Fred Heller: Wiener Spiegelbilder.
Nachttänze
Ein
Uhr nachts. Alle Gaststätten sind geschlossen, die letzten Schlaflosen wandern
nach Hause. Ein junger Mann darunter, Bankbeamter – natürlich, was sollte er
denn sonst sein, möchte man sagen -, vom Familienkonzert im Café nicht allein
befriedigt. Aber um ein Ihr nachts ist auch das Abenteuer bereits schlafen
gegangen, die wenigen Leute, die ihm begegneten, gähnten aus aufgestellten
Rockkragen hervor.
Plötzlich,
in einer kleinen Gasse, die den Heimweg abkürzte, trat dem jungen Mann ein
kleiner dicker Herr entgegen.
Gelindes
Erschrecken, Griff nach der Hosentasche rechts außen. Nach der Brieftasche.
Doch
der Herr zieht höflich den Hut, sagt guten Abend, und fragt, mit den Fingern
schnippend:
„Nichts
los mehr, was, junger Herr? Sie gingen gewiß noch gern zu einer kleinen
Unterhaltung.“
„O,
nein, ich . . . ich gehe nach Hause.“
„Schade!“
macht der andere. „Ich wüßt’ was ganz Exquisites. Nackttänze, junger Herr.
Du
lieber Gott, welcher junge Mann würde auf das hin nicht – wenigstens
theoretisch – neugierig!
„Wo?“
erkundigte sich das Bankbeamtchen.
„Ein
paar Schritte weit. Ich führe Sie hinauf.
Hinauf
– aha, Privatwohnung. Das war interessant. Nur eines: „Das Entree?“
„Tausend
Kronen. Und für die Adresse nach Belieben,“
Der Führer hielt diskret seine Hand hin.
Offen.
Als
er seine Rekommandationsgebühr hatte, schritt er voraus.
Drei, vier Häuser weit. Vor einem
unauffälligen Haustor blieb er stehen, zog einen Schlüssel, öffnete und ließ
den späten (er sagte „frühen“) Gast ein.
Im
Hausflur war’s stockdunkel.
„Leise!“
befahl der Führer. Nach ein paar Schritten aber hielt er den Besucher aus Wien
zurück und flüsterte: „Bleiben Sie hier einen Augenblick stehen. Ich mache
drüben im Hoftrakt Licht. Dann folgen Sie mir vorsichtig. Im Hause hier darf
man ja keine Ahnung haben, Sie verstehen!“
Der
junge Mann verstand. Und stand still. Wartete mit Herzklopfen, bis drüben Licht
gemacht werden würde. Doch – es wurde nicht. Es wurde nicht Licht, es wurde
bloß eine Tür geöffnet, dann blieb alles still. Eine Viertelstunde lang.
Der
herausgeklingelte Hausmeister schaute den unbekannten jungen Mann groß an.
Schließlich führte er ihn über den Hof zum Hinterhaus, das einen eigenen
Eingang hatte, in der Parallelgasse. Den ihm beschriebenen Herrn kannte der
Hausmeister nicht. Aber er verstand allmählich.
„Morgen wird ein anderes Schloß ans
Haustor g’macht. Da kann ja wirklich jeder Schlosserg’sell . . .!“
Der
junge Mann hatte den Hausmeister stark im Verdacht des Einverständnisses. Er wollte
sofort zur Polizei. Aber – er ging nicht. Weil er sich ein bißchen schämte. Und
weil man ja nicht weiß, ob man wegen Besuches von Nackttänzen, selbst wenn sie
gar nicht existieren, nicht auch noch mit Arrest bestraft werden kann.
Das Freundschaftsband.
Der
Gymnasiallehrer für klassische Philologie besaß einmal so viele Freunde, daß er
sie kaum zählen konnte. Man nannte ihn allgemein einen ungemein sympathischen
Menschen, mit dem zu Verkehren ein Vergnügen. Dabei vermochte der
Unvoreingenommene nichts Besonderes an ihm zu finden. Er ist ein Normalmensch
in des Wortes weitester Bedeutung. Von seiner Normalfigur angefangen bis zu
seinem Lieblingsgespräch über unregelmäßige Verba. Doch gerade die Normalfigur
war’s, die ihm so viele Freunde schuf. Ja, die Normalfigur und der dazu
gehörige Frack. Der klassische Philologe besaß nämlich einen prächtigen Frack,
den er selbst nie trug, dessen Existenz er aber einmal verraten, damals, just
vor einem Jahr, und seither wuchs seine Freundesschar zusehends. Und wenn man
so recht in freundschaftliche Gespräche vertieft war, kam stets der eine oder der
andere auf den Frack zu sprechen, und das Resultat war, daß der Professor ihn
dem einen oder dem anderen für eine Nacht gern leihen wollte, um ihm den Besuch
eines Balles, einer Redoute zu ermöglichen; er selbst ging ja ohnehin nicht zu
Tanzfesten.
Der
Frack verband das Dutzend gute Freunde mit dem Gymnasiallehrer so fest wie das
innigste Freundschaftsband. Ueber den ganzen Fasching. Dann, in den Wochen
darauf, bleib einer nach dem anderen aus dem Stammcafé weg. Der Professor
vereinsamte mehr und mehr und schließlich stand, beziehungsweise saß er wieder
ganz allein an seinem Tischchen.
Man
zeigte sich ihn, wenn von der Freundschaft die Rede war. Ein Opfer. Ein Zeuge
für den Eigennutz und alle sonstigen Schlechtigkeiten der Menschen.
Seit
kurzen jedoch beginnen sich die ehemaligen Genossen der unregelmäßigen Verba
wieder einzufinden. Einer nach dem anderen. Am Tisch des Professors sitzen
bereits wieder sechs. Und jeder findet ihn ungemein sympathisch und nennt es
eine Tücke des Schicksals, daß man so lange auf das Vergnügen verzichten mußte,
mit ihm zu verkehren.
Der
Gymnasialprofessor ist aber jetzt wirklich freundlich. Er läßt alle in ihm
schlummernden geselligen Künste wach werden, um seine Runde zu unterhalten.
Selbst auf das Gespräch über die unregelmäßigen Verba hat er verzichtet, um das
Freundschaftsband von einst – über das bisher taktvoll jede Bemerkung vermieden
worden ist – durch seine inneren Werte zu ersetzen. Denn den Frack – o über den
Augenblick, da es herauskommen wird! – den Frack trägt sein drei Vierteljahren
der Oberkellner. Derselbe, der die neue Freundschaftsrunde bedient.
Causa X.
Zu
einem der ersten Wiener Rechtsanwälte kam ein Mann, einen Rechtsfall
vorzutragen. Er versicherte den Advokaten seines besonderen Vertrauens, da man
ihn ihm sehr warm empfohlen hätte. Daraufhin erzählte er den Fall.
Es
war eine verworrene Erbschaftsgeschichte. Der Großvater hatte, so berichtete
der Klient, zweimal geheiratet, und da hätten sich dann seine Kinder aus erster
Ehe mit den Kindern, welche die zweite Frau, eine Witwe, in die Ehe brachte,
verheiratet. Von einem dieser beiden Paare sei er ein Sohn. Vor einem halben
Hagre nun war der Großvater gestorben und hatte ein außerordentliches Vermögen
hinterlassen. Es stritten sich jetzt die verwickelten
Verwandtschaftsverhältnisse um das Recht des Anteils, um das teilweise auch
testamentarisch verteilte Vermögen herum.
Der
Rechtsanwalt notierte die Daten. Er fragte mancherlei, denn es war mancherlei
nicht gleich klar und dem Klienten schien die Angelegenheit sehr zu Herzen zu
gehen, so nervös war er. Es schien ihm die Information reichlich lang zu
dauern.
Aber
endlich erklärte sich der Advokat, der ja, wie gesagt, eine Leuchte in seinem
Fach war, hinlänglich informiert und er zweifelte scheinbar auch nicht daran,
daß der Sohn der Tochter und des Stiefsohnes seiner Großmutter sowie des Sohnes
und der Stieftochter seines Großvaters ein durchaus berechtigter Erbe sei.
Der
Klient legte die geforderten Dokumente vor und unterschrieb die Vollmacht. Dann
reichte er dem Rechtsanwalt als Vorschuß auf die Expensennote dreißigtausend
Kronen, ohne Widerrede, ja geradezu mit Zuvorkommenheit.
Hierauf
ging er.
Er
hatte eine noble Art, die Tür zu schließen. Beinahe unhörbar. Ein feiner
Mensch!
Der
Rechtsanwalt schrieb sofort die nötigen Briefe. Das Diktat dauerte allerdings
viel länger als fünf Minuten. Der Doktor mußte nämlich zu Gericht. Er hatte es
eilig. Und überdies ärgerte es ihn, daß er von dem so überaus bereitwilligen
Klienten nur dreißigtausend Kronen Vorschuß verlangt hatte. Noch mehr ärgerte
er sich jedoch, als er im Vorzimmer seinen kostbaren Stadtpelz nicht fand.
Fort
war er. