Rudolf Kalmar: Unter dem Doppelgeier… Von der Börse, den Börsianern und allem was dazugehört. Zeichnungen von Fred Dolbin.

             Es ist ein frommer Brauch, den Hut zu ziehen, wenn man an der Börse vorübergeht, denn es liegt dort manches Liebe begraben: der Winter in Nizza, der Sommer auf Helgoland, das Badezimmer mit dreizehn Finessen und ein Sechszylinder mit Wasserspülung. Man träumte von diesen Dingen solange, bis die Kollegen vom volkswirtschaftlichen Teil anfingen, ihren täglichen Nachruf mit „andauernd flau“ zu überschreiben. Da wurden die Zeiten finster und bitter. Als sich die schmutzige Phantasie der Ökonomisten erst gar mit 1873 zu beschäftigen begann – in historisch-kritischen Betrachtungen und weil ihre Träger nichts besseres zu tun hatten – konnte das Ende nicht mehr fern sein.

             Gott hat es anders gewollt: die Börse steht noch immer.

             In schlichter Einfachheit lädt sie den Wanderer zu architektonischen Betrachtungen und zeigt ihm schamhaft die nackten Männlein am Dachrand. Es heißt, daß auch sie vor zwei Jahren noch eine wallende Toga besessen hätten. Wer weiß es?

                                                                                 *

             Ein Denkmal wiedergeborener Antike am Ringstraßenrand. Vom Boden an liegt eine Schicht lichter und lichter werdenden Schmutzes an dem marmorprotzenden Bau. Tritonen stechen mit goldenen Gabeln gegen die stürmende Pleite. Durch steinerne Wogen steuern Schifflein mit (wahrscheinlich) unsicherem Kurs und ein engmaschiges Drahtnetz, vor die Bogen des Atriums gespannt, hindert die Spatzen, das zu tun, was viele Börsianer schon lange getan haben.

             Just dort zwischen den dickwüstigen Säulen hat vor gut zwei Jahren ein Mann seine Höllenmaschine placiert: Konservenbüchsen mit Zündschnurzipfeln. Sie pflutschten am Abend auf, ohne Schaden zu stiften, fetter Ruß besudelte ein paar Marmorblöcke, Börsenräte kamen zum Lokalaugenschein, das Polizeipräsidium amtierte die halbe Nacht, rasende Reporter schnüffelten tagelang nach dem Attentäter und fanden ihn nicht. Er war entweder ein ganz kleiner, ein ganz ungeschickter Gauner, oder ein großer Witzbold. Noch heute sieht man einem Dachträger die Spuren von seiner Mordmaschine.

             So wenig hat sich an der Börse verändert. Nicht nur das: sogar noch weniger.

             Noch immer sitzen die Kibitze drüben im Café Wögerer, dem Fegefeuer vor dem Börsenhimmel und mimen volkswirtschaftliches Interesse.

             Man betritt die Börse (wie denn nicht) durch ein Hintertürchen und kommt zunächst nach einigem Hin und Her in einen Wartesaal dritter Klasse der österreichischen Bundesbahnen. St. Pölten, beispielsweise, doppelt genommen und frisch ausgekehrt. An graubraunen Wänden stehen biedere Bänke und langweilen sich in stiller Feierlichkeit. Wie die guten alten Ledermöbel im Rauchzimmer daneben, die im Verein mit großen Zeitungsständen das Angesicht: bürgerliches Kaffeehaus kopieren.

             Man ist prosaisch gestimmt und spricht daher von Kunst, von Musik, von Tingl-Tangl. Liest ein Feuilleton über Fritz von Unruh und wärmt alte Tratschgeschichten von irgend einer Frau Generaldirektor auf. Oder man schläft. Je nachdem. Was tuts?

             Keine Zahl schrillt auf aus dem wohlig warmen Zigarrenrauch. Nicht einmal das Erinnern an ein Bezugsrecht oder das Interesse für eine neue Emission. Egal… Man hat geruhsame Dinge im Kopf wie zur Urlaubszeit und kratzt nur manchmal unmerklich hinter dem Ohr ein wenig die Sorgen.

             Während im Saal drinnen dickflüssig und träge die österreichische Volkswirtschaft brodelt.

                                                                                 *

             Die Sensale im Schranken hocken melancholisch über ihren Büchern und kommen sich sehr überflüssig vor. Die Aufträge sind selten geworden. Man erledigt sie mit genießerischem Bedacht und malt zwischen dem ersten und dem zweiten Gähnen kunstvoll geschnörkelte Ziffern ins Register. Hie und da nur steigt – ritsche, ratsche – die Avisotafel mit einer Notiz hoch, ohne daß sich jemand darum kümmert. Hie und da putzt einer zum x-ten Maile seine Brillengläser.

             Und die Kulisse sieht zu. Man lehnt an der Mauer, lümmelt an einem Schreibtischrand, räkelt sich auf einem massiven Stockerl und stellt sich mit einem Bekannten nach dem anderen zu einer kleinen Plauderei.

             Abgerissene Redefetzen treffen das Ohr im Vorübergehen.

             „Hören sie zu: Sagt der alte Blau zur seinem Prokuristen…“

             „…die Schlanke, mit dem schreigelben Wuschelkopf…“

             „…und er bildet sich doch ein, daß das Kind…“

             „Nebbich!“

             Der Verkehrsturm in der Salgo-Kulisse ist mit Papierstreifen abgeblendet.

             Es interessiert sich kein Mensch für das ganze Brimborium.

                                                                                 *

             Endlich nach einer halben Stunde ruft irgendwo ein Kommissionär zum Geschäft. Mit gellender Stimme schreit er:

             „Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere…“

             Bei jedem Satz fliegt sein Arm mit scharfem Wurf durch die Luft. Trifft mit der Fingerspitze bald de, bald den. Tödliches Schweigen.

             Er kauft zu viere. Keiner rührt sich.

             Wieder platzt der Kommissionär los und geifert seinen Satz in das Gemurmel, bis ihm die Stirnadern schwellen und die Stimme kiekst. 

             „Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere… Ich kauf‘ zu viere…“

             Eine aufgeregte Hand peitscht die Luft. Die andere krabbelt nervös im Notizbuch.

             Endlich meldet sich einer: „Ich geb‘ um fünef…“

             „Ich kauf‘ um viere…“

             „Ich geb‘ um fünef…“

             „Ich kauf‘ um viere…“

Auge im Auge stehen die beiden Kämpfer // und drücken einander ihr Angebot zu. Die anderen lachen.

             „Ich geb‘ um fünef…“

             „Ich kauf um viere…“

Da zieht der Verkäufer die Schultern hoch und dreht sich gemächlich um. Es ist wieder einmal nichts gewesen.

             Schon spricht er mit einem Freund über Weihnachten am Semmering, da kreischt nach ein paar Minuten neuerlich die Stimme des Kommissärs: „Ich kauf‘ um viere…“

             Der andre schleicht langsam zu der Gruppe und lauert harmlos im Hintergrund.

             Auf einmal fährt er los, schleudert mit beiden Händen seinem Partner die Worte ins Gesicht: „Ich geb‘ um viereinhalb…“

             „Ich kauf um viere…“

             „Ich geb um viereinhalb…“

             „Gemacht… Dreimal…“

             Jeder kritzelt eine Klaue auf seinen Block. Dann verzieht man sich wieder zu den beschaulichen Gruppen.

             Schon im Abendblatt steht dann etwas von „andauernd flau, bloß kleinere Schlüsse getätigt“.

                                                                                 *

             Punkt 1 Uhr läutet eine Mistbauerglocke die Börse aus. Man notiert die Schlußkurse, telephoniert an sein Bureau um Orders und fragt zu Hause an, was es zu Mittag gibt. Sonst ändert sich nichts.

             Man kauft an der Nachbörse so wenig wie zwischen elf und eins.

             Und wenn man den vergessenen Doppeladler, der, aus alten Zeiten überkommen, noch immer einen Nebenraum schmückt, mit halbgeschlossenen Lidern anblinzelt, sieht man, wie sein Hals sich streckt, wie sein Schnabel wächst und die Augen zurücktreten.

             Jede Seite würgt einen gierigen Brocken: So wird ein altes Emblem zum Börsenzeichen: Doppelgeier.

In: Der Tag, 25.12.1925, S. 3-4.

{glossary-ignore]Robert Neumann[/glossary-ignore]: Tollwut an der Börse. (Auszug aus: Sintflut)

Die Riesenkrache an der New-Yorker und der Londoner Börse erinnern an eine Börsenszene aus Robert Neumanns erstem Werk, dem Inflationsroman „Sintflut“. Diese Szene, die ein packendes Bild des verrückten Börsenfiebers gibt, bringen wir nachstehend mit Erlaubnis des Verlages J. Engelhorns Nachf. zum Abdruck.

             Ein Diener ging durch den Saal und schnarrte: „Bauch! Karl Bauch! Karl Bauch, Telephon! Herr Bauch! Bauch! Herr Bauch!“ Die Sensale sperrten ihre Bogen und Bücher ein und kamen in die Kulisse herüber, Schlußkurse ermitteln, kaufen, geben für eigene Rechnung. Niemand dachte daran, den Saal zu verlassen. Die Nachbörse tendierte weiter nach oben. Was Klein anlangt, so stand er neben mir mit schiefer Schulter und hängenden Armen, blaß, matt. Wir zogen uns nach der Exotenkulisse. Pollak stand dort noch immer mit fünf, sechs anderen und handelte Abel. Sie waren auf 480 zu 520. Klein gab tausend Stück zu 510. Namen weniger bekannter Papiere schwirrten da durcheinander; kein Tag verging, daß nicht ein paar neuen aufgetaucht wären. Ein magerer, ärmlicher Mensch mit Bartstoppeln sagte: „Schweizer Glas. Ich gebe Schweizer Glas mit 210. Mit 210. Ich geb‘ mit 210.“ Niemand beachtete ihn. Er sagte: „Ich geb‘ Schweizer Glas mit 200.“ Klein horchte auf. „Ein Schweizer Papier?“ fragte er nah meinem Ohre. Ich hatte den Namen nie gehört. Er sagte: „Kaufen Sie.“ Ich bekam sie zu 195, hundert Stück. Klein sagte laut: „Ich nehme Schweizer Glas mit 230!“ Aus einem Winkel kam Ware. „240!“ Der Unrasierte brachte noch 200 Stück. Klein schrie: „Schweizer Glas! Ich nehm‘ mit 250! Mit 250! Mit 280!“ Ein Fetter, Haarloser sagte: „Mit 320 ist bei mir Ware.“ „Wieviel?“ „Tausend Stück.“ Klein warf die Hand hoch, schrie: „Tausend Schweizer Glas an mich mit 320!“ Das Geschäft in Hochdorfern war eingeschlafen. Um uns standen zehn, fünfzehn Menschen. Einer schrillte: „Geld auf Schweizer Glas 330! 340!“ Bei 360 kam Ware, fünfhundert Stück von einem kleinen Bankier. Weitere zweitausend nahmen die Käufer auf, die uns nachspielten. Klein ward die Hand hoch, gellte: „400! 400! 400!“ Er bekam zweitausend Stück. Um uns standen dreißig Menschen und schrien. Man kaufte zu 450 und zu 480. Die gaben, waren Agenten, kleine Bankiers. Dann schob Fischer seinen breiten Bau in eine Bresche, der Kontermineur stand da, tat den Mund nicht auf. Klein schmiß die Hand hoch, gellte: „480!“ Neben mir sprachen zwei. Einer fragte: „Was ist Schweizer Glas?“ Der andere sagte: „Klein weiß, was er tut. Man kann mitgehen.“ Einer kaufte mit Gebrüll bis 530. Klein hob sein Gesicht zu mir, sagte blaß: „Man jagt den Kurs hoch. Drüben steht Fischer und wartet. Wir müssen stabilisieren. Lassen Sie kaufen.“ „Wieviel?“ Er warf mir einen schrägen Blick zu und sagte knapp: „Soviel Sie bekommen werden.“ Ich fing mir Fenichel bei den Alpinen, gab Auftrag. Er stieß ins Gelände vor, mit kraftlosen Ellenbogen, warf Finger hoch, kreischte greisenhaft: „540! 540! Geld 540!“ Klein brüllte sehr vernehmlich: „Ich geb!“ Fenichel stand verblüfft und übernahm hundert Stück. „540!“ rief er noch einmal. Klein brüllte: „Ich geb!“ Fenichel notierte unruhig, offenen Mundes, und warf mir einen hilflosen Blick zu. „Ich geb!“ rief Klein. Viele lachten, Einer sagte sehr vernehmlich: „Ein Schwindler!“ Klein stand fleckigen Gesichtes. Die Hausse war gebremst. Die zwanzig, die uns noch umstanden, fanden sich nicht zurecht und warteten. Einer legte kleinlaut noch einmal Geld. Klein brüllte: „Ich geb‘ mit 540! Mit 530! Mit 520!“ Man lachte. Einer sagte: „Mahlzeit, ich geh‘.“ Da tat Fischer drüben den Froschmund auf und quarrte: „Ich geb‘ mit 500, – Ich geb‘ mit 480. – Ich geb‘ mit 460!“ Klein hob sein Gesicht zu mir: „Er konterminiert. Wo stehen wir?“ Ich addierte. „Wir haben siebzehntausendzweihundert Stück gekauft.“ Klein, mit zuckendem Mund: „Dann muß ich den Kurs halten.“ Fischer trompete drüben: „Ich geb mit 400.“ Klein kreischte: „An mich!“ Man merkte auf.

