Anbruch, H.1/1919, o. S. [1]

Max Brod: Die Generation des Krieges (1928)

1918, 1928 – wir befinden uns in Erinnerungsluft, die durch das Dezimalsystem bestimmt wird. Die Frage, welche Generation durch den Krieg am meisten gelitten hat, drängt sich inmitten verschiedenartiger Jubiläen und Reminiszenzen auf.

Das Schlimmste hat zweifellos die Reihe von Jahrgängen erlebt, die im Feuer gestanden ist. Viel beklagt wurde auch das Los derjenigen, die knapp nach dem Krieg zur jugendlichen Entfaltung kam – das heißt: nicht kam, denn das Nachkriegschaos betrog sie um das wahre Freudenlicht der Jugend, machte ihren Lebensanfang zu einem abnorm schweren, ja kaum zu gewinnenden Krieg.

Von diesen beiden Generationen wurde schon viel geschrieben und gesprochen. Das Schicksal der Nachkriegs-Jugendlichen stand eine Zeit lang im Vordergrund literarischer und pädagogischer Diskussion. Wenig beachtet wurde eine dritte, ältere Generation: die, welche bei Beginn des Krieges eben fertige Männer geworden waren, die ihr Weltbild und ihre bürgerliche Position eben in den Grundzügen festgelegt hatten – und dann kam der Krieg und warf alles um.

Es sind die Menschen, die heute vierzig Jahre alt oder etwas älter sind. Dem Buchstaben nach. Faktisch sind sie viel älter, steinalt. Sie sind schnell gealtert. Denn sie haben zu viel erlebt. Ihre Entwicklung wurde gewaltsam zerbrochen. Sie näherten sich gerade der Höhe des Menschenlebens, festigten ihre Anschauungen, rangen um Klarheit auf einem ganz bestimmten Weg. Auf einmal war der ganze Weg falsch. Ungeheuerliches geschah. Es mußte von vorn angefangen werden. Und zwar nicht in ganz jungen Jahren, in denen man gern täglich ganz von vorn anfängt. Sondern in einem späteren Zeitpunkt, in dem man nur noch mit Anstrengung, ganz ernsthaft, ganz aus der Tiefe her zu revidieren vermag.

Im geistigen Sinne hat der Krieg diese Generation am schwersten getroffen. Denn er hat sie in ihrer Vollreife getroffen. Man kann daher die Generation der heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen im wahrsten Sinn die „Generation des Krieges“ nennen.

Daß sie selbst nicht allzu viel Aufhebens damit machen, nicht so laut schreien wie die Nachkriegs-Jugendlichen: das gerade ist das charakteristische Merkmal und führt schon mitten ins Krankheitsbild dieser Generation hinein. Sie fürchtet sich nämlich, alt zu erscheinen. Sie will krampfhaft jung bleiben. (Analogon: heutige Frauenmode.) Sie ist widerstandslos gegen alles Neue, macht glatt jede aktuelle Konvention mit. Nur möge man um Gottes willen nicht auf den Gedanken kommen, daß die Elastizität dieser Halb-Alten nachlasse und auch nur um eine Gran hinter dem zurückbleiben, was das sogenannte Tempo der Zeit fordert! Früher war man bockbeinig, starrsinnig. Der seltsame Bruch, den der Krieg in den Geistern der „Kriegsgeneration“ angerichtet hat, zeigt sich darin, daß sie bereitwillig jedes neue Diktat annehmen. Nie sind literarische, malerische Moden so schnell vorbeigerauscht wie jetzt. Dem Naturalismus folgte eine wilde Expressionismus-Woge. Man wollte die Dinge nicht mehr sehen, nur sich selbst, das eigene autonome Gefühl. Jemandem sagen, daß er mechanistisch denke, rational und analytisch vorgehe, war (man lese das etwa bei Rathenau nach) ärgste Beschimpfung. Mit einemmal wird die Betonung des freien unkonstrollierbaren „Ich“ von der Unterstreichung des „Es“ abgelöst. Das Individuelle und Irrationale gilt als erledigt. Kollektiv, mechanisch, rational, sachlich – vor wenigen Jahren Schimpfworte – sind jetzt Ausdrücke höchster Lobeskritik. Nicht daß der Geschmack, das Schlagwort wechselt (der wahre Strom der Dichtung zieht und zog ohnehin immer weit fern von solcher Schlagwortschlacht), – sondern daß der Wechsel so schnell, so kampflos vor sich geht, in so weichem, gegenseitigem Einvernehmen, das ist das Bemerkenswerteste – und ist die Schuld der „Generation des Krieges“, die feig und resigniert, im Innersten gebrochen kein Beharrungsvermögen aufbringt, die nach jedem Lüftchen auslugt, ausfühlt, um sich nur ja recht augenblicklich danach umzustellen. Fragte man diese Menschen aber auf Ehre und Gewissen, wo ihr eigentlicher Ernst liegt, – so fände man ihn nicht in diesen flüchtigen spielzeughaften Moden, sondern in einer eigenartigen Bewußtseinsspaltung. „So war es vor dem Kriege – so ist es jetzt“ – das sind die beiden Kategorien, mit denen sie denken. Wer heute zwanzig Jahre alt ist, ja selbst der Dreißigjährige hat kein Bild der scheinbar festgegründeten Ordnung, in der jene aufgewachsen sind, in der sie sich bis zu einer gewissen, schon durchaus profilierten Geisteshaltung entwickelt haben. Er hat diese Ordnung (und konnte sie mit gutem Grund) vergessen. Aber der Mann von vierzig Jahren – er, das eigentliche Kriegsopfer im geistigen Sinne – überall Vergleichsmöglichkeiten haben, jedes Ding in zwei aufschlitzen, in den Zustand „vor dem Krieg“ und „nachher“ – es gehört schon unendlich viel Nervenkraft und Charakterstärke dazu, um nicht in allgemeine Skepsis, in den müden Glauben an die Relativität aller Dinge unterzutauchen. Die besten dieser Generation haben in dieser Gefahr, die sie genau sehen, eine besondere Wachheit erlangt, an der sie einander gegenseitig erkennen. Außerhalb dieses strengen Geheimbundes plätschern die Karrieristen, die Immer-Zeitgemäßen, die auf jung und aktuell geschminkten Kriegsinvaliden des Geistes, die jede neue geistige Bewegung im Moment mitmachen, weil ihnen im tiefsten Grunde durch die eine große Bewegung, die sie wirklich mitmachen müßten, durch den Kriegsbruch ihrer Erfahrung alle anderen noch zu machenden Erfahrungen lächerlich unwichtig und gleichgültig geworden sind.

In: Prager Tagblatt, 8.7.1928, S. 5.

