Hugo Bettauer: Die Neujahrsnacht der Banknoten.
Um einen grünen Tisch herum sitzen wohlbekannte Gestalten, um sich nach rastloser Wanderung einer kurzen Muße hinzugeben und bei Punsch und Krapfen den Eintritt des neuen Jahres abzuwarten; der Einser, der Zweier, der Zehner und Zwanziger, der Fünfziger und Hunderter, der Tausender und Zehntausender haben genau nach Rang und Wert ihre Plätze eingenommen. Zwei Stühle sind für weitere Gäste reserviert. Der Einser und der Zweier befinden sich in despektierlichem Zustand. Abgerissen, fetzig, schmutzig, klaffende Risse notdürftig mit Heftpflaster verklebt, in sich zusammengesunken sitzen sie da, als wollten sie demnächst verenden.
Dem Zehner ist die Nachbarschaft ersichtlich unangenehm, er rümpft die Nase, schüttelt sich vor Ekel und brummt wütend:
„Ihr hättet auch lieber zu Haus bleiben können. Ordentlich kompromittieren tut Ihr die ganze Gesellschaft!“
„Na, na, spiel‘ dich nicht auf, Zehner,“ ruft der Hunderter höhnisch, „schaust ja selber schon wie ein Pülcher aus! Auf ja und nein wird sich nach dir auch keiner mehr bücken wollen.“
„Mir alle san halt strapaziert,“ keucht der beleidigte Zweier!
„Volksfreunde san mir,“ echot der Einser, „Kinderfreunde und Genossen der notleidenden Klassen!“
Das war zu viel der Anstrengung, der Einser rutscht vom Stuhl hinunter und sein Oberkörper trennt sich vom Unterleib. Der Zweier bückt sich, um dem Genossen zu helfen, dabei kommt auch er zu Fall und der Zehner stoßt sie beide wütend mit dem Fuß beiseite.
Der Tausender beschwichtigt die Aufgeregten. „Laßt’s die armen Hascher lieger! Sie haben ja eh‘ die längste Zeit schon kein Leben mehr g’habt! Wann i der Hausherr wär, tät ich sei im neuchen Krematorium verbrennen! Kosten eh‘ mehr, als sie wert san!“
Der Zwanziger will sich noch nicht beruhigen! „Eine Schande ist es, so mit uns umzugehen! Auf ja und nein kann uns allen dasselbe geschehen! In den letzten Wochen habe ich schon genug Schimpf und Schande erleben müssen.“
Der Tausender reckt sich, wirft funkelnde Blicke aus den braunen Augen und meint:
„Es herrscht eben keine Achtung und Ehrfurcht mehr in diesem Lande, seit der gute Kaiser Karl…“
„Nichts von Politik,“ brüllt der demokratisch gesinnte Hunderter dazwischen.
Der Tausender begehrt auf: „Wer etwa behauptet, daß ich Monarchist bin, ist ein Verleumder! Aber einen Herrn brauchen wir, sage ich! Wissen Sie, was mir neulich beinahe geschehen wäre? Beim Heurigen war es, als nach kräftigem Genuß von neuem Wein und Powidlgolatschen sich so ein reich gewordener Selcher beinahe, weil er nichts anderes zur Stelle hatte, mit mir…“ Die anderen Worte flüsterte der Tausender indigniert den Nachbarn zu, von denen der Hunderter erbleichte, während der Zehntausender in schallendes Gelächter ausbrach.
„Allerdings, mir könnte das nicht so leicht passieren! Na, ja, schließlich bin ich auch unter den geänderten Verhältnissen ein Wertfaktor, den man respektieren muß!“
„An Schmarrn bis du,“ kreischt der kranke, schäbige Zehner im Bewußtsein, eh‘ auf dem letzten Loch zu pfeifen. „Du und der Tausender, Ihr seid nichts als Schwindler, besonders seitdem Ihr von hinten wie die Zwillingsbrüder ausschaut.“
Mit philosophischer Ruhe mengt sich der Fünfziger ein. „Meine Herren, geben wir uns keinen Illusionen hin, Schwindler sind wir alle! Jeder von uns will etwas vorstellen, was er nicht ist, und ob einer sich Tausender nennt oder Zehntausender, in Wirklichkeit ist er ein Dreck!“
„Da muß ich doch sehr bitten,“ meint scharf der Zehnstausender. „Ich als der Erste und Beste unter Ihnen denke in diesem Punkt wesentlich anders…“
Die Tür geht auf und der Herr Fünftausender tritt ein. Einen Moment ist alles baff, der Glanz des nagelneuen Gewandes, das der späte Gast trägt, fasziniert, der Hunderter vergißt seine demokratische Gesinnung , der Zehner seinen beleidigten Zustand, beide springen auf, um den Fünftausender an die Spitze der Tafel zu führen. Da schlägt der Zehntausender mit der Faust wütend auf den Tisch.
„Oha, das wär‘ noch schöner! Da links von mir ist der Platz für den neuen Herrn, denn ich bin noch immer der Rangältere.“ Und spitz wendet er sich an den verwirrt und verlegen ins Licht blinzelnden Fünftausender:
„Der Herr hat wohl mit Erfolg in Valuta spekuliert? Unsereins kann sich nämlich nicht so ohneweiters ein neues Gewand leisten.“
Verdrossen, geknickt, zerrissen wacht der Zwanziger aus dem Halbschlummer auf.
„Tun’s Ihnern nix an, Herr Präses, Sie gehören ja selbst zu den neuen Reichen, die was im Jahr 1914 noch gar net auf der Welt waren!“
Der Fünftausender setzt sich artig, fühlt die neidischen und bewundernden Blicke und denkt sich: In eine schöne Gesellschaft bin ich geraten! Wer weiß, vielleicht schau‘ ich bald auch so aus, wie der stinkerte Zehner da!
Jetzt kommt aber breitspurig, mit wuchtigen Schritten, würdevoll der letzte Gast, der Kommerzialrat Fünfzigtausender. Vergebens hat er sich allegorisch einzukleiden versucht, er sieht entschieden „eingewandert“ aus und je vornehmer er sprechen will, desto mehr jüdelt er.
„Platz da, meine Herren,“ ruft er und setzt sich breitspurig an die Spitze der Tafel. „Hast ä Hitz, was Sie da haben! Nü, Herr Tausender, Sie sehen auch schon etwas mitgenommen aus, von die anderen Herren gar nicht zu reden! Und Sie, Herr Zehntausender, Ihnen ist auch nicht ganz wohl? Also,ich sag‘ Ihnen, jetzt, wo ich da bin, wird ein neuer Zug in die Sache kommen! Reißen wird man sich um mich und was echter Kavalier ist, wird gar nicht ohne mir in die Bar gehen wollen!“
Und schon schließt sich alles gegen den neuen Eindringling zusammen. Der Zehntausender rückt von ihm ab und vom unteren Ende der Tafel werden stürmische Rufe“ „Schieber! Schieber! Schieber“ laut. Der Zehner kreischt: „Haut’s den Hebräer tor“, der Hunderter brüllt: „Wart nur, bei der nächsten Plünderung!“
Der Lärm wird so groß, daß im Café „Zentral“ am Literatentisch, wo eben heftig über Stendhal, Daimler, Goethe, Julisüd, Wildgans und Chemosan diskutiert wurde, Unruhe entsteht. Die Türe fliegt auf und der Hausherr, Herr Gürtler, kommt mit der Nachtmütze auf dem Kopf und einem Staberl in der Hand.
„Ruhe, Bagage, elende! Wan i euch allemiteinander nur schon los wär, ös elendige Gauner, ös! Marsch ins Steueramt mit euch! Aber rasch, sonst hol i mein Freund, den Rosenberg, und lass‘ euch alle zusammen abstempeln!“
In: Der Morgen, 2.1.1922, S. 4.
Fritz Lehner : Le grande homme. Ein Roman von Philippe Soupault. Paris 1929 (1930)
[Fritz Lehner]: Le grande homme. Ein Roman von Philippe Soupault. Paris 1929
Der Autor dieses Buches, einer der lebendigsten Künstler des jungen Frankreichs, ist bisher nur durch ein einziges Werk, den „Neger“, an den deutschen Leser herangekommen; von ihm wird aber noch viel übersetzt werden. Denn dieser unermüdlich tätige, in vielen Sätteln gerechte Dreißigjährige mit der bewegten (literarischen!) Vergangenheit, hat Talent. Seine Zugehörigkeit zum französischen Dada, selbst seine Gründung des „Surrealismus“, in die er sich mit André Breton teilt, also seine Sehnsucht nach frischer Luft, haben ihn keineswegs verbraucht. Sie waren eben nicht alles, was er konnte (und womit die andern zugrunde gingen); sie waren wirklich nur subjektiv richtige Versuche, sich freizumachen, aus Sackgassen Auswege zu finden. Und selbst in den Augen der schulmeisterlichsten Referenten rechtfertigt bereits nachträglich seine Begabung den Wirbel, mit dem er vor nicht allzu langer Zeit auf der Tribüne erschienen.
Seine letzten Bücher verleugnen selbstverständlich die Vergangenheit Soupaults keineswegs; sie zeigen sogar, wie richtig seine Absichten waren und wie scheinbar Haltloses Rückgrat werden kann. Die „Dernieres Nuits de Paris“, ein Traum- und Schattenbuch, haben vom Surrealismus das Verfließen der Konturen übernommen, Gestalten gleiten über dem Boden, ohne von der Schwerkraft belästigt zu werden, und die Handlung stellt übergangslos Unfaßbares neben Natürliches. Aber auch in dem letzten Roman Soupalts gehen die Form und der Gehalt dem Konventionellen aus dem Wege. Der „Grand homme“ ist, aber dies ohne einen äußeren Zusammenhang, der zweite Teil einer Folge, die mit dem schon
genannten „Neger“ einsetzt: nicht deshalb, weil auch hier ein Neger (ein anderer!) eine wichtige Rolle spielt, sondern weil seine Idee gleichsam eine Fortführung des Gedankens aus dem ersten Buch sein kann. Im „Neger“ wird die Geburt der Zeitverwandlung geschildert, der neue Einbruch einer primitiven Welt in eine verfeinerte, verbrauchte: im „Grand homme“ ist jene erste Stufe bereits überwunden, der Mensch steht beim Gipfel seiner Leistung, im Fegefeuer seines Ruhms, der sein Leben verändert, aber auch ausweglos zu machen scheint. Es fehlt daher nur der dritte Teil: in dem die Befreiung gezeigt, ein neuer Weg entdeckt wird. So wie nun der zweite Band uns vorliegt, schildert er den Tanz eines Weißen und eines Schwarzen um eine Frau, den Kampf des geheimnisvoll Einfachen und des raffiniert Gebildeten um eine Seele; diese Zähler der Rechnung gehören aber zu einem Nenner, der alles verwickelter macht – beide Männer sind „große“ Menschen. Im „Neger“ schlägt der Eroberer die Weiße, die noch dazu Europa heißt, einfach nieder; der berühmte Negerfänger des neuen Romans hingegen kehrt still heim zu seinen Vätern, er wurde durch Europa, das auch diesmal eine Frau ist, gebrochen.