             Nun wurde es ernst. Fischer gab zu tausend und tausend Stück. Klein nahm alles. Fischer gab zehntausend zu 380. Klein übernahm und legte Geld bei 410. Fischer gab zehntausend und bot zwanzigtausend zu 370. Klein übernahm. Dreißig, vierzig Leute umstanden uns, gaben leer ab, spielten Fischer nach bis 340, 330, 300. 295 kam neue Ware. Klein, heißer, weißen Gesichtes, die Krawatte aus der Weste gerissen, Schweiß auf der Stirn – Klein übernahm. Es half nichts. Der Kurs glitt auf 220, 200. Fischer trompete: „180!“ Klein keuchte mir ins Ohr: „Die Rechnung!“ Um Gottes willen – die Rechnung!“ Ich addierte dann leise: „Wir haben zweihundertvierundzwanzigtausendachthundert Stück Schweizer Glas gekauft. Durchschnittlich zu 385.“ Fischer trompete: „175! 170 ist bei mir Ware!“ Klein wankte leicht. Er lehnte sich an mich und flüsterte: „Zu Ende. Wir werden nicht zahlen können.“ Und laut// kreischend, losgelassen: „Ich kaufe! Ich kaufe zu 175! Zu 180!“

             Da kamen hinten zwei von den Telephonen, drei, vier. Einer rannte vorüber, schrie: „Der Londoner Schlußkurs! Die Krone 36.400!“ Einer rief, ein Fetter: „Von gestern auf heute die Hälfte!“ Vogel von Vogel junior zog die Brieftasche, nahm Geld in die Finger, schrie: „Dreck ist das! Dreck! Leeres Schreibpapier ist mehr wert!“ Einer lachte. „Leeres Klosettpapier!“ Groß von Bock in Budapest schrie: „Geld auf Rima!“ Er rannte. Einer mit einem Geierkopf schnarrte: „Man muß kaufen, was man bekommt.“ Da warf Samuel Klein beide Hände hoch und kreischte: „Ich nehm Schweizer Glas zu 200! Zu 250!“ Fischer blieb stumm. Einer schrie: „Ich kauf zu 280! 280! 280!“ Leute kamen herüber, drängten sich, Klein kreischte: „300 Geld!“ Man bekam keine Ware. Ein paar Schlüsse standen 320. Drüben tat Fischer das Froschmaul auf und sagte: „Ich seid alle verrückt.“ Einer kreischte ihm Unverständliches ins Gesicht. Ein Ziegenbart meckerte: „Er hat ihm nachgespielt.“ Man kaufte zu 350, 380. Einer drohte Fischer mit beiden Fäusten und schrillte: „Nicht ein Stück hat er! Er hat leer abgegeben!“ Fischer legte mit blassen Lippen 400 Geld. Man schrie, schmiß Hände hoch. Bei 520 wurde Fischer von seinem Schwiegersohn forgeführt. Der Ziegenbart kaufte noch bei 580. Hände flackerten. Eine Dogge bellte 600. Bei 610 gab Klein die ersten zehntausend Stück. Die Dogge brüllte 630. Klein gab. Der Geier hackte herüber und kaufte zwölftausend zu 610. Andere kreischten, Ibisse, Iltisse, Marder. Klein gab. Schweiß troff, ein Hemdkragen lag auf dem Boden, einer kletterte an einem anderen hoch und schrie. Der Geier krächzte 710, die Dogge geiferte 770. Klein gab. Eine Glocke bimmelte. Ein Diener schnarrte: „Bauch! Herr Bauch, Telephon!“ Einer stolperte mit Gebrüll. Einer faßte einen an der Schulter und spie ihm Ziffern, Ziffern, Ziffern aus dem aufgerissenen Mail um die Stirn. Eine Wasserleiche spreizte Finger und griff. Ich addierte. Wir hatten glattgestellt, mit wahnsinnigem Nutzen. Ich ergriff Klein am Arm und riß und schleppte ihn durch die Balgenden nach der Tür.

             Im Rauchsalon sank er um. Ich bettete ihn auf das Plüschsofa und gab ihm Schnaps. Der Reporter einer Börsenzeitung schoß herein und griff nach uns. „Was wissen Sie über Schweizer Glas?“ keuchte er. „Welche Informationen haben Sie über Schweizer Glas?“ keuchte er. „Es ist doch richtig,“ keuchte er, „daß das die Braxer Strickwarenfabrik Schweizer & Glas ist? Aber das Unternehmen steht doch, hör ich, vor dem Konkurs?“ Klein lachte schrill und lachte noch, als ich ihn ins Automobil hob.

In: Arbeiterwille, 1.12.1929, S. 7-8.

Hugo Glaser: Väter und Söhne

Die Psychoanalyse wurde, wie Freud, ihr Schöpfer, sagt, aus der ärztlichen Not geboren; sie entsprang dem Bedürfnis, nervös Kranken zu helfen, denen Ruhe, Wasserheilmethoden und Elektrizität keine Linderung bringen konnten. Aber diese Aufgabe, eine ärztliche Technik zu sein, suchte sie von vornherein dadurch zu erfüllen, daß sie sich auf die Aufdehnung verborgener Zusammenhänge, auf das Bewußtmachen des Unbewußten einstellte. Der ganze seelische Zuhalt des menschlichen Lebens, des Lebens der einzelnen und das der Gesamtheit, wurde so ihr Forschungsgebiet. Denn die Triebkräfte, die das Seelenleben des einzelnen beherrschen, spielen auch in der Allgemeinheit eine wichtige Rolle, in Masse und Gesellschaft, deren Wesen und Geschehen aus dem Verhalten der einzelnen sich zusammensetzt. Und indem sie immer wieder durch Probleme der Massen- und Gesellschaftspsychologie gelobt wurde, mußte sie, eigentlich naturgemäß, auch in die Seelengeheimnisse der jüngsten sozialen Bewegung einzudringen versuchen, die als Anarchismus und Kommunismus mit allzu roten Fahnen einherzieht. Aurel Kolnai unternimmt dies in einem jetzt erscheinenden Buche: „Psychoanalyse und Soziologie“ (Internationaler psychoanalytischer Verlag, Leipzig-Wien-Zürich, 1920). Die Psychoanalyse mußte im Anarchokommunismus viele jener Momente wiederfinden, für die ein Interesse zu haben sie bereits durch andere Probleme veranlaßt wurde. Dieser will ja das irdische Paradies als Endwert und die Zertrümmerung der heutigen Gesellschaft, und er führt, wo er zur Herrschaft gelangte, zu hochgradiger Desorganisation und zur Rückkehr zu primitiveren Formen – Zwecken und Schlagworten, denen, wie erwähnt, die Psychoanalyse auch anderswo begegnet.

Nach der Auffassung Freuds und seiner Schüler ist die Auflehnung gegen den Vater das Urbild der Revolte. Vater und Gesellschaft sind identisch. Demzufolge wäre der Anarchismus eine extreme Form des Aufstandes gegen den Vater. Der Kampf zwischen Vater und Söhnen, der im Unterbewußtsein der Menschen seit den vorbildlichen Zeiten her schlummert, kommt hier wieder einmal zum Ausdruck und führt zur Tötung des Vaters. Der Anarchismus will den vom Vater ausgeübten Zwang aufheben und schreitet zur Tötung des Vaters. Er trennt seinen Mittelweg und seine Entwicklung, sondern nur die Wiederholung der titanischen Tat. Die leidenschaftliche Auflehnung gegen den Zwang bedeutet aber nicht Freiheitsliebe des Mannes, sie ist eher wie die Ungebundenheit des Kindes, das in einem Aufstand lebt, dem die Notwendigkeit der Anpassung und die Konflikte fehlen. Der kommunistische Ausgangspunkt heißt: „Jeder arbeite nach seinen Fähigkeiten, genieße nach seinen Bedürfnissen.“ Uneingeschränktes Sich-Ausleben ist die Folge dieses Grundsatzes, freilich nur soweit, daß dadurch das gesellschaftliche Leben nicht geradezu verhindert werde. Darin erblickt die Psychoanalyse die Unmöglichkeit des Anarchismus. Dieser erklärt sich ferner für die universale Brüderlichkeit und hält dabei an Metzeleien und Bombenattentaten fest. Bakunins Ausdruck für „Gewalt für die Brüderlichkeit“ beleuchtet diesen Zwiespalt. Dem Vater gilt der Hass, der Mutter die Liebe. Auf der einen Seite ist die Gesellschaftsfeindlichkeit, auf der anderen die Brüderlichkeit der Anarchisten. Der im Unterbewusstsein der Menschen verborgene Vatermord hat aber nach den Hypothesen der Psychoanalyse die Brüder nicht zu ihrem Ziele, zur höchsten Liebe zur Mutter, führen können; die Söhne vermochten sich ohne den Vater nicht aufrechtzuerhalten. Wie die Tötung des Vaters nur die Isolierung der Mutter zur Folge hatte – Penelope konnte nach der Entfernung ihres Gemahls Odysseus seinem Freier die Hand gewähren – so würde die Aufhebung der stabilen Organisation den Zerfall der Gesellschaft nach sich ziehen. Der Anarchismus ist keine Kritik, keine Reform, sondern Zynismus, Tabula rasa. Die Mehrheit der Anarchisten besteht nicht aus typischen Proletariern, sondern aus Kleinbürgern und besonders aus Leuten, die allein arbeiten und die Härte der Lebensverhältnisse verstärkt empfinden. Methodischer und weniger impulsiv ist der Kommunismus; sein gesellschaftlicher Träger ist das Proletariat, dem auch eine Beziehung zu der Realität, der Technik, der Wirtschaft anhaftet. Das Proletariat, vom Aderboden abgeschlossen, verliert das Heimatgefühl. Die Revolution, die zur Erde, zur Natur zurückführt, soll es ihm wiedergeben. Der Proletarier hat seinen Sinn für den moralischen Wert des Kleingrundbesitzes. Die kommunistische Idee der Familiengemeinschaft und das Prinzip: Arbeiten nach den Fähigkeiten, Verzehrern den Bedürfnissen entsprechend, ist ein dem Kern nach kindliches Prinzip. Nicht die Entfaltung der Fähigkeiten – sie hoffen mit sehr geringer Arbeit auszukommen -, sondern der Gehorsam des guten Kindes ist betont, daß von seinen Eltern, vom Staate, alles bekommt, was es braucht. Was dem ganzen System abgeht, ist der Zwang des Lebens, der von dem Menschen tüchtige Arbeit erfordert, ihm aber mit der Berufswahl die Berufsfreude läßt. Der Kommunismus ist weniger unheimlich, weniger scharf als der Anarchismus, aber ebenso absurd. Er will eine Gesellschaft mit unentwickelter Organisation, aber mit hochentwickelter Technik. Hier kommt der Glaube an die Allmacht der Gedanken zum Vorschein, wie ihn das Kindesalter aufweist. Aber die Technik wird immer mit der Arbeitsteilung und damit mit einer sozialen Differenzierung Schritt halten. Sie steht nicht zur Verfügung einer Gemeinschaft, die sie nicht ausbauen und nicht verwalten kann. Der Krieg hat ja die Despotie der Mittel zur Genüge bewiesen. Die Zusammenfassung bestimmter Wahnideen zu einer Art Ernstem nennt die Psychoanalyse Paranoia. Die Psychoanalyse findet im Anarchokommunismus Zeichen einer paranoischen Konstruktion: die ausschließliche Betonung des Ichs, Größenwahn und Verfolgungswahn, Erlöseridee. Die schwere Wendung zur Psychose, zur richtigen Geisteskrankheit der Welt, brachte jene Abart des Systems, die Lenins Bolschewismus darstellt.

Auch Paul Federn rollt in einem Beitrag zur Psychologie der Revolution „Die vaterlose Gesellschaft“ (Anzengruber-Verlag, Wien-Leipzig) das Problem der Väter und Söhne auf, wie es von den Psychoanalytikern gesehen wird. Die erste Form des menschlichen Zusammenlebens war die einer Horde, die unter der übermächtigen Alleinherrschaft des Vaters stand. Wenn aber seine Kräfte nachließen aber der Satz der rechtlosen Söhne zu groß wurde, dann töteten sie den Vater. Aber die Uneinigkeit kam unter sie, sie bekämpften einander, und wieder wurde einer Führer, Vater. Spätere Generationen haben sich freilich zusammengeschlossen mit einem gewählten Haupt. Aber in der Verehrung des Vaters durch die Söhne blieb und bleibt tief verborgen in einer Falte der Seele ein Rest der uralten Feindschaft und der uralten Schuld…. Als die Söhne des Krieges sahen, daß ihr Vater, der Kaiser, die Heimaterde, die Mutter, nicht schützen könne, schwand die Vorstellung von der riesenhaften Größe des Vaters, von seiner Macht und Stärke. Die Ehrfurcht vor dem Staate stürzte zusammen, eine vaterlose Gesellschaft blieb zurück. Aber im Menschen schlummert auch die Brüdergemeinschaft als zweites soziales Prinzip. Dem im Menschen vorhandenen Gefühle, als Bruder den Mitmenschen zu lieben, hätte der Revolution zum Durchbruch verhelfen sollen. Federn hat von der Brüdergemeinschaft der Menschen eine bessere Meinung als andre, welche mehr die Tatsachen sprechen lassen. Das Vater-Sohn-Motiv hat, psychoanalytisch gesprochen, sicher eine schwere Niederlage erlitten. Aber es ist, wie Federn sagt, durch die Familienerziehung und als ererbtes Gefühl tief in der Menschheit verankert und wird wahrscheinlich auch diesmal verhindern, daß eine restlos vaterlose Gesellschaft sich durchsetze.