W [Victor Wittner? ]: Valuta und Prostitution. (1920)

Wer mit Sorge in die Zukunft unseres Vaterlandes blickt, den mag die wirtschaftliche Not, die auf uns lastet, fast noch weniger beängstigen als der sittliche Niedergang der Wiener Gesellschaft, der sich mit trauriger Offenkundigkeit vollzieht. Die Angehörigen der Wiener Mittelschichten wissen insgesamt, daß sie nicht leben können – und sie leben dennoch. Sie wissen, dass sie selbst und ihre Nachbarn und ihr ganzer Bekanntenkreis von dem bürgerlichen Einkommen, das sie haben, schlechterdings nicht die notwendigsten Bedürfnisse bestreiten können und dennoch geht man gleichmütig aneinander vorbei, begrüßt sich, seufzt ein wenig über die schlechte Zeit, ist aber noch leidlich anständig gekleidet und ist, statt nach allen Gesetzen der Logik zu verhungern, bisher auf rätselhafte Weise am Leben geblieben. Jeder ist für seinen Nachbarn ein Rätsel: Wie existiert der Mensch mit seiner Familie? Und jeder betrügt den Nachbar und umgekehrt. Sie betrügen einander mit geputzten, frisch aufgebügelten, gewendeten Kleidern, mit übermäßig gebürsteten Hüten, mit Stiefeln, die so geflickt und gewichst sind, daß „man es nicht merkt“. Es soll der Eindruck erweckt werden, daß man’s noch aushält, daß man noch Reserven hat. Ein namhafter Teil des Wiener Bürgertums – und nicht der schlechteste – sucht auf diese Weise mit äußerster Kraftanstrengung zu verbergen, daß er bereits proletarisiert ist. Ein anderer Teil freilich hat nichts zu verbergen, sondern zeigt ganz offen, daß es ihm gut geht. Das sind die Leute, die in ihren Geschäften betrügen und daraus die Mittel ziehen, in ihrem gesellschaftlichen Auftreten ungeniert zu protzen, während die anderen in ihrem Berufsleben rechtschaffen bleiben und daher als arme Teufel genötigt sind, zur Wahrung des sozialen Scheins mit umgedrehten Hemdkragen und ängstlich konservierten Bügelfalten zu hochstapeln. Diese verhältnismäßig unschuldigste Betrugsform wird von anderen Formen im privaten wie im geschäftlichen Leben hundertfach überboten.

Im Wiener Handel, besonders im Kleinhandel, haben wohl seit jeher ein wenig orientalische Usancen geherrscht. Aber eine so schamlose Willkür der Preisbestimmung, eine so souveräne Verachtung aller Gesetze einer soliden kaufmännischen Kalkulation, eine so brutale Vergewaltigung der wehrlosen Kundschaft, ist noch niemals dagewesen. Waren schon während des Krieges die herkömmlichen Bezugswege und Preisberechnungsmethoden außer Gebrauch gekommen, so hat der Kurssturz der Krone im letzten Jahre die kaufmännischen Traditionen vollends begraben. Nun gibt es keinen Halt mehr. Das Offert von gestern stimmt morgen nicht mehr – wozu also überhaupt kalkulieren? Man bezieht die Waren, man weiß nicht woher, man verkauft sie, man weiß nicht wohin, die Herkunfts- und Absatzbeziehungen sind verändert und ändern sich mit jedem neuen Tag, und so wird der Handel zum Glückspiel, in dem sich der Händler die Gewinste selber zumißt. Jeder Geschäftsabschluß ist eine Trefferziehung. Kann man sich über die Ausschreitungen der Börsenspekulation wundern, da der sogenannte solide Handel täglich die gleichen Ausschreitungen begeht? Jeder Warenpreis ist gegenwärtig ebenso willkürlich und aus der Luft geholt, wie die Börsenkurse. Man kann mit Tuch, Messing, Holz oder Zucker geradeso „spielen“, wie mit Skoda oder Alpinen.

Die Börse ist nur der für alle Welt offene Markt, während man bei den anderen Warenmärkten doch irgendwie Anrainer sein muß. Freilich genügt auch eine sehr entfernte Anrainerschaft. Es gibt Spezereiwarenhändler, die mit Telegraphendraht und Optiker, die die mit Stiefelsohlen Handel treiben. Keiner bleibt auf dem geraden Wege seines Berufes. Vor den obersten bis in die untersten Schichten hinab sucht jeder eine Nebenbeschäftigung, die möglichst mühelosen Gewinn abwirft und wird der ruhigen Übung und hergebrachten Ehrbarkeit seines eigentlichen Berufes entfremdet. Die Korruption ist tief in das öffentliche Beamtentum, noch viel tiefer in gewisse Kreise des Privatbeamtentums eingedrungen. Mann verkauft die Machtbefugnisse oder die vertraulichen Kenntnisse des Amtes. Aus allen Finanzinstituten heraus wird ein schwunghafter Handel mit Börsentipps getrieben. Die „Wissenden“ florieren. Kleine Bankbeamte geben ihre Gehälter als Trinkgelder an die Bureaudienerschaft ab, weil ihnen das Börsenspiel gestattet, auf größtem Fuß zu leben. Auf den Gängen der Bankgebäude treiben sich Schleichhändler herum, die hier für die erlesenste Ware leichten Absatz finden. Wie dieses Treiben auf die zahlreich weibliche Angestelltenschaft der Bank und der Kaufmannshäuser wirkt, braucht nicht gesagt zu werden. Die Sitten der Wiener Weiblichkeit von heute sind ein Kapitel für sich, wohl das schmerzlichste von allen. Wenn man die Preise auch nur der mittleren, der durchschnittlichen Konfektionsware in Rechnung zieht und auf der Straße die Kleider und Schuhe der jüngeren und reiferen Damenwelt mustert, so weiß man genug. Und wer unsere zahllosen, täglich sich mehrenden und täglich überfüllten Bars und Konzertcafés kennt und dort Beobachtungen und statistische Berechnungen anstellt, wird zu Schätzungen der Wiener Prostitution aller Gattungen kommen, deren nüchterne Ziffern man lieber für grauenvolle Phantasie halten möchte. Nie und nirgends hat es Verhältnisse gegeben, in denen der bestimmende Einfluß des wirtschaftlichen Unterbaues der Gesellschaft auf ihren sittlichen Überbau so augenfällig geworden ist, wie in dem Wien unserer Tage. Wenn man in Springers österreichischer Geschichte nachliest, wie da die demoralisierenden Wirkungen des Staatsbankerotts der napoleonischen Kriegszeit geschildert werden, findet man eine schlagende Übereistimmung zwischen einst und jetzt. Nur daß die engen Verhältnisse des Wien von damals, der von Festungswällen eingeschnürten, in idyllische Dörfer hinausquellenden Weltstadt, jetzt ins riesenhafte vergrößert sind – vergrößert der Umfang des Schauplatzes, vergrößert die düstere Intensität des Sittenbildes. Mit dem Schwanken und Sinken des Geldwertes schwanken und sinken die Grundlagen, auf denen eine scheinbar selbstherrliche Kultur sich in Generationen aufgebaut hat. Die Zusammenhänge zwischen Valuta und Preiswucher, zwischen Valuta und Sittenverderbnis, zwischen Valuta und Prostitution liegen für jeden, der sehen will, klar zutage.

Auch der Verwalter unser[er] Staatsfinanzen müßte dafür ein offenes Auge haben. Jeder Schritt, den er täte, um unseren Geldwert zu festigen, brächte uns auch der sittlichen Gesundung näher: jeder Schritt, den er unterläßt, bedeutet ein tieferes Hineintauchen in den Sumpf der Verkommenheit. Niemals hat ein österreichischer Ressortminister eine schwerere materielle und moralische Verantwortung getragen.

In: Der Morgen. 19.1.1920, S. 5.

Gisela Berger: Die Schicksallosen.

             Zu den vielen Tausenden wandeln sie heute umher, die Peter Schlemihle im weltpsychologischen Sinn, die gleichsam keinen Schatten des Schicksals werfen. Ein ganzer generationaler Typus der letzten Neuzeit ist dies, der durch das Leben hinirrt, hingaukelt, sinnlos, planlos, grundlos, glücklos, leidlos, charakterlos – und schicksallos. Eine Art von Larven- und Lemurengeschlecht, dem das rote Blut des Lebens abhanden kam.