Man sieht, daß die reale Handlung Hintergründiges darstellen will; und da gelingt ihr auch, wenn man dabei vom ganzen Buch spricht, und es gelingt ihr in einzelnen Teilen. Die beiden ersten Kapitel zum Beispiel oder jener Teil des Romans, in dem der aus Amerika heimkehrende Großindustrielle sein Bankett gibt, weiter die Verwandlung der Frau und viele Einzelheiten sind überaus gelungen. Nicht immer aber ist die Erzählung gleich dicht: nicht immer so dicht wie in dem noch einmal zu erwähnenden doppelzüngig sprechenden ersten und zweiten Kapitel, in dem ein weißer Junge in seinem Negerzustand geschildert wird, in seiner Urwüchsigkeit: zum Staunen seines Vaters, aber auch zum Fluch für ihn selbst verwandelt er sich in einen „großen Mann“, in einen Europäer. Der hier angeschlagene Ton wird, nicht zum Vorteil des Berichtes, nicht immer durchgehalten. In Summa aber: eine kluge Erzählung, die nebenbei so mancherlei verrät, zum Beispiel wie der noch nicht Dreißigjährige die Welt sieht und was er von ihr hofft. Und da er sie weiterhin wird lenken müssen, ist es wichtig, ihn zu hören.
In: Wiener Zeitung, 4.2.1930, S. 5.
El Lissitzky: Die elektro-mechanische Schau (1924)
El Lissitzky: Die elektro-mechanische Schau
Vorliegendes ist das Fragment einer Arbeit, die aus der Notwendigkeit, den geschlossenen Kasten des Schaubühnentheaters, den geschlossenen Kasten des Schaubühnentheaters zu überwinden, entstanden ist (Moskau 1920-21.)
Die großartigen Schauspiele unserer Städte beachte niemand, denn jeder „jemand“ ist selbst im Spiel. Jede Energie ist für einen eigenen Zweck angewendet. Das Ganze ist amorph. Alle Energien müssen zur Einheit organisiert, kristallisiert und zur Schau gebracht werden. So entsteht ein WERK – mag man das KUNSTwerk nennen.
Wir bauen auf einem Platz, der von allen Seiten zugänglich und offen ist, ein Gerüst auf, das ist die SCHAUMASCHINERIE. Dieses Gerüst bietet den Spielkörpern alle Möglichkeiten der Bewegung. Darum müssen seine einzelnen Teile verschiebbar, drehbar, dehnbar usw. sein. Die verschiedenen Höhen müssen schnell ineinander übergehen. Alles ist Rippenkonstruktion, um die im Spiele laufenden Körper nicht zu verdecken. Die Spielkörper selbst sind je nach Bedarf und Wollen gestaltet. Sie gleiten, rollen, schweben auf, in und über dem Gerüst. Alle Teile des Gerüstes und alle Spielkörper werden vermittels elektro-mechanischer Kräfte und Vorrichtungen in Bewegung gebracht, und diese Zentrale befindet sich in Händen eines Einzigen. Sein Platz ist im Mittepunkt des Gerüstes, an den Schalttafeln aller Energien. Er dirigiert die Bewegungen, den Schall und das Licht. Er schaltet das Radiomegaphon ein, und über den Platz tönt das Getöse der Bahnhöfe, das Rauschen des Niagarafalles, das Gehämmer eines Walzenwerkes. An Stelle der einzelnen Spielkörper spricht der SCHAUGESTALTER in ein Telephon, das mit einer Bogenlampe verbunden ist, oder in andere Apparate, die seine Stimme je nach dem Charakter der einzelnen Figuren verwandeln. Elektrische Sätze leuchten auf und erlöschen. Lichtstrahlen folgen den Bewegungen der Spielkörper, durch Prismen und Spiegelungen gebrochen. So bringt der SCHAUGESTALTER den elementarsten Vorgang zur höchsten Steigerung.
Für die erste Aufführung dieser elektro-mechanischen SCHAU habe ich ein modernes Stück, das aber noch für die Bühne gedichtet ist, benutzt. Es ist die futuristische Oper „Sieg über die Sonne“ von A. Krutschonich, dem Erfinder des Lautgedichtes und Führer der neuesten russischen Dichtung. Die Oper wurde 1913 in Petersburg zum ersten Male aufgeführt. Die Musik stammt von Matjuschin (Vierteltöne). Malewitsch malte die Dekorationen (der Vorhang – schwarzes Quadrat). Die Sonne, als Ausdruck der alten Weltenergie, wird vom Himmel gerissen durch den modernen Menschen, der kraft seines technischen Herrentums, sich eine eigene Energiequelle schafft. Diese Idee der Oper ist in eine Simultaneität der Geschehnisse eingewoben. Die Sprache ist alogisch. Einzelne Gesangspartien sind Lautgedichte.
Der Text der Oper hat mich gezwungen, an meinen Figurinen einiges von der Anatomie des menschlichen Körpers zu bewahren. Die Farben der einzelnen Teile meiner Blätter sind, wie in meinen Proun-Arbeiten, als Materialäquivalent zu betrachten. Das heißt: bei der Ausführung werden die roten, gelben oder schwarzen Teile der Figurinen nicht entsprechend angestrichen, vielmehr in entsprechendem Material ausgeführt, wie zum Beispiel blankes Kupfer, stumpfes Eisen usw.
Die Entwicklung des Radio in den letzten Jahren, der Lautsprecher, der Film- und Beleuchtungstechnik und einige Erfindungen, die ich selbst inzwischen gemacht habe, das alles macht die Realisierung dieser Ideen noch viel leichter, als mir das 1920 vorgeschwebt hat.
In: MA (9), H. 8/1924, S. 5.
Richard Guttmann: Expressionisten (1919)
Richard Guttmann: Expressionisten
Vor einigen Jahren brachte der Hagenbund eine Ausstellung der Werke Eduard Munchs, in der die Entwicklung dieses Meisters zum Expressionisten genetisch dargestellt war. Selber ist dieses Schlagwort auch bei uns nicht verklungen und mit dem Auftreten der extremen Richtungen des Expressionismus, des Kubismus und des Futurismus, gebrauchten es nicht nur die Snobs, sondern auch Leute, die einer Sache gerne auf den Grund gehen. Der Kubismus ist russisch-französischen Ursprunges. Er reduziert die Formen der dargestellten Dinge auf ihre primären euklidischen Bestandteile, Kreisstücke und Vielecke, und geht jeder sonstigen Wiedergabe peinlich aus dem Wege. Der Futurismus ist eine italienische Angelegenheit. Auch er weicht dem empirisch Gegenständlichen aus und sucht die den Formen zugrundeliegenden seelischen Ereignisse, mit Umgebung der sichtbaren Gestalt, auszudrücken. Als drittes Extrem erscheinen die Primitiven, als deren Führer der Russe Kandinsky galt – – aber halt! Ich spreche zu den Lesern einer Zeitung und darf nicht wissenschaftlich deduzieren. Das Deutsche an der Sache war zunächst die bei uns beliebte Ruchässerei alles Fremdländischen, aber dann begann man – zur Ehre unserer Künstler! – ernsthaft nachzudenken. Das Bezeichnende aller Richtungen, die Abkehr vom sinnlich Wahrgenommenen und von dessen Einordnung in das konventionelle Geben, hatte seine tiefe, innere Richtigkeit. Die äußeren Mittel der Malerei und Plastik sind vollkommen ausgeschöpft und die Großstadt – hier handelt es sich nur um Großstädter – bringt keinen großen Bildner mehr hervor. Die mechanische Wiedergabe der gesamten Welt und ihres äußeren Geschehens durch die Photographie, die moderne Reproduktionstechnik und die Kinematographie haben der effektiven Intelligenzschwäche des Gegenwartsmenschen das naive Verhältnis zur Kunst genommen und je größer sein Bildungsdünkel ist, je mächtiger das scheinwissenschaftliche Gebäude der Ästhetik anschwillt, umso dürftiger und dürrer wird die ganze Kunst. Die Einführung der seinen Abstraktion in das künstlerische Schaffen ist somit ein wohl verständlicher Ausweg, aber mit zweifellos negativem Ergebnis. Ich behaupte, im Gegensatz zu dem leider gefallenen Fritz Burger, daß das Bestreben formal und graphisch zu abstrahieren, entweder zu primitiven algebraischen Symbolen oder zu einer neuen, absoluten Ornamentik führt. „Ursache und Wirkung der Kunst gehen über alle Begriffe“, hat schon der weise Feuchtersleben gesagt und wenn die künstlerische Gestaltung den ganzen Gefühlsprozess von vorneherein in Begriffe preßt, dann wird die Kunst ein Zweig der Logik oder der Mathematik. Wenn mir einer die Appassionata oder die F-moll Phantasie von Chopin erklären will, weil ich sonst nicht hören und genießen könnte, würde ich ihn für einen dummen Kerl halten.
Das Ohr ist der Weg zu einer ungeheuren Gefühlswelt, während, die Kunst, die durch das Auge geht, knapp ist und mit der Gegenständlichkeit steht und fällt. Die Expressionisten kämpfen gegen diese tragische Grenze mit allen geistigen und ungeistigen Mitteln und weil sich die ganze Sache, wie alles im menschlichen Leben, auf die Persönlichkeitsfrage zuspitzt, hört der Kampf mit der Erscheinung des großen Meisters auf. Ist vielleicht das Juwel deutscher expressionistischen Malerei, die Auferstehung Christi auf dem Flenheimer Alter des Grünenwald, mit allen unsern Gescheitheiten und Abstraktionen erreicht worden?
Es macht nichts, wenn der Künstler nach innen blicken lernt. Futurismus und Kubismus werden so vielleicht einen fruchtbaren Niederschlag zeitigen. Besonders was die Läsung des Raum- und Zeitproblems in der Malerei betrifft. Als selbständige Formungsmethoden in der Richtung vollkommener Abstrahierung des Gegenständlichen können sie nicht beliehen.
Man hört auch öfters die Frage, ob solche Bilder schön seien. Geschäftige Vielredner haben bei uns in den letzten Wochen bewiesen, daß die Schönheit nicht zur Kunst gehöre. Die Schönheitsempfindung ist für jeden normalen Menschen der unsagbare, innere Ausbruch des Rassengefühls. Schönheit und Rasse gehören deshalb zur Kunst und der unverdorbene Instinkt wird die naive Frage nach der Schönheit nie unterlassen. Für den in Abstraktionen wühlenden rasselosen Literatenkaffehausköter besteht die natürlich nicht.
Selbstverständlich falle ich den Herrschaften, die jetzt im ersten Stock des Künstlerhauses ausstellen, nicht hinein. Mir imponiert der kopierte Expressionismus und der Kubismus aus zweiter Hand nicht. Die genetische Anordnung fehlt und man weiß nicht, was Ernst und was Gschnas ist. Ich warne Neugierige vor den mündlichen Erklärungen der Künstler, denn sonst könnte man die Ausstellung für ein Dokument der Hauptkrankheit unserer Zeit: der Verbomanie, halten. Zweifellos! Die Leute können malen und zeichnen. Das ist aber nicht alles. Die Vergangenheit einzelner weist auf eine gewisse durchschnittliche Züchtigkeit. Und das ist wenig. Denn Meister ist keiner unter ihnen. Aber dafür mancher tragische Clown. Der fatale „Bund der geistig Tätigen“ hat die Armen als seine Kunstgruppe in die Manege geführt. Das soll er künftig nicht mehr tun. Mit solchen Geistestalern renommiert man nicht.
In: Der Morgen, 12.5.1919, S. 11.
Arnold Höllriegel: Apotheose des Fußballs (1925)
Ein berühmter Kulturhistoriker hat die Glanzzeit der Hellenen die agonale Periode genannt; wir würden sagen: das Zeitalter der Matches. Es war die Zeit, da außer einer lächerlichen Art Völkerbund, den Amphyktionen, den großen Gedanken der hellenischen Kultureinheit überhaupt nur die zwischenstaatlichen Sportregeln der olympischen Wettspiele repräsentierten. Man datierte damals die Jahre der nationalen Geschichte ungefähr so: im ersten Jahre nach dem Sieg der Mannschaft von Uruguay. Diese Helenen, die unsere Schulmeister fortwährend als Philosophen und Künstler ausgeben wollen, waren vor allem einmal ein Volk der Sportsmen. Was Ihnen die sogenannte nationale Ertüchtigung nutzte, zeigte sich später bei dem Zusammenstoß mit den Römern, die ihre Jahre nach kommandierenden Generalen benannten und die keine Olympioniken trainierten, sondern einfach Rekruten drillten.
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Nein, das mit der Ertüchtigung ist Schwindel und süße Ausrede. In den großen agonalen Perioden, wenn ganze Nationen vom Wettspielbetrieb erfaßt sind, wenn der Sieg einer nationalen Mannschaft im Ballschleudern oder dergleichen zu einer, nein, zu der nationalen Sache wird, der Sport keine Angelegenheit der Sporttreibenden mehr. Als das moderne Fußballwesen aufkam, mögen vielleicht die besten Fußballer vor schlechteren gespielt haben, die alle Sportsgenossen der großen Heroen waren, wenn auch bescheidene. Heute spielen die großen, berühmten Professionalmannschaften vor fünfzig- oder sechzigtausend leidenschaftlich interessierten Zuschauern, von denen nicht der zehnte Teil jemals eine Schuhspitze mit einem Ball in Berührung gebracht hat. Wieviele von diesen Zuschauern träumen denn davon, später einmal so gut kicken zu können, wie der Uridil? Die Mehrzahl wünscht so wenig zu kicken, wie auf den Händen gehen zu können. Wenn die Jeritza singt, gibt es vielleicht ein paar angehende Sängerinnen im Parkett, aber nicht sie führen dann das große Beifallsgetöse aus. Wer sind in unseren Großstädten die leidenschaftlichsten Fußballenthusiasten? Industriearbeiter, die ihr Leben den Maschinen opfern müssen, und ferner die unentwegten Schimmytänzer, das Flaneur-Publikum der Bars und Five o‘Clocks.
Die Tatsache aber steht fest, daß in meiner Heimatstadt Wien heute die Theater leer sind und die Fußballplätze voll, daß es festliche Massenfreude überhaupt nur noch auf dem Fußballplatz gibt – und in den Tanzhallen. Es ist, als ob der große Dionysos die Köpfe nicht mehr zu beseelen wüßte, sondern nur noch die Füße. Es gab in der Weltgeschichte Kopfperioden, und Handperioden und auch Bauchperioden. Wir leben in dem Zeitalter der Füße.
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Merkt auf: die bürgerlichen Fußballenthusiasten, das sind die gleichen Leute, die an anderen Nachmittagen die modernen Tänze tanzen oder diesen Tänzen zusehen: den eigenen oder fremden Füßen mit totenernsten [!] und gierigen Blicken folgen, während sie sich in schwierige und wenig heitere Stellungen verschieben. Die Menschen, die dies begeistert, sind die gleichen, die nur mehr mit Hilfe des Typewriters schreiben und die mit Hilfe des Autos wandern. Bürgerliche Herren der Maschinen und proletarische Sklaven der Maschinen, das ist das Fußballpublikum. Das Fußballspiel ist aber der große dramatische Protest gegen die Maschine. Hier agiert der menschliche Körper. Das Fußballspiel, das eben ein Fußball ist, ein Tanz verhält sich zu den anderen Tänzen so, wie sich in anderen Epochen die Kampftänze zu ihnen verhalten haben, jene Waffentänze, Schwerttänze, die es immer gegeben hat und wahrscheinlich immer geben wird. Aus dem Tanz hat sich einst das Drama entwickelt. Welche noch ungeahnte neue Kunstform wird einmal aus dem Ballspiel hervorgehen?
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Ein Kampfspiel. Symbol des Krieges. Wir fechten auf den Fußballplätzen Klassen-, Rassen- und Völkerkonflikte spielerisch aus. Der vergötterte Fußballheros, der in einem Länderspiel gegen die Mannschaft des Nachbarlandes kämpft, ist nur der Nachfahr des Häuptlings, der einst mit einigen Gefolgsleuten, sagen wir: zehn Mann, einen großen Sonderkampf gegen den feindlichen Häuptling bestand, vor dem beide Herren, die erregt zusahen und „Hoppauf!“ schrien oder „Hipp, hipp!“ oder „Heilo!“ Matches dieser Art, zwischen den ernsteren Massenschlachten, hat die Geschichte immer wieder geschaut.
Der Krieg, der Haß ist, grenzt hier an den Tanz, der Liebe ist. Daher die Häufung von Leidenschaften. Daher diese unerklärliche Faszination, die von solchen Kampfspielen ausgeht. Sie packen den Menschen dort, wo er am empfindlichsten ist, als Einzelwesen, das sich jung und stark träumt, und als Kollektivwesen, das seine Rasse, Klasse oder Nation siegreich wissen möchte. Es ist im Grunde der gleiche Traum, auf zwei verschiedene Ebenen projiziert. Ein Traum von der Mannheit, den auch das Weib träumt, gerade das Weib.
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Die Kulturgeschichte hat immer wieder solche Kollektivtänze geschaffen. Die Schwerttänze der Wilden, die Turniere der Ritter waren nichts anderes. Immer wieder aber kehrt mit bemerkenswerter Zähigkeit die Entwicklung zu einer primitiven und bedeutsamen Form des Wettspieles zurück, zum Balltreiben. Die Freude daran steckt ganz tief im Menschen, nein, in der lebenden Kreatur überhaupt. Wer lehrt junge Katzen mit rollenden Bällen spielen? Das Menschenjunge kugelt den Ball, ehe er [!] sicher auf seinen Beinen steht. Ist das der uralte Instinkt einem flinken kleinen Tier nachzulaufen, der entzückenden Maus, die so lieb ist, mit sich spielen zu lassen, ehe man sie frißt, oder steckt auch hier ein anderer Urgedanke dahinter?
Ist dieser Ball, den alle Menschen im Innersten lieben, vielleicht ein Symbol des größeren Balles, mit dem die unsterblichen Götter spielen, der runden Erde? Ist sie selbst nicht ein Fußball, den ungeheure Füße durch den Äther kicken und durch die geheimnisvollen Tore der Unendlichkeit?
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Wo immer auf der Welt man viele Tausende von Menschen ein Ding lieben sieht, einen Brauch, gar ein Spiel, wird man ruhig annehmen dürfen, daß diese Sache dieser Brauch, dieses Spiel eben an die zwei oder drei richtunggebenden Urinstinkte der Menschenseele rührt: Nahrungstrieb, Sexualtrieb, Religion. Das Fußballspiel macht keine Ausnahme von dieser ehernen Regel. Es ist leicht, aber dumm, diese Leidenschaft der Massen mit einem snobistischen Nasenrümpfen abzutun. Wo so viel Rauch ist, muß wohl Feuer sein, ein großes mystisches Opferfeuer. Das Fußballspiel, wie jedes Massenfest, muß letzten Endes eine religiöse Angelegenheit sein. In diesem Kulttanz der modernen Zeit vereinigen sich gewißlich die großen drei Motive; niemand weiß es und jeder ahnt es. Der gejagte Ball versinnbildlicht zugleich das gehetzte Beutetier, den halbrunden Kosmos, und noch etwas anderes. Fragt die Psychoanalytiker, wie sie etwa einen Traum vom Fußballspiel deuten würden, vom Eindringen der Kugel in das verteidigte Tor!
