Max Lesser: Von der neuen Kunst
Es wachsen jetzt seltsame Blumen im Garten deutscher Dichtung und Kunst. Einige treten ganz unblumenmäßig als Quadrate oder Dreiecke oder in der Form von Rhomboiden und Dodekaedern oder als Mischung aller dieser mathematischen Konstruktionen in die Welt der Erscheinung: andre wieder verschwimmen im Nebel der absoluten Unbegreiflichkeit, Gebilde einer Phantasie, in der sich musikalische Elemente, Sturzwellen von Farbenorgien, lallende Gefühlsräusche ineinanderwirren. Nie bisher hat man dergleichen erlebt. Die neuen Bilder sind thematische Variationen von Tönen, die ebensogut durch die Instrumente eines Orchesters wiedergegeben werden könnten; die neuen Gedichte sind von der Palette eines Malers genommen, man sollte sie als Farben und nicht als eine Folge von Worten zu verstehen suchen; die neuen Dramen sind Zusammenklänge von szenischen Kompositionen, in deren Verlauf auch einiges gesprochen wird. Aber dies ist nicht gerade nötig; wir haben neuerdings auch Dramen, in denen die menschliche Rede ziemlich gleichgültig geworden ist, in denen sich der Wille des Dichters auch durch andere Medien der Vermittlung zu manifestieren vermag, wie es denn überhaupt nicht so sehr darauf ankommt, daß etwas geschieht, dem wir folgen können, sondern daß irgendwo im Kern aller Geheimnisse ein mystischer Drang nach Expression Entladungen jenseits des Möglichkeitsbereiches unserer Gedanken und Empfindungen sucht. Von diesen neuen Werken gilt Mephistos Wort über die Mütter: „Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit, um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; von ihnen sprechen ist Verlegenheit.“ Wir sind wieder einmal in der Welt der abstrakten Ideen, dort, wo in Urtiefen die Mütter hausen; zu ihnen führt der Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende, ins Unerbetene, nicht zu Erbittende, in grenzenlose Öde und Einsamkeit. Dort sitzen sie, „Gestaltungen, Umgestaltungen, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung, umschwebt von Bildern aller Kreatur.“
Ach, aber der Schauder, der Faust ergreift, wenn er sich dem glühenden Dreifuß, dem Reich der abgründigen Geheimnisse nahen soll, er will uns nicht befallen, die wir in futuristisch-kubistische Konstruktionen die reine Idee der auf sich selbst bezogenen, von allem Gedanklichen befreiten, von allem Gefühlsgehalt entblößten Kunst begrüßen sollen und denen zugemutet wird, in Gedichten und Dramen die dialektische Überwindung des Sinnes durch ein unbestimmbares Etwas zu verehren, worin sich der Sternennebel werdender geistiger Welten noch nicht Sonnen und Planeten geformt hat. Diese sonderbare neue Kunst, die in unverständlichen Bildern und noch unverständlicheren Dichtungen nach Ausdruck ringt, bewegt sich auf der Grenze, wo die Mechanik einer klug ersonnenen Maschine und die irrationale Welt der losgelassenen Willkür einander bedrängen. Diese Kunst gehört zu unsrer Zeit, in der sich alle Elemente der rechnenden Sachlichkeit und der anarchischen Verstiegenheit mischen. Und darum sind auch die Triebkräfte dieser neuen Kunst nicht Laune oder Mode, sondern das Fordernde, Fragende und so oft Quälende an ihren Erzeugnissen ist es, daß uns ein starkes Gefühl sagt: „Hier ist am letzten Ende doch eine Notwendigkeit, hier sind doch Entwicklungsreihen, durch die wir hindurch müssen, hier beginnt eine neue Wüstenwanderung, von der wir gewiß gern glauben möchten, daß ihr Ziel das gelobte Land sein wird. Aber einstweilen führt der Weg nur selten an Oasen vorüber.
Berlin ist der rechte Standort zur Beobachtung aller dieser wirbelnden, gärenden, kochenden Dingen, die in einem zwangsläufigen, dialektischen Entwicklungsprozeß immerfort sich selbst eliminieren, um dann in neuen Formen stets mit derselben revolutionären Auflehnung die ruhigen Bürger zu kränken, die Gleichgültigen aufzurütteln, die Jugend zu entflammen und zuletzt mit dem abermaligen Beweis für das Mißverhältnis zwischen dem Gewollten und dem Gekonnten das Bedauern darüber zu verstärken, daß immer nur Vorläufer und Verheißer kommen und gehen und daß kein erlösender Vollender bisher gefolgt ist. Es gibt hier eine breite, empfängliche, in jedem Augenblick für die gewagtesten Sachen zu gewinnende Schicht, die sich um die Novembergruppe und um Herwarth Walden und seinen „Sturm“ gruppiert, die es gläubig verschluckt, wenn auf einem Bilde Zündholzreste und Korkstücke die Aufgabe der plastischen Erläuterung zu erfüllen haben; wenn ein hingeschmiertes Farbenfurioso, das aussieht, als ob ein Esel mit seiner Schwanzquaste von hinten her auf der Leinwand phantasierte, eine „Frau in der Erinnerung glücklich besonnter Tage“ oder sonst was darstellen soll oder wenn dadaistisches Lallen zweifeln läßt, ob man es mit Narren oder mit spitzbübischen Spöttern zu tun hat. – Aber von der Verwegenheit dieser Gattung soll hier nicht gesprochen werden, wir wollen nur von der Bühne sprechen.
Dieser Winter hat eine lange Reihe von Stücken gebracht, mit denen der Expressionismus in seinen kühnsten Formen zum Worte kam. Allen diesen Darbietungen, die im einzelnen aufzuzählen, kein Bedürfnis vorliegt, ist eine Besonderheit gemeinsam: die Beherrschung durch einen regieführenden Diktator. Wer hat früher viel nach dem Regisseur gefragt? Er war gewiß notwendig, aber man sah ihn als den Techniker an, der für den leichten Gang der Maschine zu sorgen hatte; heute ist der Regisseur die mitdichtende, mitspielende Seele der Bühne, der Kapellmeister, dessen Feldherrnstab Nerven zum Schwingen, Stimmungen zum Tönen, unnennbare Vibrationen zum vergeistigten Klingen zu bringen vermag. Die Schauspieler sind seine Instrumente, der dekorative Rahmen ist eines seiner stärksten Ausdrucksmittel. Der Regisseur ist plötzlich aus der Anonymität herausgetreten, man nennt und kennt ihn, und auch das große Publikum weiß, daß Karlheinz Martin vom Deutschen Theater, Jeßner und Berger vom Staatstheater und Meinhard vom Theater in der Königgrätzstraße gegenwärtig die Spielleiter sind, die mit der sublimsten Einfühlung ihn ihre Aufgabe die intensivste Musikalität der Wiedergabe verbinden. Der auffrischende Geist der neuen Kunst durchdringt die Dramen auch der Vergangenheit, sie blühen in seinem belebenden Anhauch zu Gebilden auf, in denen wir Seele von unsrer Seele wiederfinden. Darum wirkt die Aufführung von „Richard dem Dritten“ im Staatstheater mit Kortner als Richard so aufwühlend, weil wir in dieser Kühnheit, die so gut wie ganz ohne Dekoration und jedenfalls völlig ohne historische Kostüme arbeitet, etwas vom Wesen der Zeit entdecken, nämlich die rücksichtslose Befreiung von der Tradition, das Vordringen auf den letzten Kern und Gehalt, die Lust, überall von vorn zu beginnen. Selbst wo dieser Wagemut über das Ziel hinausschießt, wie in der merkwürdigen Aufführung der „Jungfrau von Orleans“ im Deutschen Theater, bleibt er noch gewinnreich. Denn es kam hier zum starken Ausdruck, daß sich diese Tragödie auf dem Grunde einer visionären Verstiegenheit abspielt, und wenn die hysterische Verzückung der Johanna in Helene Thimigs Darstellung seltsam erregte, so war die Bühne vollends in eine beunruhigende Mystik eingehüllt, so oft es dem Regisseur Karlheinz Martin gefiel, den Gang der Handlung, ja den Verlauf einer Szene durch wechselnde, sachlich ganz unmotivierte, aber stimmungsmäßig beglaubigte Beleuchtung gleichsam symphonisch aus dem Bereich der Worte in ein malerisches Gebiet zu transponieren. Wir haben ähnliche Wirkungen bei Bergers „Tasso“ – Aufführung im Staatstheater – erlebt, wo gleichfalls die Begier, den dunkelströmenden Untergrund des Geschehens bloßzulegen, uns unmittelbar an das Werk heranführt, nachdem der Reiz des Kostümlichen und alles sonstigen historischen Beiwerks mit Bedacht ausgeschieden worden ist. Wie in diesem Zeitalter neuer Bühnenkunst die schauspielerischen Talente üppiger als seit langem gedeihen, so bildet sich jetzt eine Generation von // Regisseuren heran, deren Aufstieg man mit wachsender Teilnahme verfolgt. Zu ihnen gesellt sich nunmehr auch einer der Spielleiter an der Volksbühne, Jürgen Fehling, dessen jüngste Leistungen (Rabindranath Tagores „Postamt“, Shakespeares „Komödie der Irrungen“) eine schöne und reife Begabung zeigen. Sie geht, was besonders wohltuend ist, ihre eigenen Wege, sie verschmäht die Nachahmung.
Von den Dramen, die auf den Wegen des Expressionismus gehen, sind es drei, über die hier einiges gesagt werden mag: „Chauffeur Martin“ von Hans Rehfisch (im Deutschen Theater), „Der Kreuzweg“ von Karl Zuckmayer (im Staatstheater) und „Jenseits“ von Hasenclever (in den Kammerspielen). Die Verfasser der beiden ersten Stücke sind Studenten. Es ereignete sich bei der Aufführung der Tragödie von Rehfisch das Seltene, daß ein rein expressionistisches, um die Wirklichkeit des Lebens ganz unbekümmertes Drama die Gunst des Publikums durch ungemein geschickte Technik und durch grelle Deutlichmachung der symbolischen Zutaten zu gewinnen verstand. Der Expressionismus wird in diesem Drama popularisiert, aus einem mühsamen Ringen um neue, vertiefte Ausdrucksformen wird er plötzlich zu einer gemeinverständlichen Mode.
Der Chauffeur Martin hat an irgendeinem Jahrestage der Republik mit seinem Auto einen Menschen überfahren und getötet, der blindlings in den Kraftwagen hineingerannt war. Der Chauffeur wird freigesprochen, aber in dem einsamen Grübler bohrt der Wurm des Zweifels. Er hat unwissentlich Böses tun müssen, also will Gott das Böse und nicht das Gute, also muß sich der Mensch gegen Gott auflehnen, also muß er sich selbst durch gründliche Vernichtung alles Lebens aus der Welt schaffen, um den vereinsamten Gott zur Verzweiflung zu treiben. So geht der Chauffeur Martin unter die Einbrecher, Räuber und Anarchisten; viel Volk fällt ihm zu, selbst Richter und Ärzte bekehren sich zu ihm; in einer regelrechten Gerichtssitzung wird Gott vielstimmig angeklagt, aber in dem Elendsten von allen, in einem Krüppel, ersteht ihm ein glühend-lobpreisender Anwalt, und als Chauffeur Martin von der Ekstase des Krüppels hingerissen wird, streckt ihn der Pistolenschuß eines fanatischen Anhängers nieder. – Macht dies sonderbare Stück einen errechneten und erklügelten Eindruck, so tritt hier doch auch ein starkes Talent vor den angenehm interessierten Zuschauer hin. Es ist freilich heute kein besonderes Wagnis mehr, diese zuerst von Strindberg vorgezeichneten, von den deutschen Expressionisten weiter ausgebauten Bahnen der supranaturalistischen Andeutungen und der mystischen Klänge und Stimmungen zu gehen, indessen geschieht es hier mit Geschmack und Klugheit, wofür allerdings Erschütterungen und seelische Bereicherungen völlig ausbleiben. – Die Darstellung traf unter der einfühlenden Regie von Karlheinz Martin den gewollten Ton eines phantastischen Schwebezustandes zwischen Realität und zeitloser Ferne sehr gut.
Aber seltsam, es bekommt den neuen Dramen nicht sonderlich, daß sie verstanden werden oder, wie beim „Chauffeur Martin“, allenfalls noch verstanden werden können; es muß um sie ein Hauch der Unbegreiflichkeit wittern, jede Realität muß eingestampft oder aufgelöst werden – es muß in ihm rätselhaft urtümlich raunen und klingen; das fordern wir von dieser Kunst, darauf warten wir mit Sehnsucht. Es ist ein wunderlicher Zustand. Wir lächeln über das expressionistische Drama der Irrealität und der musikalischen Stimmungsschwingungen, aber das fühlen wir immer wieder mit sonderbarer Ergriffenheit: Hier verlangt etwas Neues nach dem Licht, hier ist Sturm und Drang, und wir fragen, ob die Zeit wie damals reif sei für einen neuen Heilsbringer. Inzwischen wandert vor dem Kommenden mancher her, der vielleicht ein Johannes werden könnte. Vielleicht auch könnte der Heidelberger Student Karl Zuckmayer ein solcher werden. Sein „Kreuzweg“ im Staatstheater gehört zu den stärksten Eindrücken dieser Spielzeit. Das ist nun ein Stück, von dem sich eigentlich gar nichts sagen läßt. Was kann man vom Gesang einer Drossel sagen? Was von der Schönheit eines Rosenblattes? […] Es geschieht nichts, aber es geschieht alles, was als menschliches Erleben möglich ist man versteht nichts, aber man versteht, warum Rätsel sein müssen, die nicht aufgelöst werden können. Und für ein solches Stück, das alles andre als ein Drama ist, die völlig widerspruchslos Achtung des Publikums zu erzwingen, das ist denn wohl eine Leistung, auf die das Staatstheater Jeßners und Bergers stolz sein darf. Aber auch das Publikum darf mit sich zufrieden sein.
Das Publikum hat freilich auch Hasenclevers „Jenseits“ ertragen, und das spricht mindestens für seine Wohlerzogenheit. Denn in diesem fünfaktigen Unfug, in dem zwei Menschen, Raoul und Jeanne, und niemand sonst endlos reden und reden und nur darum zu reden aufhören, weil Raoul Jeanne totsticht, schneidet der Expressionismus sich selber eine Fratze, und man weiß nicht, ob es sich oder uns verspotten will. Dem Liebespaar wird sein Glück ein bißchen arg verleidet durch den Geist des im Bergwerksstollen verunglückten Mannes. Man sieht ihn als Lichtfleck an den Wänden, er huscht durch die Räume, er poltert und klopft gern. Aber das ist nicht weiter schauerlich, mit seiner erklügelten Scheinwirklichkeit läßt es uns völlig gleichgültig. Dafür wirkt um so aufreizender die Unverständlichkeit der Wechselreden, die, wenn man sie doch irgendwo zu fassen vermag, eine einzige schleimige Trivialität sind. […] Indessen lohnt es sich, zu hören, was Hasenclever über seine Kunst zu sagen hat. Es gibt ein neues Stück von ihm, „Die Menschen“, und dort schreibt er im Vorwort:
„Es liegt dem Verfasser nichts an der Meinung, der Zuschauer müsse am Ende der Aufführung die Vorgänge auf der Bühne verstanden haben. Die Gesetze jahrhundertelanger Überlieferung sind gesprengt. Die Versuche der Chemie, alle Elemente auf ein Element zurückzuführen, kommen der Alchemie näher, als die öffentliche Meinung zugeben möchte; der Umsturz der Begriffe von Raum und Zeit, Energie und Materie in der Physik, die Errichtung der vierten Koordinate in der Mathematik bestätigen die Lehre der Geheimwissenschaften… Was geht in diesem Schauspiel vor? Ein Ermordeter steigt aus dem Grabe, ein Mensch in des Wortes tiefster Bedeutung, ein Unerlöster, Unvollkommener, ein Debet im großen Schuldbuch der Welt. Wäre sein Leben vollendet gewesen, er hätte am Messer nicht sterben können; seine Schuld war, daß er sterben konnte; er geht beladen mit seinem Haupte, das ihm der Mörder überreicht, zur Sühne an des Mörders Stelle durch die Welt, ein Doppelgänger, bis er die ewige Ruhe findet. „Ich habe getötet,“ beginnt das Schauspiel, „ich liebe“, so endet es. Der Zuschauer, der im Theater sitzt, versuche, sich in das Stück zu verwandeln. Er empfinde am eigenen Leibe die magische Kette von Blut und Wahnsinn, Liebe, Haß, Gewalt und Hunger, Herrschaft, Geld und Verlogenheit. Er ahne im Anblick dieser Leiden den Fluch der Geburt, die Verzweiflung des Todes; er verliere die Logik seines Jahrhunderts; er sehe ins Herz der Menschen!“
Wenn Hasenclever nur das könnte, was er möchte! Es ist gewiß, daß er es nicht kann, er so wenig wie Georg Kaiser. Aber Dichter wie Karl Zuckmayer sollen uns eine Hoffnung sein.
In: Neues Wiener Tagblatt, 15.3.1921, S. 2-3.
Robert Müller: Berlin-Wien, zwei Perspektiven (1919)
Robert Müller: Berlin-Wien, zwei Perspektiven.
In Berlin entbrennt ein neues Rußland. Nicht mit Unrecht ist das Preußen vor dem Zusammenbruche von mancher Seite eine Gründung sarmatischen Geistes gleich dem zaristischen Rußland genannt worden. Wie dieses, muß es in einem inneren Kataklisma erst zusammenbrechen, bevor ihm eine Erholung gegönnt ist.
Im Fegefeuer der spartakistischen Revolution büßt es seine junkerlichen Sünden. Diese Revolution wird es nicht zu Asche verbrennen; sie wird nur die schwachen Stellen seiner bürgerlichen Ordnung versengen. Die Preußen sind so ganz und gar nicht geschaffen, die Verwilderung ihrer Staatlichkeit aufrechtzuerhalten, daß sich dort oben sehr bald wieder eine recht brave untertanenähnliche Balance herauskrystallisieren wird. Es entbehrt – trotz allem blutigen Ernste – nicht des Humors, daß das Polizeipräsidium in Berlin der Mittelpunkt der letzten Aufregung gewesen ist. Über den Schutzmann kommen sie nicht hinweg, weder in ihrem pro noch in seinem contra.
Das Polizeipräsidium als letzte Gesellschaftsinstanz ist ebensogut die Utopie der von rechts wie der von links. Der spartakiotische Polizeiminister wird genau so aussehen wie alle Politiker mit Spreewasser getauft. Etwa: „Ich warne Neugierige!“ Wie die Regierenden regieren, soll die jeweils Andern nichts angehen.
Die Zukunft wird in Berlin nicht so lebensgefährlich sein, wie ihre Vertreter sie jetzt machen. Man muß von allen Programmen, ob U-bootkrieg oder Klassenkampf, die Berliner Schnauze subtrahieren.
Die Zukunft wird nach wie vor sein: Berliner Tempo, ein kommunistisch ausgewalztes Standardbürgertum mit allen Instinkten desselben, eine sehr breite Basis der grundsatzlosen Tüchtigkeiten, „Unsar Liebknecht“ (tatütata) anstatt „unsar Kaisar“, Siegesallee von zu Bürgern und Bürobesitzern arrivierten Amokläufern der Straße und bannig Amüsemang von Nachtlokal und Sechstagerennen bis zur Rheinhard.
Das ist die Stadt, an die wir unsere eigene Zukunft verraten sollen!
Berlin: Wir warnen Neugierige!
In Wien das Item der vorkriegerisch-vorpreußischen Zeit: Engländer, Amerikaner, Schweizer, Franzosen, Italiener, Rumänen, mit nationalen Epauletten versehene Husarenoffiziere der ehemals k.u.k. Ringstraße, sie alle mit derselben nicht mehr verstellten Neugierde des Wieners empfangen und angeblickt, beleben die Straßen. Die Schweizer sind am populärsten nach den Engländern, die man, noch ein bißchen verschüchtert und kleinbürgerlich, wieder am stärksten respektiert. Die Schweizer werden wie etwas Verwandtes empfunden. Da ist ein kleiner Staat unter anderm von tüchtigen und eigenartigen Deutschen bewohnt, die draußen im unmittelbaren Kontakt mit der großen Welt und mit den lebhaftesten Völkern der Erde ihre Nationalität nicht nur festgehalten, sondern im universellen Sinne verbessert haben. Diese Schweizer leuchten uns jetzt auf einmal als ein Muster ein. Warum streiten wir uns herum, ob wir von Berlin oder von Prag, statt wie früher von Budapest aus regiert werden sollen? Daß es auch ohne Küste geht und daß das Korridorprinzip zugleich mit der amerikanischen „Freiheit der Meere“ uns nicht weniger als Tschechoslawien und die Schweiz zugute kommen wird, wird jetzt sonnenklar. Wir sind der Schnittpunkt von vielen Korridoren durch Europa, ein Umschlagplatz nicht nur der Weltgüter, sondern auch der Weltgüte. Wer hat diese Schicksalsfrage für Wien aufgebracht? Nur wenn wir peripher am Deutschen Reich kleben, das wie Figura zeigt noch lange als St. Helena eines Eroberungsvolkes gescheut werden wird, sind wir diesem Kleinstadttode verfallen.
Uns winkt vielmehr ein Schicksal, das in unserem Blute, unserem Gemüte und unserem Geschmacke vorbereitet ist, und seine Erfüllung ist nur wie eine letzte Konsequenz. Eine Art Internationalisierung! Kein Temperament ist so wie das wienerische für diese hochsoziale Form geschaffen.
Inmitten einer Eidgenossenschaft von Bauernkantonen, die durch praktische Einführung eines religiös unterbauten Agrarsozialismus die wirkliche Bilanz der Revolution und des Monarchiezerfalles ziehen, liegt die Weltstadt Wien als eigener Kanton. Die sozialen Aufgaben sind auch in diesem Falle erleichtert. Mit unserer nächsten Umgebung leben wir föderativ. Wirtschaftlich grenzen wir an alle Staaten der Welt, wir sind Hauptstationen vom Ärmelkanal nach Konstantinopel, einer anderen Weltstadt. Für Tschechoslawien, das nordseewärts längs der Elbe transportiert, wir auch nach der dritten internationalen Stadt Triest, ein Exportweg geschaffen werden müssen, schon um die slawische Verbindung aufrechtzuerhalten.
Es gilt, die neuen politischen Formen zu begreifen. Die Entente unterstützt uns mit Nahrungsmitteln und Krediten. Wir haben sie redlich nötig. Die Kommissionen können sich davon überzeugen. Es ist überflüssig, daß die Zeitungen auch noch ein jammerndes Geschmuse darüber erheben, das nur den Eindruck hervorrufen könnte, wir seien entweder Querulanten oder Simulanten. Wir brauchen den im Verhältnis zu unserer Not noch immer dürftigen Anschub. Können wir da zugleich eine Politik machen, die den stänkernden Urheber dieses ganzen Unheils, der auch jetzt noch nicht aufgehört hat, die Welt mit Blutphrasen zu heizen, durch unsere Mithilfe verstärkt?
Darf man unser sogenanntes Anständigkeitsgefühl mobil machen und unsere nationalen Triebe anmustern, um mit dieser Armee – mehr werden wir in unserer Entblößtheit ohnehin nicht stellen können – den allerdings zu streng bestraften deutschen Brüdern, eigentlich sinds nur die Berliner, aufzuhelfen?
Ist es nicht besser, uns erst selbst zu rangieren, bevor wir Retter spielen wollen?
Märtyrer spielen wir seit fünf Jahren zum Schaden derer, denen unser Opfer gelten sollte. Besinnen wir uns auf uns selber.
Der weltpolitischen Perspektive für Wien entspricht im Sozialen die schon öfters aufgezeigten des sozialen Biedermeiers. Wie in Berlin, muß auch in Wien die extremistische Bewegung in die sozialbürgerliche verflachen. Der Kanton ist die weltpolitische Zukunftseinheit. Dem Kantönligeist aber tritt erfolgreich nur der großzügige Internationalisierungsgedanke entgegen, der Wille zur Föderation, der Marschtakt der güterbeladene Marschkarawanen von West nach Ost, von Nord nach Süd.
Es ist kein Zweifel, dieses introspektive geistige Wien – geistig nur in dem Sinne, daß es überdenkt statt handelt – wird sich bei dieser neuen Größe und Ausdehnung neugierig selbst zusehen.
Daraus aber wird sich spezifisch wienerische Zukunft ergeben: aus Anregung, Zergliederung und Verarbeitung ins Bewußtsein – der Welt.
Wien: wir sammeln Neugierige!
In: Finanz-Presse, 7.1.1919; (KS II, 304-307)
Fritz Feder [= Jura Soyfer]: Avantgardistisches Theater im Hagenbund (1937)
GENERALPROBE. Der kleine Theatersaal ist kaum geheizt. Die Schauspieler sind übernächtigt und nervös. „das Technische“ klappt nicht. Ja, wenn ein regelrechter Inspizient vorhanden wäre und eine Schar von Bühnenarbeitern – wenn man Maschinerie und Personal eines großen Theaters zur Verfügung hätte – dann würde sich jetzt gerade in diesem „Technischen“ das ganze Genie des Regisseurs offenbaren. Hier aber muß er in mühseliger Selbstbeherrschung feststellen: es klappt nicht; muß sich von Minute zu Minute immer mehr überzeugen lassen, wie notdürftig sich in Wirklichkeit all die Gongschläge, Grammophon-Melodien, Beleuchtungseffekte ausnehmen, die er blitzenden Auges im Regiebuch vermerkt hat; muß jeden seiner Einfälle krampfhaft verteidigen gegen die ringsum aufsteigende Hysterie, die da fordert: Rette, was noch zu retten ist! Laß alles aus, bis auf den nackten Text! Seien wird froh, wenn wir das Stück überhaupt nur irgendwie abrollen lassen können, auf diesem armseligen Nudelbrett von einer Bühne!
Aber die Schauspieler, der Beleuchter, der Bühnenbildner gebärden sich mutloser, als sie in Wirklichkeit sind. Sie werden bis spät in die Nacht durchhalten. Sie werden am nächsten Tag zu einer weiteren noch generaleren Generalprobe antreten. Sie werden trotz Grippe und Müdigkeit, elektrisiert vom Lampenfieber, sich mit Einsatz aller Kräfte in die Premiere stürzen. So wird die Aufführung auf dem „Nudelbrett“ zustande kommen, wird die Durchschnittsleistung der großen Theater geistig bei weitem übertreffen und dies ohne andere Mittel als die Energie eines Dutzend theaterbesessener junger Menschen.
Das ist ein altes Lied: das Lied vom avantgardistischen Studio.
In dieser Woche war die Theatergruppe des Dr. Ernst Rohner an der Reihe, all die Geburtswehen einer solchen Premiere durchzumachen. Aufgeführt wurde „Die Unbekannte von Arnas“, das Werk eines jungen Franzosen namens Salacrou. Vornehmlich aus zwei Gründen ist diese Aufführung beachtenswert. Erstens ist das Stück selbst künstlerisch sehr interessant und stellenweise von genialen Einfällen getragen. Zweitens ist es dieser seiner hohen Qualität wegen äußerst instruktiv über die ganze künstlerische Richtung, der es angehört, und – was besonders wichtig ist – charakteristisch für die Situation aller avantgardistischen Theatergruppen in Wien.
Ein Mann in gutbürgerlichen Verhältnissen namens Ulysse erschießt sich, weil seine Frau ihn betrogen hat. Ehe er sich aber dem Jenseits zuwendet, hat der Tote noch hienieden ein Stück Weg zurückzulegen. Alle Erinnerungen seines Daseins erscheinen nämlich in der Wohnung und in ihrem Kreise muß er alles noch einmal durchmachen, was ihm seit der Kindheit an menschlichen Erschütterungen begegnet ist, kurz gesagt, er muß sein Leben repetieren. Dieses Nochmals-Erleben erfolgt nicht chronologisch, sondern als sehr bewegtes Durcheinander. (Als ein „Jahrmarkt“, wie der Kammerdiener Nicola es ausdrückt, der eigentlich gar kein Kammerdiener ist, sondern die Fäden des ganzen mystischen Geschehens in der Hand hält.) Das Längst-Vergangene vermischt sich mit dem Eben-Geschehenen und sogar mit der Gegenwart, das heißt, mit dem, was nach dem Tode Ulysse geschieht. In dieser sehr kompliziert verschlungenen Vielheit der Zeiten und in der vollständigen Einheit des Ortes – alle drei Akten spielen im selben Wohnraum – tritt also Ulysse seine Odyssee zum zweiten Male an.