In ihrem Bestreben, die Urgeschichte der Menschheit zu erforschen, mußte die Freud-Schule auch an Probleme der Religion herantreten, und auch dort findet sich das Motiv der Väter und Söhne. In einem seiner glänzendsten Werke „Totem und Tabu“ hat Freud diesen Problemen nachgespürt. Von den dort entwickelten Annahmen ausgehend, hat nun Dr. Theodor reif in sehr interessanten Studien über „Probleme der Religionspsychologie“ (Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Leipzig und Wien) bisher unverstandene Einzelheiten des religiösen Lebens auseinandergesetzt, in deren erster sich das Väter- und Söhneprinzip wiederfindet. Von historischen Zeiten bis zur Gegenwart zieht sich bei verschiedenen Völkern der Brauch des Männerkindbettes. Die Wissenschaft nennt ihn Couvade. Der Vater eines neugeborenen Kindes legt sich für kürzere oder längere Zeit zu Bette, hält eine bestimmte Diät ein, er darf nichts arbeiten, nicht jagen, während die Frau, die eben ein Kind zur Welt gebracht hat, arbeitet, als hätte sie sich nichts ereignet. Diodorus Ciculus erwähnt das von den Korsen. Strabo schreibt das von den Iberern, zeitgenössische Schriftsteller berichten das von indischen- und brasilianischen Stämmen, kurz der Brauch war und ist noch verbreitet. Bei den Karaiben müssen sich die Väter nicht nur ins Bett legen, als ob sie Schmerzen hätten, sondern sie haben auch wirklich welche: die Freunde kommen und machen ihm unzählige Stiche und Schnitte in die Haut und reiben die Wunden mit Pfeffer ein. Manche Südseeinsulaner dürfen von einem bestimmten Zeitpunkt an keine Bananen, keine herabfallenden Kokosnüsse essen, weil sonst das zu erwartende Kind geschädigt würde. Man hat viele Theorien über diesen Brauch aufgestellt. Am humorvollsten ist vielleicht die eines Gelehrten, der die Couvade als eine Erfindung der Weiber auffasst: damit sie in ihren schweren tagen vor den Männern Ruhe hätten…, aber die Psychoanalyse legt diesen Brauch anders aus. Sie faßt ihn als Vergeltungsfurcht auf. Es ist klar, daß dieser Brauch einmal einen Sinn gehabt haben muß, wenn er auch heute nur mehr Zeremonie ist. In der einfachen Form kann er ja ein Schutz der Frau gegenüber einem feindseligen Benehmen des Mannes sein. Aber die diätetische Form, die Enthaltung von Arbeit und Jagd, die Verletzungen, die der Mann erdulden muß, sind Sühn- und Bußzeremonien. Man kann hier manches Analoge bei Neurotiker unserer Zeiten und unserer Gegenden finden. Deren Überzärtlichkeiten einem Kinde oder einem Verwandten gegenüber entspringen büßenden Vorstellungen im Unterbewußtsein, zustande gekommen durch feindselige Absichten oder Wünsche, die im Verborgenen wuchern. Der Kampf der Väter gegen ihre Söhne äußert sich ja überall zuweilen in einer übergroßen Abneigung des Mannes gegen Kindersegen. Der Vater sieht sich durch den Sohn verdrängt. Der Sohn ist ja, nun das geworden, was früher der Vater war. In Polynesien geht der Rang des Königs sogleich auf den Neugeborenen über, der Vater ist von nun an ebensowenig wie jeder andere, kein König mehr. Die früher erwähnten Gefühle der Söhne gegen den Vater, der sie alle unterdrückt, lassen die Vorstellungen herankeimen, daß der Sohn einmal die gleichen Gefühle haben und äußern könnte. Eine gedoppelte Vergeltungsfurcht kommt nur so zustande: Furcht vor der Strafe, die vom Vater ausgeht, Furcht vor der Wiedervergeltung durch das eigene Kind. In der Kulturgeschichte der Menschheit wird die Couvade als eine Art Grenze bezeichnet: hier hört der Kampf auf, den Vater und Söhne seit Jahrtausenden führten, und die Liebe zu seinem Kinde erfüllt nunmehr auch den Vater.

In: Neues Wiener Tagblatt, 9.12.1920, S. 2-3.

Bertha Pauli: Jugend von heute.

             „Sechs Pagen und sechs Mädchen, weiß gekleidet, mit rosenroten Leibchen, mit Schleifen und wirklichen Rosen verziert, tanzen herein und gruppieren sich zu beiden Seiten der Tür. Dann hüpft die Jugend herein, weißes Trikot, rosenrote Weste, am Kragen mit Rosen garniert, grünem Frack, dreieckigen Hut mit Rosenschleife. Das Beinkleid mit rosenroten Bändern gebunden.“ So schwebte unserem großen Volksdichter Raimund die Verkörperung der Jugend vor für jene unvergängliche Szene im „Bauer als Millionär“, die Wilhelm Scherer den schönsten Allegorien der Weltliteratur zur Seite gestellt hat. Und jedem Österreicher, der sich ihrer traulich schlichten Symbolik erinnert, summt es im Ohr: „Brüderlein fein, Brüderlein fein…“

             Wie würde ein heimischer Poet unserer Zeit die Jugend verkörpern? Wohl bleibt sie im Grunde dieselbe, so lange Menschen atmen, dieselbe in ihrer Elastizität gegenüber den Schlägen des Schicksals, ihrer Lebenskraft und Empfänglichkeit und dem Reichtum an Hoffnung, der sich vor ihr ausbreitet wie ein Märchenwald und sie trennt von dem fernen düsteren Allbezwinger Tod. Und doch, den Rosenflor, die Atlashöschen und den hüpfenden Dreivierteltakt würde ein Künstler von heute kaum mehr wählen, um die Jugend zu versinnlichen. Die Ausdrucksformen unserer Zeit sind andere geworden. Die Jugend ist ewig wie der Sonnenaufgang; aber ihre Vertreter hienieden schauen nicht mehr mit denselben Augen in die Welt wie die Kinder des Vormärz, und die ältere Generation betrachtet mit stark geänderter Empfindung den Frühling des Daseins. Wir sind vertrauter mit seinen Stürmen. Wir haben – vielleicht genauer als unsere Vorfahren – das Leid der Jugend kennen gelernt. Wir sind uns bewußter der physischen Entbehrungen und des geistigen Mangels, die Tausende nur kümmerlich heranreifender Körper und Seelen bedrücken, wir sehen deutlicher die physischen Kämpfe der Pubertät, der wachsenden Erkenntnis, die sich oft verzweifelt auflehnt gegen die Nüchternheit und Niedrigkeit des alten Jammertales. Und wir erfahren gegenwärtig auch mit Schaudern, wie der jugendliche Idealismus, der einst „den Himmel offen“ sah und in enthusiastischer Hingabe sich entlud, erstickt, pervertiert wird in Rohheit. Zuweilen scheint es, als lösten sich für unsere Jugend „alle Bande frommer Scheu“, die der Zivilisation unentbehrlichen Hemmungen, hervorgerufen durch innere Würde und Menschlichkeit, aber keineswegs die Bande des Vorurteils und aller Art geistiger Beschränktheit. Unerhörte Vorgänge wie die Exzesse an unserer Universität, Schandtaten wie die Mißhandlung einer Studentin durch ihre männlichen Kollegen werfen grelle Schlaglichter auf die Generation, die unsere Zukunft bedeutet. Und leicht erliegt man der Ver-//suchung, sich die Jugend von heute statt mit dem Rosenzweig mit der Waffe des Meuchlers oder mit Gummiknüttel und Schlagring vorzustellen. Das Eklatante, das Sensationelle ist es ja, was urteilsbestimmend wirkt – und so oft Fehlurteile erzeugt. Nie soll vergessen werden, daß den jungen Leuten, die ihre Rowdymethoden als Propaganda für Deutschtum ausgeben (in Wahrheit gibt es keine plausiblere Entschuldigung für das gehässige Vorurteil gegen den ‚boch‘!), eine weit zahlreichere österreichische Jugend gegenübersteht, die Menschenwürde ebenso für sich erstrebt und bewahrt als im anderen achtet. Die Ausschreitungen jugendlicher Vertreter höheren Wissens, die nicht ahnen, daß Bildung – wie einst Geburtsadel – verpflichtet, sind zum Teil zu verstehen durch die andauernde Kriegspsychose, genährt von Frankreichs Gewaltpolitik. Nichts wirkt verderblicher auf Völker und Individuen, als schnöde Gewalt wehrlos ertragen zu müssen. Das überreizte Nationalgefühl entlädt sich am fiktiven „inneren Feind“, weil es ohnmächtig ist gegen den Bedrücker jenseits der Grenzen. Getretenes Ehrgefühl artet bei sittlich wenig widerstandsfähigen Charakter leicht in Rohheit und Grausamkeit aus. Man hat Juden, Protestanten und andere „innere Feinde“ oft fälschlich der Brunnenvergiftung angeklagt. Poincaré vollführt noch Schlimmeres: er vergiftet Seelen.

             Nur mit Vorbehalt, nur mit größter Bereitschaft zu Korrekturen und Richtigstellungen kann der Beobachter ein halbwegs richtiges Bild der Jugend von heute entwerfen. Die Individualitäten der Heranwachsenden scheinen mannigfaltiger geworden als früher, zum mindesten äußern sie markanter ihre Verschiedenheit. Um die gemeinsamen Züge des Nachwuchses mehrerer Völker festzustellen, bedürfte es einer Studienreise. Welche gewaltigen Gegensätze, wie viele Typen und Persönlichkeiten im Werden bekunden sich unter den jugendlichen Bewohnern unseres jetzt relativ so kleinen Vaterlandes! Vom Häuptling einer Kinderdiebsbande zum heroisch sich durchhungernden Jünger der Wissenschaft, vom Luxusbackfisch zur jungen Arbeiterin, die am Abend ihres harten Werktages Volksbildungskurse hört, und zur Offizierstochter, die mit ihren Lektionen die Mutter erhält – ganz abgesehen von der wenig gekannten […] in den Zirkel ihrer vom Lauf der Monde abhängigen Beschäftigung gebannten bäuerlichen Jugend. Wer wagte da rasch und entschieden ein zusammenfassendes Urteil zu fällen?

             Bei aller individuellen Differenzierung, trotz des natürlichen Fortbestehens unabstreitbarer Merkzeichen jugendlichen Wesens zeigt die kommende Generation im allgemeinen ein andres Gehaben als Österreichs Nachwuchs vor einigen Jahrzehnten. Zwei Momente haben bei dieser Wandlung in hohem Maße mitgewirkt: der verschärfte Existenzkampf und der Sport. Das Haustöchterchen in seiner wohlgehüteten Zierblumenlieblichkeit stirbt allmählich aus, und bei den jungen Männern bildet sich frühzeitig ein scharfer Sinn fürs Praktische, der zu resoluter Selbständigkeit, Unternehmungslust, bisweilen auch schließlich zur Abkehr von geschäftlicher Ehrenhaftigkeit führt. „Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles! Ach, wir Armen!“ mußte schon Fausts Gretchen in früher Selbsterkenntnis seufzen. Für Hans und Grete von 1923 ist dieser Ausspruch gewiß nicht minder zeitgemäß, nur der elegische Ausklang entspricht moderner Jugendstimmung schwerlich. Jünglinge und Mädchen müssen heute ins feindliche Leben, beide lernen wetten und wagen, Daß bei der weiblichen Jugend ihre immer noch stärkste Waffe im Kampf ums Dasein, der Reiz ihres Geschlechtes, in vielen Fällen zum Einsatz im mehr oder minder hohen Glücksspiel wird, wen darf es wundernehmen? Die Naive, das unbeschriebene Blatt, dem erst der Gatte Inhalt und Farbe gab; la petite oie blanche, dient nur mehr zur Charakteristik einer vergangenen Epoche. Glücklicherweise ist darum echte Mädchenhaftigkeit, instinktive Scheu vor der Herabwürdigung des Liebeslebens durch Zynismus und Brutalität nicht untergegangen. Wohl aber ist der Brunhildtypus seltener geworden in einer Zeit, die mit dem Recht auf Betätigung auch den Anspruch auf Freude für jeden Menschen anerkennt und zugleich durch die wirtschaftliche Not edle Befriedigung des Genußtriebes furchtbar erschwert. Aber in sieghafter Stärke erhält sich wie in frühern Jahren ökonomischer Wirrsal und moralische Erschlaffung auch gegenwärtig die Mädchenreinheit als Ideal und Distinktion einer Elite aller Klassen.

             Der Begriff der Frauenehre hat eine Wandlung erfahren, aber er dauert fort. Das freie Bündnis einander achtender und liebender Menschen, auch ohne Standesamt oder Priestersegen, ist im Ansehen gestiegen. Gegen unauflösliche Eheketten protestieren alle Vertreter geistigen und sittlichen Fortschritts. Aber die Käuflichkeit der Liebesbezeugungen gilt nach wie vor als Erniedrigung, deckt sich durch Hüllen und Schleier aller Art, und auch die Widerstandslosigkeit junger Mädchen gegenüber den Wallungen weiblichen Instinkts wird trotz mancher Propaganda des Wortes und der Tat nicht zum Vorbild, nicht zur Regel. Und darauf kommt es an.

             Aus wirtschaftlichen Erwägungen, ohne stufenweise Vorbereitung, in der sittenlockernden Nachkriegszeit wurde eine vom Zufall bestimmte Form der Koedukation in unseren Mittelschulen eingeführt für junge Menschen im krisenreichen Übergangsjahr zur Vollreife. Kein sittliches Ärgernis hat sich daraus ergeben. An unserer Akademie der bildenden Künste werden hochbegabte Mädchen als Schülerinnen neben ihre männlichen Kollegen aufgenommen. Trotz der manchem Beurteiler gefährlich aufreizend erscheinenden Atmosphäre der Bildhauer- und Malerwerkstätte arbeiten dort junge angehende Künstlerinnen von einwandfreier Ehrbarkeit im alten engen Sinne dieses Wortes. Es gibt auch heute noch Wiener Frauen, die kein Einsiedlerdasein führen, auch lebhaft und vertraut mit der Jugend verkehren, und dennoch jene Mädchen aus der Chronique scandaleuse, denen eine Einschiffung nach Cythera nicht mehr bedeutet als ein Spaziergang, nur vom Hörensagen kennen. Die stetig wachsende soziale Bildungs- und Fürsorgearbeit, namentlich in unserer Stadt, die günstigeren Wohnungsverhältnisse der früher wirtschaftlich benachteiligten Schichten wirken dahin, daß auch die jungen Töchter der Volkes zu einem Frauendasein heranreifen können, das in der Liebe weder Erwerb noch Rausch, sondern seine Krönung sieht. In der modernen Bühnendichtung, der die Jugend so gern ihr Ohr leiht, kommt // die Poesie des Mädchenstolzes langsam wieder zu Ehren. Und selbst im Lager der radikalen Umwerter aller Wert, der Kommunisten, erhob eine Frau vor nicht ganz drei Jahren ihre Stimme zugunsten des Ideals der Monogamie. Sie lehrt: „Der Wille, die einzige geliebte Person für den andern zu sein, ist in jedem Kulturmenschen vorhanden, wenn überhaupt von Liebe die Rede sein darf. Und wie die Dinge heute und für eine sehr lange Zukunft (vielleicht für immer) liegen, wird eine Einwilligung zur Untreue nie aufrichtig gegeben und längere Zeit nicht ohne häßliche Reibungen ertragen werden können. Am leichtesten und besten wird ein monogames Verhältnis wertvoll gestaltet werden können. Wenn die Menschen, vor allem die jungen Menschen wirklich ernsthaft an die bewußte Gestaltung ihres Lebens herangehen, werden sie von selbst zu der Überzeugung gelangen, daß aus all den Wirrnissen und Niedrigkeiten ihres Trieblebens nur ein Weg wirkliche Erlösung, Reinheit, Schönheit bringen kann – die Liebesgemeinschaft mit einem Menschen, mit dem sich zu verbinden, nicht nur erotisches Glück, sondern auch Steigerung des gesamten übrigen Lebens bedeutet.“ Als Kriterium des monogamen Verhältnisses bezeichnet die Bekennerin dieser Lehren den festen „Willen zur Dauer und Ausschließlichkeit“ des Bündnisses. Es ist nicht allzu schlecht bestellt um das ideelle Rüstzeug gegen einen Rückfall in primitive Erotik, wenn von der alleräußersten Linken solche Mahnungen an die Jugend ergehen.

             Die Beziehung jugendlicher Menschen zueinander reiner, natürlicher, kameradschaftlicher zu gestalten, ist einer der großen Vorzüge jener systematischen, freiwilligen Übungen der Körperkraft und Gewandtheit, die wir Sport nennen. Das Wort (es ist gemischten englisch-französischen Ursprungs) kam erst bei der vorigen Generation in Mode, wie die Betätigung, die es bezeichnet. Während aus den Erinnerungen an das achtzehnte Jahrhundert das Bild sportlichen Vergnügungen nur selten auflebt – wie etwa der Schlittschuhlauf in Weimars klassischen Tagen – haben sie sich in neuester Zeit auf unserem Kontinent in allen Gesellschaftsschichten ausgebreitet, manchmal sogar auf Kosten der Geistesbildung. Im Jahre 1878 wurde der Name „Sport“ in das Wörterbuch der französischen Akademie aufgenommen, ein Erweis für den Zusammenhang von Sprachwissenschaft und Kulturgeschichte. Wenige Neueinführungen haben auf die Mentalität und Lebensweise der Jugend so starken Einfluß geübt wie der Sport. Die zweckmäßige Tracht verscheucht die Prüderie, die kräftige Bewegung weckt Selbstsicherheit und Unabhängigkeitssinn, die mannigfachen Anforderungen an die Geistesgegenwart stählen die Widerstandsfähigkeit. Der freie Wettbewerb mit dem anderen Geschlecht, das Beisammen der Mädchen und Burschen im Freien, oft im Kampfe mit den Unbilden der Jahreszeit, stumpft ab gegen die Regungen der Lüsternheit, ungeachtet der allgegenwärtigen Schlingen Aphrodites, denen völlig zu entgehen, unnatürlich und unmöglich ist. Unter dem Einfluß des Sportes wich die Sentimentalität, die süßliche Galanterie einer früheren Zeit aufrichtigeren, wenn auch oft rüderen Umgangsformen. Vielleicht läßt sich die Meinung vertreten, daß erst der Sport unsere Jugend zu dem gemacht hat, was sie ist.

             Und sie ist nicht kernfaul, nicht schlecht. Die erschreckenden Auswüchse, bedingt durch eine Zeit politischer Gärung ohnegleichen, dürfen nicht hindern, das Gute zu sehen. Der Protest der freigesinnten Studenten gegen die Exzesse verblendeter Gewalttäter war schön und würdevoll. Eine nach Tausenden zählende Schar junger Arbeiter und Arbeiterinnen hat am Jahrestag der Gründung unserer Republik in der Volkshalle der Aufführung einer Szene aus Romain Rollands „Die Zeit wird kommen“ beigewohnt. Wie eine Mahnung klangen die hehren Worte der Einsicht und Eintracht, daß ein anderes Frankreich lebt als Deutschlands Vernichter: das Frankreich des Märtyrers der Geistesfreiheit Jaurès, des kühnen Anklägers Zola und all der Großen, deren Wirken durch den französischen Imperialismus gehöhnt und verleugnet wird. Und diese Worte fanden begeisterten Widerhall bei den jungen Hörern. Es gibt eine Jugend des echten, aufklärenden, roheitsfremden Idealismus, auch im Österreich von heute. Wie würde ein Künstler sie darstellen? Nicht in einer Gestalt, Jüngling und Mädchen nebeneinander, vielleicht im knappen Sportkleid, Hand in Hand, mutig und froh ins Weite schauend, einer besseren Zukunft entgegen – trotz alledem.

In: Neue Freie Presse, 4.1.1924, S. 1-3.

Ernst Lothar: Väter und Töchter. Ein Prozeß.

             Gottlob, um die Vatermörder ist es still und das Wort wieder geworden, was es war: ein Kragenname. Jene militanten Söhne, die noch vor kurzem zahlende Zuschauer zu ihren häuslichen Kalamitäten luden, indem sie diese zu Dramen machten und das Tischtuch zwischen sich und den Vätern zerschnitten, nachdem sie es befleckt hatten, sehen sich nach andern abendfüllenden Komplexen um; ihre Zugkraft hat aufgehört. Hinter der messianischen Attitüde, die man darin fand, daß Maturanten Fünfzigjährige prüften und Komödianten einen Vater lehrten, rauscht längst nicht mehr die Fahne der Befreiung, sondern raschelt nur noch das Papier, auf das man vergleichen drucken ließ. Man hat sich den Schaum vom Munde der Lieblosigkeit gewischt, weil es mit dem Haß allem nicht mehr ging und zeigt sich bereit, mit denselben Lippen, die „crucifige!“ schrien, melodisch abzublasen. Patres peccavimus. Die Antivätermode ist vorbei. Und die mörderischen Stücke, die die Söhne wegen der Verweigerung des Hausschlüssels schrieben, sind vorbei, weil die Schreiber befürchten müßten, auf ihnen ausgepfiffen zu werden. Seit das Überscharfe schartig wurde, wurde der Kampfplatz zum Gemeinplatz. So hat man ihn verlassen. Spät genug wurde zur Selbstverständlichkeit, daß Gegensätze nicht geringer werden, wenn man ihnen mit Messern zu Leibe, statt mit Nachsicht zur Seele geht. Jetzt ist es endlich so weit. Die Söhne drängen die Väter nicht mehr in die schwarze Rolle der Tyrannen, diese die Söhne nicht mehr in den Kerker der Rebellen. Man begann sich zu suchen. So wird man sich finden.

             Man findet sich noch nicht, man kämpft, man leidet noch, wo es nicht nur um den Unterschied der Generationen, sondern überdies um den der Geschlechter geht. Da der Waffenstillstand zwischen Vätern und Söhnen so gut wie geschlossen ist, beginnt und dauert ein anderer Prozeß um so zäher. Man führt ihn verbissen, leidenschaftlich, erbittert. Man führt ihn dogmatisch. Das Problem von heute heißt nicht mehr: Väter und Söhne, sondern, da die Töchter, innerlich und äußerlich, Männerrechte reklamieren: Väter und Töchter. Jener Auseinandersetzung gehört die Vergangenheit: dieser die Zukunft

             Wie in jedem Prozeß hat man auch hier vorerst die Klagelegitimation zu prüfen und die Fakten außer Streit zu stellen. Kläger sind die Väter. Beklagte die Töchter. Streitgegenstand: Entartung der jungen Mädchen. Klagebegehren: Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

             Ehe da? Verfahren beginnt: so viel über den Streitgegenstand gesagt wurde, die Wahrheit hat man nicht gesagt. Man versuche, das Für und Wider probater Schlagworte zu vergessen und sich parteilos, das heißt fachlich vor Augen zu halten, was zu sehen ist. Man sieht zweierlei: Die Vermännlichung des Weiblichen; die Verkennung des Weiblichen. Das junge Mädchen hat sich vermännlicht. Mit einem radikalen Entschluß hat es an sich gerissen, was ihm vorenthalten war: Beruf, Partei, Besitz. Mit einem radikalen Entschluß hat es von sich geworfen, was es dabei aushielt: Gestalt, Erscheinung, Meinung. Das junge Mädchen sieht aus wie ein Jüngling; das junge Mädchen tritt auf wie ein Jüngling; das junge Mädchen denkt wie ein Jüngling. Mithin: das junge Mädchen sieht sehr oft gegen seine Art aus; das junge Mädchen tritt gerne gegen seine Art auf; das junge Mädchen denkt manchmal gegen seine Art. Dies ist das Faktum, und es könnte zur Tatsache, die es ist, nicht geworden sein, folgte es nicht aus dem zweiten Faktum: der Verkennung des Weiblichen. Denn indem das Mädchen mit aller Vehemenz die Vermännlichung anstrebt, leistet es zugleich auf das dominierende Weibliche Verzicht. (Hier ist eine reguläre Falschmeldung richtig zu stellen: Man behauptet zumeist, daß die Vermännlichung nicht auf Kosten des spezifisch Weiblichen erfolgen, nicht zwanghaft jene Entanmutung herbeiführen müsse, deren Zeugen wir geworden sind. Wer das behauptet, verbindet sich die Augen, oder weiß nicht was Anmut ist.) Auf dem Wege ins andere Lager, so viel steht fest, hat das Mädchen gewonnen und verloren. Es gewann den Mut, sich zu ändern, es verlor die Anmut, zu sein. Das ist diesen Verlust leichten Herzens trägt, beweist, daß es verkennt, worauf es verzichtet. Man hat ihm seine Art so lange verschwommen himmelblau gemalt, bis es die scharfen Linien der Abart für die Konturen der Erfüllung hielt.

             Das ist der Tatbestand.

             Er fordere zur Abhilfe heraus, sei zur Katastrophe geworden, sagt im eröffneten Verfahren der zur Klagebegründung verhaltene Anwalt der Väter. Der Klageanwalt sagt: Was sich heute junges Mädchen nennt, ist ein Pasquill. Denn das ist weder Jugend noch Mädchentum; das ist frühaltes Raffinement und desolater Illusionsverlust. Zynisch ist es. Schamlos. Sehen Sie, wie die Beklagten vor Gericht erschienen sind? Sind diese überroten Lippen nicht Beweis? Diese Sprache der kalten, nackten, infamen Worte? Dieses respektlose Lachen? Diese lächerliche Tracht, die die Röcke kindlich kürzt, um die Gesichter greisenhaft zu altern? Beweist es nichts, daß diese Neunzehn- und Zwanzigjährigen, deren eine wie die andre, jede wie aus einem Tanzhaus aussieht, vom tollen Ehrgeiz gepackt sind, alle Farben der Natur geniert auszulöschen und die Schminke aller Unnatur triumphierend aufzutragen? Dieser Zwittergeneration, der auf dem Irrweg zum Männlichen der Rückweg zum Weibe verloren ging, sind die Begriffe verloren gegangen, die den Inbegriff des Weibes bedeuten und erhöhen: Scham, Demut. Scham? Wo finden Sie sie? Auf überroten Lippen, die gewohnt sind, Gespräche zu führen, Scherze zu erzählen, Zweideutigkeiten zu ermuntern, deren Allgemeinheit nur ihrer Gemeinheit gleichkommt? Auf geschminkten Wangen, in berechnenden Blicken, in der ganzen willkürlichen Preisgegebenheit, in der sich das Geben nach dem Preise richtet? In diesem allem Zurschau-, zu allem Bereit-, von allem Berührt-, von nichts Ergriffensein? In dieser schnöden Ausflucht, die den Mantel der Kameradschaft über die Blöße des Zynismus hängt? Scham? Sie finden sie nicht. Denn sie fiele allzu lästig an den geweihten Stätten, wo die Altäre dieser Generation stehen: auf den Fußballplätzen, bei den Niggertänzen: in der Welt, die der Ingenieur gemacht, der Intellekt geheiligt, die Spekulation bezahlt hat. Scham ist ein Defekt geworden, dessen man sich schämen muß. Habe ich Demut gesagt? Wo in aller Welt sind Sie ihr begegnet? „Entgötterung“ heißt das Stück, das das Welttheater täglich vor ausverkauften Saale spielt und das die Menschen so zum Lachen, weil es die Götter und die Gottheit bringt. Siehe da, der Heiligenschein ist ein Rundstreifen Goldpapier, die Größe eine Machination der hohen Stöckel, die Ewigkeit das Manöver einer falsch gestellten Uhr. Herunter mit der Draperie! Werdet unseresgleichen! Werdet klein! Da klatschen die Zuschauer Beifall. Sie sind entzückt von der Komödie, die ihnen beweist, daß es absurd ist, zu verehren. Schiller ein Phänomen? Hört ihr von Bombast seiner Rede, das Oberlehrerpathos seiner Phrase? Wagner grandios? Dieser tückische Intrigant? Bismarck ein Staatsmann? Laßt euch erzählen, was er ans Varzin bei Tische sprach! Und Jesus Christus – Mensch, haben Sie denn nicht gelesen, daß es ihn nicht gab? Unwiderleglich bewiesen, daß jene Stelle bei Josephus Flavius apokryph ist? Verehrliches Publikum! Das Hohe hat nie gelebt; das Große ist klein; das Venerabile ein Schwindel. Hereinspaziert, bei uns sehen sie alles, wie es ist, wir lassen uns nichts vormachen, wir jungen Menschen von heute, wir bewundern nicht, wir respektieren nicht, wir pfeifen auf den Humbug, wir jungen Menschen von heute…. wir stehen nicht mehr Spalier. Denn wir haben zu viel Intellekt! Wir haben zu viel Witz! Und mit Intellekt und Witz wird ein Apostel zur Kabarettfigur. Demut? Sie finden sie nicht. Nicht Scham, nicht Demut. Zynismus statt dieser, Intellekt statt jener. Das ist fürchterlich. Aber derselben jungen Generation, der nichts heilig ist, wird morgen das Heiligste überantwortet sein: diese jungen Mädchen sind die Mütter, sind die Erzieherinnen von morgen. Alles oder nichts der Zukunft hängt von ihnen ab. Deshalb haben wir die Klage erhoben. Deshalb beantragen wir, daß ihr stattgegeben werde…

             Jetzt ist es an den Beklagten, zu antworten. Sie führe ihre und der andern Sache selbst, erwidert eine von ihnen, steht auf, tritt vor und spricht. Blaß unter dem Puder, schmal, straff steht sie da. Entschlossen schaut die aus erregten, großen, wissenden Augen. Kein Blick seitab. Keiner nachgiebig. Ganz wenig zittert ihre Stimme, als sie zu reden beginnt. Dann redet sie sich frei. Sie wolle offen reden, sagt sie. Schonungslos. Man muß, sagt sie, die Wahrheit sagen… endlich! Wir jungen Mädchen sind anders geworden, ja. Deshalb klagt man uns an. Warum aber – warum sind wir anders geworden? Darauf hat sich der Advokat unserer Väter mit keiner Silbe eingelassen. Ich will es sagen: Wir sind anders geworden. Weil es, wie es gewesen ist, nicht länger zu ertragen war. Weil es unmenschlich war! War das, was zu leben man uns ansann, denn Existenz? Wir sind erzogen, sind in Watte gewickelt, sind herangebildet worden, gewiß. Wir haben Englisch gelernt und Kunstgeschichte. Oder Buchhaltung. Oder Kochen. Und wir haben Tennis gespielt. Und man hat uns zu Konzerten geführt. Aber wir sind im Zimmer gewesen. Achtzehn oder zwanzig Jahre im Zimmer. Das Zimmer war weiß und hatte nette, blanke Möbel und nette, lichte Vorhänge und possierliche weiße Teddybären gehabt. Gewiß. Wenn aber draußen wer vorbeigegangen ist, hat man „Pst!“ gemacht. Wenn draußen wer geredet hat, hat man „Pst!“ gemacht. Wenn etwas gestehen ist, irgendetwas außerhalb des Zimmers mit den netten, blanken Möbeln, hat man „Pst!“ gemacht… achtzehn oder zwanzig Jahre. Und diese achtzehn oder zwanzig Haftjahre mußten doch einem Zweck gedient haben? Diese Vorsicht und Kerkermeisterschaft mußte doch an ein Resultat gewendet worden sein? Sie hat auch einem Resultat gedient: der Heirat. Eines Tages zeigte man uns wen und verlangte: Den wirst du heiraten. Ob er einem mißfiel oder nicht, ob er einem innerst entgegen war oder nicht: Den wirst du heiraten. Und dann lehnte man sich auf. Und dann wurde man der Auflehnung müde. Und dann wollte man aus dem Zimmer mit den netten, blanken Möbeln, so oder so! Und so wurde man verkuppelt. So wurde man Frau. So wurde man jämmerlich hintergangen. Vorher: Nichts. Nachher: Qual. Alles Lüge, was man einem vorgeredet hatte. Lüge der Elternliebe, die einen schließlich feilbot. Lüge das Versprechen von den „glücklichen Ehen“, das einen gefügig machen sollte. Glückliche Ehen? Und wo gab es sie? War das glücklich, was man vor Augen hatte? Sind die Ehen unserer Eltern glücklich? Verrat sind diese Ehen, Mißbrauch, Demütigung, Enttäuschung, Maske und Verzicht. Und dafür wurde man herangezogen. Für nichts sonst. Für einen Bankrott.

             Aber… dann wurde es draußen zu laut, als daß man immer noch „Pst!“ hätte machen können. Dann kam der Krieg, und man konnte uns brauchen. Wir, die Menschenalter hindurch zu nichts zu gewesen waren, wurden plötzlich Gehilfen. Wir traten nahe hin. So sahen wir. Wir sahen leben. Wir sahen sterben. Wir sahen, wie ungeheuer viel zu tun war und wie ungeheuer schlecht man es tat. Da fühlten wir, wie stark wir waren! Wie viel Kraft man in uns zurückgedämmt, an wieviel Leistung man uns verhindert, wieviel Versäumnis man unverantwortlich an uns verschuldet hatte. Es gibt keine Privilegien des Geschlechts. Nur der Kraft. Wir hatten die Kraft. Mit einem Schlage, herrlich begierig, herrlich entschlossen, traten wir hervor und zeigten die Kraft. Wir halfen. Wir bewiesen, daß man uns unterschätzt hatte. Wir leisteten. Wir vegetierten nicht mehr. Wir sind anders geworden.

             Wir sind anders geworden. Rosenrot und Himmelblau sind unsre Farben nicht mehr. Selbstverständlich. Wir haben zuviel Schwarz gesehen. Und die Augen niederzuschlagen, haben wir verlernt. Selbstverständlich. Wir mußten sie ja zu lange offen halten. Und Respekt zu haben, fällt uns schwer. Selbstverständlich. Zu viel Kleinheit, zu viel Niedertracht ist an uns herangekommen. Respekt vor den Männern, die uns brotneidig wegdrängten und denen wir, was uns gebührte, wie eine Gnade Schritt um Schritt abringen mußten? Respekt vor den Männern, die uns hinter einem weißen Gitter einsperrten, damit wir ihnen zu Willen, nicht zur Konkurrenz seien?

             Wir sind, wie wir werden mußten. Wir haben uns kraß vermännlicht, weil man uns kraß verweiblicht hat. Wir tragen die Schminke der Zeit, weil wir sonst unterlägen und weil man uns so will! Wir sind keine Gänschen mehr, weil die Epoche nicht reicht genug ist, mehr Gänschen und weniger Gehilfen zu besitzen! Wir sind, wie wir sind.

             So können wir nicht Rücksicht nehmen. Auf niemanden und auf nichts. Nicht auf Scham, die durch und durch steril ist, nicht auf Demut, die immer zurück zeigt. Wo auf der einen Waagschale die Existenz, auf der andern die Konvenienz liegt, darf keiner etwas anderes wollen, als: sich. Unbeirrt. Ungezwungen. Jeder ist Mensch. So will er selbst sein. So will er sich entwirken. So will er nicht verzichten müssen. Keiner will sich opfern… wer lehrt denn noch solch eine lächerliche Lüge! Und wer einem die Fußbank des Gottgefallens, der Moral, des Ideals – dieses alte, wurmstichige, von jedem Betrug abgescheuerte Requisit unterschiebt, lügt nicht nur, sondern lähmt! Lähmen lassen wir uns nicht mehr. Wir wollen unsern Anteil. Den Anteil Leistung, den Anteil Lust. Die Rechnung stimmt, es bleibt kein Rest. Deshalb beantragen, nein, deshalb verlangen wir, daß die Klage abgewiesen werde…!

             Das sind die Standpunkte.

Was an diesen Standpunkten ist wahr? Es ist wahr, daß der Existenzkampf, den die junge Mädchengeneration führt, notwendig, unaufhaltsam und gerecht ist. Es ist wahr, daß eine Zeit, die sich behauptetermaßen der Menschenrechte an- und den Mund von sozialen Pflichten vollnimmt, an der primitivsten Gemeinschaftspflicht: der absoluten, unverkürzten Gleichstellung der Geschlechter nichts mehr zu belächeln finden darf. Den Artikel 7 unserer Verfassung müßten alle Männer solange memorieren, bis sie begriffen haben, daß er nicht Juristen-, sondern Menschengesetz ist: Die Frau hat dieselben Rechte wie der Mann. Kein Spott, kein noch so witziges Argument, keine Ironie, keine Infamie kommt dem bei. Da die Frau, die gereifte wie die junge, sich bewiesen hat: exemplarisch bewiesen; bewiesen als Entbehrerin; bewiesen als Lehrerin; bewiesen als Leisterin, ist ein Gegenbeweis nicht mehr anzutreten, weil es keinen gibt. Wo immer die Frau ihren Platz gesucht hat, sie hat ihn behauptet: Wenn also nicht ihr Menschenrecht, so spricht die Leistung für sie. Die Leistung spricht sie frei. Es ist unwidersprechlich wahr, daß die jungen Frauen um ein Erbe kämpfen das ihnen längst hätten eingeantwortet sein müssen.

Und es ist unwidersprechlich wahr, daß sie diesen Erbprozeß schlecht führen; es ist unwidersprechlich wahr, daß sie vielfach die Scham, daß sie vielfach die Demut verloren oder vernachlässigt haben. Aber wenn Gleichberechtigung das Sittengesetz des Geschlechts der Menschen, so ist Scham und Demut das Sittengesetz des Geschlechts der Frau: Scham ist die Fruchtbarkeit des Erkennens, Demut die Fruchtbarkeit des Gefühls. Was an Widerstand, an pharisäischem wie ein überzeugtem, sich der jungen weiblichen Generation noch entgegenwirft, rührt ausschließlich aus ihrer Verleugnung. Hiemit drapiert sich die Konkurrenzpanik der in der Leistung Minderwertigen, dies legitimiert die Vätergeneration, ab-, statt freizusprechen. Die jungen Frauen kämpfen um sich selbst. Doch indem sie sich finden, verlieren sie sich. Indem sie dem Berufe zueilen, verlassen sie ihre Berufenheit. So kehrt man ihre Waffen gegen sie. Warum haben sie sie vergiftet? Warum verführen sie die Welt zu der abgrundfalschen Meinung, daß sie einem nichts gebe, ehe man sich preisgab? Warum? Aus demselben Grunde, der die Wortführerin der jungen Generation behaupten ließ, ihre Rechnung stimme ohne Rest.

Die Rechnung stimmt. Bleibt wirklich kein Rest? Er bleibt, bleibt schmerzhaft. Hat man nicht gehört, wie präzis und streng die Klage war? Wie exakt und streng die Antwort? Streng. Streng. Die Welt hat die Wärme verlernt. Staatsanwälte alle, Anwälte der Entherzung. Alle klagen an. So bleibt ein Rest. Ein ungeheurer Erdenrest Sehnsucht, ein ungestillter, innerster, stürmischer Wunsch nach Versöhnung. Väter und Töchter. Klingt da nicht eine Saite? Schwingt sie nicht mit einem vollen, klaren, bluttiefen Ton? Väter! Fordert nicht Privilegien, gebt und fordert Herzrecht! Töchter! Laßt euer Wissen Ahnung werden! Ahnung der ungeheuren Sehnsucht einer beschmutzten, frierenden Welt nach Wärme, nach Reinheit. Ahnung, daß ihr zu wenig Liebe habt, um genug Scham und Demut zu haben. Und daß ihr geschaffen seid, aus Scham, Liebe und Demut die Zukunft zu gebären, in der ihr sein sollt, was ihr wollt: Berechtigte, und was ihr müßt: Mütter. Dann wird der Prozeß, den man gegen euch führt, keine Rechts-, sondern ein Entwicklungsprozeß, mithin für euch unverlierbar sein.