Ein Spiel, das solche Elemente darstellt, hat man nun noch den nationalen Instinkten dienstbar zu machen gewußt, die wieder nichts sind als eine andere Erscheinungsform der einfachsten menschlichen Ur-Regungen. Wen wundert es noch, daß die Fußballwettspiele so zahllose Massen mit einer unklaren, aber erklärlichen Begeisterung erfüllen?
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Die agonale Periode des Hellenentums hat den Sport geboren, aber auch seine Schwester, die Tragödie. Aus irgendwelchen Gründen hat, soviel wir wissen, der altgriechische Sport Wettspiele von größeren Mannschaften kaum gekannt, sondern um [!] Einzelwettkämpfe, Schwer- und Leichtathletik. Die großen Matches rivalisierender Truppen gab es auch, aber sie wurden nicht ausgefochten von kleinen Ballspieler-Banden, sondern von Schauspielertruppen, deren Captains Euripides und Sophokles hießen. Es gab ein Match Antigone kontra Iphigenie. Es waren, wie wir wissen, richtige Wettspiele mit Unparteiischen, Meisterschaften und leidenschaftlich begeisterten Parteigängern auf beiden Seiten. Diese dramatischen Wettspiele des antiken Theaters, das gar nicht viel anders aussah als ein moderner Fußballplatz, waren hervorgegangen aus den Wetttänzen und Wettgesängen rivalisierender Mannschaften, aus ursprünglichen Kampftänzen, wie sie auch dem Fußballspiel zugrunde liegen. Aus den Evoë-Chören bacchantischer Tänzer ist einmal die edelste Form menschlicher Kunst entstanden; wer weiß, was in einem oder zwei Jahrtausenden noch aus den Hurrahs werden könnte, mit dem auf den Fußballplätzen die Mannschaften einander begrüßen!
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Eine moderne Großstadt ist nicht anders als ein Menschenhaufen zu jeder beliebigen Zeit. Viele, viele Menschen manchmal beieinander zu sehen, ist uns allen ein starkes Bedürfnis, und jede Epoche schafft festliche Vorwände für seine Erfüllung. Die gedeckten und komplizierten Theater des Epigonenzeitalters, ärmliche Nachahmungen der alten Massen-Kulturstätten, genügen dieser Menschheitssehnsucht und ungeheuren Versammlungen nicht mehr; der Verfall der Demokratie hat jene andere Form des Dramas, die bewegte Volksversammlung, uninteressant gemacht, aber der Mensch braucht immer wieder riesige, von Massenleidenschaft rhythmisch durchwühlte, in einem Einheitsgedanken zusammengeschweißte, besser noch, von zwei rivalisierenden Liebes- und Hassesgemeinschaften dramatisch belebte Kultversammlungen. Die aber gewährt dem Volk unserer heutigen Städte der Fußballsport. Er gewährt einer konfessionslos gewordenen Menge jene elementaren Schauspiele des Kultus, die nichts sind als die tänzerischen Bewegungen priesterlicher Leiber; Jünglinge mit prachtvollen Muskeln, die hier springen, dort rennen, hier die Arme heben, dort ein Symbol der Weltkugel zum Himmel schleudern, sind sie nicht die Mystagogen, die Priester, die jede Menge braucht? Sind sie nicht, was der Priester sein soll, das irdische Abbild jener Götter, die die großen rotierenden Bälle durch den Raum wirbeln lassen, nach geheimnisvollen, aber strengen Regeln, zwischen den erhabenen Toren der Unendlichkeit?
In: Der Morgen, 11.5.1925, S. 5f.
Albert Ehrenstein: Trost für Lyriker (1929)
Im Anfang war der Bücherschrank. Mythologen möchten gern sein erstes Auftauchen im trauten Familienkreis verfolgen, in Kosmogonien wird er gewöhnlich als unverwüstlicher Bestandteil der Mitgift oder Ausstattung geführt. Ich aber halte ihn einfach für mitgeboren, Erbstück oder, noch besser, präexistent und bis an den Rand gefüllt mit ungelesenem Goethe-Schiller. Dieser, durch seine unvermeidliche Biographie nebst Inhaltsangabe, Gram der Gymnasiasten und höheren Töchter, Milchkuh aber den Monographen und Gedenktaglöhnern, ist der Klassiker. Daß seine Werke dem Volk wenig bekannt sind, ist unbekannt. Deutschen Lyrikern, an sich aufhängerischen Gemütes, sei dies durch Daten beglaubigt.
Ein best seller oder Schmöker, genannt „Westöstlicher Diwan von Goethe, Stuttgart, in der Cottaischen Buchhandlung“, erschien erstmalig 1819. Von dieser im Druck (Walbaum-Antiqua) und gar in der Anordnung der Gedichte vorbildlichen Erstausgabe gab es 90 Jahre lang (bis 1906) Exemplare auf Lager bei Cotta. Die Liebhaber Goethescher Lyriker scheinen sich mit den obenerwähnten hereditären Gesamtausgaben bibliophil befriedigt zu haben. Goethe war eben unvorsichtig oder geizig genug gewesen, dem Volk der Dichter und Denker einen westöstlichen Diwan zu hinterlassen statt persischer Teppiche! Mag man dies Kamelhaar in der Nationalsuppe nicht beachten – wie innig das deutsche Volk den Romancier Goethe liebt, blickt aus der Tatsache, daß von dem 1911 zuerst erschienenen neuen Roman „Wilhelm Meisters theatralische Sendung“ bis heute nur 30.000 Exemplare verkauft wurden, darunter Tausende mehr als wohlfeil auf Bücherwagen. Keinem Theaterroman oder Kulissenklatsch eines unserer lebenden Absatzkünstler wäre innerhalb 16 Jahre so geringer Erfolg beschieden. Was dem Urmeister recht ist, muß dem Gesellen billig sein; von einem der schönsten deutschen Romane, von Eichendorffs „Dichter und ihre Gesellen“ – seit dem ersten Erscheinen, seit 1833, unbekannt, vergessen, verschollen – existiert bis heute keine billige Einzelausgabe. Der deutsche Leser gehört nicht zu den Spießgesellen des deutschen Dichters. Der Klassiker ist ein unzerreißbarer Reißer, den man Kindern als Spielzeug oder Bildungsstrafe in die Hand gibt. Gelesen werden die gesammelten Werke nur vom Staubsauger. Dichter haben Geburtstage und Todestage. Vorher, dazwischen und nachher werden sie nicht gelesen. Sondern gefeiert.
In: Der Tag, 6.1.1929, S. 18-19.
Max Graf: Sanierung der Seelen (1924)
Abgesehen von seinen Wahl- oder Parteireden, oder den politischen Reden, die sich mit aktuellen Fragen beschäftigen, hält der ehrwürdige Seelsorger der österreichischen Republik, Bundeskanzler Dr. Seipel, in letzter Zeit immer häufiger Reden, die sich mit den allgemeinen Fragen des gesellschaftlichen Lebens beschäftigen. Diese Reden zeigen einen ernsten, nachdenklichen Mann von nicht alltäglicher Geistigkeit, dessen Blick nicht an den Vordergrunderscheinungen des Lebens haftet, mit denen Dr. Seipel von früh bis abends reichlich genug beschäftigt ist. Die Gedanken des Bundeskanzlers im schlichten Priesterrock gehen aufs Allgemeine, suchen Gesetze des Lebens, wollen die Richtung der Bewegung feststellen; es spricht der Moralist, der Gesellschaftskritiker, auch der Theolog, ein politischer und religiöser Denker, dem der schärfste politische Gegner die Reinheit der sittlichen Gesinnung nicht anzutasten wagen wird. Es bedeutet viel in Tagen, in welchen so viel gieriger Egoismus, so viel Gewinnsucht, so viel ungeistige Gewalttätigkeit entfesselt sind, in den wichtigsten Staaten Mitteleuropas Männer des Geistes die führenden Staatsmänner sind, mag ihr Denken frei und positivistisch sein, wie das des alten Masaryk und des Realisten Benesch, oder religiös gebunden, wie das Dr. Seipels. In Staatsmännern von solcher Art, denen Politik etwas anderes ist als Geschicklichkeit, sind geistige Kräfte, die sich auch im politischen Leben fördernd und belebend ausdrücken müssen. Noch immer sind Geist, Charakter, sittliche Gesinnung größere Kraftquellen, als die Kunst der politischen Gewalttätigkeit und Intrige, als ökonomische Macht und brutales Streben nach Vorteilen.
Die letzte Rede Dr. Seipels hat sich mit dem Luxus beschäftigt, der in Wien bei Festen sich zur Schau stelle. Es gefalle ihm – so meinte Dr. Seipel in seiner ernsten Rede – nicht, daß viele tausend Mitmenschen schwer um ihre Existenz ringen, und gleichzeitig ein Luxustreiben durch die Stadt gehe. Es gefalle ihm der Geist dieses vergnügungstollen Reichtums nicht, dem nichts am Staate liege und der andere verbittere. „Ich habe nicht den Ehrgeiz, als Staatsmann geschildert zu werden, der nur die Finanzen sanieren geholfen hat, sondern mit kommm[t] vor, daß wir auch die Seelen sanieren wollen meinte Dr. Seipel mit einer jener trefflichen Antithesen, die zur dialektischen Ausrüstung des Kanzelredners gehören, und es ist begreiflich, daß der Richter Dr. Seipel kein höheres, kein edleres Ziel kennt, als die Sanierung der Seelen. Die Sanierung der Finanzen, so wichtig und lebensnotwendig sie für den Staat ist, was kann sie dem Mann der Religion bedeuten, neben der viel wichtigeren der Sanierung der Seelen, die sein eigentlicher Beruf ist, um dessentwillen er den schwarzen Priesterrock angezogen hat, das Kleid der Streiter Christi, das Kleid der Seelenführer und Seelenretter? Ohne die Sanierung der Seelen muß dem Priester Dr. Seipel sein eigenes Werk unvollständig sein, denn der Mensch lebet nach den Worten der Heiligen Schrift nicht vom Brot allein.