             In der Tat ist es eine sonderbare psychologische Wahrnehmung, die bei näherem Hinblick rings sich aufdrängt. Es gab niemals so wenig Schicksal in der Welt wie heute. Oder eigentlich nie so wenige Menschen, die ein Schicksal haben. Oder – um mit einer paradoxen Antithese das Unverständliche verständlich zu machen: Es gab nie so viele Menschen, die – ihr eigenes Schicksal nicht haben. Die ihr eigenes Erleben nicht erleben. Und ihr eigenes Lebensresultat nicht repräsentieren.

             Das Schicksal ist die Reibung der Persönlichkeit mit der Welt. Die heutige Zeit aber ist eine Zeit des Debakels der Persönlichkeit. Eine Zeit, die im Zeichen der Feindschaft der Persönlichkeit steht, deren Einflüsse und Strebungen die Persönlichkeit zersetzen, zerstümmeln und negieren, und die selbst dort, wo sie anscheinend die Persönlichkeit sucht und ersehnt, sie in unbewußt elementarer Abneigung verwirft, sobald sie sie findet. Denn alle Prinzipien und Charaktere der heutigen Zeit laufen jener festumschlossenen und eigenrichtigen Erscheinung zuwider, die man Persönlichkeit heißt. Wie durch den großen sozialen Makrokosmos der Welt, so geht parallel durch den inneren Mikrokosmos des Menschen jene tiefe, allgemeine Umsturztendenz, die alles eigenstehende Kunstwerk des Daseins aufheben, egalisieren und auflösen will und alle große Dominante des Lebens in Vielheit zerreißt. So wird auch hier das Königtum jener inneren Wesensprägung, die man Persönlichkeit nennt, als eine überlebte, unmoderne und unzweckmäßige Institution von ihrem Piedestall herabgestürzt, um einer gleichberechtigten Demokratie der Triebe, Sinne und Neigungen Platz zu machen, die bloß von der Vernunft, Zwecknutzen und weitmaschigstem bürgerlichen Ehrbegriffe nachsichtig und schlaff geleitet wird.

             Konjunktur, wie dieser, gleich einer handschweißferttigen Banknote von allen schmutzigen Fingern abgegriffenen Terminus technicus heiß, der heute, über sein zu Recht ihm gehörendes Gebiet des Geschäftslebens weit hinausreichend, schamlos den gemeinsten Betrachtungsgesichtspunkt für alle größten und kleinsten Dinge des Lebens bestimmt – Konjunktur ist heute die Parole der ganzen Welt geworden bis in ihr tiefstes sittliches Wesen hinein. Man stirbt nicht mehr für eine Sache. Man folgt ihr bis zum Höchstkurs empor, schlägt sie los mit Tausendgewinn und dient einer andern. Heute schwindet aller unbedingter Wert in der Welt. Konjunktur ist alles, und die heimliche Kursziffer steht auf der händlerisch gewordenen Menschheit heiligsten Güter. Zweidimensional ist der Mensch von heute geworden. Das Stereoskopische fehlt ihm, das er durch das Tiefmaß der Ethik allein erhält. Ein Flachbild ist er, eine Silhouettengestalt, nach Höhe und Breite nur ausgedehnt, und eine Lüge, eine Illusion, ein Nichts in die Tiefenausdehnung hinein. Charakterlos darum und schicksallos. Denn Schicksal ist dort wo Unbedingtheit ist. Der ganze Mensch ist der Mensch von heut‘, der sich selbst verlacht, aber ohne Genialität. Nicht, weil er über sich selbst steht, sondern weil er nicht einmal zu sich selbst hinanreicht und darum nur Seinsmöglichkeiten in jener inhaltslosen Selbstbezweiflung findet, die das Ingrediens der phantasielos skeptischen Weltanschauung der heutigen Tage ist.

             Aus dem Echtmenschen ist ein Imitationsmensch geworden, eine Art von künstlichem Fälschungsexemplar, ein Homunkulus, der nur die Geste des Lebens tappt. Der anstatt der Tat nur die Gebärde hat, anstatt der Gesinnung das Wort, anstatt des Herzens die Gier der Eitelkeit und anstatt des Blutes das Geld. Ein Popanz, eine Puppe ist dieser allgemein gütige und in Umlauf befindliche Mensch, der keine Schicksalslinie in der Hand trägt, der schicksallos ist, weil ihm die tiefere Identifizierung mit der Welt und mit sich selber abgeht.

In: Wiener Zeitung, 25.8.1920, S. 3.

Paul Szende: Der Schieber als Sinnbild der heutigen Wirtschaftsordnung.

             Der Schieber ist ein Kriegsprodukt und verdankt sein Dasein der Warenknappheit. Er überdauerte den Zusammenbruch, die Revolution und Gegenrevolution, trug zuletzt einen glänzenden Sieg über die bolschewikische Theorie in Rußland davon. Er behauptet sich trotz Verachtung, Schlagworten und Gesetzen überall. Was sind die geistigen Fähigkeiten dieser Menschengattung? Worin besteht ihre Überlegenheit? Versuchen wir dies festzustellen.

1. Schnelle Anpassungsfähigkeit.

Der Schieber war und ist der Registrierapparat der Konjunktur, der alle Bewegungen des wirtschaftlichen Körpers genauest aufzeichnete und augenblicklich verwertete. Er ist in jeder Branche zu Hause, keine Ware entgeht seiner Aufmerksamkeit. Ebenso blitzartig ist seine politische Anpassungsfähigkeit. Obzwar er für die alte Ordnung schwärmt, das Schwinden der hergebrachten Autorität und Disziplin beklagt, findet er sich in alle politischen Systeme hinein; ob Monarchie oder Republik, Reaktion oder Demokratie, er ist in allen Sätteln gerecht, er liefert ebenso gern für Horthy wie für die russische Sowjetrepublik.

2. Rücksichtslosigkeit und Grausamkeit.

Doch gleicht diese Anpassungsfähigkeit mehr der des Aasgeiers, der in der höhe schwebend den Kadaver mit Scharfblick erforscht und sich in blitzschnellem Sturzflug auf ihn wirft. Der Schieber war im Kriege der Frontkämpfer des Hinterlandes, und er führt den Stellungskrieg gegen die konsumierende Bevölkerung ohne die Gefahren des Frontdienstes noch immer fort.

3. Intuitive Erfassung der Eigenart der neuen Wirtschaftsordnung.

Der Schieber hat sofort nach dem Kriegsausbruch erkannt, daß die Zurückhaltung der Waren – im Frieden nicht nur ein gegen das öffentliche Wohl verstoßendes, sondern zugleich privatwirtschaftlich unökonomisches Verhalten – die ausgiebigste Quelle großer Gewinne sein kann. Die Störung des Gleichgewichtes zwischen Produktion und Verbrauch, zwischen Einfuhr und Ausfuhr dauert noch heute in den besiegten Ländern unvermindert an. Ebenso intuitiv hat er erschaut, daß seit dem Kriege die Epoche des risikolosen Geschäftsganges hereingebrochen ist; derjenige, der von seinen Skrupeln getrübt ist, kann sein Geschäft ohne Wagnis führen. Das ist eben der springende Punkt, denn das geschäftsmäßige Risiko liebt der Schieber ebensowenig wie der Teufel den Weihrauch.