Er begegnet den Frauen, die er geliebt hat, angefangen von seiner Mutter. Er stürzt in die Arme seines Jugendfreundes, des sechzehnjährigen Jugendfreundes, der keine Ahnung hat, daß er als Vierzigjähriger dem Ulysse die Frau stehlen wird. Er läßt sich gerührt von einem zwanzigjährigen Offizier in Kavallerie-Uniform segnen: dieser aus einem Bildrahmen Herabgestiegene ist Ulyssens Großvater, blutjung gefallen in der Schlacht von Gravelotte, der Held der Familie. Aber knapp vor seiner Abreise ins Feld hatte dieser prächtige Offizier des Geldes wegen eine alte Frau genommen, und wie alles andere, muß Ulysse jetzt auch den schmerzlichen Moment wiedererleben, da er von dieser Ehe erfährt und damit das Ideal seiner ersten Jugend zusammenbrechen sieht.
Daß er dieses ganze Leben schon einmal gelebt hat, nützt ihm nichts. Jede Illusion und jede Enttäuschung, jeder Schmerz und jede Beseligung ziehen ihn, der doch den Ausgang im voraus weiß, unvermeidlich wieder in ihren Bann. Es ist so, als lebte er all dies zum ersten Male. Nur am Schluß, als er vom Betrug seiner Frau erfährt, scheint es einen Augenblick lang, als dürfte er die Lehre aus dem repetierten Leben ziehen. Er komm nämlich zur Erkenntnis, daß die Frau des Selbstmordes nicht wert ist, daß er dieses Los ertragen muß wie die übrige Durchschnittlichkeit seines Lebens, daß er außerdem hienieden noch viel zu lernen und zu genießen hat. Kurz: er will sich nicht umbringen.
Aber da reicht ihm der Kammerdiener (grotesk und mysteriös wie eine Gestalt von E.T.A. Hoffman) den Revolver und erklärt: Nichts zu machen! Der Schuß ist schon gefallen. Worauf Ulysse die Waffe nimmt und der Schuß fällt.
Hat er sich zufällig umgebracht? „Nein,“ meint der Autor Salacrou, „es gibt keinen Zufall!“ Und um dieses wichtigste Fazit seines Stückes zu unterstreichen, hat er es eben nach jenem unbekannten Mädchen von Arras benannt, das dem Ulysse einst im Weltkrieg begegnete. Er hat sie zufällig in einer evakuierten Stadt an der West-Front kennengelernt und sogleich wieder verloren. Es ist ihm nicht gelungen, irgend etwas über sie zu erfahren – nicht einmal ihren Namen. Vielleicht, wenn der Zufall sich anders gewendet hätte, hätte er sie geliebt und geheiratet.
Vielleicht wäre sein Schicksal anders abgerollt, wenn er diese Unbekannte erkannt hätte. Aber sein vorgezeichnetes Erdenschicksal war es eben, sie nicht kennenzulernen. Erst im Jenseits wird sie ihm sagen, wer sie ist.
Das ist die möglichst einfache Wiedergabe des sehr schwierigen Stückes. Lange und ausführlich ließe sich noch an ihm herumdeuten. Lange und ausführlich ließe sich noch vom dramaturgischen und philosophischen Standpunkt pro und contra sprechen.
Aber es gibt anderes dazu zu sagen, das für uns alles wichtiger ist.
Armand Salacrou gehört, seinem Stück nach zu schließen, zu den französischen Surrealisten. In den ersten Jahren nach dem Weltkrieg haben breite Schichten des französischen Publikums und an ihrer Spitze eine Reihe prachtvoll begabter junger Schriftsteller gegen die bestehenden Kunstformen revoltiert. Eine Welt neuer Probleme war stürmisch zutage getreten. Die hergebrachten Formen schienen keine geeignete Ausdrucksmöglichkeit mehr zu bieten. In dieser Zeit haben die Surrealisten, kühn experimentierend, Neues zu schaffen versucht. Was ihnen gelang, war viel zu wenig. Nämlich – was Theater betrifft – nur die Befreiung von starren, formalen Gesetzen der Dramaturgie. In dieser Beziehung haben sie den Expressionismus fortgesetzt und vollendet. Aber weiter kamen sie nicht. Nach einer Etappe wirklichen Fortschrittes trat Stillstand ein: es wurde nur mehr um des Experimentes willen experimentiert, es wurde mit Formen gespielt, was man sagte, wurde sekundär gegenüber der Manier, wie man es sagte.
Um diese Zeit wendete sich einer der führenden Surrealisten, Aragon, von seiner eigenen Schule ab. Und er blieb nicht der einzige. Heute gibt es in Frankreich eine breite Bewegung von Schriftstellern, die sich in Lyrik, Epik und Drama der ewigen Quelle aller Kunst zugewandt haben: dem Volk, mit seinen tausendfältigen lebendigen Lebensproblemen.
Und eines, worüber Lyriker sowie Epiker untereinander noch diskutieren mögen, kann für Theatermenschen doch kaum mehr fraglich sein: nämlich daß in allen Zeiten der Geschichte das Theater nur dort, nur dann groß und fruchtbar war, wo seine Leidenschaften die von Hunderttausenden waren.
Und von dieser Feststellung wollen wir nun zu den Wiener Theatern zurückgehen. (Zurückgehen – in jeder Beziehung.)
Die herrschende Wiener Theaterproduktion, welche sich derzeit merkwürdigerweise einer relativen wirtschaftlichen Konjunktur erfreut, steht geistig auf einem äußerst tiefen Niveau. Was die großen Unternehmungen anstreben, bewegt sich zwischen dem Amüsement und dessen etwas würdiger klingenden deutschen Übersetzung: Unterhaltung. Nur ein erschreckend geringer Prozentsatz der aufgeführten Stücke läßt sich in diese primitive Wertordnung nicht einreihen. Ein künftiger österreichischer Theaterhistoriker wird diese Epoche mit ein paar bedauernden Worten abfertigen müssen. Das weiß so ziemlich jeder, der mit dem Theater zutun hat. Die einen kümmern sich nicht darum – die anderen leiden darunter und wollen es seit Jahren besser machen. Sie waren vor Jahren eine einflußlose Minderzahl. Und das sind sie bis heute geblieben.
Warum? Hat es in diesem Lager an Talenten gefehlt? Gewiß nicht. Die großen Theater haben aus den kleinen Gruppen der Jungen die lohnendste Akquisition gemacht. Hat es am ehrlichen Willen gemangelt? Ohne die Lockungen zu unterschätzen, die von einer großen Gage ausgehen, läßt sich nüchtern sagen: nicht bei allen hat es am ehrlichen Willen gemangelt.
Liegt es also am Publikum? Will das Publikum um keinen Preis etwas anderes sehen als geschickt geschriebene, nichtssagende Stücke? Wenn es wahr ist – warum suchen sich die Studios kein anderes Publikum als das eine, an das sie sich seit soundsoviel Jahren vergeblich wenden? Und wenn es nicht wahr ist, warum ist und bleibt all die bewundernswerte Arbeit eine Sisyphusarbeit?
Über all diese Fragen müßten wir alle, denen es ums Theater zu tun ist, einmal nachdenken.
Gibt es zwischen dem Happyend eines Singspieltenors und dem doppelten Selbstmord eines avantgardistischen Ulysses wirklich keine Möglichkeit, die ein Experiment lohnen könnte?
In: Der Tag, 21.2.1937, S. 22.
Ludwig W. Abels/Hans Tietze: Unsere Kunstgüter in Gefahr! (1926)
Ludwig W. Abels/Hans Tietze: Unsere Kunstgüter in Gefahr!
Das „Neue Wiener Journal“ hat vor einigen Tagen die Nachricht gebracht, daß mit 31. Dezember der als Kunstforscher sowie als schneidiger Kritiker bekannte und vielgenannte Universitätsprofessor Hans Tietze aus seinem Amt als Referent des Staatsamtes für Unterricht ausscheidet. Schon die Seltenheit des Falles – in einer Zeit, da jeder so lange als möglich an der Krippe zu verbleiben trachtet – hat weit über die engeren Kunstkreise hinaus Aufsehen erregt. Man weiß, daß Tietze nach dem Umsturz durch energische und logisch gewappnete Verteidigung unseres Kunstbesitzes gegen die Gelüste des Auslandes sich hervorgetan hat, daß er bald darauf das großzügige Programm für den Ausbau der staatlichen Sammlungen aufstellte, das vor allem den glücklichen Neuschöpfungen des Barockmuseums sowie der Galerie des 19. Jahrhunderts ec. zugrunde liegt, das aber noch lange nicht in allen Punkten durchgeführt werden konnte. Und so könnte man glauben, daß einer der Vorkämpfer um die gute Kunstsache die Flinte ins Korn geworden hätte. Die Gegner aller Art – an denen es bei einer so entschiedenen Erneuerungstätigkeit nicht fehlen kann – werden vielleicht im ersten Moment triumphieren. Nun, sie kennen die Motive dieses Schrittes nicht und ahnen kaum die Gefahren, die mit den schuldtragenden Verhältnissen verbunden sind!
Die Abschiedsfeier, die vorgestern im Oberen Belvedere veranstaltet wurde, zeigt das einmütige Zusammenstehen aller am Gedeihen unserer Kunstinstitute interessierten Persönlichkeiten. Sie zeigte, wie tief die Trauer über diesen wohlerwogenen Schritt geht. Dem Scheidenden wurde eine von sämtlichen Beamten der Museen und vielen anderen Fachleuten von Rang unterzeichnete Denkschrift überreicht, in der Dr. Tietze der Dank für sein selbstloses Wirken ausgesprochen und das Festhalten an seinem Programm betont wird.
Unter den vielen betrübenden Ereignissen, die in den letzten zehn Jahren über Österreich herniederstürmten, war der Stolz auf unseren vielbewunderten Kunstbesitz eines der wenigen tröstlichen Momente. Trotz Geldnot und Abbaumaßnahmen schienen unsere berühmten Institute, die einstigen Hofmuseen, die Hof- (jetzt National-)Bibliothek, die Kupferstich- und Handzeichnungensammlungen, die Galerien neuerer Kunst und andere in ein Stadium des Fortschrittes und der Vergrößerung getreten zu sein, ähnlich wie wir es bei den ehrgeizigen reichsdeutschen Instituten in Berlin, München, Hamburg usw. sehen können. Eingeweihten konnte jedoch nicht verborgen bleiben, daß viele Maßnahmen in den Anfängen stecken blieben; der Arbeitseifer schien zu erlahmen – kein Wunder, wenn die Arbeitslast, an der früher fünf Personen zu tragen hatten, nur oft auf einem einzigen Direktor oder Kustos ruht. Aber es gibt auch tiefer liegende Fermente der Zerstörung. Nicht etwa die Angriffe mancher Zeitungsreferenten sind hier gemeint, denn offener Kampf fördert.
Vielmehr: dem aufmerksamen Beobachter der österreichischen Nachkriegsvorgänge (und zwar auf allen Gebieten der Politik!) kann es nicht entgehen, daß seit einigen Jahren ein ganz eigener Typus von Beamten in den verschiedenen Staatsämternn auftritt, dem es weniger um das allgemeine Wohl, als um die eigene Karriere zu tun ist; es sind Männer, die ihre Ziele mit um so größerer Energie verfolgen, als ihr Gemüt und Gedächtnis „von keinerlei Sachkenntnis beschwert ist“. Sie finden bei jenen Verwaltungsbeamten, die sich möglichst lange am Ruder halten wollen und denen alles andere „Wurst“ ist, keine ernstlichen Hindernisse. Die Folge dieser Erscheinung ist eine vollkommene Stagnation in den betreffenden Gebieten.
[…]
Hofrat Tietze formuliert die Symptome der Zersetzung in der staatlichen Kunstpolitik in zwei Punkten. In erster Reihe steht das Verhalten der Behörden in den bekanntlich so wichtigen Geldangelegenheiten. Die Krise kennzeichnet sich durch die seit Jahr und Tag bemerkbare Unlust, die genügenden Geldmittel selbst für die spärlichste Befriedigung der sachlichen und Personalbedürfnisse zu bewilligen. Es liegt diese scheinbare Sparsamkeit durchaus nicht im Sinne der Versailler Beschlüsse, ebenso wenig wie der ganz übertrieben gehandhabte Abbau im Personal künstlerischer und wissenschaftlicher Institute. Es war niemals die Absicht der Mächte oder des Generalkommissars Dr. Zimmermann in gedankenloser Schematisierung auch auf die lebendigen und unersetzlich wichtigen Kulturgüter anzuwenden. Welcher Widersinn einerseits in begeisterten Tiraden die zum Weiterbestand Österreichs und zu seiner Reputation so wichtigen Kunstgüter zu preisen, anderseits sie durch Entfernung der bewährten Hüter und Verweigerung der erforderlichen Gelder langsam aber sicher zugrunde zu richten! Jüngere Beamte werden nicht angestellt und herangezogen; die wenigen, die als Volontäre arbeiten, in Erhoffung späterer Anstellung, müssen im Existenzkampf zur Lehrtätigkeit oder Schriftstellerei übergehen. Auswärtige Kräfte lehnen jede Berufung ab, da die gebotenen Gehälter kaum die Hälfte der gewohnten Bezüge betragen!
Als zweiten Grund des Rückgangs bezeichnet Hofrat Tietze die oben angedeutete Zersetzung, die sich in der Verwaltung selbst vollzieht. Die gesamte Verwaltung Österreichs, speziell auf dem Gebiet der geistigen und Kunstpflege, ist zu ihrem Schaden politischen Einflüssen, den Wünschen der verschiedenen politischen Parteien zugänglich. – Während in Deutschland trotz der Zerklüftung und der Gegensätze in den Meinungen doch die Durchführung wichtiger Ankäufe und wichtiger Reformen nicht behindert wird, erscheint Tietze eine ersprießliche Tätigkeit im Unterrichtsamte bei den gegenwärtigen Verhältnissen vollkommen unmöglich. „Und da ich es unter diesen Umständen für eine Gewissenlosigkeit halten würde, mich aus den Steuergeldern des verarmten Volkes bezahlen zu lassen, ohne etwas zu leisten oder leisten zu können, habe ich von dem Abbaugesetz Gebrauch gemacht, indem ich mich selber abbaute!“
In: Neues Wiener Journal, 6.1.1926, S. 6.