Dr. Seipel denkt über die Zustände des modernen Staates und der modernen Gesellschaft kaum anders als der heilige Augustinus über den verderbten Römerstaat gedacht hat. In herrlich aktuellen Worten hat der heilige Augustinus im 2. Buch seines „Gottesstaates“ das Bild eines verkommenen Staates und einer verkommenen Gesellschaft entworfen: „Die Anbeter der heidnischen Götter kümmern sich nicht darum, daß die Republik durch alle Arten von Lastern befleckt ist. Wenn sie nur sich erhält – sagen sie – wenn sie nur blüht, siegreich und triumphierend ist, und vor allem, wenn sie vollkommenen Frieden genießt; was kümmert uns das übrige? Uns kümmert es nicht, daß jeder täglich seine Reichtümer vermehrt, um alle seine verschwenderischen Gelüste zu befriedigen und die wirtschaftlich Schwachen zu unterwerfen. Uns kümmert es nicht, daß die Armen die Schleppträger der Reichen werden, damit sie ihren Lebensunterhalt finden und im Schatten// der Protektion ein ruhig-müßgiggängerisches Leben genießen und daß die Reichen die Armen mißbrauchen, um sie zu Dienern ihres Luxus und ihrer Eitelkeit zu machen… Uns kümmert es nicht, daß man große und stolze Häuser baut, daß man überall und wo man Lust hat praßt, ohne gehindert zu werden, und die Nächte mit Spiel, Trinkgelagen und allen Arten Ausschweifung verbringt; daß man an allen Winkeln tanzt; daß die Theater von dem Geschrei jener widerhallen, die unzüchtigen oder blutigen Schauspielen applaudieren, und jener als Volksfeind betrachtet wird, der jene Vergnügungen mißbilligt; wenn nur weder Krieg noch Pest, noch ein anderes Unglück einen so glücklich sanierten Staat stören.“ Die Sanierung der Seelen war für den heiligen Augustinus die Errichtung des Gottesstaates, das siebente Zeitalter des Menschen, in dem er das göttliche Königreich besitzt, die ewige Glückseligkeit, das Leben nach dem Geist, der vollkommene Christenmensch. Man darf annehmen, daß auch dem Prälaten Dr. Seipel nach der Sanierung des Staates, die sein historisches Verdienst sein wird (wenn sie endgültig abgeschlossen sein wird) die Sanierung der Seelen, die der heilige Augustinus mit den Feuerworten seines afrikanischen Lateins gepredigt hat: die Sanierung durch den Glauben, als wichtigste Aufgabe erscheinen wird. Die Aufnahme der österreichischen Republik in die civitas die wird eine noch schwerere Aufgabe sein, als die Aufnahme Österreichs in den Völkerbund, und ernst und streng mahnt der Mann der Kirche, in dem die österreichische Republik ihren erfolgreichsten und geistig bedeutendsten Staatsmann gefunden hat, sich auf die Sanierung der Seelen vorzubereiten.
Mit sittlichem Ernst mahnt der österreichische Bundeskanzler immer wieder den Reichtum an seine sozialen Pflichten. Er steht mit diesen Mahnungen innerhalb der Traditionen der Kirche, welche in der Zeit, wo der Glaube am glühendsten, die Seelen noch frisch, der Fanatismus der Bekehrung ungeheuer war, im Reichtum Sünde gesehen hat. Kein Anarchist konnte heftigere Brandreden gegen den Reichtum halten, als der heilige Ambrosius. „Was sollen, oh Reiche, eure sinnlosen Begierden?“ – predigt der große Bischof von Mailand – „Glaubt ihr, daß ihr allein auf der Erde wohnt? Weshalb stößt ihr jene zurück, die die Natur als euresgleichen geschaffen hat, und beansprucht für euch allein den Besitz aller Sachen? Die Erde ist geschaffen zum gemeinsamen Gut der Reichen und Armen. Weshalb maßt ihr euch allein, o Reiche, das ausschließliche Recht an ihr an? Die Natur kennt keine Reichen, sie bringt uns alle arm auf die Welt, denn wir werden ohne Kleider geboren und wir sind nicht mit Gold und Silber behangen…Reiche! Ihr raubt alles den Armen, ihr entreißt ihnen alles und läßt ihnen nichts. Die Armen sind hungrig, wenn sie nichts haben. Ihr seid hungrig, wenn ihr euch mit Schätzen vollstopft… Ihr entreißt das Gold aus den Eingeweiden der Erde, aber nur um es von neuem zu verbergen, und wie viel Leben vergräbt ihr in das Gold!“
Niemals hat ein Proudhon den Reichtum mehr verdammt, als der heilige Ambrosius in seinem „Buch vom Naboth“[1]. Freilich: in der späteren Zeit hat die Kirche sich mit den Mächtigen der Erde zu verbünden gewußt und ist zeitweise der sicherste Schutz einer Gesellschaftsordnung gewesen, die dem Reichtum alle Macht und alle Vorrechte gegeben hat. Das Evangelium der Nächstenliebe hat nicht den Weltkrieg zu verhindern gemocht […], als für das große Morden in den Kirchen gebetet wurde. Und wo wird heute das „Liebet eure Feinde“ beachtet, wo doch von jeder Kanzel das Evangelium gepredigt wird. In der ungeheuren Weltumwälzung, die wir miterlebt haben, hat sich die Kirche ebenso schwach gezeigt, wie der Sozialismus, wie jede altruistische Gesinnung, die dem Masseneinbruch gewalttätiger, egoistischer Instinkte nicht widerstehen konnte.
In dieser Barbarei, in diesem allgemeinen Zusammenbruch der Kultur, des europäischen Gewissens, spricht Dr. Seipel das Wort aus von der „Sanierung der Seelen“. Ein schönes, ernstes und geistreiches Wort. Aber mit dem schönsten Predigtworten ist der aus den Fugen geratenen Welt nicht zu helfen. Die sittliche Verwüstung der Gesellschaft, die ja nicht auf Österreich beschränkt, sondern international ist, ist nur ein Zeichen einer fehlerhaften gesellschaftlichen Organisation. Die Gegensätze zwischen Reichtum und Armut sind in allen Ländern Europas, wo inmitten der Kriegsverwüstungen Vermögen zusammengerafft wurden und aus der Zerstörung des Besitzes neuer Reichtum an die Oberfläche kam, viel größer geworden, als sie vor dem Krieg waren, die soziale Bodenunruhe ist gewachsen, und welcher Einsichtiger würde nicht verstehen, daß die Welt in ein Zeitalter sozialer Erschütterungen, Umformungen, Kämpfe eingetreten ist – der Weltkrieg war nur eine blutige Episode dieser Weltkrise –, das noch lange nicht beendet ist. Die Gegensätze in der europäischen Gesellschaft sind viel zu groß, als daß sie mit Worten überbrückt werden könnten, deren Ohnmacht sich im Weltkrieg gezeigt hat. Wenn einmal der Neubau der modernen Gesellschaft vollzogen sein wird, wenn der Gegensatz von Reichtum und Armut durch die gesellschaftliche Ordnung gemildert, die Arbeit alle Mitglieder der Gesellschaft vereinen wird, werden auch die Herzen offen stehen für das Evangelium der Liebe und Menschlichkeit: Die „Sanierung der Seelen“ ist ein schöner Gedanke. Aber ein wohnliches Heim für diese Seelen muß vorerst geschaffen werden, während jetzt die Seelen der Reichen vor Furcht, die Seelen der Armen vor Erbitterung zittern. Denn auch die Verschwendung der Reichen, über die Dr. Seipel klagt, was wäre sie anderes als Furcht, ein Vermögen zu verlieren, dessen Besitz in einer Zeit allgemeiner Verarmung über Nacht entstanden ist, und die Gier, es zu genießen?
In: Der Tag, 20.1.1924, S. 1-2.
[1] De Nabuthe Iezraelita (Über den Israeliten Nabuth; Homilie gegen die Habgier, 389)
Hugo Bettauer: Die verfluchte Stadt (1922)
Vorwurf für ein grotesk-phantastisches Drama, das Oskar Panizza hätte schreiben können: Gottvater, erzürnt, weil ihm sein Ebenbild so wenig gelungen ist, beschließt, die entartete Menschheit tüchtig zu bestrafen und wendet sich, wie immer in solchen Fällen, an Satan. Der faßt einen echt satanischen Plan. Die Menschheit soll aus den Ebenen und Bergen haufenweise zusammengetrieben werden und so genötigt sein, zu Zehntausenden und Millionen miteinander zu leben, auf daß sie ihre bösen Eigenschaften und Instinkte gegeneinander ausleben müssen und jede ihrer schlechten Taten zur vollen Geltung kommt. Auf diese Art sind die Städte entstanden, von denen aus sich alles Übel über den Erdball ausbreitet, denn Kriege und Pestilenz, Haß und Gemeinheit, Kapitalismus und Bolschewismus, verderbte Liebe und Wahnsinn, Brudermord und Kubismus – dies und alle anderen schrecklichen Dinge haben ihre Geburtsstätte und ihren Nährboden nur in der Stadt, werden dort zu Beulen, die, wenn sie platzen, ihren giftigen Eiter über die Länder spritzen.