4. gründliche Kenntnis der staatlichen Machtverteilung und des politischen Getriebes.

Die Schieber wurden sich sofort dessen bewußt, daß in dem bestehenden Klassenstaat das System der Zentralisation, der Höchstpreise und der Rationierungen naturnotwendig zur Korruption führen wird. Sie wußten, daß alle diese Gesetze und Verordnungen auf dem Papier bleiben müssen, da ihre ehrliche und rücksichtslose Durchführung in erster Linie die Interessen derjenigen mächtigen Faktoren schädigen müßte, die in jedem Staat über die Gesetzgebung oder die Verwaltung verfügen. Sie legten daher ein sorgfältig durchdachtes, sogar geniales Kanalnetz der Korruption an, in welches von allen Seiten die Waren hineinströmten.

5. Gefühl der Sicherheit.

Dieses Gefühl stammt von der Feststellung, daß alle führenden Schichten an der Kriegskonjunktur in vollstem Maße teilgenommen haben. Die Schieber hätten niemals ihr Werk verrichten können, wenn nicht die „legitimen“ Agrarier, Industriellen und Kaufleute ihnen die Waren zugeschoben, zur Verfügung gestellt hätten. In dieser Gesellschaft hatten sie nichts zu befürchten.

6. Gefühl der Unentbehrlichkeit

Ohne den Schieber wären diese vornehmen Klassen nicht imstande gewesen, die Kriegs- und Nachkriegskonjunktur gehörig auszunützen. Ihre Tätigkeit ist mehr kontrollierbar, die öffentliche Aufmerksamkeit ist zu sehr auf sie gelenkt. Das Schiebertum ward in ihren Händen zu einem willkommenen Instrument, das sie den Heiligenschein wahren ließ und doch die Teilnahme an der Konjunktur gewährte.

8.  Der Schieber ist ein überlegener Lebensphilosoph.

Er durchschaut das ganze wirtschaftlich-politische Gewebe, ihm sind alle Geheimnisse erschlossen. Er nützt die Heuchelei und Doppelmoral der herrschenden Klassen zum eigenen Nutzen aus. Den Vornehmen gegenüber, welche dasselbe Geschäft, nur verschämt, betreiben, empfindet er einen gewissen Stolz. Er weiß, daß diese von ihm durchaus nicht entzückt sind, denn das unverhüllte Treiben des Schiebertums bringt dem Publikum zu sehr vor die Augen, wie die großen Vermögen entstehen, wie unbeschränkt die Ausplünderungen der Wehrlosen vor sich gehen kann. Er lächelt verständnisvoll und duldet, daß er als Sündenbock hingestellt wird, doch läßt er sich dafür hohe Entschädigungsprämien zahlen, selbstverständlich nicht von seinen Dienstgebern, sondern von der konsumierenden Bevölkerung.

In: Arbeiter-Zeitung, 9.5.1922, S. 5.

Stefan Großmann: Sprung nach Wien

Nachdem man einen Tag im Eisenbahnwagen verbracht hat, wird man in Passau aus dem Kupee getrieben, die ganze Herde der Reisenden muß auf der Treppe der Überquerung des Bahnhofs eine Stunde lang, mit Koffern und Taschen, frierend hocken. Oben wird der Stall durch eine Kette abgesperrt, die ein Schutzmann von Zeit zu Zeit öffnet. Dann darf eine kleine Bande hurtig ins Zimmer der Zollbeamten laufen, um sich abtasten zu lassen. Es ist die kläglichste Mißhandlung durch den Staat, die man sich denken kann. Täglich lassen sich dreihundert Leute diese Malträtierung gefallen. Es ist nicht angenehm, von der bayrischen Seite den Anschluß an die österreichische zu finden, es ist die menschenunwürdigste Art des Anschlusses, die man sich vorstellen kann. Aber was läßt sich der Deutsche nicht alles vom Staate gefallen? Nur wird im stillen ein theoretisches Aufblitzen von Staatsfreudigkeit durch so rohe Methoden des Herdenbesitzers Staat zerstört.

             Aber am Nachmittag ist man in Wien und alle Schmach ist vergessen.

                                                      Billardspieler.

             Sonntag vormittags bummelte ich durch sie Alserstraße. Regnerischer Tag. Die Kaffeehäuser schon jetzt vor dem Mittagessen überfüllt. Und in jeder größeren Straße zehn, zwölf Kaffeehäuser. Überall Leute, die Zeit haben, zu lesen, zu rauchen, Bilder anzusehen, zu plauschen. Hier wird noch Billard gespielt. In Berlin gibt es nur mehr ein einziges Café, in dem Billards stehen, Kerkau in der Friedrichstraße, aber das Billardspiel artet dort gleich in ein Turnier aus. Hier ist in jedem Café ein Billardsaal und erwachsene Menschen vertreiben sich viele Stunden damit, einen langen Stab in der Hand zu halten, ihn mit bläulicher Kreide an der Spitze einzusalben, sich über das Spielbrett zu beugen, auf ein paar weiße und rote Kugeln zu zielen und endlich loszustoßen. Wie viel Rast und Ruhe der Seele gehört zu diesem Spielgleichmut. Das ist ein Spiel ohne aufregenden Gewinn, ein Spiel ohne sportliche Leidenschaft, ein Spiel ohne nagende Berechnung, mit einem Wort: Nichts als ein Spiel. Nur sehr gelassene, nicht von Zwecken gehetzte Menschen sind solcher gleichmütigen Betätigung fähig. Man sollte auch in Berlin Billard spielen. Es wäre besessenen Menschen Medizin. Aber um es einzuführen, müßte die Polizei Billardzwang einführen, oder Ullstein müßte ein Sechstage-Billardspiel arrangieren. Daß erwachsene Menschen freiwillig stundenlang mit einem Stab dastehen, ihn einsalben, Kugel zu Kugel stoßen, dem Partner aufmerksam zusehen, über jeden Stoß Aufzeichnungen an der schwarzen Tafel machen, den Stab wieder bekreiden, wieder zu zielen, stoßen… eine besessene Berliner Betriebsseele wäre dazu nicht imstande.

                                                      Breitbartspiel.

Die Erwachsenen in Wien haben sich seit Monaten nur mehr mit Breitbart beschäftigt. Das ist ein junger galizischer Schlosser von ungeheurer Kraft. Er zerdrückt schwerste Eisenketten mit den Zähnen, zerdrückt Hufeisen in der Hand, trägt auf dem eisernen Brustkasten ein Auto mit Menschen.

Ich komme zu Freunden. Im Kinderzimmer heilige Stille. Was ist denn los? Warum schreien die Bälger nicht? Besorgt treten wir ein. Da liegt die fünfjährige Erica auf dem Boden. Auf ihrer Brust das Reißbrett des großen Bruders. Und auf dem Reißbrett stehen, eng beieinander, das achtjährige Brüderchen, der neunjährige Freund des Bruders und die dreijährige Schwester. Im ersten Augenblick fahre ich entsetzt zurück, aber mein Freund, der Vater der Bande, lächelt: „Es sieht nur bedrohlich aus. Die Kinder haben das oft erprobt. Erica spielt Breitbart.“

                                                      Aussichten.