Max Lesser: Von der neuen Kunst (1921)
Max Lesser: Von der neuen Kunst
Es wachsen jetzt seltsame Blumen im Garten deutscher Dichtung und Kunst. Einige treten ganz unblumenmäßig als Quadrate oder Dreiecke oder in der Form von Rhomboiden und Dodekaedern oder als Mischung aller dieser mathematischen Konstruktionen in die Welt der Erscheinung: andre wieder verschwimmen im Nebel der absoluten Unbegreiflichkeit, Gebilde einer Phantasie, in der sich musikalische Elemente, Sturzwellen von Farbenorgien, lallende Gefühlsräusche ineinanderwirren. Nie bisher hat man dergleichen erlebt. Die neuen Bilder sind thematische Variationen von Tönen, die ebensogut durch die Instrumente eines Orchesters wiedergegeben werden könnten; die neuen Gedichte sind von der Palette eines Malers genommen, man sollte sie als Farben und nicht als eine Folge von Worten zu verstehen suchen; die neuen Dramen sind Zusammenklänge von szenischen Kompositionen, in deren Verlauf auch einiges gesprochen wird. Aber dies ist nicht gerade nötig; wir haben neuerdings auch Dramen, in denen die menschliche Rede ziemlich gleichgültig geworden ist, in denen sich der Wille des Dichters auch durch andere Medien der Vermittlung zu manifestieren vermag, wie es denn überhaupt nicht so sehr darauf ankommt, daß etwas geschieht, dem wir folgen können, sondern daß irgendwo im Kern aller Geheimnisse ein mystischer Drang nach Expression Entladungen jenseits des Möglichkeitsbereiches unserer Gedanken und Empfindungen sucht. Von diesen neuen Werken gilt Mephistos Wort über die Mütter: „Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit, um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit; von ihnen sprechen ist Verlegenheit.“ Wir sind wieder einmal in der Welt der abstrakten Ideen, dort, wo in Urtiefen die Mütter hausen; zu ihnen führt der Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende, ins Unerbetene, nicht zu Erbittende, in grenzenlose Öde und Einsamkeit. Dort sitzen sie, „Gestaltungen, Umgestaltungen, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung, umschwebt von Bildern aller Kreatur.“
Ach, aber der Schauder, der Faust ergreift, wenn er sich dem glühenden Dreifuß, dem Reich der abgründigen Geheimnisse nahen soll, er will uns nicht befallen, die wir in futuristisch-kubistische Konstruktionen die reine Idee der auf sich selbst bezogenen, von allem Gedanklichen befreiten, von allem Gefühlsgehalt entblößten Kunst begrüßen sollen und denen zugemutet wird, in Gedichten und Dramen die dialektische Überwindung des Sinnes durch ein unbestimmbares Etwas zu verehren, worin sich der Sternennebel werdender geistiger Welten noch nicht Sonnen und Planeten geformt hat. Diese sonderbare neue Kunst, die in unverständlichen Bildern und noch unverständlicheren Dichtungen nach Ausdruck ringt, bewegt sich auf der Grenze, wo die Mechanik einer klug ersonnenen Maschine und die irrationale Welt der losgelassenen Willkür einander bedrängen. Diese Kunst gehört zu unsrer Zeit, in der sich alle Elemente der rechnenden Sachlichkeit und der anarchischen Verstiegenheit mischen. Und darum sind auch die Triebkräfte dieser neuen Kunst nicht Laune oder Mode, sondern das Fordernde, Fragende und so oft Quälende an ihren Erzeugnissen ist es, daß uns ein starkes Gefühl sagt: „Hier ist am letzten Ende doch eine Notwendigkeit, hier sind doch Entwicklungsreihen, durch die wir hindurch müssen, hier beginnt eine neue Wüstenwanderung, von der wir gewiß gern glauben möchten, daß ihr Ziel das gelobte Land sein wird. Aber einstweilen führt der Weg nur selten an Oasen vorüber.
Berlin ist der rechte Standort zur Beobachtung aller dieser wirbelnden, gärenden, kochenden Dingen, die in einem zwangsläufigen, dialektischen Entwicklungsprozeß immerfort sich selbst eliminieren, um dann in neuen Formen stets mit derselben revolutionären Auflehnung die ruhigen Bürger zu kränken, die Gleichgültigen aufzurütteln, die Jugend zu entflammen und zuletzt mit dem abermaligen Beweis für das Mißverhältnis zwischen dem Gewollten und dem Gekonnten das Bedauern darüber zu verstärken, daß immer nur Vorläufer und Verheißer kommen und gehen und daß kein erlösender Vollender bisher gefolgt ist. Es gibt hier eine breite, empfängliche, in jedem Augenblick für die gewagtesten Sachen zu gewinnende Schicht, die sich um die Novembergruppe und um Herwarth Walden und seinen „Sturm“ gruppiert, die es gläubig verschluckt, wenn auf einem Bilde Zündholzreste und Korkstücke die Aufgabe der plastischen Erläuterung zu erfüllen haben; wenn ein hingeschmiertes Farbenfurioso, das aussieht, als ob ein Esel mit seiner Schwanzquaste von hinten her auf der Leinwand phantasierte, eine „Frau in der Erinnerung glücklich besonnter Tage“ oder sonst was darstellen soll oder wenn dadaistisches Lallen zweifeln läßt, ob man es mit Narren oder mit spitzbübischen Spöttern zu tun hat. – Aber von der Verwegenheit dieser Gattung soll hier nicht gesprochen werden, wir wollen nur von der Bühne sprechen.
Dieser Winter hat eine lange Reihe von Stücken gebracht, mit denen der Expressionismus in seinen kühnsten Formen zum Worte kam. Allen diesen Darbietungen, die im einzelnen aufzuzählen, kein Bedürfnis vorliegt, ist eine Besonderheit gemeinsam: die Beherrschung durch einen regieführenden Diktator. Wer hat früher viel nach dem Regisseur gefragt? Er war gewiß notwendig, aber man sah ihn als den Techniker an, der für den leichten Gang der Maschine zu sorgen hatte; heute ist der Regisseur die mitdichtende, mitspielende Seele der Bühne, der Kapellmeister, dessen Feldherrnstab Nerven zum Schwingen, Stimmungen zum Tönen, unnennbare Vibrationen zum vergeistigten Klingen zu bringen vermag. Die Schauspieler sind seine Instrumente, der dekorative Rahmen ist eines seiner stärksten Ausdrucksmittel. Der Regisseur ist plötzlich aus der Anonymität herausgetreten, man nennt und kennt ihn, und auch das große Publikum weiß, daß Karlheinz Martin vom Deutschen Theater, Jeßner und Berger vom Staatstheater und Meinhard vom Theater in der Königgrätzstraße gegenwärtig die Spielleiter sind, die mit der sublimsten Einfühlung ihn ihre Aufgabe die intensivste Musikalität der Wiedergabe verbinden. Der auffrischende Geist der neuen Kunst durchdringt die Dramen auch der Vergangenheit, sie blühen in seinem belebenden Anhauch zu Gebilden auf, in denen wir Seele von unsrer Seele wiederfinden. Darum wirkt die Aufführung von „Richard dem Dritten“ im Staatstheater mit Kortner als Richard so aufwühlend, weil wir in dieser Kühnheit, die so gut wie ganz ohne Dekoration und jedenfalls völlig ohne historische Kostüme arbeitet, etwas vom Wesen der Zeit entdecken, nämlich die rücksichtslose Befreiung von der Tradition, das Vordringen auf den letzten Kern und Gehalt, die Lust, überall von vorn zu beginnen. Selbst wo dieser Wagemut über das Ziel hinausschießt, wie in der merkwürdigen Aufführung der „Jungfrau von Orleans“ im Deutschen Theater, bleibt er noch gewinnreich. Denn es kam hier zum starken Ausdruck, daß sich diese Tragödie auf dem Grunde einer visionären Verstiegenheit abspielt, und wenn die hysterische Verzückung der Johanna in Helene Thimigs Darstellung seltsam erregte, so war die Bühne vollends in eine beunruhigende Mystik eingehüllt, so oft es dem Regisseur Karlheinz Martin gefiel, den Gang der Handlung, ja den Verlauf einer Szene durch wechselnde, sachlich ganz unmotivierte, aber stimmungsmäßig beglaubigte Beleuchtung gleichsam symphonisch aus dem Bereich der Worte in ein malerisches Gebiet zu transponieren. Wir haben ähnliche Wirkungen bei Bergers „Tasso“ – Aufführung im Staatstheater – erlebt, wo gleichfalls die Begier, den dunkelströmenden Untergrund des Geschehens bloßzulegen, uns unmittelbar an das Werk heranführt, nachdem der Reiz des Kostümlichen und alles sonstigen historischen Beiwerks mit Bedacht ausgeschieden worden ist. Wie in diesem Zeitalter neuer Bühnenkunst die schauspielerischen Talente üppiger als seit langem gedeihen, so bildet sich jetzt eine Generation von // Regisseuren heran, deren Aufstieg man mit wachsender Teilnahme verfolgt. Zu ihnen gesellt sich nunmehr auch einer der Spielleiter an der Volksbühne, Jürgen Fehling, dessen jüngste Leistungen (Rabindranath Tagores „Postamt“, Shakespeares „Komödie der Irrungen“) eine schöne und reife Begabung zeigen. Sie geht, was besonders wohltuend ist, ihre eigenen Wege, sie verschmäht die Nachahmung.
Von den Dramen, die auf den Wegen des Expressionismus gehen, sind es drei, über die hier einiges gesagt werden mag: „Chauffeur Martin“ von Hans Rehfisch (im Deutschen Theater), „Der Kreuzweg“ von Karl Zuckmayer (im Staatstheater) und „Jenseits“ von Hasenclever (in den Kammerspielen). Die Verfasser der beiden ersten Stücke sind Studenten. Es ereignete sich bei der Aufführung der Tragödie von Rehfisch das Seltene, daß ein rein expressionistisches, um die Wirklichkeit des Lebens ganz unbekümmertes Drama die Gunst des Publikums durch ungemein geschickte Technik und durch grelle Deutlichmachung der symbolischen Zutaten zu gewinnen verstand. Der Expressionismus wird in diesem Drama popularisiert, aus einem mühsamen Ringen um neue, vertiefte Ausdrucksformen wird er plötzlich zu einer gemeinverständlichen Mode.
Der Chauffeur Martin hat an irgendeinem Jahrestage der Republik mit seinem Auto einen Menschen überfahren und getötet, der blindlings in den Kraftwagen hineingerannt war. Der Chauffeur wird freigesprochen, aber in dem einsamen Grübler bohrt der Wurm des Zweifels. Er hat unwissentlich Böses tun müssen, also will Gott das Böse und nicht das Gute, also muß sich der Mensch gegen Gott auflehnen, also muß er sich selbst durch gründliche Vernichtung alles Lebens aus der Welt schaffen, um den vereinsamten Gott zur Verzweiflung zu treiben. So geht der Chauffeur Martin unter die Einbrecher, Räuber und Anarchisten; viel Volk fällt ihm zu, selbst Richter und Ärzte bekehren sich zu ihm; in einer regelrechten Gerichtssitzung wird Gott vielstimmig angeklagt, aber in dem Elendsten von allen, in einem Krüppel, ersteht ihm ein glühend-lobpreisender Anwalt, und als Chauffeur Martin von der Ekstase des Krüppels hingerissen wird, streckt ihn der Pistolenschuß eines fanatischen Anhängers nieder. – Macht dies sonderbare Stück einen errechneten und erklügelten Eindruck, so tritt hier doch auch ein starkes Talent vor den angenehm interessierten Zuschauer hin. Es ist freilich heute kein besonderes Wagnis mehr, diese zuerst von Strindberg vorgezeichneten, von den deutschen Expressionisten weiter ausgebauten Bahnen der supranaturalistischen Andeutungen und der mystischen Klänge und Stimmungen zu gehen, indessen geschieht es hier mit Geschmack und Klugheit, wofür allerdings Erschütterungen und seelische Bereicherungen völlig ausbleiben. – Die Darstellung traf unter der einfühlenden Regie von Karlheinz Martin den gewollten Ton eines phantastischen Schwebezustandes zwischen Realität und zeitloser Ferne sehr gut.
Aber seltsam, es bekommt den neuen Dramen nicht sonderlich, daß sie verstanden werden oder, wie beim „Chauffeur Martin“, allenfalls noch verstanden werden können; es muß um sie ein Hauch der Unbegreiflichkeit wittern, jede Realität muß eingestampft oder aufgelöst werden – es muß in ihm rätselhaft urtümlich raunen und klingen; das fordern wir von dieser Kunst, darauf warten wir mit Sehnsucht. Es ist ein wunderlicher Zustand. Wir lächeln über das expressionistische Drama der Irrealität und der musikalischen Stimmungsschwingungen, aber das fühlen wir immer wieder mit sonderbarer Ergriffenheit: Hier verlangt etwas Neues nach dem Licht, hier ist Sturm und Drang, und wir fragen, ob die Zeit wie damals reif sei für einen neuen Heilsbringer. Inzwischen wandert vor dem Kommenden mancher her, der vielleicht ein Johannes werden könnte. Vielleicht auch könnte der Heidelberger Student Karl Zuckmayer ein solcher werden. Sein „Kreuzweg“ im Staatstheater gehört zu den stärksten Eindrücken dieser Spielzeit. Das ist nun ein Stück, von dem sich eigentlich gar nichts sagen läßt. Was kann man vom Gesang einer Drossel sagen? Was von der Schönheit eines Rosenblattes? […] Es geschieht nichts, aber es geschieht alles, was als menschliches Erleben möglich ist man versteht nichts, aber man versteht, warum Rätsel sein müssen, die nicht aufgelöst werden können. Und für ein solches Stück, das alles andre als ein Drama ist, die völlig widerspruchslos Achtung des Publikums zu erzwingen, das ist denn wohl eine Leistung, auf die das Staatstheater Jeßners und Bergers stolz sein darf. Aber auch das Publikum darf mit sich zufrieden sein.
Das Publikum hat freilich auch Hasenclevers „Jenseits“ ertragen, und das spricht mindestens für seine Wohlerzogenheit. Denn in diesem fünfaktigen Unfug, in dem zwei Menschen, Raoul und Jeanne, und niemand sonst endlos reden und reden und nur darum zu reden aufhören, weil Raoul Jeanne totsticht, schneidet der Expressionismus sich selber eine Fratze, und man weiß nicht, ob es sich oder uns verspotten will. Dem Liebespaar wird sein Glück ein bißchen arg verleidet durch den Geist des im Bergwerksstollen verunglückten Mannes. Man sieht ihn als Lichtfleck an den Wänden, er huscht durch die Räume, er poltert und klopft gern. Aber das ist nicht weiter schauerlich, mit seiner erklügelten Scheinwirklichkeit läßt es uns völlig gleichgültig. Dafür wirkt um so aufreizender die Unverständlichkeit der Wechselreden, die, wenn man sie doch irgendwo zu fassen vermag, eine einzige schleimige Trivialität sind. […] Indessen lohnt es sich, zu hören, was Hasenclever über seine Kunst zu sagen hat. Es gibt ein neues Stück von ihm, „Die Menschen“, und dort schreibt er im Vorwort:
„Es liegt dem Verfasser nichts an der Meinung, der Zuschauer müsse am Ende der Aufführung die Vorgänge auf der Bühne verstanden haben. Die Gesetze jahrhundertelanger Überlieferung sind gesprengt. Die Versuche der Chemie, alle Elemente auf ein Element zurückzuführen, kommen der Alchemie näher, als die öffentliche Meinung zugeben möchte; der Umsturz der Begriffe von Raum und Zeit, Energie und Materie in der Physik, die Errichtung der vierten Koordinate in der Mathematik bestätigen die Lehre der Geheimwissenschaften… Was geht in diesem Schauspiel vor? Ein Ermordeter steigt aus dem Grabe, ein Mensch in des Wortes tiefster Bedeutung, ein Unerlöster, Unvollkommener, ein Debet im großen Schuldbuch der Welt. Wäre sein Leben vollendet gewesen, er hätte am Messer nicht sterben können; seine Schuld war, daß er sterben konnte; er geht beladen mit seinem Haupte, das ihm der Mörder überreicht, zur Sühne an des Mörders Stelle durch die Welt, ein Doppelgänger, bis er die ewige Ruhe findet. „Ich habe getötet,“ beginnt das Schauspiel, „ich liebe“, so endet es. Der Zuschauer, der im Theater sitzt, versuche, sich in das Stück zu verwandeln. Er empfinde am eigenen Leibe die magische Kette von Blut und Wahnsinn, Liebe, Haß, Gewalt und Hunger, Herrschaft, Geld und Verlogenheit. Er ahne im Anblick dieser Leiden den Fluch der Geburt, die Verzweiflung des Todes; er verliere die Logik seines Jahrhunderts; er sehe ins Herz der Menschen!“
Wenn Hasenclever nur das könnte, was er möchte! Es ist gewiß, daß er es nicht kann, er so wenig wie Georg Kaiser. Aber Dichter wie Karl Zuckmayer sollen uns eine Hoffnung sein.
In: Neues Wiener Tagblatt, 15.3.1921, S. 2-3.
Karl Tschuppik: Wie Österreich zerfiel (1928)
Vor zehn Jahren.
Am 21. Oktober 1918, nachmittags 5 Uhr, versammelten sich im Sitzungssaale des niederösterreichischen Landtags in der Wiener Herrengasse die Abgeordneten der von Österreich übrig gebliebenen Länder. In der kurzen Zeit vom 18. Oktober, an welchem Tag das Manifest Kaiser Karls verlautbart wurde, und dem 21. Oktober, hatten sich die in der Kundgebung apostrophierten Völker verlaufen. Das Manifest versprach, Österreich solle „dem Willen seiner Völker gemäß ein Bundestaat werden, in dem jeder Volksstamm auf seinem Siedlungsgebiet sein eigenes staatliches Gemeinwesen bildet“. Ehe den Lesern an den Straßenecken Wiens klar geworden, wie des Kaisers Proklamation zu verstehen sei, gab es kein Österreich mehr. Die im Reichsrate zurückgebliebenen Herzogtümer und Länder mußten darüber schlüssig werden, was sie nun beginnen sollten.
Es war ein seltsames Bild, als das auf Wien und die Alpenländer reduzierte Österreich ins eigene Antlitz blickte. Es fröstelte ihm in dem großen Bau auf dem Franzensring; das kleine Häuflein der Männer, die sich im Salle der sechs Völker zusammengefunden hatten, erschrak vor sich selber. Man war vereinsamt. In der griechischen Säulenhalle, wo ehedem das bunte Gemisch des Völkerreichs aus sechs Idiomen widerklang, stand ein Mann, umgeben von ein paar Journalisten: Mendel Singer, das Wahrzeichen versunkener Größe. Es war kein symbolischer Akt der Regie, als man das öde Marmorhaus verließ und in die trauliche Stube des niederösterreichischen Landtages übersiedelte; man floh vor der niederdrückenden Gewalt der eben noch lebend gewesenen Geschichte.
Nebenan, im Hause der Herren, agierten die historischen Gespenster. Das Herrenhaus hielt eine Sitzung ab. Es war die einzige Stätte, wo um diese Zeit noch die Stimmen der abziehenden Nationen erklangen. Die Abgeordneten des Volkshauses hatten es nicht mehr der Mühe wert gefunden, dem zusammenstürzenden Reich eine Anklage ins Grab nachzusenden. Die tschechischen Mitglieder des Herrenhauses erklärten sich mit der eben bekannt gewordenen Erklärung des Prager Nationalrates, mit der Errichtung des selbstständigen, freien tschechoslowakischen Staates solidarisch und wiesen den Gedanken einer Selbstbestimmung der Deutschen in Böhmen als „unhistorische und sachlich unbegründet“ zurück. Graf Clam-Marinitz antwortete im Ramen des konservativen böhmischen Adels. Er sprach von der unverbrüchlichen Treue zur Dynastie; der proklamierte Staatenbund könne nur unter Habsburgs Zepter entstehen. Das Herrenhaus applaudierte, die Peers erhoben sich von den Sitzen. Nach Clam-Martinitz spricht Hussarek, der Ministerpräsident. Lebt Österreich noch? Es funktioniert. Vor Hussarek kauern gespannt die Stenographen des amtlichen Nachrichtendienstes, neben ihm füllt der alte Herrenhausdiener frisches Wasser in die freundlich glänzende Flasche, hinter ihm stehen die zwei Ministerialsekretäre mit den Wappen. Hussarek kommentiert das kaiserliche Manifest: „… die logische Ergänzung des letzten Friedensschrittes …, … Bundesstaat…, …jedem Volksstamm das Seine…“ Zum Schluß ein ins Lyrische gesteigerter Satz: „Nach langer Nacht dürfen wir die aufsteigende Morgenröte als das erste Wahrzeichen eines neuen Tags begrüßen, der Wohlergehen und heitere Lebensfreude verheißt.“ Diese Lyrik war selbst den Peers wider den Geschmack. Eisiges Schweigen, als der hohe Körper Hussareks sich niederläßt.
Zur selben Stunde ungefähr hatten sich die Abgeordneten im Sitzungssaal des niederösterreichischen Landtags zusammengefunden. Die Wiener und, von ihnen auch äußerlich unterschieden, Steirer, Kärntner, Tiroler, Oberösterreicher, Salzburger. Die Versammlung wäre ratlos gewesen ohne den Kopf, den sie barg: Viktor Adler. Er sprach ohne Haß gegen das Alte, ohne Phrasen fürs Neue, das Losungswort in klarer Formulierung: der übriggebliebene Rest der Monarchie verwandelt sich in die deutschösterreichische Republik. Die Grabrede auf das alte Österreich hielt Dr. Steinwender: „Ohne Dank scheiden wir aus diesem Staate, mit dem verkettet gewesen zu sein für uns eine schwere und verzehrende Last war…“ Empfand man’s immer so? Hatten die Deutsche Österreichs ihre eigene Geschichte vergessen? Der Sprecher der Christlichsozialen erhebt sich und verkündet das Bekenntnis zur monarchischen Regierungsform. Der Abgeordnete Wolf schließt sich ihm an: „Wir sind und bleiben überzeugte Anhänger des konstitutionellen monarchischen Staates.“ Viktor Adler, die Versammlung vom Druck solchen Pathosdunstes befreiend, ruft halblaut, ohne Ironie: „Herr Kollege, soll Kaiser Karl etwa Herzog von Kärnten werden?“
Draußen, vor dem Barockportal des Landtags und im dunklen Hof stehen zwei Dutzend Neugierige. Es ist kalt, es regnet. „Was ist denn los?“ fragt ein gänzlich Uneingeweihter eine Gruppe Journalisten, die eben die konstituierende Versammlung der Republik Deutschösterreich verlassen. Da ruft eine schmetternde Stimme (sie gehört einem bekannten Wiener Schriftsteller): „Soeben ist der Gesangverein Deutschösterreich gegründet worden.“
Wien hats nicht bemerkt. Vis-à-vis im Cafè Central sitzen die Buddhisten des Schachspiels über ihren Brettern, im Billardsaal klingt das zarte Geräusch des altertümlichen Spiels, die Literatur erhitzt sich beim Tarock. Es hat sich nichts geändert.
Beim Ministerratspräsidium, dem Palais Modena, begegnet man einigen Herren vom Dienst, darunter dem Ministerialrat Doktor Safarik. „Komisch,“ sagt er, „wie sich die Wiener das Ende Österreichs vorstellen. Eben hat mich eines der großen Wiener Blätter angerufen, was denn die Prager Statthalterei zu dem Manifest des tschechischen Nationalrats sage. Wir konnten nur erwidern, daß wir von der Auflösung noch nicht offiziell in Kenntnis gesetzt sind.“ (Ein andere Herr weiß die Antwort der Prager auf so neugierige Fragen: At‘ nàm ve vidni p…p….)
Am Morgen des 22. Oktober, nach langer Redaktionsnacht, gehen wir, Dr. Walter Rode, der Prophet des Untergangs, und ich, in weitspurige historische Betrachtungen versunken, durch die leeren Gassen des schlafenden Wiens. Bei der Oper: ein Wachmann, der Chauffeur eines ramponierten Taxi und ein Straßenkehrer. Der Straßenkehrer, ein alter Mann mit einem kurios verbogenen Knie, den zu kleinen Hut schief auf dem Kopf, ist ganz bei der Arbeit. Mit zäher Beharrlichkeit jagt er jedem widerspenstigen Papierchen nach. „Sonderbar,“ sage ich, „die Revolution hab’ ich mir ganz anders vorgestellt. Wer heißt dem Mann die Arbeit zu verrichten? Wer kümmert sich noch darum, ob er schläft oder kehrt?“ Worauf Dr. Rode: „Sie kennen nicht die eigentliche Funktion der Straßenkehrer? Die Mistschaufler halten die Kontinuität der Gesellschaft aufrecht.“
In: Der Tag, 21.10.1928, S. 13.
Max Eisler: Mußte die »Kunstschau« aufgelöst werden? (1932)
Max Eisler: Mußte die »Kunstschau« aufgelöst werden? Das Ende einer bedeutenden Kunstvereinigung.
Wien hat in diesen Tagen eine seiner ansehnlichsten Künstlervereinigungen verloren. Auf eine merkwürdig diskrete Weise. So diskret, daß über diesen immerhin bemerkenswerten Vorfall unserer nicht gerade üppig bestellten Kunstchronik kein Sterbenswörtchen in die Öffentlichkeit gedrungen wäre, wenn nicht… Aber darüber später.
Verzeichnen wir zunächst den nunmehr historisch gewordenen Tatbestand. Die „Kunstschau“ war seinerzeit durch eine Sezession aus eben jener „Secession“ entstanden, bei der sie jetzt, nach mehr als zwanzig Jahren, wieder gelandet ist. Unter der Führung Josef Hoffmanns und Gustav Klimts hatte sich eine kleine Gruppe unzufriedener Künstler von dem Haupttrupp getrennt, und zu dieser „Klimt-Gruppe“ war später der „Sonderbund“-, die Vereinigung der Jüngsten, gestoßen. Mit diesen beiden Ereignissen – man könnte sagen: mit diesen beiden Anfängen – sind auch schon die besten Zeiten der „Kunstschau“ genannt. Die „Klimt-Gruppe“ hatte ihre Ausstellungen in einem schönen Pavillon von Hoffmann auf dem Platz des Eislaufvereines begonnen, hatte für Van Gogh endlich auch bei uns eine Gasse geöffnet und hatte Kokoschka auf den Schild gehoben. Mit dem „Sonderbund“ kamen dann neue, ungewöhnliche Talente wie Faistauer und Kolig, Böckl und Wiegele hinzu. Auch der Zusammenhang mit den Avantgarden des Auslandes wurde zwar nicht gerade planmäßig gepflegt, aber gelegentlich doch mit starker Wirkung aufgenommen. Und unvergessen ist eine Darbietung aller Werke Hanaks in der Vorhalle einer Ausstellung im Österreichischen Museum.
Freilich, das alles ist schon eine gute Zeit vorüber. Die Veranstaltungen der letzten Jahre haben die lebendige Kraft der früheren nicht mehr gehabt. Das lag natürlich auch an dem allgemeinen Lauf der Dinge. Die Situation unserer Kunst ist – die Architektur immer ausgenommen – verworren, und es fehlt an einem kraftvoll-verwegenen Nachwuchs. Aber im übrigen ist der Niedergang auch dieses Künstlerbundes nur ein Beispiel mehr für einen gesetzmäßig wiederkehrenden Prozeß. Genau genommen haben Kunstvereine ein zeitlich nur sehr beschränktes Lebensrecht. Nachdem sie einmal gegründet sind, sollten sie tunlichst bald wieder aufgelöst werden. Denn die Bewegung, welche die jungen Frondeure zusammentrieb, hält ja in ihrer ursprünglichen Kraft und Gemeinsamkeit niemals lange an und, in den Rahmen eines Vereinstatutes gebracht, weicht der rein künstlerische Impuls nur zu bald einer neuen, unerfreulichen Konvention. Auch die „Kunstschau“ war diesem Gesetz verfallen. Daß sie ihm – ohne Überanstrengung – so lange widerstehen konnte, sprach für ihre besondere Frische. Aber zuletzt war ihre Auflösung doch schon eine innere Notwendigkeit geworden. Es könnten demnach alle Teile mit diesem Ausgang der Dinge zufrieden sein. Wenn nicht…
Ja, hier sitzt der Haken. Die Sache hat nämlich noch eine andere Seite. Jeder Kunstverein bedeutet auch eine Kameradschaft. Sie beruht auf einer gemeinsamen Anschauung der Kunst, auf einer gemeinsamen edlen Leidenschaft, auf einem gemeinsamen Bekenntnis. Ist also besonders sauber und gut fundiert. Und hat demgemäß immer wieder wunderbare Früchte getragen. Man denke nur etwa an die Impressionisten in Frankreich von Pissaro bis Cézanne und Van Gogh. Wie rein und stark war da – unberührt von den politischen – bis zum Fanatismus entfesselten Strömungen des Tages – die Freundschaft geblieben, wie weit war sie in ihrer Treue, wie weit in ihren Opfern gegangen und wie reich war der Gewinn für die Kunst gewesen! Und dabei waren diese Franzosen nicht einmal Mitglieder eines richtigen Künstlervereines, sondern nur im Geiste, nur im Ziele verbunden.
Bei uns aber… Ein Kunstverein hat mehr als zwanzig Jahre bestanden. Hat also ausgedient. Und wird aufgelöst. Alles wahrscheinlich unter peinlicher Beobachtung der statutenmäßig festgelegten Formalitäten. Die Mitglieder bekommen den Bescheid ins Haus: „Der Vorstand… zu seinem größten Bedauern… die Verhältnisse… usw.“. Schluß. Ganz wie bei einem Verschönerungsverein. Schon ein Veteranenverein hätte eine derartige Erledigung nicht ruhig hingenommen. Und mit gutem Recht. Denn auch bei dem bravsten Veteranenverein wäre die Frage aufgekommen: „Was ist mit der Kameradschaft?“
Die „Kunstschau“ hat sich über diese Kernfrage, die uns heute allein interessiert, einfach hinweggesetzt. Jedenfalls aber hat sie sich ihre Sache in diesem entscheidenden Punkte sehr leicht gemacht. Sie sagte sich, es ist heute besser, wir schließen uns einer der beiden großen Kunstvereinigungen an, ging zur „Secession“, präsentierte dieser ihre Mitgliederliste, die „Secession“ wählte von rund 50 rund 30 für sich, und alles war in bester Ordnung. Daß bei dieser Auswahl einige Künstler der „Kunstschau“ von hervorragender Bedeutung übergangen blieben, daß die Auswahl also nicht rein nach künstlerischen Gesichtspunkten vorgenommen worden war und daß auch die übrigen durch Jahre Kameraden gewesen sind, die man – gerade heute – um keinen Preis verlassen durfte, fiel bei den Entschließungen scheinbar nicht weiter ins Gewicht.
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Jedenfalls: nachdem einmal die organisatorisch begreifliche Auflösung vorgenommen war, blieb nach unserer Ansicht nur ein Weg gut gangbar: Fusion für alle oder für keinen. Der einzelne hätte dann ruhig den neuen Anschluß vollziehen können – freilich erst, mit Rücksicht auf die anderen, nach einer ziemlichen Wartezeit. Auf solche Weise wäre der Effekt der gleiche geblieben, aber der Gedanke der Solidarität hätte keinen Schaden genommen.
Unter den wenigen, welche die „Secession“ gewählt hatte, befand sich auch Oskar Strnad. Es war – das muß gegenüber einer anders lautenden Nachricht betont werden – sofort eingeladen worden. Und hat, mit Dank für die Freundlichkeit, abgelehnt. Man wird ihn verstehen, er konnte gar nicht anders. Denn er war ein Kamerad.
In: Der Morgen, 26.9. 1932, S. 9.
Hans Flesch-Brunningen: Schmelz der Jugend (1924)
Arme, verirrte Jugend, deren Füße in den schweren Reiterstiefeln vergangener Konventionen stecken, deren Hände den staubigen Pallasch der Tradition führen, deren Augen nicht mehr die blauende Kraft des Himmelsgewölbes sehen können; arme, verirrte Jugend, dir weihe ich mein Lied! Du bist nicht mehr der Kern der Welt, die köstliche Nuß in der unscheinbaren Schale, du Stoßtruppe der Schönheit und des Geistes. Du bist verloren gegangen, dein Blut ist in Galizien und Tirol, in Flandern und am Piave umsonst vergossen worden, du bist versprengt, der Rest ist Trübsal und Verwirrung. Was weißt du von dir selbst? Dein Blick ist verhängt, auf deinem Herzen liegt Asche. Du gröhlst bei Boxmatschs, du randalierst auf der Universitätsrampe, du belferst durch den Börsensaal. Aber ich kenne dich. Du wirst aus deiner Verwirrung zurückfinden, heimfinden in die Gefilde deiner unbeschwerten Fröhlichkeit, denn dein Schmelz ist ewig. Arme, verirrte Jugend, ich liebe dich.
Ich liebe dich, weil du der Aufgang bist. „Ex oriente lux“, sprach der Herr der Heerscharen und der jugendliche Jesus saß im Tempel und lehrte und bezauberte die alten Schriftgelehrten. Das klare Auge des Knaben wußte schon damals um alle Welt und alle ihre Leiden. Das Dasein hat sich nur im Aufgang und im Niedergang zu bejahen, das wußte er; der Rest, das Mittelstück, ist Bosheit. Der Tod und die Jugend waren Erlösung, Golgatha und Bethlehem. Die Ankunft und der Abschied bestimmen den Sinn der Reise, zwischen beiden besichtigen wir Museen, treffen Menschen, grüßen und küssen und schleichen schläfrig durch die Gassen. Wenn aber die Züge in die Halle rollen, dann freuen wir uns. Denn das Neue siegt. Und so müßten wir sein, um den Schaum des Lebens abzuschöpfen: stets neu, stets neu-gierig, novarum rerum cupidi, Revolutionäre aus Prinzip.
Und da erinnere ich mich des italienischen Kommunistenliedes. Es beginnt mit den Worten: „La bandiera rossa trionferà“ In diesem letzten Wort „trionferà“ liegt aller Jubel und alle Sieghaftigkeit einer Jugend, die vielleicht längst untergegangen ist. Nur Italien, dieses unserer Sehnsucht Kind, ist noch jung. Unter seinem Himmel gedeiht noch die große gedankenlose Sorglosigkeit, die Hingabe, die Begeisterung um jeden Preis, der Jubel zur bandiera rossa und zu Mussolini, der charakterlose, wunderbare Jubel. Unter seinem Himmel, mitten im göttlichen Florenz, steht auch noch jenes Abbild körperlicher Jugend, das mir immer als die vollendete Gestaltung aller ihrer Kräfte erschienen ist: der Perseus von Benvenuto Cellini in der Loggia dei Lanzi. Wie spielerisch sitzt der Fuß auf dem Haupte, wie kokett wird der Medusenkopf dem Publikum präsentiert, wie kühn und krumm liegt das Schwert in seiner Hand! Und wie herrlich geschwungen dieser Leib, wie eine junge Gerte, nicht Frau und nicht Mann, Vollkommenheit, weil sie Jugend ist und nichts sonst.
Ihr alten Weiblein, ihr würdigen Bärte der alten Herren, die ihr da vorübergeht, wollt ihr nicht freiwillig zurücktreten vor diesem Standbild? Ihr habt wahrlich schon Schaden genug angerichtet mit eurem Beispiel und eurem Gerede! Aus den Blumen auf dem Felde wolltet ihr den Strauß Staat binden, aus diesen Bergbächen das Reservoir der Gesellschaft. Es ist euch fast geglückt. Eure Unehrlichkeit hat euch geholfen, ihr habt den Jungen einen blauen Dunst vorgemacht, ihr habt ihnen ihr eigenes Pathos in die Ohren geblasen und sie damit berauscht. Verlogen! Sokrates führte die Erziehung des göttlichen Jünglings Alkibiades, aber er hatte ihn wenigstens nur für seine eigensten Spiele mißbraucht, für Weisheit und Erkenntnistheorie, für Dialog und Symposion, er hat ihn keineswegs an dem Knochengerippe fremder Ideologien erkalten lassen: dieser große Jugendverführer zog den Jüngling an sein Herz und entfachte seine alte Glut an der des Jungen. Und Alkibiades ging hin, unversehrt, und stürzte alle Hermessäulen in Athen von ihren Postamenten, denn keine Idee hatte seine sorglose Seele lähmen und vergiften können, und er starb lachend in einem brennenden Haus, das Alter ließ er gar nicht zu sich herein.
Welche Bewegung nur in diesen jungen Menschen von dazumal. Sie haben noch alle den Trieb, den kreiselnden, kreisenden Trieb unseres Planeten in sich den Blutumlauf, den rapiden Pulsschlag der Mutter Erde, das saust und braust noch in ihnen weiter, wie das siedende Wasser im Kochtopf, wenn man ihn schon längst von der Flamme entfernt hat. Das überzieht noch ihre Augen mit jenem feuchten saftigen Glanz, den die jungen Blätter an sich haben, wenn sie sich über Nacht entfalteten. Du glaubst, daß dieser Blick süß schmecken müßte, wenn du es wagtest, ihn mit deiner Zunge zu verkosten. Aber du wagst es nicht. Denn die Rührung in deinem Herzen ist zu groß. Gedenke ihrer doch, wie du die vielen Kinderbilder deiner Freunde und Feinde sahst, die Bilder im kurzen Rock, die Bilder mit den offenen Haaren, mit den Matrosenkleidern und runden Kinderfingern, die Bilder der Börsendisponenten und Primadonnen und Gattinnen von Rechtsanwälten, die sie heute sind! Sie haben dich mehr bezaubert, da sie durch deine Träume zogen, heraustretend aus dem Oval dieser lächerlichen, vergilbten Photographien.
Das sollte alles nicht mehr sein? Unwiederbringlich verloren? Erstarrt in Doktrinen, falsch abgelenkt in die scheußlichen Kanäle der reglementierten Begeisterung, verwandelt in die Muskelhypertrophie Fischeras und Carpentiers? O arme, verirrte Jugend, wo ist deine Leidenschaft, wo ist der Schwung der Fußgelenke, das Sprühen deiner Augen? Fort, für immer fort?
Sie müssen noch leben! Denn wie lange ist es denn her, da schwang noch ein junges Genie mit brausender Pose die Fahne eines Regimentes über die Brücke von Lodi, tausend Kugeln unnötig ausgesetzt, heroisch aus reiner Lust, wie lange ist es denn her, da galoppierte noch Gott-Goethe ohne Mantel und ohne Hut durch Gewitterschauer zu seiner Geliebten, um einen Kuß seine Karriere in den Olymp opfernd, wie lange ist es denn schließlich her, da mutige Jünglinge in der Stickhauchluft der Münchner Katakombenkeller ausriefen, sinnlos, aber pathetisch: „Wir haben vier Jahre für den Krieg gehungert, wir sollen keinen Monat hungern für die Freiheit?“ Wie lange ist es her, daß wir diese Freiheit empfanden, diese leichte Sorglosigkeit, diesen Geigenton? Wie lange ist es denn her, da schwebten noch unbeschwert die Schwestern Wiesenthal, Wiens unsterbliche Seele, durch den Raum des Apollo-Theaters zum Donauwellenwalzer, und wir wußten, daß wir gefeit waren gegen die Flottendemonstrationen von Agadir und gegen den Tango der Seelen? Hat alles abgewirtschaftet? Hat bloß ein Weltkrieg und eine Börsenbewegung endgültig der ewigen Jugend die Flügel gestutzt?
Nein!! Ich raste am Waldesrand, der sonst so scheußliche Frühling dieses Jahres hat sich für Stunden erweichen lassen, die Sonne liegt mir auf dem Gesicht. Ich denke an das Mädchen meiner Liebe. Ich sehe mit geschlossenen Augen den schwarzen Blick dieses Mädchens, wenn er in Unmut und Zorn und Leidenschaft finster aufleuchtet, ich höre den heißen und harten Ton ihrer kleinen Stimme in meinem Ohr, ich sehe sie durch das Zimmer fliegen wie ein Falke, wenn sie sich an meinen Hals wirft, ich spüre ihren Atem, der von Unschuld und Hingabe glüht.
Da weiß ich auch, daß wir noch nicht verloren sind. Denn das ganze Land unter mir blüht und wächst wie ein Garten und in ihm die Kinder der Lust wie die Rosen und Zentifolien, sie tragen den Schmelz ihrer Jugend auf ihren Blütenkelchen, diese köstlichen Jungfrauen, dieses überschwengliche Geschenk an unsere Welt des Rationalismus. Fangt sie ein in Lyzeen, Tanzschulen und heiligem Ehestand, in Bordelle, Bureaus und bei kalten Tanten, ihr werdet sie nicht bezwingen. Sie sind die letzten Gesellschaftsträger und approbierten Gesandten des heiligen Gefühls am Sitze unserer Wissenschaft. Betet sie an, sie sind die letzte Jugend!
Und ich schreibe ihren Namen in den Himmel.
In: Der Tag, 9.5.1924, S. 4.
Raoul Auernheimer: Börsenjugend (1922)
Raoul Auernheimer: Börsenjugend
Zwei bescheidene Erinnerungen mögen dieser bescheidenen Zeitbetrachtung vorangehen.