Das ist das Urteil.

In: Neue Freie Presse, 17.10.1926, S. 1-4.

P. Stf. [= Paul Stefan]: Sensation einer französischen Kunstausstellung.

Heute wird in der Galerie Würthle eine Ausstellung zeitgenössischer französischer Kunst durch den französischen Gesandten feierlich eröffnet werden, die auf viele gewiß mit der Vehemenz einer Sensation wirken wird. Es handelt sich um nichts Geringeres als um eine Zusammenfassung aller oder doch der wichtigsten in dem Frankreich von heute wirkenden Kräfte, um einen Querschnitt durch das Schaffen der allerjüngsten Jahrzehnte. Angeregt wurde diese Ausstellung durch die große Schau der „Independants“ im Petit Palais, die eine Art Annex der Weltausstellung bildete. Sie begann dort, wo die bewundernswerte historische Ausstellung der französischen Malerei endete – an der Schwelle des 20. Jahrhunderts. Nur war es allerdings für Wien bloß möglich, Aquarelle und graphische Blätter zu zeigen; auch diese nur im Ausmaß der zur Verfügung stehenden Räume. Merkwürdig genug ist es aber, daß ein großer Teil dieser Wiener Ausstellung vom Wiener Privatbesitz hergeliehen werden konnte. Es gibt also bei uns Sammler, die mit den repräsentativen Künstlern auch der französischen Malerei von heute in Verbindung stehen – so wenig sie dem großen Publikum bekannt ist.

             Nun ist es fast unmöglich, in diesem Rahmen auch nur die wichtigsten dieser Künstler zu nennen und erst recht, ein Gesamtbild der wirkenden Kräfte zu geben. Halten wir uns an eine Art historischer Anordnung, so beginnt diese große Schau mit dem Übergang vom Impressionismus zu einer Art neuen Tradition. Hier seien vor allem Bonnard, Roussel, Signac genannt. Es ist die Generation der heute Siebzigjährigen. Um etwa ein Jahrzehnt jünger sind die „Wilden“ („Fauves“) wie Matisse, Dufy, Vlaminck, in dieser Ausstellung besonders eindrucksvoll vertreten, Othon Friesz, Derain, Guérin (zwei reizende farbige Blätter), Andrè. Die Kubisten, in großen Wandlungen begriffen, so insbesondere der in Paris lebende Spanier Picasso, der eine völlig klassizistische Periode gehabt hat (wie etwa in der Musik Strawinsky). Zu nennen Braque, einer von den Ur-Kubisten, Gleizès, Metzinger, Lhote, Picabia, Léger. Die verschiedensten Generationen sind durch den Kubismus durch- oder an ihm hart vorbeigegangen. Ihnen widersprechen die Realisten wie die heute 70jährige Suzanne Vallodon und ihr berühmter Sohn Utrillo, der Maler des Montmartre und der Vorstädte, Modegröße ersten Ranges, aber bei weitem mehr als das. Völlig „Idépendante“, also nach allen Seiten Unabhängige sind Chagall, geborener Russe, Modigliani, der noch vom alten „Simplizissimus“ her bekannte Pascin (geborene Bulgare), die zarte Marie Laurencin, der ganz weit und stark ausholende Marcel Grommaire und schließlich einige Allerjüngste, wie Lhermitte, Goerg (geborener Australier) usw.  – man könnte, ja man müßte noch viele Namen nennen, auf viele von diesen anderthalb Hundert Blättern hinweisen, wie etwa auf die reizende Giraudoux-Szene von Chirico.

             Dabei wird niemand so geschmacklos oder so snobistisch sein, durchaus alles, was in der Ausstellung gezeigt wird, gutzuheißen oder gar in den Himmel zu erheben. Man wird sogar behaupten dürfen, daß das ungestüme Suchen so mancher Künstler die Grenzen des Möglichen gelegentlich mißachtet hat. Aber wie viel geniale Begabung ist doch hier überall ausgebreitet! Wie viel Anregungen kommen aus dieser Unzufriedenheit mit dem Übernommenen, die dennoch die große Tradition der Malerstadt Paris nie gänzlich außer acht läßt. Das ist es, was uns diese Ausstellung so wert macht: daß sie aufs neue Zeugnis gibt von der ungebrochenen Kraft der französischen Kunst, von der Freiheit ihrer Entfaltung und der weisen Selbstzucht, mit der diese Freiheit in der Regel, man darf sagen grundsätzlich, gebraucht wird. Französische Kunst ist heute anders, als sie mancher erwartet. Sie ist die gleiche, die sie einst war, in der Fülle ihrer Begabung und ihres Könnens.

In: Die Stunde, 25.2.1938, S. 4.

Fritz Feder [= Jura Soyfer]: Avantgardistisches Theater im Hagenbund.

GENERALPROBE. Der kleine Theatersaal ist kaum geheizt. Die Schauspieler sind übernächtigt und nervös. „das Technische“ klappt nicht. Ja, wenn ein regelrechter Inspizient vorhanden wäre und eine Schar von Bühnenarbeitern – wenn man Maschinerie und Personal eines großen Theaters zur Verfügung hätte – dann würde sich jetzt gerade in diesem „Technischen“ das ganze Genie des Regisseurs offenbaren. Hier aber muß er in mühseliger Selbstbeherrschung feststellen: es klappt nicht; muß sich von Minute zu Minute immer mehr überzeugen lassen, wie notdürftig sich in Wirklichkeit all die Gongschläge, Grammophon-Melodien, Beleuchtungseffekte ausnehmen, die er blitzenden Auges im Regiebuch vermerkt hat; muß jeden seiner Einfälle krampfhaft verteidigen gegen die ringsum aufsteigende Hysterie, die da fordert: Rette, was noch zu retten ist! Laß alles aus, bis auf den nackten Text! Seien wird froh, wenn wir das Stück überhaupt nur irgendwie abrollen lassen können, auf diesem armseligen Nudelbrett von einer Bühne!

Aber die Schauspieler, der Beleuchter, der Bühnenbildner gebärden sich mutloser, als sie in Wirklichkeit sind. Sie werden bis spät in die Nacht durchhalten. Sie werden am nächsten Tag zu einer weiteren noch generaleren Generalprobe antreten. Sie werden trotz Grippe und Müdigkeit, elektrisiert vom Lampenfieber, sich mit Einsatz aller Kräfte in die Premiere stürzen. So wird die Aufführung auf dem „Nudelbrett“ zustande kommen, wird die Durchschnittsleistung der großen Theater geistig bei weitem übertreffen und dies ohne andere Mittel als die Energie eines Dutzend theaterbesessener junger Menschen.

Das ist ein altes Lied: das Lied vom avantgardistischen Studio.

In dieser Woche war die Theatergruppe des Dr. Ernst Rohner an der Reihe, all die Geburtswehen einer solchen Premiere durchzumachen. Aufgeführt wurde „Die Unbekannte von Arnas“, das Werk eines jungen Franzosen namens Salacrou. Vornehmlich aus zwei Gründen ist diese Aufführung beachtenswert. Erstens ist das Stück selbst künstlerisch sehr interessant und stellenweise von genialen Einfällen getragen. Zweitens ist es dieser seiner hohen Qualität wegen äußerst instruktiv über die ganze künstlerische Richtung, der es angehört, und – was besonders wichtig ist – charakteristisch für die Situation aller avantgardistischen Theatergruppen in Wien.

Ein Mann in gutbürgerlichen Verhältnissen namens Ulysse erschießt sich, weil seine Frau ihn betrogen hat. Ehe er sich aber dem Jenseits zuwendet, hat der Tote noch hienieden ein Stück Weg zurückzulegen. Alle Erinnerungen seines Daseins erscheinen nämlich in der Wohnung und in ihrem Kreise muß er alles noch einmal durchmachen, was ihm seit der Kindheit an menschlichen Erschütterungen begegnet ist, kurz gesagt, er muß sein Leben repetieren. Dieses Nochmals-Erleben erfolgt nicht chronologisch, sondern als sehr bewegtes Durcheinander. (Als ein „Jahrmarkt“, wie der Kammerdiener Nicola es ausdrückt, der eigentlich gar kein Kammerdiener ist, sondern die Fäden des ganzen mystischen Geschehens in der Hand hält.) Das Längst-Vergangene vermischt sich mit dem Eben-Geschehenen und sogar mit der Gegenwart, das heißt, mit dem, was nach dem Tode Ulysse geschieht. In dieser sehr kompliziert verschlungenen Vielheit der Zeiten und in der vollständigen Einheit des Ortes – alle drei Akten spielen im selben Wohnraum – tritt also Ulysse seine Odysse[e] zum zweiten Male an.

Er begegnet den Frauen, die er geliebt hat, angefangen von seiner Mutter. Er stürzt in die Arme seines Jugendfreundes, des sechzehnjährigen Jugendfreundes, der keine Ahnung hat, daß er als Vierzigjähriger dem Ulysse die Frau stehlen wird. Er läßt sich gerührt von einem zwanzigjährigen Offizier in Kavallerie-Uniform segnen: dieser aus einem Bildrahmen Herabgestiegene ist Ulyssens Großvater, blutjung gefallen in der Schlacht von Gravelotte, der Held der Familie. Aber knapp vor seiner Abreise ins Feld hatte dieser prächtige Offizier des Geldes wegen eine alte Frau genommen, und wie alles andere, muß Ulysse jetzt auch den schmerzlichen Moment wiedererleben, da er von dieser Ehe erfährt und damit das Ideal seiner ersten Jugend zusammenbrechen sieht.

Daß er dieses ganze Leben schon einmal gelebt hat, nützt ihm nichts. Jede Illusion und jede Enttäuschung, jeder Schmerz und jede Beseligung ziehen ihn, der doch den Ausgang im voraus weiß, unvermeidlich wieder in ihren Bann. Es ist so, als lebte er all dies zum ersten Male. Nur am Schluß, als er vom Betrug seiner Frau erfährt, scheint es einen Augenblick lang, als dürfte er die Lehre aus dem repetierten Leben ziehen. Er komm nämlich zur Erkenntnis, daß die Frau des Selbstmordes nicht wert ist, daß er dieses Los ertragen muß wie die übrige Durchschnittlichkeit seines Lebens, daß er außerdem hienieden noch viel zu lernen und zu genießen hat. Kurz: er will sich nicht umbringen.

Aber da reicht ihm der Kammerdiener (grotesk und mysteriös wie eine Gestalt von E.T.A. Hoffmann) den Revolver und erklärt: Nichts zu machen! Der Schuß ist schon gefallen. Worauf Ulysse die Waffe nimmt und der Schuß fällt.

Hat er sich zufällig umgebracht? „Nein,“ meint der Autor Salacrou, „es gibt keinen Zufall!“ Und um dieses wichtigste Fazit seines Stückes zu unterstreichen, hat er es eben nach jenem unbekannten Mädchen von Arnas benannt, das dem Ulysse einst im Weltkrieg begegnete. Er hat sie zufällig in einer evakuierten Stadt an der West-Front kennengelernt und sogleich wieder verloren. Es ist ihm nicht gelungen, irgend etwas über sie zu erfahren – nicht einmal ihren Namen. Vielleicht, wenn der Zufall sich anders gewendet hätte, hätte er sie geliebt und geheiratet.

Vielleicht wäre sein Schicksal anders abgerollt, wenn er diese Unbekannte erkannt hätte. Aber sein vorgezeichnetes Erdenschicksal war es eben, sie nicht kennenzulernen. Erst im Jenseits wird sie ihm sagen, wer sie ist.

Das ist die möglichst einfache Wiedergabe des sehr schwierigen Stückes. Lange und ausführlich ließe sich noch an ihm herumdeuten. Lange und ausführlich ließe sich noch vom dramaturgischen und philosophischen Standpunkt pro und contra sprechen.

Aber es gibt anderes dazu zu sagen, das für uns alles wichtiger ist.

Armand Salacrou gehört, seinem Stück nach zu schließen, zu den französischen Surrealisten. In den ersten Jahren nach dem Weltkrieg haben breite Schichten des französischen Publikums und an ihrer Spitze eine Reihe prachtvoll begabter junger Schriftsteller gegen die bestehenden Kunstformen revoltiert. Eine Welt neuer Probleme war stürmisch zutage getreten. Die hergebrachten Formen schienen keine geeignete Ausdrucksmöglichkeit mehr zu bieten. In dieser Zeit haben die Surrealisten, kühn experimentierend, Neues zu schaffen versucht. Was ihnen gelang, war viel zu wenig. Nämlich – was Theater betrifft – nur die Befreiung von starren, formalen Gesetzen der Dramaturgie. In dieser Beziehung haben sie den Expressionismus fortgesetzt und vollendet. Aber weiter kamen sie nicht. Nach einer Etappe wirklichen Fortschrittes trat Stillstand ein: es wurde nur mehr um des Experimentes willen experimentiert, es wurde mit Formen gespielt, was man sagte, wurde sekundär gegenüber der Manier, wie man es sagte.