In einer Zeitung veröffentlicht der frühere Bundeskanzler Schober, der jetzt Polizeipräsident von Wien ist, eine Erklärung, worin er die Nachricht, daß er Bankpräsident werden soll, entschieden berichtigt. „Wenn ich einmal zurücktrete, so gedenke ich mich wissenschaftlichen Arbeiten zuzuwenden. Ich werde, da ich kein Vermögen besitze und – mein Ruhegehalt zum Lebensunterhalt nicht ausreicht, wahrscheinlich auch schriftstellerisch tätig sein.“ Wie spartanisch, wie edel in der Armut. Krieger, die invalid wurden, betätigen sich als Werkelmänner. Ministerpräsidenten, die in Pension gehen, werden Schriftsteller. Dazu langt’s immer noch.

                                                      Auslagefenster.

Von allen Auslagenfenstern die schönsten sind immer die der Blumenläden. Ich stehe vor einem Geschäft in der ….gasse. Rosen, Flieder, Alpenschneeglöckchen, Zyklamen, blühende Weidenäste. An den Wänden hängen kleine Holzschnitte und Photographien sehr schöner Frauen. Ich weiß nicht, ob es wirklich so viel mehr schöne Frauen in Wien gibt als anderswo, jedenfalls gibt es hier sehr viel mehr schöne Photographien sehr schöner Frauen. Und es ist reizend, diese Bilder unter den blühenden Zweigen aufzuhängen. Unter dem Holzschnitt ist mit einem Reißnagel ein kleiner Zettel befestigt: „Verkäuflich.“ Er ist ein bißchen unordentlich angebracht. Unzweifelhaft gilt der Zettel nur dem Holzschnitt. Aber die Hälfte des Zettels reicht zum Damenporträt hinüber. Nun, es ist jedenfalls ein verlockendes Auslagenfenster.

                                                      Hofapotheke.

             Sonntag nachmittag. Ausgestorbene Straße in der Inneren Stadt. Alle Läden geschlossen. Ich wollte doch abends meinen Freunden ein paar Flaschen Wein mitbringen. Zum Glück ist die Hofapotheke, gleich neben der alten Burg, offen. Ich trete in die hochgewölbten Hallen des alten Gebäudes. Sauberkeit, Geordnetheit, Spiegelblankheit der idealen Apotheke. Eine reizende, ebenfalls blinkende Dame fragt mich nach meinem Begehr. Ich verlangte drei Flaschen Muskateller. Ein Blick fliegt zu dem großen Glaskasten, in welchem der herrlichste alte Tokayer, wunderbarer alter Cognac, die reifsten ungarischen Weine ausgestellt sind: „Wählen Sie.“

             Während die Flaschen aus dem Keller gebracht werden, kann ich mich nicht enthalten, zu sagen: „Wie schön, daß Sie auch diese Heilmittel führen.“

             Die junge Dame erwiderte: „Man kuriert sich nicht nur mit Medizinen.“ Dazu ein sehr taktvolle, sehr liebenswürdiges, halbernstes Blick-Lächeln. Ich bin versucht zu sagen: „Auch ein freundlicher Blick kann heilen“, aber ich verschluck es. Man soll nicht alles zu Wort machen.

                                                                   Hofschauspielerin a. G.

             Nachts beim „Wiesenthal“. Das ist eine Art Heuriger für die Leopoldstadt. Nicht in Grinzig, sondern in der Nothgasse. Nicht unter freiem Himmel, sondern unter der Erde, ein Kellertheater. Es wird gesungen, Klavier gespielt. Lozzelachs werden erzählt. Der Chef ist Herr Wiesenthal, der mit der berühmten Grete keine Ähnlichkeit hat. Er ist etwas beleibter als Grete Wiesenthal, will aber auch nicht durch pagenhafte Schlankheit verführen. Er stammt nicht aus der Tänzerfamilie, eher aus der Familie Pallenberg, von dem er den aggressiven, deutlich höhnenden, den Hohn parodierenden Befehlston hat: He, Bürger! Wer hat vor Pallenberg gewagt He! zu krähen? Nun, Herr Wiesenthal ist ein wohlbeleibter Mann, der die Zuschauer beschmust. Vor und nach jeder Nummer erscheint er und wickelt die Zuschauer durch Anekdoten, Kalauer, vertrauliche Anreden ein. Er redet urwienerisch mit einem drolligen Einschlag jüdischen Jargons. Ein Fiaker, der seinen Standpunkt in der Tempelgasse hat. Es ist nur in der Ordnung, daß sein Lokal an der Grenze des Judenviertels steht, dort, wo der Leopoldstädter sich wienerisch zu assimilieren beginnt.

             In diesem unterirdischen Lokal tritt die berühmte Hofschauspielerin auf. Ich habe sie vor x-zig Jahren gesehen, damals kam sie gerade mit Kainz von einer russischen Reise zurück, die Hermann Bahr brillant beschrieben hat. Kaum zu schildern, wie jung und sprühend und schlank sie damals war. Jetzt tritt sie, von ehrfürchtigem Beifall umrauscht, um ein halb ein Uhr nachts auf die Pawlatschen, in schwarzem Spitzenkleid, heroischen Schrittes, das Haupt gen Himmel gerichtet, als müßte sie das Rauchtheaterpublikum übersehen, die Bewegungen der Arme tragisch-medeenhaft und die Stimme, diese sorgsam silbenrettende, langsam akzentuierende Stimme trägt ein vaterländisches Gedicht vor: Eine Palme wächst zu hoch. Die Palme ist Deutschland. Der Gärtner ist Gott. Es ist reinstes Burgtheater von heute. Die Verse Franz Nissels würdig, die Sprachkunst edelster Höbling, die Gesinnung würdigster Bodenstedt. Und das Publikum, das eben noch Wiesenthals Anekdoten belacht hat, klatscht begeistert in die Hände. Ja, das ist unser schönes altes Burgtheater. Dann singt die Hofschauspielerin zwei Niggerlieder. Ihre blanken Zähne glitzern, die dunklen Augen funkeln, die medeenhaften Armbewegungen verschwinden. Einen Moment muß ich an die sprühende schlanke Dame denken, die vor x-zig Jahren aus Rußland zurückgekommen ist. Es gibt ein Feuer, das nie erlischt. Vorausgesetzt, daß es einmal da war.

In: Der Tag, 22.3.1923, S. 3.

Walther Rode: Alte Reiche, neue Reiche.

             Da erscheint, niemand weiß woher, in einer fremden Stadt ein Mann, der sich eine Herrschaftswohnung mietet, ein glänzendes Bureau in einer Hauptstraße. Um ihn herum entsteht sofort Rummel und Geschäft; er verdient viel und gibt noch viel mehr aus. Eines Tages aber verschwindet der Mann ebenso plötzlich wie er gekommen ist, dem Schlittenfahrer vergleichbar, der in finsterer Nacht unter Geklingel, Pferdeschnauben und Scheinwerfern heranbraust und schon wieder vom Dunkel verschlungen ward. Ein Kobold kurzer Frist, der Menschen und Dinge durcheinander bringt, um dann spurlos unterzugehen.