Heute ist die Welt mit solchen Sammelstätten des Verbrechens und Grauens ordentlich bespickt. Da aber die Menschen klug und zäh sind, haben sie aus ihren Großstadtnöten eine Tugend gemacht, Licht, das von selbst brennt, unter- und überirdische Bahnen, Fernsprecher, Automobil und Kanäle zur Beförderung ihres Unrates erfunden und, vergessend, daß alle diese Erfindungen eigentlich Verzweiflungsausbrüche sind, höhnen sie die noch nicht in die Stadt gepreßten, die das, was sie Komfort nennen, entbehren müssen, ja, dafür keine Verwendung haben. So sind die Millionenstädte zu riesigen Maschinerien geworden, in denen der einzelne von dem Tosen der Treibriemen und dem Surren der Räder so betäubt wird, daß er gar nicht zur Besinnung seiner selbst kommt, ja es sogar als herrlich empfindet, daß man auf das fünfte Stockwerk hinauffahren kann, als wenn es eine große Errungenschaft und kein Jammer wäre, überhaupt fünfte Stockwerke zu haben. Bis von Zeit zu Zeit irgend etwas an dieser Maschine in Unordnung gerät und sich dann die ganze Erbärmlichkeit einer auf Rädern, Treibriemen und Batterien aufgebauten Existenz erweist. Wir haben jetzt eine solche Woche hinter uns, in der es sich deutlich gezeigt hat, wie furchtbar das Leben in der Großstadt an sich ist, wenn der künstliche Mechanismus stillsteht. Nur zwei Tage dauerte der Streik der Eisenbahn, der Post, des Telephons und diese zwei Tage genügten, um zu erfahren, daß man in der Millionenstadt verlassener, einsamer, hilfloser lebt, als auf der höchsten Alm. Am schwersten wurde das Telephon entbehrt. Es hab zwar zum erstenmal in der Geschichte des Wiener Telephons keine falschen Verbindungen, aber auch keine richtigen. Das Leben war einfach wie erdrosselt. Ich weiß ganz sicher, daß, wenn ich meinen Verleger anrufe, ich ihn nicht erreichen werde, weil sich die Zentrale nicht melden wird oder die Beamtin ihren schlechten Tag hat und nicht will oder weil sie mir bis zum Zerspringen ihr monotones „Besetzt bitte, leider“ ins Ohr plärren wird. Aber immerhin – die Möglichkeit der Verbindung besteht, sie kann doch gelingen und wenn ich verzweifelt das Höhrrohr abhänge, tröstet mich das Bewußtsein, daß es vielleicht später gehen oder der Verleger mich anrufen wird. So aber lebte man ins Leere hinein, zitterte bei dem Gedanken, wer weiß was zu versäumen, hatte das Gefühl, stumm geworden zu sein und hilflos wie ein kleines Kind.
Dann kam dieser überaus sympathische Streik der Straßenbahner und die Großstadt verwandelte sich mit einem Ruck in die Hölle, die sie auch sonst ist, ohne daß man es aber immer merkt. Man stelle sich vor: Eine Stadt mit zwei Millionen Menschen und einer Ausdehnung, wie keine zweite Stadt auf dem europäischen Kontinent, ohne irgend ein ernstlich in Betracht kommendes Verkehrsmittel! Es gibt ja ungefähr dreitausend Automobile in Wien und sie sind ohnedies wie verrückt durch die Straße gejagt, aber schließlich sind es doch nur zehntauend Menschen, die von ihnen Gebrauch machen können, und zwar mehrstenteils solche, die eigentlich im Interesse des Gesamtwohls besser zu Hause bleiben würden. Die anderen aber, die arbeiten müssen, die unter dem ehernen Zwang der Jagd nach blauen und braunen Fetzen stehen, die zwar nichts wert sind, aber doch vor dem Hunger schützen, diese anderen Million Menschen stand fassungslos mitten in einer Wüste von Hitze und Staub erfüllt und mußte auf verfluchten Granitwürfeln, deren Kanten die Sohlen zerschneiden, phantastische Entfernungen zurücklegen. Wie ein Strom wogte es durch die Straßen, in der Früh dem Zentrum zu, abends gegen die Peripherie, und alle diese Männer und Frauen, Mädeln und Burschen schienen mit erloschenen Augen, Falten um den Mund, grünlich-gelbe Wangen und Wut im Herzen zu haben. Und wenn ich die Blicke sah, mit denen die schreitende Schar den vorbeirasenden Automobilen folgte, so erschrak ich vor so viel dumpfen Haß, Neid und Verzweiflung, die, auf Millionen verteilt, ungefährlich, einmal gesammelt und konzentriert, furchtbar sein können.
Die trostlose Abhängigkeit, in der wir Städter leben, mag wohl jedem in diesen Tagen gedämmert haben. Die Abhängigkeit vom guten und bösen Willen der anderen, von einem gerissenen Treibriemen, dem Bruch eines Wasserrohrs. Zehntausend Menschen wollen mehr Lohn, als man ihnen geben will, und zwei Millionen Menschen müssen mit keuchender Lunge sich die Fußsohlen wund laufen! Eine winzige Bleisicherung brennt durch und eine fröhliche Gesellschaft muß aus dem Dunkel des Hauses auf die Straße flüchten, die Übeltat einer organisierten Mörderbande und sechzig Millionen Deutsche stehen unter der Fuchtel des Ausnahmegesetzes, ein Schutz am Peter- und Paulstag und die ganze Welt stand in Flammen. Und der Streik, der Mord, der Schutz wird immer nur in der Stadt geboren.
Gott hat die Menschen geschaffen und der Teufel die Städte…
In: Der Morgen, 3.7.1922, S. 5.
Hugo Bettauer: Die Neujahrsnacht der Banknoten (1922)
Um einen grünen Tisch herum sitzen wohlbekannte Gestalten, um sich nach rastloser Wanderung einer kurzen Muße hinzugeben und bei Punsch und Krapfen den Eintritt des neuen Jahres abzuwarten; der Einser, der Zweier, der Zehner und Zwanziger, der Fünfziger und Hunderter, der Tausender und Zehntausender haben genau nach Rang und Wert ihre Plätze eingenommen. Zwei Stühle sind für weitere Gäste reserviert. Der Einser und der Zweier befinden sich in despektierlichem Zustand. Abgerissen, fetzig, schmutzig, klaffende Risse notdürftig mit Heftpflaster verklebt, in sich zusammengesunken sitzen sie da, als wollten sie demnächst verenden.
Dem Zehner ist die Nachbarschaft ersichtlich unangenehm, er rümpft die Nase, schüttelt sich vor Ekel und brummt wütend:
„Ihr hättet auch lieber zu Haus bleiben können. Ordentlich kompromittieren tut Ihr die ganze Gesellschaft!“
„Na, na, spiel‘ dich nicht auf, Zehner,“ ruft der Hunderter höhnisch, „schaust ja selber schon wie ein Pülcher aus! Auf ja und nein wird sich nach dir auch keiner mehr bücken wollen.“
„Mir alle san halt strapaziert,“ keucht der beleidigte Zweier!
„Volksfreunde san mir,“ echot der Einser, „Kinderfreunde und Genossen der notleidenden Klassen!“
Das war zu viel der Anstrengung, der Einser rutscht vom Stuhl hinunter und sein Oberkörper trennt sich vom Unterleib. Der Zweier bückt sich, um dem Genossen zu helfen, dabei kommt auch er zu Fall und der Zehner stoßt sie beide wütend mit dem Fuß beiseite.
Der Tausender beschwichtigt die Aufgeregten. „Laßt’s die armen Hascher lieger! Sie haben ja eh‘ die längste Zeit schon kein Leben mehr g’habt! Wann i der Hausherr wär, tät ich sei im neuchen Krematorium verbrennen! Kosten eh‘ mehr, als sie wert san!“
Der Zwanziger will sich noch nicht beruhigen! „Eine Schande ist es, so mit uns umzugehen! Auf ja und nein kann uns allen dasselbe geschehen! In den letzten Wochen habe ich schon genug Schimpf und Schande erleben müssen.“
Der Tausender reckt sich, wirft funkelnde Blicke aus den braunen Augen und meint:
„Es herrscht eben keine Achtung und Ehrfurcht mehr in diesem Lande, seit der gute Kaiser Karl…“
„Nichts von Politik,“ brüllt der demokratisch gesinnte Hunderter dazwischen.
Der Tausender begehrt auf: „Wer etwa behauptet, daß ich Monarchist bin, ist ein Verleumder! Aber einen Herrn brauchen wir, sage ich! Wissen Sie, was mir neulich beinahe geschehen wäre? Beim Heurigen war es, als nach kräftigem Genuß von neuem Wein und Powidlgolatschen sich so ein reich gewordener Selcher beinahe, weil er nichts anderes zur Stelle hatte, mit mir…“ Die anderen Worte flüsterte der Tausender indigniert den Nachbarn zu, von denen der Hunderter erbleichte, während der Zehntausender in schallendes Gelächter ausbrach.
„Allerdings, mir könnte das nicht so leicht passieren! Na, ja, schließlich bin ich auch unter den geänderten Verhältnissen ein Wertfaktor, den man respektieren muß!“
„An Schmarrn bis du,“ kreischt der kranke, schäbige Zehner im Bewußtsein, eh‘ auf dem letzten Loch zu pfeifen. „Du und der Tausender, Ihr seid nichts als Schwindler, besonders seitdem Ihr von hinten wie die Zwillingsbrüder ausschaut.“
Mit philosophischer Ruhe mengt sich der Fünfziger ein. „Meine Herren, geben wir uns keinen Illusionen hin, Schwindler sind wir alle! Jeder von uns will etwas vorstellen, was er nicht ist, und ob einer sich Tausender nennt oder Zehntausender, in Wirklichkeit ist er ein Dreck!“
„Da muß ich doch sehr bitten,“ meint scharf der Zehnstausender. „Ich als der Erste und Beste unter Ihnen denke in diesem Punkt wesentlich anders…“
Die Tür geht auf und der Herr Fünftausender tritt ein. Einen Moment ist alles baff, der Glanz des nagelneuen Gewandes, das der späte Gast trägt, fasziniert, der Hunderter vergißt seine demokratische Gesinnung , der Zehner seinen beleidigten Zustand, beide springen auf, um den Fünftausender an die Spitze der Tafel zu führen. Da schlägt der Zehntausender mit der Faust wütend auf den Tisch.
„Oha, das wär‘ noch schöner! Da links von mir ist der Platz für den neuen Herrn, denn ich bin noch immer der Rangältere.“ Und spitz wendet er sich an den verwirrt und verlegen ins Licht blinzelnden Fünftausender:
„Der Herr hat wohl mit Erfolg in Valuta spekuliert? Unsereins kann sich nämlich nicht so ohneweiters ein neues Gewand leisten.“
Verdrossen, geknickt, zerrissen wacht der Zwanziger aus dem Halbschlummer auf.