Um diese Zeit wendete sich einer der führenden Surrealisten, Aragon, von seiner eigenen Schule ab. Und er blieb nicht der einzige. Heute gibt es in Frankreich eine breite Bewegung von Schriftstellern, die sich in Lyrik, Epik und Drama der ewigen Quelle aller Kunst zugewandt haben: dem Volk, mit seinen tausendfältigen lebendigen Lebensproblemen.

Und eines, worüber Lyriker sowie Epiker untereinander noch diskutieren mögen, kann für Theatermenschen doch kaum mehr fraglich sein: nämlich daß in allen Zeiten der Geschichte das Theater nur dort, nur dann groß und fruchtbar war, wo seine Leidenschaften die von Hunderttausenden waren.

Und von dieser Feststellung wollen wir nun zu den Wiener Theatern zurückgehen. (Zurückgehen – in jeder Beziehung.)

Die herrschende Wiener Theaterproduktion, welche sich derzeit merkwürdigerweise einer relativen wirtschaftlichen Konjunktur erfreut, steht geistig auf einem äußerst tiefen Niveau. Was die großen Unternehmungen anstreben, bewegt sich zwischen dem Amüsement und dessen etwas würdiger klingenden deutschen Übersetzung: Unterhaltung. Nur ein erschreckend geringer Prozentsatz der aufgeführten Stücke läßt sich in diese primitive Wertordnung nicht einreihen. Ein künftiger österreichischer Theaterhistoriker wird diese Epoche mit ein paar bedauernden Worten abfertigen müssen. Das weiß so ziemlich jeder, der mit dem Theater zutun hat. Die einen kümmern sich nicht darum – die anderen leiden darunter und wollen es seit Jahren besser machen. Sie waren vor Jahren eine einflußlose Minderzahl. Und das sind sie bis heute geblieben.

Warum? Hat es in diesem Lager an Talenten gefehlt? Gewiß nicht. Die großen Theater haben aus den kleinen Gruppen der Jungen die lohnendste Akquisition gemacht. Hat es am ehrlichen Willen gemangelt? Ohne die Lockungen zu unterschätzen, die von einer großen Gage ausgehen, läßt sich nüchtern sagen: nicht bei allen hat es am ehrlichen Willen gemangelt.

Liegt es also am Publikum? Will das Publikum um keinen Preis etwas anderes sehen als geschickt geschriebene, nichtssagende Stücke? Wenn es wahr ist – warum suchen sich die Studios kein anderes Publikum als das eine, an das sie sich seit soundsoviel Jahren vergeblich wenden? Und wenn es nicht wahr ist, warum ist und bleibt all die bewundenswerte Arbeit eine Sisyphusarbeit?

Über all diese Fragen müßten wir alle, denen es ums Theater zu tun ist, einmal nachdenken.

Gibt es zwischen dem Happyend eines Singspieltenors und dem doppelten Selbstmord eines avantgardistischen Ulysses wirklich keine Möglichkeit, die ein Experiment lohnen könnte?

In: Der Tag, 21.2.1937, S. 22.

[E. R.]: Luftmalerei und Luftskulptur.

Die Kunstschöpfungen der Fliegerin Pascalis und Marinettis Gegenaktion.

                                                                                                                                       Paris, im März.

             Vor einigen Wochen stellte hier Frau Louise Pascalis „Luftbilder“ aus. Das sind bildliche Darstellungen der Wolken und der Erde, wie man sie von einem Flugzeug aus sieht. Auf den Gemälden war das Flugzeug teilweise geschildert. Frau Pascalis ist Fliegerin und kann sich rühmen, daß sie die Maschine geschickt zu steuern weiß, aber von Malerei versteht sie nichts, und sie wird, nach ihren ersten Proben zu urteilen, wohl kaum lernen, mit dem Pinsel umzugehen. Deshalb wurde von ihrer gewiß originellen Ausstellung nicht die geringste Notiz genommen, und man würde wahrscheinlich nie mehr von ihr gesprochen haben, wenn nicht die Futuristen, welche die „Aeropeinture“ erfunden haben, es für notwendig gehalten hätten, gegen die von Frau Pascalis an den Tag gelegte Auffassung von „Luftmalerei“ energisch zu protestieren. Marinetti und seine Schuler sind die Begründer dieser „neuen Kunst“ und wollen sich nicht verdrängen lassen. Um der Mitwelt recht deutlich zu zeigen, wie richtige „Aeropeinture“ ausschabt, haben sie rasch eine Ausstellung italienischer futuristischer Luftbilder im Renaissancesaal in der Ruhe Royale veranstaltet, eine Ausstellung von Werken Prampolinis und seiner Anhänger. Zur Eröffnung ist Marinetti höchstpersönlich in die Seine-Stadt gekommen, und bei dieser Gelegenheit hat er seine Meinung in recht kräftigen Worten geäußert, wie man es von ihm gewöhnt ist.

Seit seinem Hervortreten mit „futuristischen Ideen“ ist Marinetti um mehr als Dezennien älter geworden, aber er hat sich indessen kaum verändert. Er macht sich durch das gleiche Ungestüm bemerkbar wie früher, durch dieselbe geschwollene Rhetorik und durch ein unvermindertes Talent, Zukunftslosungen hinauszuschreien. Vor zwölf Jahren hat er den Taktilismus, die Tastkunst, entdeckt. Dann hat er Symphonien aus verschiedenen Geweben komponiert. Hierauf hat er die Kochkunst der Zukunft den Musen angehängt. Nun ist ihm die Luftmalerei nicht mehr neu genug und daher träumt er bereits von der „Aeroskulptur“.

Die „Aerokunst“ ist überhaupt ein Lieblingsgebiet der Futuristen. Im Jahre 1908 veröffentlichte Marinetti ein Gedicht in freien Versen, das die erste lyrische Verherrlichung des Fliegens war. Andere italienische Dichter wandten sich darauf ebenfalls der Aeropoesie zu. Im Jahre 1926 entwarf der inzwischen verstorbene Azari die ersten Luftgemälde. Dottori wandte die neue Kunst bei den Dekorationen des Flughafens in Ostia an. Diese der modernen Technik angepaßte Malkunst ist eine besondere Form des Vitalismus, die Verkörperung des ständigen Strebens nach Steigerung der Lebensleidenschaft und parallel damit der sinnlichen Genüsse. Die neuen Aspekte sollen in einer neuen Harmonie aufgelöst werden, die keine Festigkeit kennt, im Gegenteil, nur in der ständigen Bewegung existiert.

Dies und ähnliches konnte Marinetti diesmal vor dem aus Snobs zusammengesetzten Publikum, das zur Vernissage erschienen war, in aller Ruhe auseinandersetzen. Vor einem Dutzend Jahre war es anders. Damals machten die Dadaisten einen solchen Höllenlärm, daß Marinettis Stimme im Tumult völlig unterging. Seither jedoch hat der Futurismus auf der ganzen Linie gesiegt, wenigstens in Italien, wo er förmlich zur Staatskunst ausgerufen worden ist, der Dadaismus dagegen, der Surrealismus, der Orphismus und andere Ismen sind auf der Strecke geblieben. Marinetti gibt sich freilich mit diesem Erfolg nicht zufrieden. Er verlangt von seinem Vaterland mehr Anerkennung. Er macht für sich und seine Anhängerschaft die Ehre geltend, Italien an die Seite der Alliierten gebracht zu haben. Und in diesem Zusammenhang ist es nicht verwunderlich, daß er von d’Annunzios Initiative nicht viel hält und bloß seinen persönlichen Mut schätzt. Denn Marinettis Glaubensbekenntnis ist das der Tat. Er mengt Kunst mit Politik. Das merkt man den Werken seiner futuristischen Anhänger an.

In: Der Tag, 20.3.1932, S. 26.

Oskar M. Fontana: „W.U.R.“ von Karel Capek

             Der Golem war die Erfindung eines individualistischen Zeitalters. Als dieses kollektivistisch wurde, mußten auch aus dem Golem Golems werden. Diesen Schritt ging Karel Capek – merkwürdig die Vorliebe der Prager zum Golemmythos –, indem er das utopische Kollektivdrama von den Robotern schrieb. Roboter sind die in der Maschine erzeugten Menschen, viel einfacher und zweckmäßiger gebaut als die wirklichen Menschen. Die Natur wurde auf den Ingenieureinfall reduziert. Und so unempfindlich für Freude und Schmerz sind diese Roboter, daß die Gesellschaft zu ihrer Erzeugung (eben W.U.R. oder Werstands Universal Robots) ihnen schmerzempfindliche Nerven geben muß, damit sie länger in Gebrauch sein können, damit sie durch den Verlust der Schmerzlosigkeit auch sich selber schonen. Nach zwanzig Jahren sind sie kaputt, zerfallen sie, müssen sie in den Stampftrog, wo sie wieder von Maschinenhänden geknetet werden. Aber die Roboter, geschaffen zur Entlastung der Menschen von der Arbeit, werden sein jüngstes Gericht. Statt zum Friedenswerkzeug, werden sie als Mordinstrumente benützt. Der Mensch selber erträgt die Nichtarbeit nicht und geht in Orgie unter wie ein mit Wasser vollgesoffener Schwamm, bis sich die Roboter aller Länder gegen den Menschen vereinen und ihn unerbittlich, mit der Prägnanz von Maschinen, ausrotten. Mit den Menschen ging das Geheimnis der Roboterfabrikation unter, die Formel wurde vernichtet, und keiner findet sie mehr, auch der einzig überlebende, der letzte Mensch nicht. Millionen Roboter fallen jährlich in Stücke, ohne daß neue erzeugt werden, ohne daß sie selber neue zeugen können, denn sie haben nur die Zeichen des Geschlechts, aber nicht das Geschlecht selber. Aber wieder wird Adam und Eva. Aus den Robotern wächst ein Paar, das mehr als Maschine ist, das Mensch wird – in Liebe. Dieser Bogen, der von der Empörung zur Liebe führt und als ganzes die Menschwerdung überspannt, ist schön. Aber er wird mehr im Gedanklichen fertig als im Dichterischen. Dieses bleibt am Rand, vermag sich nicht auszubreiten, schimmert über, aber nicht aus den Szenen, ist nicht Karels Kraft, sondern seine Sehnsucht. Nicht daß er von Shaw, Wells und Georg Kaiser gelernt hat, ist seine Schwäche, sondern daß er in entscheidenden Wendungen zu schematisch, zu logisch wird, Gedankliches und Dichterisches verkürzt bringt, aber nicht seelisch verkürzt, sondern theatralisch verkürzt. Schon in den Namen: So heißt der Zentraldirektor Domin (von Dominus – Herr), der die Maschinenmenschen zum Aufstand bewegende Roboter Radius, das letzte Schiff, das den Menschen bleibt, Ultimus, und der erste Roboter, der Mensch wird, Primus. Alles wird dir, Theaterbesucher, gesagt, es bleibt dir nichts zu erraten. Aber das Geheimnisvolle bei aller Klarheit gehört zum Wesen der Kunst. Theatralische Verkürzungen: Wenn eine Amme Volkesstimme und damit Gottesstimme posaunen soll – wenn die Formel zur Erzeugung der Roboter verbrannt wird, nicht von einer Frau (das wäre schön), sondern von einer Laune – wenn die Liebe aus den Robotern Menschen macht (oh, wie wird Capek da banal, daß sich aber die ersten Menschen um Tisch und Sessel wie im Lustspiel verfolgen, ehe sie sich fangen und küssen, ist Banalitätssteigerung der Regie.)

             Aber auch mit seinen Schwächen bleibt Capeks Drama in seiner Gescheitheit, seinem Gefühl für Sozialität und in der sicheren leichten Hand beim Szenenbau ein tapferes, neu- und eigenartiges Theaterstück. Es würde noch sehr gewinnen, wenn man es ganz als Theaterstück und nicht als heilige Dichtung spielen und die etwas breite realistische Sprache straffer zusammenziehen würde. Das Beste an der Aufführung der Neuen Wiener Bühne sind die Dekorationen Friedrich Kieslers, die aus Sachlichkeit und Maschinenprägnanz szenische Phantastik gewinnen. Der romantische Samtvorhang, der im letzten Akt so gar nicht zu den Glaskolben, Feuerkannen, Chemikalien und geißlerischen Röhren paßt, dürfte von fremder Hand hinzugetan worden sein, er ist wirklich, alles andere aber überwirklich, wie es das Drama verlangt. Roberts Regieleistung ist Roboterarbeit: bei Erfüllung alles Technischen durch Technik ohne eigene Musik und Seele – aber fleißg, sehr, sehr fleißig. Schauspielerisch am stärksten ist Karl Götz als der letzte Mensch. Seine Phantastik, die niemals spielerisch wird, zwingt. Stahl-Nachbaur spricht noch immer Stahl, spielt noch immer Stahl, manchmal, nicht immer, sieht man bei diesem Zusammenprall Funken stieben. Maria Eis ist eine vorzügliche, aber keine mondaine Schauspielerin. Nicht Damen, sondern elementare Volksgestalten muß sie spielen. Dem kleinen Fräulein Schafranek glaubt man die Erweckung eines Golems zum Adam, so sehr decken sich bei ihr Schauspieler- und Frauentum.

In: Neues 8 Uhr-Blatt, 11.10.1923, S. 7.

Paul Busson: Gugu – Dada!