             Seiner Unternehmung gebricht es an der Dauer, an jenem Willen zur Dauer, durch den allein erst den Existenzen des bürgerlichen Lebens Greifbarkeit, Echtheit, Persönlichkeit zukommt. Das Auftreten des Schlittenfahrers ist die Kontrasterscheinung zu den Gründungen für die ganz lange, Generationen umfassende Dauer. Der Schlittenfahrer kommt und geht, der gediegene Reiche ist tief verwurzelt. Namentlich bei schwerer See, in Zeiten des Krieges, des politischen Umsturzes, der allgemeinen Revolution muß seine Gründung die Überlebenskraft ihrer Anlage erweisen. Der Chef angesammelten Gutes, der auf zähes Leben gestellten Vermögensindividualität, ein Kapitän langer Fahrt, muß im Sturm eine Technik der Verteidigung anwenden, deren Eintagsvermögen, meistens selbst Kinder des Sturms, keineswegs bedürfen. Die der Person dienende Habe wird vom trauernden Reichtum auf Halbmast gesetzt, damit sie weniger lustig wimple im Äther des Klassenneides; eingezogen werden die Insignien überragender Größer: Dienerschaften, Rösser, Spielplätze. Ein emsiges Verstecken, Verschieben, Vertauschen hebt an, die kinetische Energie des Reichtums in geeigneten Kraftstationen der einstiger Wiederentfaltung zu reservieren.

             Heute kriechen sie wieder aus ihren Verstecken hervor, die soliden, auf Dauer berechneten Reichtümer. Bene vivebit, qui bene latuit. Der Sturm der empörten Volksseele scheint sich gelegt zu haben, die Geldleute sind wieder frech geworden. Wieder benützen sie den Schlafwagen, geben sich Rendezvous in Palermo, haben sie ihre Spazierritte im Prater aufgenommen. Nicht länger müssen sie dem lauten Genuß des Reichtums entsagen.

             Was sich in den ersten Jahren nach dem Umsturz breit gemacht hat, war die Totenparade der Schlittenfahrer. Sie hat dem zeitlichen Verschwinden des wirklichen Reichtums die Mauer gemacht. Während die harten Gulden irgendwo, entmaterialisiert, der Goldwerdung harrten, die reichen Leute von echtem Schrot und Korn nirgends zu sehen waren, zerstob unter Lärm und Gestank die Hauptsumme dessen, was der Schleichhandel mit Salvarsan oder mit Romanowrubeln eingebracht. Was aber in dieser Zeit für längere Dauer errafft wurde, für Generationen: der Raub des Ahnherrn, ist unter Vernichtung des Tatbestandes in die Erscheinung getreten, hat also schon bei seinem ersten Entkeimen die Verleugnungstaktik in schwerer Zeit eingeschlagen. Der Ahnherr hat in seinem Koffer holländische Gulden verstaut; den Weg aus seinem Kabinett in der Novarragasse ins Trocadero jedoch niemals gefunden.

             Als das erwachte Proletariat über seine Verhältnisse lebte, das geängstigte Bürgertum unter seinen Verhältnissen, der Reichtum in eine Art Winterschlaf versunken war, da gab nur frische, nur kurzlebige Beute den Mut, sich zur Schau zu stellen. Ja, in der Exhibition allein war ihr Leben. Bewaffnet mit dem guten Gewissen des Raubtieres rasten Kriegs- und Umsturzgewinner herum in ihren Kraftwagen und ersteigerten kreischend und vor aller Welt Paläste und Kunstwerke. Ihres baldigen Hingangs gewiß, mußten diese Lemuren ihre Umlaufsgeschwindigkeit, ihre Allgegenwart ins Unerträgliche steigern, so daß sie mit der Drehkrankheit behaftet schienen. Ihr Auftreten hat so fatal, so aufdringlich gewirkt, weil ihre Wirklichkeit im umgekehrten Verhältnis zu eben jener Aufdringlichkeit stand, in der allein sich ihr Eintagsdasein ausleben konnte. Die Pilotenfische, die Begleitfische des Haifisches, die sich in der Sekunde einverleiben, was der Haifisch nicht in seine Klappe hineinzwingen kann, wußten im innersten, daß ihnen ihr Raub nicht streitig gemacht werden konnte. Sie brauchten daher die Empfindlichkeiten der Zuschauer nicht zu schonen. Zu ihrem Bild gehörte der Konsum, der sofortige Konsum, der Konsum unter den exekutiven Blicken der Ausgeschlossenen.

             Wer waren sie, die den Schwarm der plötzlichen Reichen von gestern und vorgestern gebildet haben, die den bösartigsten Klassenhaß trotzten, wo sind sie heute? Der Spuk hat sich verzogen wie ein Fiebertraum. Das Hexengold aus Luftgeschäften, Diebstählen und Differenzgewinnen ist im Rachen von Cagnotte und Prostitution verschwunden. Wer mit Betrug beginnt, muß durch Betrug umkommen. Hier verfuhr der Kehrbesen der historischen Vergeltung nach dem Grundsatz: Contre galicien, galicien et demi.

In: Die Stunde, 25.4.1923, S. 3.

Alfred Polgar: Wiener Sommer.