„Tun’s Ihnern nix an, Herr Präses, Sie gehören ja selbst zu den neuen Reichen, die was im Jahr 1914 noch gar net auf der Welt waren!“
Der Fünftausender setzt sich artig, fühlt die neidischen und bewundernden Blicke und denkt sich: In eine schöne Gesellschaft bin ich geraten! Wer weiß, vielleicht schau‘ ich bald auch so aus, wie der stinkerte Zehner da!
Jetzt kommt aber breitspurig, mit wuchtigen Schritten, würdevoll der letzte Gast, der Kommerzialrat Fünfzigtausender. Vergebens hat er sich allegorisch einzukleiden versucht, er sieht entschieden „eingewandert“ aus und je vornehmer er sprechen will, desto mehr jüdelt er.
„Platz da, meine Herren,“ ruft er und setzt sich breitspurig an die Spitze der Tafel. „Hast ä Hitz, was Sie da haben! Nü, Herr Tausender, Sie sehen auch schon etwas mitgenommen aus, von die anderen Herren gar nicht zu reden! Und Sie, Herr Zehntausender, Ihnen ist auch nicht ganz wohl? Also,ich sag‘ Ihnen, jetzt, wo ich da bin, wird ein neuer Zug in die Sache kommen! Reißen wird man sich um mich und was echter Kavalier ist, wird gar nicht ohne mir in die Bar gehen wollen!“
Und schon schließt sich alles gegen den neuen Eindringling zusammen. Der Zehntausender rückt von ihm ab und vom unteren Ende der Tafel werden stürmische Rufe“ „Schieber! Schieber! Schieber“ laut. Der Zehner kreischt: „Haut’s den Hebräer tor“, der Hunderter brüllt: „Wart nur, bei der nächsten Plünderung!“
Der Lärm wird so groß, daß im Café „Zentral“ am Literatentisch, wo eben heftig über Stendhal, Daimler, Goethe, Julisüd, Wildgans und Chemosan diskutiert wurde, Unruhe entsteht. Die Türe fliegt auf und der Hausherr, Herr Gürtler, kommt mit der Nachtmütze auf dem Kopf und einem Staberl in der Hand.
„Ruhe, Bagage, elende! Wan i euch allemiteinander nur schon los wär, ös elendige Gauner, ös! Marsch ins Steueramt mit euch! Aber rasch, sonst hol i mein Freund, den Rosenberg, und lass‘ euch alle zusammen abstempeln!“
In: Der Morgen, 2.1.1922, S. 4.
Margret Hilferding: Geburtenregelung (1925)
Margret Hilferding: Geburtenregelung.
Die Schwangerschaftsverhütung (Prävention) ist imstande, die Regelung der Geburten in bezug auf die Zeit und Modalitäten der Zeugung zu bewirken. Wenn sie sich auch nicht in jedem Einzelfalle als zuverlässig erweist, so ist ihr Einfluss auf die Geburtenbeschränkung unbestritten. Sie ermöglicht es, den Lustgewinn beim Geschlechtsverkehr von der Kinderzeugung abzulösen; die Kinderzeugung kann daher mit voller Berücksichtigung der Umstände, die wir in den früheren Artikeln als für die Fortpflanzung wichtig erörtert haben, unternommen werden. Die Auswahl in der Beschaffenheit der Erbmasse beider Eltern, die Wahl des nach äusseren und inneren Momenten günstigsten Augenblickes der Zeugung, die Quantität der Nachkommenschaft ist durch eine zweckmässige und konsequent durchgeführte Prävention gesichert. Die Aufklärung der Eltern in Beratungsstellen, durch Vorträge und Zeitungen wird erfolgreich sein, wenn gleichzeitig die Möglichkeit der Prävention durch leichte Erreichbarkeit der Präventivmittel gegeben ist. Die Krankenkassen könnten diese Aufgabe mit geringer materieller Belastung durchführen, wenn sie endlich das entsprechende Verständnis dafür hätten. Durch jede wohlgeglückte Prävention wird jene andere Methode der Geburtenbeschränkung überflüssig gemacht, von der wir zum Schlusse sprechen wollen. Es ist die Fruchtabtreibung.
Der Versuch, mit gesetzgeberischen Mitteln die Fruchtabtreibung zu verhindern, stammt aus einer Zeit, in der dieser Eingriff als ärztliche Leistung nicht bekannt war. Er richtete sich damals gegen jene ganz rohen und brutalen Gewaltmittel, durch die Laien früher eine Abtreibung vorzunehmen versuchten. Das waren schwere Gifte, insbesondere Phosphor, und körperliche Verletzungen grober Art. Ihr Erfolg war stets eine Schädigung der Gesundheit der betroffenen Frau, oft mit tödlichem Ausgang, während die Abtreibung nicht immer gelang. Die Auffassung der Abtreibung als schwere körperliche Verletzung ist aus dem Wortlaut des Gesetzes (§ 144 und folgende) noch heute erkennbar. Von einem ärztlichen Eingriff konnte, wie gesagt, damals noch nicht die Rede sein; die Anwendung des Gesetzes auf ärztliche Operationen ist daher ein Anachronismus und es ist höchste Zeit, dass seine Änderung erfolgt. Über die Art dieser Abänderung tobt ein heftiger Kampf, den wir an den Erkenntnissen, die wir in früheren Artikeln gewonnen haben, beleuchten wollen.
Wir müssen ohneweiters zugeben, dass bei dem ungeheuren Interesse, dass die Gesellschaft an Qualität und Quantität der Nachkommenschaft hat, ihr das Bestimmungsrecht auf zwar noch ungeborenen, aber doch lebende Mitglieder nicht abgesprochen werden kann. Eine Vernichtung solchen Lebens darf daher im Interesse der Gesellschaft nur bei solchen Keimlingen erfolgen, für die eine Prävention zu Recht bestanden hätte. Wenn der Gesellschaft aber ein Einspruchsrecht gegeben ist, so muss sie als Gegenleistung auch alle Pflichten übernehmen und teilen, welche der Vorbereitung und Bestätigung der Elternschaft (Mutterschaft) dienen. Sie muss die Eltern nicht nur über die Grundlagen der Bevölkerungspolitik aufklären, sie muss die Vorbedingungen für jede Bevölkerungspolitik erst schaffen. Die Frage der Ausschaltung kranker Erbmassen muss ebenso gelöst werden, wie die Frage der Aufzug des künftigen Kindes. Schwangerschafts- und Stillfürsorge, Behebung der materiellen und der Wohnungsnot, Erziehungsfürsorge in grösstem Umfange werden die Anerkennung und den Gegenwert für die Leistung der Elternschaft bilden.
Es wird auch Aufgabe der Gesellschaft sein, in allen Fällen, wo sie auf das Leben des Nachkömmlings keinen Anspruch erhebt, also in irgendeiner gesetzlich festzulegenden Form die Einwilligung zur Fruchtabtreibung gibt, dafür zu sorgen, dass dieser Eingriff mit der geringstmöglichen Gefahr für die Mutter vorgenommen werden kann.
Durch die Fortschritte der Operationstechnik und der Asepsis ist der ärztliche Eingriff zu einer Vollkommenheit gebracht, welche das Gefahrenrisiko für die Mutter bei wohlerwogener Auswahl der Fälle und technisch einwandfreier Durchführung sehr gering gestaltet. Vielleicht wird eine spätere Zeit erst noch mehr verringern.
Dagegen steht noch immer jene ungeheure Zahl von Fällen, in denen oft geradezu veranlasst durch die Drohungen des § 144 die Frauen – und stets die ärmsten und hilflosesten – zum Pfuscher getrieben werden und die mangelhafte Fürsorge der Gesellschaft in bezug auf die Geburtenregelung mit der Gesundheit, mit dem Tode, mit Schande und Kerker bezahlen. Es muss ein Weg gefunden werden, um diesen Frauen zu helfen; und nur dann werden wir eine Abänderung des § 144 als gut ansehen können, wenn er die Ungerechtigkeit, Asozialität und Gefährdung von Menschenleben aus der Welt schafft, die jetzt zur Praxis jener Paragraphen und all derer, die sie handhaben, gehört.
Wir müssen hier auf eine Bemerkung im ersten Artikel zurückkommen, die sich auf den Unterschied zwischen Geburtenregelung und Geburtenbeschränkung bezog. „Geburtenbeschränkung gründet sich auf das durchaus egoistische Motiv des persönlichen Wunsches, der persönlichen Fähigkeit zur Nachkommenschaft. Geburtenregelung geht hervor aus den altruistischen Beweggründen der gesellschaftlichen Notwendigkeiten in bezug auf Quantität und Qualität des Nachwuchses. Die Forderung der Geburtenbeschränkung ist die Forderung des verantwortungslosen Laien, die Forderung der Geburtenregelung ist die Forderung der ihrer Verantwortung bewussten Wissenschaft!“
In: Die Mutter, 1.4.1925, S. 6-7.
Walter Süß: Mariahilfer Straße. Die Herzader der Großstadt (1928)
Walter Süß: Mariahilfer Straße. Die Herzader der Großstadt.
Mariahilferstraße: Das ist mehr als eine große Verkehrsader, mehr als zwei endlose Fronten großer Häuser, steinerne Schlucht, in der Ströme von Fußgängern, Autos und Trambahnwagen ewig aneinander vorüberfließen. Nein, Mariahilferstraße – das ist die Seele der Großstadt, das ist eine Symphonie von Luxus, wohlhabender Behäbigkeit und traurigem Elend. Ist ein Märchen von Licht, eine Symphonie von Farben. Ist Granitwüste, Sumpf, Korso, ist Strich, den ein unerbittliches Schicksal durch Lebensrechnung der Armen gezogen hat, die nun auf ihm wandeln müssen. Und ist eine der großen Heerstraßen der Zivilisation, durch die der Rythmus des Jahrhunderts dröhnt, flankiert von Bauten einer geruhigen Vergangenheit und überschattet vom Traum der Zukunft: der Stadt von morgen, Metropolis mit Wolkenkratzern und flammenden Lichtfontänen inmitten brüllender Verkehrskatarakte, Mariahilferstraße in tausendster Potenz.