Die eine liegt ungefähr fünfzehn Jahre zurück und rankt sich um einen allerdings nicht sehr hoch gewachsenen deutschen Dichter der damaligen Zeit, der zur Aufführung eines seiner Reimlustspiele am Burgtheater nach Wien gekommen war und dem in einer gewählten Gesellschaft zu begegnen ich das Glück hatte. Jener deutsche Dichter war zu jener Zeit kein jungen Mann mehr, er stand vielmehr bereits in den gewissen reiferen Jahren, die man in Nekrologen gern mit einiger Übertreibung als „Vollkraft des Schaffens“ bezeichnet. Sein Schaffen war nicht unbelohnt geblieben, und da nichts umsonst ist, am wenigsten der Gelderwerb, so ist es begreiflich, daß der gefeierte Autor in den Kreisen der damaligen literarischen Jugend mehr für einen Geschäftsmann als für einen im Blauen schwärmenden Poeten galt. Immerhin war ich enttäuscht, als ich sein erstes Wort vernahm, das im Rauchzimmer noch vor dem Nachtmahl fiel. Er stand schweigend abseits, an den Türpfosten gelehnt, und schien, die Augen nach aufwärts gewandt, wie es sich für einen deutschen Dichter gehört, an dem Gespräch keinen Anteil zu nehmen, das mehrere Herren, unter dem Kronleuchter dicht beisammen stehen, über die neue Russenanleihe – ein fernes Wort! – fachkundig führten. Der Dichter gab sich den Anschein, gar nicht zuzuhören, mußte aber doch auf dem Laufenden sein, denn plötzlich trat er unter die Kritiker jener Anleihe und sagte, das ganze Gewicht eines hochangesehenen Namens in die Wagschale werfend: „Und Sie mögen sagen, was Sie wollen, meine Herren: Es ist doch’n Geschäft!“ Die letzten, in unverkennbarem Berliner Tonfall gesprochenen Worte blieben mir in Erinnerung, verschmolzen mit der Persönlichkeit ihres Urhebers, und wann immer ich in der Folge Verse von ihm irgendwo hörte oder las, immer mischte sich in das poetische Reimgeklingel des achtbaren Mannes jener zuerst gehörten Worte fatales Nebengeräusch: “Es ist doch’n Geschäft!“
Die zweite Erinnerung liegt ungefähr vier Jahre zurück und hat mit Literatur noch viel weniger zu tun. Sie betrifft einen damals halbwüchsigen Gymnasiasten, der, inmitten einer größeren Gesellschaft, in der gleichfalls eifrig finanzielle Fragen erörtert wurden, plötzlich aus sich heraustrat und sein Vertrauen zu einem in Rede stehenden Börsenpapier in einer Weise kundgab, die auf eine längere Erfahrung und gründliche Beschäftigung mit diesem Gegenstande schließen ließ. „Meiner Ansicht nach,“ sagte der Sechszehnjährige mit der ruhigen Bestimmtheit eines Bankdirektors, „haben Reisschäl-Aktien noch immer eine Zukunft. Ich halte das Papier.“
Die beiden Erinnerungen haben das Gemeinsame, daß sie sich seither verallgemeinert haben. Weder aus Dichtermund noch aus dem Munde unserer aufblühenden Jugend haben Börsenkurse heut noch etwas Überraschendes, am wenigsten aus diesem. Allenfalls wird man es erstaunlich finden, das erste erwachen derartiger Regungen einer finanziellen Pubertät an das verhältnismäßig vorgerückte Alter von sechzehn Jahren gebunden zu sehen. Die heutige Börsenjugend fängt im allgemeinen schon bedeutend früher an; nicht nur, daß ihre frühe geschäftliche Weisheit das Erscheinen der Weisheitszähne nicht abwartet, sie verträgt sich unter Umständen auch recht gut mit dem noch weit kindlicheren Stadium der Milchzähne. Man erzählt mir von einem dreijährigen Zeitkind, dem sein Vater oder Taufpate bei der Geburt ein paar Lire in die Wiege gelegt hat. Der Kurs der Lire hat sich in diesen drei Jahren nicht unerheblich verändert, wie sogar die Erwachsenen bemerkt haben, und so ist es begreiflich, daß der aufgeweckte Sprößling sich bei erwachendem Bewußtsein seines zunehmenden Reichtums bewußt wurde. In jüngster Zeit soll sich dieses Valutakind bereits aus eigenem Antrieb nach dem täglichen Stand der Lire bei Besuchern des Kinderzimmers erkundigt und am Ende auf Grund reiflicher Erwägung, vielleicht mit Rücksicht auf den italienischen Kredit, zum Verkauf seiner kostbaren Lire entschlossen haben. Man kann den kleinen Dreikäsehoch zu dieser hochherzigen Handlungsweise nur beglückwünschen, selbst wenn sie mehr geschäftlichen Erwägungen – etwa einer möglichen Valutaanforderung durch den bösen, bösen Finanzminister? – entsprungen sein sollte. Wenn sie bei den Erwachsenen Nachahmung fände, so wären wir wahrscheinlich fein heraus. Aber die Erwachsenen denken nicht daran. Sie behalten ihre Valuten und spekulieren weiter gegen den Staat, das heißt, auf sein Zugrundegehen. Das gilt ja heut in eingeweihten Kreisen als die sicherste Kapitalanlage. …
Denn es ist keine Frage, daß das Spiel der Kinder – wenn ich sage Spiel, meine ich natürlich Börsenspiel – in dem Spiel der Erwachsenen seinen, wenn auch nicht gerade moralischen Hintergrund hat. Es ist wie in der „Familie Benoiton“, einem alten Burgtheaterlustspiel, das, wenn man es wieder aufführte, überraschend jung und zeitgemäß wirken dürfte. Dort tritt ein Freier auf, der in eine der Töchter des Börseanerhauses verliebt ist. Er begegnet zunächst ihrem Brüderchen, dem fünfzehnjährigen Fanfan, und er benützt die sich ihm bietende Gelegenheit, um sich über die Sitten der Familie ein wenig zu unterrichten. Wenn dann fünf Minuten später Papa Benoiton nach Hause kommt, weiß der neugierige Freier bereits genug, und wenn Fräulein Benoiton gleich darauf selbst erscheint, so viel, daß er beherzt die Flucht ergreift. Der kleine Fanfan macht Geschäfte, versteht sich, Börsengeschäfte. Er spekuliert in Briefmarken, und zwar à la hausse – „immer à la hausse!“ ruft der Erzeuger dem „auf die Börse“ eilenden Sprößling mahnen nach – und er hat sich in diesem Zusammenhang einen ganz hübschen, räuberischen, kleinen Plan zurechtgelegt, um die „anderen kleinen Börseaner“ hineinzulegen. Der Fischzug, den Fanfan mit einem Konsortium seiner Altersgenossen plant, hat zur Voraussetzung die väterliche Information, daß im Amerikanischen Freiheitskriege – die Zeit der Handlung – die Südstaaten voraussichtlich unterliegen würden. Fanfan macht sich diesen Wink zunutze und kauft heimlich im Verein mit seinem Konsortium alle südamerikanischen Markenzeichen auf, deren es in Bälde keine mehr geben wird und die infolgedessen einer ungeheuren Wertsteigerung entgegengehen. Auf diese einfache Weise hofft Fanfan, reich zu werden, und reich zu sein, ist der einzige Traum dieser jungen Knabenseele, wie seiner heutigen Nachfahren. Er „liebt die reichen Leute“, weil sie, wie er dem Besucher naiv gesteht, „so schöne Wagen, so schöne Wohnungen und Kleider haben“. Sein Ideal ist die väterliche Kasse, eine schwere „eiserne Kasse mit einem Geheimschloß“, und seine größte Kränkung, daß seine Kasse aus Holz ist und nur ein ganz gewöhnliches Schloß hat. … Wenn man an Stelle der unschuldigen Briefmarken in dieser hübschen Szene den Namen irgendeines unserer Spielpapiere setzt und Fanfan um zwei Jahre jünger macht, so hat man ein ziemlich ähnliches Bild unserer heutigen Börsenjugend, ähnlich genug, um darüber zu lachen und vielleicht sogar, um darüber zu weinen. Übrigens ist die erste der beiden dramaturgischen Verbesserungen vielleicht gar nicht einmal unbedingt notwendig. „Man kann mit allem wuchern, auch mit Menschenleben“, sagt Hebbels Herodes. Man kann, wie unsere Philatelisten aus Erfahrung wissen, auch an Briefmarken ein schönes Stück Geld verdienen.
Im Verlauf der Szene, die uns die Seele des Bürschchens Fanfan entschleiert, entdeckt uns auch der wackere Papa Benoiton die seine, und auch diese Stelle liest sich heute sehr anzüglich. Papa Benoiton seinerseits hat in seiner Jugend keineswegs mit Wertpapierchen gespielt, sondern mit Bleisoldaten und kleinen Kanonen. Aber die schlechten Erfahrungen, die man mit der militärischen Gloire gemacht hat, haben ihm die Grundsätze einer ganz anders gerichteten Erziehung eingegeben. Sie beruht auf einem offen eingestandenen Materialismus. Als Fanfan klein, das heißt, als er noch kleiner war, spielte er mit einer kleinen Wage, einem kleinen Kompaß, einer kleine Geldkasse. Sein Sinnen und Trachten ist auf das Gegenständlich-Nützliche, dem materiellen Genusse Dienliche gerichtet. Diese Einstellung ist am Ende nichts anderes als der natürliche Rückschlag gegenüber der unklaren militärischen Gloire, die Abkehr von den Sünden des Militarismus.
Ähnlich, wenn auch nicht ganz gleich, liegen die Verhältnisse im heutigen Österreich, und nicht nur in Österreich. Auch wir haben die längste Zeit mit Bleisoldaten gespielt, und es ist am Ende nicht zu verwundern, daß die Kinder wie die Erwachsenen an diesem Spiel gründlich die Lust verloren haben, und, bitter enttäuscht, in die platte Welt der Geschäfte flüchten. Der jetzigen Börsenjugend ging eine Heldenjugend voran, die für unbezahlte und unbezahlbare Ideale glühte und daran verbrannte. Damals in jener heut schon märchenhaft fernen Zeit des kriegerischen Seelenaufschwunges, war das erste Wort, das die von der Mutterbrust abgesetzten kleinen Kinder aussprechen lernten, das Wort „Brotkarte“. Heut ist es das bedeutend ausländischer klingende Wort „Valuta“. Noch früher, vor der Brotkarte, war der erste artikulierte Laut hergebrachter Weise „Papa“. Es war eine noch regelmäßige Welt, die fest gefügt in festen Formen bestand, und es ist begreiflich, daß sie heute vielen als eine ideale Welt erscheint. Allein auch dieses patriarchalische „Papa“-System hat, wie sich gezeigt hat, seine bedenklichen Nachteile. Das patriarchalische System ist das absolutistische und ein schlecht beratener Absolutismus – jeder Absolutismus ist seine Natur nach schlecht beraten, weil er sich nur von Günstlingen, die sich ihm unterwerfen, beraten läßt – hat uns am Ende soweit gebracht. Die Verdienermoral hat jede andere beerbt und die grünste Jugend schwelgt in Börsenkursen, an den sie die Erwachsenen sich begeistern sieht. Die jungen Mädchen haben ihr Bankkonto bei irgendeinem kleinen und manchmal auch jungen Bankier, dessen Adresse die Eltern nicht immer kenn, die Gymnasiasten lesen den Kurszettel unter der Bank, und in die erste Liebeserklärung mischt sich der letzte Tip. Alles gibt, alles nimmt, und alles verdient, wenn auch nur in Kronen – ein Trost, wenn auch nur ein schwacher, für den Moralisten.
Im übrigen hat es der Moralist in diesem Punkte, wenn er gerecht urteilen will, nicht ganz leicht, schwerer jedenfalls als der alter Macher Sardou, der sich in jenem Stücke über ähnliche Erscheinungen der Aufschwungs- und Gründerzeit einfach lustig machte. Daß die Jugend selbst für diese Ausartung am wenigsten verantwortlich zu mache ist, liegt auf der Hand. Auch hier bestätigt sich die volkstümliche Weisheit von den Jungen, die nur zwitschern, wie die Altern sungen. Die jungen Mädchen, die für ihre laufenden Toilettebedürfnisse ihr Börsenkonto bei dem manchmal nicht ganz ungefährlichen kleinen Bankier sorgen lassen, haben fast immer eine Mutter, die selbst an der Börse spielt, das Valutakind hat meisten einen Valutaonkel, und der Geschäfte machende Gymnasiast, der jederzeit einen guten Börsentip, wenn nicht gar Rohöl oder Gummireifen „an der Hand“ hat, ahmt in neun unter zehn Fällen nur das väterliche Beispiel nach. Aber auch die Väter und Mütter sind nur halb verantwortlich zu machen; die andere größere Hälfte der Verantwortung trifft den Staat, der durch die ständige Geldverschlechterung das Börsenspiel geradezu zu einem Akt der Selbsthilfe und überdies – da man sich auf die Notenpresse verlassen kann – zum ungefährlichsten aller Glücksspiele gemacht hat. Allenfalls kann man den Eltern daraus einen Vorwurf machen, daß sie ihre Hoffnungen und Sorgen etwas zu ungezwungen im Beisein der unmündigen Jugend (wenn es so etwas überhaupt noch gibt) erörtern. Etwas mehr Zurückhaltung und – Geschmack wäre in dieser Hinsicht den Erwachsenen dringlich zu empfehlen. So wie man sich in Gesellschaft nicht kratzt, sollte man auch nicht fortwährend über Börsenkurse reden, zumindest in jener Gesellschaft, die den Ehrgeiz hat, auch noch etwas anderes zu sein als eine Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaft zur Auswertung des jüngsten Börsentips. In den preußischen Offiziersmessen der Vorkriegszeit entstand die sinnreiche Einrichtung, daß jeder, der nach neun Uhr abends im kameradschaftlichen Beisammensein das Wort „Dienst“ gebrauchte, eine kleine Geldbuße in die Regimentskasse zu entrichte hatte. Eine ähnliche Einführung sollte man auch in Bezug auf Aktien und ähnliche Dinge in unseren Abendgesellschaften treffen – nur dürfte die Buße nicht zu klein sein. Allerdings müßte man nebst dieser Geselligkeitsakte auch noch einige andere Gesetze schaffen: vor allem eines, das die Spekulation in ausländische Valuten, das heißt die Spekulation auf den Zusammenbruch des eigenen Staates, endlich als dasjenige brandmarkt, was sie tatsächlich ist, nämlich ein Verbrechen; (Mit Schreckgesetzen ist leider, wie tausendfache Beispiele der Geschichte zeigen, die Spekulation niemals unterdrückt worden. Anm. d. Red.) und ferner eines, das das wüste Rasen der Notenpressen, diese Affenschande der Besiegten, endlich kategorisch abstellt. Geschähe dies, so würde auch unsere verjobberte Jugend wieder idealistisch werden: sie ist es im Grunde, und man muß ihr nur die Gelegenheit geben, es zu sein.
In: Neue Freie Presse, 9.7.1922, S. 1-3.