Die Börse ist lustlos und die Menschen sind es mit ihr. Sie vermissen nicht nur ihren Besitz, sondern auch den Nervenreiz, den sie auf der schwingenden Schaukel der Kurse empfanden. Und leiden schon die Armen sehr darunter, kein Geld zu haben, so ist das den Reichen ganz unerträglich. Also geht jetzt eine Welle von Verdrossenheit und Lebensfeindschaft durch die Stadt, niemand lacht, niemand freut sich, und in der Oper wird „Schlagobers“ gespielt, von Richard Strauß. Held des Ballets ist ein Knabe, der in der Konditorei zuviel Süßigkeiten ißt, worauf ihm übel wird. Solches läßt sich verstehen. Mir war schon als Kind kein Märchen zuwiderer, als das vom Schlaraffenland: die Vorstellung, sich durch einen Berg von Mus durchzufressen, über alle Maßen peinlich, und Bäume, an denen statt Blättern und Blüten Würste wachsen, schienen mir keine Verzauberung, sondern eine unappetitlichste Entzauberung der Natur. Diese ist sommerlich erwacht. Im Mai war lange Zeit April, dann kam gleich August; Jahreszeiten und Monate gehen, wie Knöpfe und Knopflöcher einer falsch zugeknöpften Weste, nicht recht zusammen, und zu Sylvester wird gewiß was fehlen oder überzählig sein. Einen Lenz gab es heuer nicht, er wurde zwischen Winter und Sommer totgedrückt wie die Mittelparteien in der Politik. Überall siegt der Radikalismus. Nur eine leichte Klang-Modulation unterscheidet ihn von der ridiculus mus, dem bekannten Kind kreißender Berge. Wegen des Auftretens der Bisamratte aber sind die Bäder im Donaustrom noch gesperrt. Leider, denn die Hitze hat Dimensionen angenommen und der Asphalt ist weich und gibt nach wie das Herz des unerbittlichen Vaters im siebenten Akt vieler Kinostücke. Die Kinos machen jetzt auch keine guten Geschäfte, aber immer noch bessere als die Theater, die von den Menschen gemieden werden, als ob in ihnen nicht die Orska oder Frau Werbezirk aufträte, sondern die Bisamratte. Dem Kino kommen im Sommer die besseren Beziehungen zur Natur zugute und das schummrige Dunkel in seinen Hallen, was es, wie vieles andere auch noch, mit der Kirche gemein hat, deren Macht-Erbe es allmählich anzutreten scheint. Wie die Kirche umspannt das Kino die Welt (nebst Himmel und Hölle), sendet seine Missionare in die entlegensten Zonen bewohnter Erde, braucht ein gewisses Quantum Finsternis um zu wirken, gibt den Künsten zu tun, beschäftigt, unter Musik-Begleitung, Gemüt und Phantasie seiner Gemeinde, wirkt Wunder, lehrt, wie die Tugend belohnt und das Laster zu schanden wird, bereichert die Pfaffen, die ihm dienen, spricht in Zeichen und Symbolen, die Menschen jeglichen Idioms verständlich sind, und hat auch schon seinen Evangelisten, den heiligen Balazs Bela, der in dem scharfsinnigen und glänzenden Buch „der sichtbare Mensch“ jene, die guten Willens sind, zum Glauben an die beglückendsten und erlösenden Zauber des Kinos verführt. Es tagte jetzt auch ein Concil zwecks Reform des Films in Wien, bei welcher Gelegenheit der Nibelungen-Film vorgeführt wurde, ein feierlich gedrehtes Hohelied auf körperliche Kraft und den Mangel an Wehleidigkeit und auf den Gott, der Eisen wachsen ließ (allerdings auch dafür sorgte, daß, wie die Geschichte des letzten Jahrzehnts erweist, das Eisen nicht in den Himmel wächst), und auf die altgermanische Sitte, um der Treue willen Untreu zu begehen. Treue im balladesk schönen Sinn des Worts bewährte kürzlich der Wiener Motorführer, der, das ihn der Schlag traf, noch mit letzter Kraft die Handbremse zig und seinen Train zum Stehen brachte. Diesem Braven ward kein Denkmal errichtet, außer im Herzen unseres beliebten Publizisten Bettauer, das als öffentliche Anlage gelten kann. Bettauer ist der Verfasser spannender Zeitungsromane, höchst aktueller Erzählungen, in deren raschen, durch eine Journalspalte gezwängten Fluß alle andern Rubriken der Zeitung sozusagen sich ergießen. Seine Methode, Geschehnisse und Personen des Tages noch warm in den Roman zu übernehmen, ist so neu wie wirkungsvoll, und Bettauer kann auch gar nicht genug des literarischen Garns spinnen, in das ihm das Leben läuft. Fromm und tugendhaft ist er nicht, und wenig Freude hätte an ihm Herr Erich Schlaikjer, ein deutscher Mann, der mich in der „Deutschen Zeitung“ (wegen einer Glosse über das furchtbare Urteil gegen die Kadivec) des Satanismus und der Teilnahme an einer jüdischen Verschwörung zur Vernichtung des deutschen Volkes bezichtigt. Bei Kadermann im Prater, à propos, wird täglich ein ganzer Ochs am Spieß gebraten, für München was Altes, für Wien eine Neuheit. Zur Premiere waren die Vertreter der Presse (kein Druckfehler für: Fresse) geladen, und in den Zeitungen erschienen dann auch, nebst Berichten von bratensaftigster Anschaulichkeit, Bilder, darstellend den Ochsen am Spieß und unter ihm, gleichsam als zarte, abschließende Randleiste, ein anderer Spieß mit Hühnchen, aufgereiht wie Kugeln einer Gebetsschnur. Mich erinnert das Bild des Ochsen, wie er da am Spieß steckt – geköpft, entklaut und ausgeweidet zwar, aber im großen ganzen doch in der Form belassen, die er hatte, da er’s Licht noch sah –, an primitive Darstellungen der Hölle, auf denen zu sehen, wie arme Sünder über loderndem Feuer am Spieß sich drehen. Kein Zweifel: die Erde ist das Tier-Inferno. Da werden sie für Übles, das sie dereinst auf ihrer Tier-Erde getan, bestraft. Wie der Mensch zu den Tieren steht, dafür ist bezeichnend, daß seine Imagination von der Hölle, die auf ihn wartet, in der entsetzlichen Vorstellung gipfelt, er würde dort so behandelt werden, wie er in seiner Welt das Tier behandelt. Jedoch weder bildliche Darstellungen der Hölle noch die Legenden von ihr geben irgendwelchen Grund zur Annahme, daß die Teufel, wenn sie uns am Spieß braten, hiezu die Presse einladen.

In: Das Tage-Buch, H. 22/1924, S. 739-740.

Arnold Höllriegel: Metaphysik der Roulette.

             Das feine Klirren gemünzten Goldes ist in meinen Erinnerungsträumen nicht zu trennen vom Bilde Monte Carlos. In den gedämpften Glanz dieser fast feierlichen  und erhabenen Säle eintretend, hörte man sonst, durch das ganz leise Raumen der Menge hindurch, über dem Pianissimo geflüsterter Leidenschaft dieses Klingling der Schwarzen Messe, diesen goldenen Oberton. Er sickerte durch  die marmorne Vorhalle, hinein in den unfaßbar prunkvollen Raum der Oper, vermischte sich mit den Furiosen Verdis oder den Gralsglocken des Parzival; rann, ein goldener Wasserfall, über die Parkwege der unvergleichlichen Palmenterrassen, klingelte noch in den teppichbelegten Korridoren des davoneilenden Luxuszugs.

             Um nichts hat sich der äußere Glanz Monte Carlos vermindert seit jenem unvergeßlichen letzten Rivierawinter vor dem Krieg und der Trübsal, aber diese seine goldene Begleitmusik ist fort, und ein Klappern von Bein und Blech geht durch die Säle. Man spielt nicht mehr mit goldenen Louisdoren, mit Sovereigns, mit den riesigen opulenten Plaques, nur noch mit weißen, roten und blechernen Spielmarken. Man kann, glaubt es, auch so sein Geld verlieren, aber von dem Reiz und Zauber ist etwas dahin. Früher sah man das Gold, das man nicht gewann.

                                                                                 *

             Monte Carlo, in Zeiten da alle Welt an der Börse spielt, hat ohne Zweifel etwas von seinem romantischen Reiz verloren. Früher leget man auf den Trente-et-Quarante-Tisch goldene Napoleons, heute rote Beinknöpfe, die zwanzig Papierfranken bedeuten, und entschieden weniger davon. Wer große Summen einzusetzen hat, weiß sich bessere Spiele. Noch hat das blecherne Zeitalter die luxuriöse Schönheit des Milieus nicht geschädigt; das Bild dieser domgleichen Prunkgebäude, dieser Gärten, dieser schätzereichen Geschäfte ist berauschend, ist überwältigend wie zuvor. Der Kasinoplatz, von den Tischen des Café de Paris aus gesehen, mit seinen wie aus der Wunderlampe gezauberten Wohnpalästen, mit der faszinierenden Buntheit der eleganten Menge, der Schönheit der Frauen, dem Glanz der Toiletten, das alles ist, wie es war: Kingsors Zaubergarten, von gefährlichen Blumen voll, Satans irdisches Paradies – – Innen im Spielsaal sieht man Unterschiede. Irre ich mich, oder fehlen sie wirklich ganz, die jungen und energischen Abenteurer, die desperaten, bösen und charaktervollen Goldgräber des Spielsaals, spielen sie anderswo, in den nüchternen Börsen, fern von der Verlockung des Weibes, in den großen winterlichen Städten ohne Sonne? Um die großen grünen Tische von Monte Carlo sehe ich in diesem beginnenden Jahr 1924 alternde Menschen sitzen, die nicht mehr ganz in diese Zeit passen; gewiß ein paar schöne Kokotten auch, und junge Leute, die vor dem Shimmy-Tanzen aus Spaß ein wenig setzen. Aber, kein Zweifel, nicht die goldenen Träume der Jugend herrschen hier mehr vor, ihre pittoresken Laster, ihre stürmischen Wonnen und tragischen Verzweiflungen. Monte Carlo, so wie ich es heute sehe, scheint mir ein Ort des törichten und des weisen Alters, der großen Brillen, der gelichteten Scheitel. Unglaublich, wie viele dekorative Großmütter um den Roulettetisch sitzen, auf dem es klappert wie von Totengebein!