Diese Anthologie (Anthologie Dada) ist nicht nur deshalb sehr interessant, weil Künstler aus aller Herren Ländern mitarbeiten, sondern auch, weil hier zum erstenmal der Versuch gemacht wird, den Dadaismus verstandesmäßig näherzubringen. (Mitteilung des Mouvement Dada, Zürich, Seehof.)

Nein, Spaß beiseite, ich habe zuerst geglaubt, daß es sich bei dem munter gefärbten Heft, das auf meinen Schreibtisch flatterte, um eine neue Zeitschrift für eben Entwöhnte, höchstens etwa Zweijährige handle, und nur deshalb ist mir der obenstehende Titel, dessen Lautfolge mir aus eigenen frühesten Jugendtagen noch dunkel erinnerlich ist, sozusagen ausgerutscht. Erst später habe ich wahrgenommen, daß hier offenbar ernstgemeinte Versuche von ihrer Bedeutung durchdrungener leider noch nicht ganz verstandener Künstler niedergelegt sind, die auf eine würdige und nachdenkliche Besprechung Anspruch erheben.

Zu meiner tiefen Beschämung ist es mir nicht gelungen, dem „Mouvement Dada“ standesmäßig nahe zu kommen. Da ich aber gleichwohl meine Pflicht erfüllen muß, diese Ergebnisse einer völligen Umwälzung in der Dichtkunst und Kunst überhaupt dem großen Leserkreis nahe zu bringen, habe ich mich in meiner Hilflosigkeit und in dem durchbohrenden Gefühl, einer nunmehr völlig veralteten Geschmacksrichtung anzugehören, entschließen müssen, das mir nicht mehr zustehende Urteil dem Leser selbst zu überlassen, ohne ihn durch meine sicherlich verständnislosen Randbemerkungen im Genuß zu stören.

Von der Wiedergabe der zahlreichen französischen Gedichte enthebe ich mich feierlich. Erstens gehöre ich zu jenen barbarischen und beschränkten Naturen, die für die gegenwärtigen Kunstäußerungen französisch eingestellter „Mentalitäten“ aber auch schon nicht das Geringste übrig haben, zweitens verfüge ich mit meinen Wald- und Wiesenkenntnissen der Sprache Clemenceaus nicht über die nötige Beherrschung des „Argots“ der Dadaisten. Es könnte mir geschehen, daß ich in aller Unschuld ein französisches Dada-Gedicht niederschreibe, dessen Inhalt dem jener deutschen Dada-Gedichte entspricht, die ich aus kleinlichen, gewiß für Dadaisten sehr lächerlichen Gründen einer — mein Gott, halt anerzogenen – Anständigkeit unterschlagen muß. Ich will es nur unternehmen, aus den auf blauem, weißem, rotem, orangefarbenem Papier gedruckten Schätzen ausgewählte Proben in deutscher (?) Sprache mitzuteilen, die ich – wie gesagt — dem Urteil des, wie man einst sagte, günstigen Lesers überlasse.

Das Heft trägt den rotgedruckten Kopf: „Dada 4-5.“ Das Titelbild ist eine Sammlung von Uhrenrädern und Strichen, die in losem Verhältnis zueinander stehen, und heißt: „Reveil matin.“ Der Künstler zeichnet sich: Francis Picabia und leitet die französische Sammlung ein.

Als erster unter den deutschredenden Dadas erscheint Walter Serner, von dem in allernächster Zeit ein Blatt mit dem eigenartigen Titel „Das Hirngeschwür“ erscheinen soll. Wenigstens ist diese Zeitschrift in der Anthologie als bevorstehend angekündigt. Ihre Luxusausgabe kostet 20 Franken. Hier der Anfang seines Gedichts:

Bestes Pflaster auch Roter Segen.

Bodenbepurzelndes Geschirr:

gar zu süß soffen Ninallas Lippen Pommery grenofirst.

Minkow, ein ganz ein Russischer, deroutiert nebengeleisig.

Vorüberflappernder Handteller: benützter Busen bläht blondes.

Pauschal Schal.

Schluck Wein (Länge: 63 centimetres) in rotverbesserte Nüstern gespieen.

Queen!!!

Ein andrer, Ferdinand Hardekopf, schließt ein längeres Gedicht mit der Strophe:

Hohe Hirnkraft wallt zu diesem Glase

             Da bestülpt der sachlichste Adept

             Das Gestirn mit einem Stengelglase

             Darin dottrig etwas Ei verebbt.

             Von den geheimnisvollen „Verwandlungen“ Richard Huelfenbecks erlaubt der Raum mir nur den Anfang hier zu sehen:

„Cacadoufarbige Butzenscheibenohren rennen um Klumbumbus gelber Stern Bauch quer durch Hunde zeilen platzen. Gut. Cacadou wird Butter Jamaika Cognac Stahl wird Tanz Butterweg ist. Korkenzieher für infantile Oteros in Säcken Chinesen speien Jahrelang nach Petrol. Einer aus Confidence mästet einen Strichpunkt rot. Apoplexie. Drachensalat, Telegraphisch, wie doch.“

             Wieder stoßen wir auf Walter Serner, der in einem längeren. Bezifferten Aufsatz: „Letzte Lockerung manifest“ unter anderm sagt:

„4. Napoleon, ein doch wirklich tüchtiger Junge, behauptete unverantwortlicher Weise, der wahre Beruf des Menschen sei, den Acker zu bestellen. Wieso? Fiel ein Pflug vom Himmel?

5. Alles ist nämlich rastaquerest, meine lieben Leute. Jeder ist (mehr oder weniger) ein überaus luftiges Gebilde, dieu merci.

6. Es ist allgemein bekannt, daß ein Hund keine Hängematte ist; weniger, daß ohne diese zarte Hypothese Malern die Schmierlaust herunterfiele: — — Weltanschauungen sind Vokabelmischungen.

In summa, meine Kleinen: Die Kunst war

eine Kinderkrankheit

12. Damenseidenstrümpfe sind unschätzbar.

Eine Vizekönigin ist ein Fauteuil. Weltanschauungen sind Vokabelmischungen. Ein Hund ist eine Hängematte. L’art est mort. Vive Dada!“

Der „Wolkenpumpe“ von „arp“ entnehme ich das folgende Gedicht und ein Stückchen Prosa, die sein Schaffen anschaulicher und besser künden, als es meine mühevollsten Bemerkungen zu tun vermöchten. (Wobei ich gestehe, daß mir die einfache Wiedergabe auch bequemer zu sein scheint.)

sankt ziegenzack springt aus dem ei

rumsdibums das gigerltum

vergißmeinnicht rollt um den stuhl

glocke schlägt nur eins und zwei

abgrund öffnet sich mit macht

stern rollt an den schönen mund

trauriger Hase hängt am berg

in den steinen ist schöne nacht

sankt fassanbaß springt aus dem ei

rumsdibums die liegenschaft

vergißmeinnicht rollt um den stuhl

glocke schlägt nur eins und zwei

Schwieriger ist die Prosa, da „arp“ auf Beistriche, Punkte, Anfangsbuchstaben und dergleichen Kram verzichtet.

„weh unser guter kasper ist tot wer trägt nun die brennende fahne im zopf wer dreht die kaffeemühle wer lockt das idyllische reh auf dem meer verwirrte er die schiffe mit dem wörtchen paraplui und die winde nannte er bienenvater weh weh weh. für gigimann das totem der besenden tiere erfüllt sich und wird die bahn der automobilen vögel gestört so verstummt das ländliche salem aleikum gummi arabikum“.

— — — —

Es geht noch ziemlich lange so weiter; aber ich muß mich erholen, um den „Geburtstagsgesang für Bijo Berry, z. Z. interniert“ (wo?) lesen und vielleicht wiedergeben können. Auch hat mich ganz plötzlich der Gedanke beschlichen, ob es sich bei diesem Heft nicht vielleicht um geheime Mitteilungen irgendeiner weitverzweigten Vereinigung handeln könne, die in diesen Gedichten und Prosastücken verborgene Nachrichten zu geben und zu finden versteht. Aber dieser noch auf den Kriegstagen herübergeisternde Verdacht erscheint mir bei längerem Sinnen doch nicht recht angebracht zu sein. Ich kann also – nachdem ich mich, wie der Wiener sagt, „verfangt“ habe – den Anfang von Huelsenbecks „Geburtstagsgedicht“ (es steht über einem mir unzugänglichen Bild von Paul Klee, „Ausblick aus einem Wald“, hieher setzen. Was das Bild anlangt, so habe ich wohl öfter aus einem Walde geblickt — aber, wie es halt schon so ist (die Augen werden auch nicht besser), niemals Tintenkleckse, schwebende Gitter, schiefe Vierecke, in der Luft hängende hausartige Gebilde und dergleichen in der Natur wahrnehmen können. Ja so, das „Geburtstagsgedicht“:

He du riesengroß in der verwaschenen Weste mit dem feisten Gesicht Spitzbauch glänzend frisiert

Hier muß ich schon wieder innehalten. Leider! Denn Huelsenbeck beginnt, gegen alle Dada-Gebräuche, eindeutig zu werden.

Die „Letzten Nachrichten aus Deutschland“ (quer gedruckt) werden gerade jetzt nicht unwichtig sein:

Berlin ist der Football einer herkömmlichen Jugend, die in hypothetischer Form das Sechstagerennen (match Groß-Herzfelde-Ruep-Mynona) jeden Sonnabend mit dem Erscheinen eines senilen Glotzauges praktisch bestirnert. — München ist die Gegend des Ararat und des Volksbildes von Schrimpf: nicht so, aber sol — Für das übrige Deutschland: die kommunistische Bewegung ist beinahe ganz eingedämmt, da jeder Deutsche mit der Herausgabe seiner eigenen Zeitung beschäftigt ist. Lebensmittel unnütz, alle schlucken Druckerschwärze.“

Hans Richter (junior, jedenfalls) druckt einige Mitteilungen ab, die dem Publikum

der 8. Dada-Soiree bereits mündlich gemacht wurden:

„Umst, Umst (?) ist nicht nur nicht dagewesen es ist auch unmöglich, daß es da ist. Dada ist es. Fluch auf Dada. (Wir übermitteln Ihnen diese Formel.)“

Nun sehe ich doch, daß ich meine Kräfte überschätzt habe. Es geht nicht weiter. Auch den Namen des Ober-Dada, den ich eben noch las, habe ich vergessen, und ich wage nicht mehr, in dem Wirrwarr der Papierfarben und verschieden großen Lettern nachzusehen. Denn das Schicksal des „z. Z. internierten“ Dada, dem der Geburtstagshymnus gilt, hat mich ängstlich gemacht. Es wäre mir keineswegs angenehm, schließlich besungen zu werden: „Mauer-Öhling-Dada“ oder so ähnlich. Ich weiß, daß ich veraltet bin, und es ist möglich, daß sich in meinem Innern vielleicht unbewußter Neid rührt, mein restliches Leben fern von diesem wundervollen Bunde verbringen zu müssen. Aber ich kann es nicht ändern.

Zweifellos handelt es sich dada (den also! Ich wollte nur „da“ schreiben), da um einen Umsturz auf geistigem Gebiete, um eine Revolution. Revolutionen sind im allgemeinen nicht heiter. Aber bei dieser, so scheint es mir, ist doch kein rechter Grund zur Traurigkeit vorhanden, dada. Im Gegenteil. Die Tatsache, daß es noch Menschen gibt, die in dieser immerhin trüben Zeit keine andern Sorgen haben, als diese „Anthologie“ herauszugeben und zu bereichern, wirkt ungemein beruhigend. Und schließlich: das Heft, so dünn es ist, kostet nur vier Schweizer Franken, also nach unsrer Münze etwas über zweiundzwanzig Kronen, was ja gar kein Geld ist. Und schließlich wollen die Herausgeber auch leben. Warum nicht?

Nur vor dem Schlafengehen scheint diese Sammlung ein gefährliches Lesefutter zu sein. Ich wenigstens verdanke ihr schwere Träume, und eine mir nahestehende Persönlichkeit war sehr erschrocken, als ich auf wiederholte Fragen nach der Ursache meines Stöhnens immer nur mit „Dada“ antwortete. Aber mit der Zeit gibt sich das auch. Man muß sich eben daran gewöhnen. Man muß sich jetzt ja überhaupt an vieles gewöhnen. Die Zeiten sind schon so. Und wie ich unsre Literaturjugend kenne, werden wir in Wien gewiß bald einen Ober-Dada haben. Oder gibt es schon einen? Dann möchte ich als erster ihm ein begeistertes „Dada“ zurufen. Ohne Scherz. Ich habe den lästigen Zwang, immer Gedanken hervorbringen und auf meinen Stil achten zu müssen, herzlich satt. Ich möchte auch einmal dichten, wie mir der Schnabel gewachsen ist, und lächelnd zusehen, wie sich andre den Kopf zerbrechen, was das Gedichtete eigentlich heißen soll. Im äußersten Fall lasse ich grünes und violettes Papier volldrucken und gründe selbst eine Schule, etwa mit „Lolo“ als Kennwort. Ich sehe gar nicht ein, warum sich ein Schriftsteller nicht auch selbständig machen soll — besonders, wenn es mit so einfachen Mitteln und mit einem entsprechenden Ausmaß von Frechheit geschehen kann. Einstweilen aber noch: Dada!

In: Neues Wiener Tagblatt, 22.6. 1919, S. 3-5.