Arthur Rutra: DER WEG (1918)
Arthur Rutra: DER WEG
Es ist wieder ein Kampf! Ein doppelter Kampf. Die Jungen stehen gegen die Älteren, die Jüngsten gegen die Jungen. Die Triebkräfte dieser Bewegung sind deutlich erkennbar; sie wurzeln in der Hast des Jahrhunderts und haben durch die Jahre des Krieges, der das Tempo des Lebens zu amerikanischen Rekordleistungen hinaufpeitscht, noch eine weitere Steigerung erfahren. Wenn man auch den Krieg mit allen seinen Folgeerscheinungen als ein rein akzidentelles Ereignis betrachtet, so darf die Beeinflussung des Moments wegen der ungeheuren Gefahr, die sie birgt, nicht von der Hand gewiesen werden. Der Instinkt der Gewalttätigkeit ist wachgerufen und seine Macht, die stets die Ausrede der Bequemlichkeit für sich haben wird, ist nicht zu unterschätzen. Dilettanten werde sich ihm mit Freude verschreiben, die Guten und die Besten, die dem Inferioren gegenüber stets schwächer sein werden, preisgegeben oder gezwungen, mit ihm zu paktieren.
Diese Bewegung ist allgemein und mannigfaltig sind die Spielarten der Form, die zur Äußerung kommt. Es gibt Bewegungen, es gibt Fluida, es gibt Hochstapelei tiefster seelischer Überzeugung. Alles drängt, sucht und tastet – wonach? … Nach dem Platz, auf dem wieder eine Kathedrale errichtet werden kann, über dem sich die Gotik einer neuen Zeit erheben könnte? … Vielleicht. Berufen sind die einen, die anderen auserwählt. Und beide glauben. Die drängen und in ihrer Stabilität verharren. Die Jungen und Jüngsten haben längst den Platz, auf dem die Alten und Älteren stehen, aufgegeben und suchen eine neuere Welt – die anderen verteidigen einen Platz, der ihnen gar nicht streitig gemacht wird. Sie sprechen von Dichtkunst; den einen ist sie Kultur, den anderen Ekstase. Kultur baut auf Kultur, Ekstase wirft sich in die Welt und verliert sich an sie. Beide begehen einen Fehler: denen die Dichtkunst Kultur ist und die unbekümmert weiter Seit auf Stein fügen, vergessen, dass kulturelle Werte vernichtet, gefährdet und verschoben wurden; sie bauen weiter und merken nicht, dass Teile morsch geworden sind… Und sie vergessen, dass das Gefüge verwittern kann. Die Ekstase aber nimmt zu vieles auf, sie ist wahllos und verschwendet sich ebenso gerne an die Metaphysik wie an den Journalismus. Sie hat das starke Erlebnis der Gegenwart noch nicht in sich aufgenommen, während die andere es an sich vorübergehen ließ. Ihre Entschuldigung ist, dass sie jung ist – wie das Alter der anderen. Sie nimmt Erscheinungen wichtig, die vorübergehender Natur sind, weil sie alles wichtig nimmt, weil sie ernst ist und von der Fruchtbarkeit des Augenblicks aufs tiefste erschüttert. Und beide sind ehrlich: in ihrer Blindheit und in ihrer Übersichtigkeit.
Was ist aber Dichtkunst? Ekstase ist ein Bekenntnis – Kultur ein Glaubensbekenntnis. Ein Bekenntnis kann ein Pamphlet sein, eine Proklamation, kann auch – Dichtung sein. Dichtkunst ist geläuterte Ekstase, kultivierte, wenn sie den Weg über die Seele nimmt. Immer aber wird Ekstase das Primäre sein.
Gegensätze sind immer gewesen, sie sind auch heute vorhanden, schärfer denn je, wenn auch nicht so offensichtlich und durch Umgangsformen gemildert. Die Alten werfen den Jungen vor, dass sie Schriftsteller sind, Buchstabensetzer, die Jungen sagen wieder von ihnen, dass sie keine Dichter sind, oder doch solche, denen das Kostüm einer verblichenen und überwundenen Zeit am Leibe festgewachsen ist. Können, sollen Gegensätze versöhnt werden, bis der Ausgleich in ewigem Wechsel neue zeugt? Versöhnung ist Kompromiss. Die Gegensätze müssen sich verstärken, bis sie über sich selbst hinausgewachsen und zur Norm geworden sind. Dann werden sie wieder durch neue abgelöst werden.
Wer ist aber alt und wer ist jung? Jung ist nicht mehr der Tag, denn das Morgen ist jünger und das Gestern trägt schon verwitterte Züge. Darum sind die Jungen von heute den Älteren von gestern verbrüdert. Und der Wechsel der Tage ergibt ein Chaos. Dieses aber ist das Versöhnende, denn es gebiert oder es wird gebären, bis es gesättigt, bis es genügend befruchtet ist. Befruchtet von allen, die sagen: „wir“. Bis einer emporwachsen wird, der ausspricht: „Ich!“
Hier liegt das Geheimnis: von allen, die leben, lebt jeder nur, weil er „wir“ gesprochen hat. Nähme man es ihm – das Schemen, das er ist, träte schärfer hervor, Das „wir“ ist seine Stärke – wie das „ich“ seine Schwäche offenbaren würde. Es ist die Berufung auf andere, die Flucht vor der eigenen Unzulänglichkeit. Er lebt nicht, weil er da ist, weil er sein Leben fühlt, sondern weil er fasziniert ist von einer Unwirklichkeit, die er für Leben hält. Er glaubt gesteigerter zu leben und lebt wirklich nur flacher. Er wähnt tätiger zu sein und ist in Wahrheit untätiger. Er bildet sich ein, zu bauen, und er zerstört nur. Nicht einmal das, denn er hat nicht die ewigen Gesetze des Wachstums erforscht. Leben, wirken, schaffen kann nur der, der sich am Wachstum emporrankt, dessen Seele den Gleichklang hat mit dem ewigen Schlag des Lebens. Nur dieser, der hinablauscht in seine Seele, in der sein zweites Gesicht die Wahrheit verkündet, der hinauflauscht in den Weltraum, aus dem ihn Millionen Spiegelungen grüßen, wird „ich“ sagen können. Dieser wird auch tätig sein, denn er wird Opfer bringen können, durch seine eigene Stärke. Dieser wird auch bauen, denn er wird die Steine mit eigenen Händen heranschaffen. Dieser wird sich wegwerfen in der Ekstase und sich wiederfinden in der Sammlung. Und wird schweben im ewigen Mysterium des Seins.
In: Der Anbruch, H. 8/1918, S. 6-7.
Béla Balázs: Die Filmkrise (1928)
Béla Balázs: Die Filmkrise
Unsere Leser kennen Béla Balázs als geistvollen und erfahrenen
Dramaturgen und Filmdichter
Ich glaube nicht, daß man ohne weiteres annehmen kann, die deutschen Geschäftsleute verstünden durchwegs nichts von ihrem Geschäft und wollten aus ihren eigenen Erfahrungen nicht lernen. Sehen denn diese Verleiher ihre eigenen Bücher nicht an, oder wären sie wirklich außerstande, die richtigen Konsequenzen zu ziehen? Das ist sehr unwahrscheinlich.
Wenn aber beides zugleich aus den Büchern der Verleiher nachzuweisen ist:
— wenn beides zugleich stimmt, dann allerdings muß das Problem etwas tiefer liegen. Dann scheint das „künstlerische Niveau“ nicht von derselben Art zu sein, hüben und drüben, Die amerikanische Sorte scheint gangbar zu sein. Die deutsche nicht. Und das nicht nur beim Film, sondern überhaupt.
Bei den Deutschen ist gute Kunst und volkstümliche Kunst ein notwendiger, unvereinbarer Widerspruch. Es lag im Wesen der deutschen Geistigkeit, daß jede Tiefe und jede Höhe mit der Entfernung vom Allgemeinverständlichen zu messen war. Popularität aber gilt bei uns noch immer mit Recht als sicheres Zeichen der Banalität und des Kitsches. Dieses Entweder-Oder lag im Wesen der deutschen Geistigkeit, die sich in der Richtung des Spekulativ-Begrifflichen entwickelt hat und zur Geheimsprache der Gebildeten wurde. Ist in der Literatur nicht das gleiche zu sehen? Wo gibt es bei uns den Dichtertypus von Kipling oder Jack London oder auch Maupassant? Dichter, die ganz einfach und naiv, für jedermann verständlich fabulieren und doch große Künstler sind? Diese Oberflächenkunst, die nicht oberflächlich ist, diese Feinheit ohne Finessen, diese unmittelbare, naive Vision, diese sinnliche Freude am Gegenständlichen, dieser Scharm der leichten Mitteilung, diese Magie des einfachen Geschichtenerzählens, die ohne intellektuelle Kompliziertheit bedeutsam und poetisch ist — das ist es, was die deutschen Erzähler nicht haben. Wenn sie gut sind, dann haben sie
andere Qualitäten. Aber was nicht gedanklich tief ist, das ist bei uns flach, und Einfachheit wird hier triviale Simplizität. Wenn deutsche Kunst höher fliegt, dann verläßt sie den Boden — auf dem die Filmproduzenten und Verleiher bleiben müssen. Das betrifft nicht nur das Filmmanuskript. Das Manuskript ist ja nur das Thema, das der Regisseur optisch erzählt. Er vor allem müßte sie in den Fingerspitzen haben, diese Zauberei des Fabulierens, diese Zauberei der kleinen Einzelheiten, mit denen der Zuschauer eingewickelt wird in das Weben einer lebendigen Atmosphäre, die weder mit Gedankentiefe, noch mit Wahrheit oder Wirklichkeit irgend etwas zu tun hat.
Das aber ist nicht deutsche Art. Noch nicht. Ich glaube nicht, daß es an der technischen Ungeschultheit der deutschen Filmleute liegt. (Die ganz gewissenlos hingeschmissenen Kontingentfilme sind natürlich auch technisch schlecht.) Wir haben erstklassige Operateure und viele Regisseure, die handwerklich ganz auf der Höhe sind. Aber sie sehen anders als die Amerikaner oder die Russen. Gerade wo sie ihr Bestes geben, werden sie interessant, originell, vielleicht bahnbrechend sein aber nicht einfach volkstümlich, verführend. Etwas Abstraktes, etwas Unnaives, Doktrinäres wird an ihnen haften. Das liegt einstweilen am Charakter der deutschen Geistigkeit. Für die Filmkunst ist es eine Lebensfrage. Aber sie wird kaum innerhalb der Branche zu lösen sein. Es hat seine sozialen, historischen Ursachen. Aber die können sich auch ändern. Es geht um mehr als um die deutsche Filmindustrie.
Wie bezeichnend ist es, daß sogar ernste Filmkritiker sagen, man müsse dem Publikum zuliebe Konzessionen (im Stofflichen) machen. Ja. Der deutsche Regisseur und Autor muß Konzessionen machen, um volkstümlich zu sein. Aber erkauft etwa Chaplin seine Popularität mit Konzessionen? Es gibt eine Kunst, es muß eine geben, die nicht erst auf ihrer niedersten Stufe, sondern auf ihrer höchsten Stufe einfach ist. Nicht daß wir Konzessionen machen, sondern daß wir sie machen müssen, darin liegt die Gefahr.
Wie bezeichnend ist die Reaktion der ernsten deutschen Kritik auf die schlechten deutschen Filme. Indem sie die unechte Süßlichkeit, die kitschige Romantik ablehnt, fordert sie Wirklichkeit und wieder nur Wirklichkeit. Es ist das Modeschlagwort der Sachlichkeits-Dogmatiker, die in dem Tatsachenrealismus das Heil des Films sehen. Und sie merken nicht, wie konstruiert, wie abstrakt, wie doktrinär diese Forderung ist. Wieder ein typisch intellektueller Bildungskomplex. Jemand schreibt, das Publikum habe sich für den Auslandsfilm entschieden und die „guten Auslandsfilme“ haben erwiesen, daß die filmisch scharf gesehene Wirklichkeit dem „Phantastischen“ überlegen ist. Stimmt denn das? Ist denn in jenen erfolgreichen, guten amerikanischen Filmen so sehr realistische Wirklichkeit gezeigt? So wie das Leben tatsächlich ist? Bleiben wir bei Chaplin. Zeigt er in „Goldrausch“ und in „Zirkus“ „scharf gesehene Wirklichkeit“? Verdankt Chaplin seinen Erfolg dem unerbittlichen Realismus? Wohl in einzelnen russischen Filmen . . . von denen aber nur jene große Erfolge hatten, in denen das ekstatische, große Pathos einer revolutionären, also keiner Alltags-, sondern einer sehr außergewöhnlichen und abenteuerlichen Wirklichkeit gezeigt worden ist.
Nein! Das Gegenteil von falsch ist nicht wirklich, sondern echt, das Gegenteil von verlogen ist nicht wirklich, sondern wahrhaftig, das Gegenteil von leblos und leer ist nicht wirklich, sondern lebendig, sinnfällig, gegenständlich. Aber echt, wahrhaftig, sinnfällig, gegenständlich kann sogar ein Märchen sein. So wie ein Chaplin Märchenfilm es ist. Hingegen eine Bilderreihe von Tatsachen, wie die hochgelobte Filmsymphonie „Berlin“, war, bei allen interessanten Qualitäten, weder Kunst, noch hat sie populären Erfolg gehabt, und sie brachte nicht einmal Wirklichkeit. Denn es gibt keine Wirklichkeit ohne den Menschen, ohne seine Gefühle, Stimmungen und Träume. Das ist eine konstruierte, deutsche Abstraktion.
Freilich kommt es dennoch auf die Wirklichkeit an, und der Realismus liegt freilich auch im Wesen der Filmkunst. Ich meinte bloß . . . tötet nicht Dichtung mit einem Begriff. Denn nicht dieser Realismus, nicht diese Tatsachen – Wirklichkeit ist es, die dem deutschen Film vor allem fehlt. Die Krisis ist akut. Aber ich glaube auch, daß die Aufhebung der Kontingentierung nur mehr nützen kann. Auch ich bin der Meinung, daß die deutschen Chancen nicht ungünstig sind. Obwohl es um mehr geht als um die deutsche Filmbranche. Ihre Krisis ist Krisis der deutschen Bildung überhaupt. Aber in der Geschichte sind die -geistigen Krisen immer die Symptome des aufkeimenden Neuen und Jungen.
In: Die Bühne, H. 185/1928, S. 22-24.