                                                                                 *

             Vielleicht gebührt ihnen der Ort von Rechts wegen, den Alternden. Weswegen spielt man in Monte Carlo? Um Geld zu gewinnen? Welcher Irrwahn, tausendmal entlarvt! Man spielt aus Religiosität. Die Roulette ist keine finanzielle, sie ist eine metaphysische Angelegenheit. Wohl steht das den Alternden an.

             Wenn ich eine Opfergabe auf diesen schwarzen und roten Altar lege, der der Altar Satans wäre, wäre Satan nicht eine bloße Maske Gottes – will ich etwas anderes, als der frömmste Beter in der heiligsten Kathedrale, Erhörung meines Flehens, vervielfältigten Segen für mein in Andacht  Dargebrachtes? Ich nehme mein Scherflein, mein Ganzopfer, lege es unter den vorgeschriebenen Riten auf Rot oder à cheval zwischen die Nummern neunzehn und zwanzig – weswegen? Weil ich, fromm in meine Seele hineinhorchend, eine innere Stimme zu hören glaubte, die mir sagt: rot! Ich zweifle nicht, und niemand, der in Monte Carlo war, zweifelt daran, daß diese Stimme in jedem Spieler spricht, und daß sie die Wahrheit sagt, nur, daß leider niemand imstande ist, diese Stimme von zehn anderen Stimmen zu unterscheiden, Stimmen der Eitelkeiten, die zugleich zu schreien beginnen. Ein heiliger Büßer, der es gelernt hätte, seinen Nabel anzustarren und sich auf seine Innerlichkeit zu konzentrieren, ein abgeklärter Philosoph, der sich selbst kennte, sie müßten, mir ist das gewiß, in Monte Carlo jede Nummer erraten, bevor sie für immer zersprungen wäre.

             Aber kommen denn solche Leute nach Monte Carlo spielen?

                                                                                 *

             Ich sage das, weil ich die Welt des Scheins längst als eine Roulettescheibe erkannt habe, auf der die Erdkugel rotiert. Was ist das, diese Zukunft, in der entweder Schwarz oder Rot kommen wird? Ist sie nicht schon gegenwärtig in unserer Seele, nur daß wir nicht gut und weise genug sind, es zu wissen?

             Oft und oft weiß ich, welche Nummer kommen wird. Es ist keine Einbildung, kein Schwindel. Leider tritt das Phänomen nur immer dann ein, wenn ich nicht gesetzt habe.

             Ich glaube, im Grunde mögen die Spieler in Monte Carlo gar nicht Franken gewinnen. Sie schämen sich zu sagen, daß sie eigentlich die Stimmen ihres Inneren bestätigt finden möchten. Wie hätte ich sonst hier einmal Viktor Adler gefunden, und gestern John Meynard Keynes?

                                                                                 *

             Die brutalen Geldverdiener sind dar nicht einmal mehr in Monte. Weise Mütter und ernste Väter sehe ich das Orakel befragen. Übrigens auch unernste Väter und törichte Mütter. Seht sie, wenn sie abgekämpft und müde sind, im pururverhangenen Lesesaal die tödlich seriöse Revue des deux Mondes lesen!

             Die Zeit ist nahe, da dieses frivole Monte Carlo an der Philosophie zugrunde geht. Eine Versammlung von Ödipussen, die alle Rätsel der Roulette erraten, wird die Bank des Monsieur Blanc sprengen. Der Herr Professor Einstein, wenn er einmal Zeit für Monte findet, wird die Relativität der rotierenden Scheibe enträtseln und den Fürsten von Monako um seine schöne Rente bringen. Schon hört man in den Sälen nicht das frivole Geld des Trugs rieseln, man hört es klappern, das trockene Gebein.

                                                                                 *

             Nur weil es unter so vielen Philosophen doch auch einige Narren gibt, steigen vorläufig die Aktien der Spielbankgesellschaft noch ein wenig.

In: Der Tag, 10.1.1924, S. 3.

Johannes Urzidil: Freiheit (Wien bei Nacht)

             Viele junge Männer gehen am Abend durch die Straßen der Stadt, mit einer Banknote in der Tasche, nicht so groß, daß man mir ihr übermütig werden könnte, aber ausreichend, um zwischen mannigfachen Genüssen die Wahl zu lassen. Vielleicht genügt sie, ein Abendessen in einem mittleren Restaurant zu bestreiten, oder sie überläßt es dem Einsamen, sich für eine Flasche erträglichen Weines oder ein Theaterbillett zu entscheiden. Man könnte auch darauf verfallen, sich bei einem der vielen Mädchen, die jetzt an den Straßenbahnstationen warten, vorsichtig mit weichem Blick einzuschleichen und nach einer stummen Unterredung der Augen ein paar Ecken weit oder noch weiter mit ihr zu fahren. Einige sind da mit dünn durfenden Batistblusen, durch welche die Transparenzen der Haut leise schimmern, leicht Vorgeneigte mit beweglichem Spielbein und geistesabwesendem Blick, einige mit resoluten Schritten, fest in ihre Form gefügt und ganz bei sich selbst gegenwärtig. Wie schön ist es, so vor der gleichgewichtigen Wage der Entscheidung zu stehen, das eine winzige, fast gewichtslose, aber alles entscheidende Körnchen des Entschlusses zwischen den Fingern zu halten, es in die eine oder die andre Wagschale werfen und sei tief hinabsenken zu können. Vielleicht so tief, daß sie niemals wieder in das schwebende Gleichmaß zurückkehrt und dieses eine, unmerkliche, aber das Leben selbst bedeutende Körnchen für ewig unerreichbar bleibt. 

Der junge Mann bummelt durch die Straßen, an den glänzend erleuchteten Nachauslagen vorbei, er bleibt da und dort stehen und betrachtet die verschiedenen ausgestellten Waren. Er freut sich im stillen, daß die Läden geschlossen sind, daß er alles genießen kann, ohne die Mühe der Entscheidung. Er besitzt ohne die Last des Besitzes und ohne den Mangel, den jeder greifbare Besitz in sich birgt. Er verschwendet das Hundertfache dessen, was er hat, er lebt ohne Gefahr weit über seine Verhältnisse. Er ist wahrhaft reich.

             Schließlich aber, wenn er die Banknote nicht mehr ertragen kann, tut er mit ihr, was jeder mit ihr tun würde, bei dem Geld nicht übernachtet. Die Theater sind schon geschlossen, in den Restaurants ist nichts Rechtes mehr zu haben, die Mädchen sind nach Hause gefahren. Dier junge Mann setzt sich ein wenig in die Straßenbahn, kauft dann irgendwo eine Zeitung, wirft einem Bettler mehr als Brauch ist, in den Hut, ißt an einem Büfett überflüssige Dinge, raucht eine Zigarre und, nachdem er alles in kleinen Hingaben ohne Bedeutung vertrödelt hat, geht er heim, seufzt auf dem Treppenabsatz still vor sich hin, und mit einem Gefühl grenzenlosen Hungers und einer Leere zwischen seinen Fingerspitzen legt er sich, ohne die Lampe erst anzuzünden, in das dunkle Bett. 

In: Neues 8-Uhr-Blatt, 23.10.1924, S. 8.