Hundert Gesichter hat diese Straße und hundert Gesichte vermittelt sie. Sie ist Wien, auf eine einzige lapidare Formel gebracht. Sie ist das Wien von gestern, dort, wo noch die alten Häuser stehen und zwanzigstes Jahrhundert an die Mauern des achtzehnten brandet, vergessener Barock im Brausen der Moderne, sie ist das Wien von heute, leuchtende Schriften bunt und eindringlich hoch über flammenden Schaufensterfronten. Und sie ist das Wien von morgen, dessen Zentrum langsam gegen Westen tendiert. Sie führt nicht nur nach Schönbrunn, die Mariahilferstraße. Sie führt in die Zukunft…
Vergangenheit.
Kaffeehaus: Offene Galerie in Stockhöhe, leuchtend rote Riesenparasols über zierlich weißen Tischen. Und unten die Mariahilferstraße – Fußgängerheere, Autokolonnen, gestaute Tramwayzüge; plaudernd, tutend, klingelnd und all das verschmolzen zu einem Inferno der Töne, einer gigantischen Dissonanz, die trotzdem Melodie bedeutet…
So ist es heute.
Und so war es gestern: eine ehrwürdige Landstraße, weißer Staub in ausgefahrenen Räderfurchen, grüne Sträucher am Rain. Und ab und zu Häuserln, dahinter Weingärten und darüber der blaue Himmel. Laimgrube, Gumpendorf, Neubau, Schottenfeld. Es sind alte Namen, ein bißchen rostig schon im Klang. Und damals waren es kleine Nester an der großen Straße, die weit, weit hinaus, bis ins Bayrische führte. Anno 1400 reichten die Häuserln gar nur bis zur heutigen Stiftskirche. Dreihundert Jahre später war die Straße schon bis zur jetzigen Esterhazygasse verbaut. Und in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts rückten die Mauern bis zur „Lina“ vor und dort, wo heute am Gürtel der Obelisk steht, gab es eine Statue des heiligen Johann von Nepomuk, die auf einer steinernen Säule stand.
Einstmals hieß die Straße „Im Schöff“, nach dem gleichnamigen Schild des Wirtshauses, in das die bayrischen Schiffsleute, wenn sie zu Lande heimwärtsstrebten, einzukehren pflegten. Später wurde sie Penzingerstraße, Bayrische Landstraße und Schönbrunnerstraße genannt. Ihren jetzigen Namen bekam sie von einem Marienbild. Jetzt steht auf dem Grund, wo es früher nur eine kleine Holzkapelle gab – sie wurde 1660 errichtet -, die Anno 1715 erbaute Mariahilferkirche. Zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts hatten die Barnabiten das Land getauft und errichteten, noch lange vor der Kapelle, einen Friedhof, damit der alte vom Michaelerplatz aufgelassen werden konnte. Das Gnadenbild „Maria, hilf!“ gab der Straße und dem Bezirk den Namen. Keine Weingärten gibt es mehr, keinen Friedhof, und kaum einer der Hunderttausende, die täglich durch die Straße ziehen, denkt an die Vergangenheit. Da war das Haus Casa piccola, Mariahilferstraße 1 – jetzt gibt es ein paar Schritte weiter ein Kaffeehaus gleichen Namens – in dem hat der Kriegsrat Napoleons getagt. Im Hause Mariahilferstraße 45, einst hieß es „Zum Goldenen Hirschen“, wurde Ferdinand Raimund geboren. Aber das alles ist schon lang, lang vorbei. Hier wächst kein Wein mehr, keine bayrischen Flößer sinken mehr vor dem Gnadenbild der Himmelskönigin in die Knie und keine Toten werden hier begraben. Und Napoleon, der sich gern als Großer zeigte, mußte dem Gerngroß Platz machen, so wie die Flößer den Automobilen gewichen sind.
Und ein Stockwerk über dem allen sitzt man beim Kaffee unter einem roten Parasol, sechs Meter über den Asphalt.
Das erste Auto
Ununterbrochen ändert sich das Gesicht dieser Straße. Ich habe Bilder von ihr gesehen, so wie sie Anno neunzig ausgesehen hat: behaglich noch und still, Pferdebahnwagen und Damen mit Puffärmeln und Wespentaillen, mit Spitzenschirmen und Fliegenpilzhüten, ein paar Fiaker dazwischen und im Hintergrund würdige Bürgerhäuser, über denen die Luft des Brillantengrundes lag. Und das Gesicht von gestern ist geblieben, trotz des Gesichts von heute: Draußen in Rudolfsheim stehen noch die alten Barockhäuserln beim Schwendermarkt, an denen die Zeiserlwagen vorübergefahren sind, in der Gegend des Palace die protzigen Fin-de-siècle-Paläste, aufgedonnert mit Kuppeln und patzigen Ornamenten, knapp daneben der nüchterne Zweckbau des Hauses, in dem sich das Flottenkino befindet, und der ganz, ganz entfernt ein bißchen an Broadway und Newyork mahnt. So steht gestern und heute nahe beisammen und einmal wird das Heute neben dem Morgen stehen, aber das Gestern wird nicht mehr da sein.
In der Straßenschlucht die Automobile, eines nach dem andern. Erst sie geben der Mariahilferstraße Stimmung und Gepräge. Man sehe sie sich an im Morgengrauen, wenn sie leer und öde ist, toter Granitdarm, und wird erkennen – erst die Autos machen sie vollkommen. Es ist vielleicht kein Zufall, daß das erste Auto durch sie gefahren ist. Das war Anno 1879, als Siegfried Marcus, der erfindungsreiche Mechaniker, im Hause Mariahilferstraße 107, seine Werkstätte betrieb. Schon fünfzehn Jahre früher hatte er einen „Motorwagen“ auf der Schmelz ausprobiert. Dann hatte er lange gebastelt und probiert, bis auf einmal in Nacht und Nebel – bei Tag hätte sich der Erfinder nicht getraut – ein sonderbares Fahrzeug, ohne Roß und Schiene knatternd und pfauchend durch die Mariahilferstraße ratterte. Allerdings nicht lange. Die Wiener Polizei verbot das Auto des Marcus. „Wegen des großen Geräusches“, hieß es in der geistvollen Begründung. Es ist also wirklich nicht die Schuld der Polizei, daß es heute Autobanditen gibt…
Die Straße lebt.
Man muß bescheiden sein: Die Mariahilferstraße ist nicht der Berliner Kurfürstendamm und nicht der Londoner „Strand“. Aber sie ist ein Stück Weltstadt, durch die rastlos das Leben pulst, sinnverwirrend in seiner Mannigfaltigkeit und grandios in seinem ewigen Wechsel. Vier Kilometer – aber jeder Kilometer hat ein anderes Gesicht und jede Stunde ein anderes Antlitz. Eng, gedrängt, wie das Herz der City, die ansteigende Kurbe am Beginn; breiter Geschäftsboulevard bis zum Gürtel und kleinbürgerlich, schon ein bißchen vorstädtisch, hinaus gegen Schönbrunn. Am Ende noch ein ganz anderes Bild: ruhige Avenue inmitten grünen Parklandes, zur Rechten der vornehme Kolossalbau des Technischen Museums. Es sind vier verschiedene Straßen, aber es ist ein und dieselbe Straße…
Aber die Mariahilferstraße mit ihrem Leben, ihrer Brandung, reicht hinein bis in die Seitengassen. Man denke an die Stumper-, an die Reindorfgasse. Mehr als tausend Geschäfte sind in der Mariahilferstraße oder in ihrer unmittelbaren Nähe. Es ist ein riesenhafter Basar, ein einziges gewaltiges Warenhaus, in dem alles verkauft wird, vom Kragenknopf bis zur kompletten Heiratsausstattung, von der Stecknadel bis zum Nobelauto, und alles erhältlich ist, was es in dieser Welt gibt: Ware, Vergnügen, Elend, Liebe und Seelenheil. Gewaltige Mammonspaläste für die Ware, Cafés und Lichtspieltheater für das Vergnügen, vergessene Winkel für das Elend, fein säuberlich reglementierte Striche für die Liebe und Kirchen für das Seelenheil. Und alles, des Lebens Notdurft, Vergnügen, Liebe und Farbe, ja das Leben selbst, scheint Ware geworden zu sein in dieser Straße. Das ist ihr Gesetz und ihr Fluch.
Fest und hart ist der Asphalt – aber dort, wo die armen Mädel gehen, ist er weich und tückisch, wie Sumpf, in dem sie versinken. Und ihnen allen: denen, die gehen, um sich zu verkaufen, und denen die gehen, um zu kaufen; denen, die hetzen in der Tretmühle der Arbeit, und denen, die gehetzt werden; und denen allesamt, die ihre Luft geatmet und den Rhythmus ihres Tempos in ihren Adern pochen fühlten, ist sie zur Straße des Lebens geworden. Ja, sie ist das Leben selbst; tönend die Pracht der Fassaden und in grauen Lichthöfen das Elend, glänzend die Schminke und tief unter ihr die Bazillen – und flackerndes Licht auf hohen Dächern, über denen es Nacht ist…
Und man liest wie im Märchen: In der Zeit der Maria Theresia wurden in der Straße Öllampen angebracht. Sie brannten nur, wenn sich der Hof nach Schönbrunn begab. Das war vor 150 Jahren. Und in wieder anderthalb Jahrhunderten werden hier Wolkenkratzer stehen und seltsam geformte Flugschiffe wie Meteore durch die Nacht blitzen. Die Trottoire werden bewegliche Laufbänder sein und drei Straßen werden übereinander liegen. Und jemand wird lesen, wie im Märchen: In der Zeit des zwanzigsten Jahrhunderts bettelten Männer in der Straße und Frauen verkauften ihre Körper. Denn sie alle, alle hatten ewig Hunger…
In: Das Kleine Blatt, 19.5.1928, S. 3-4.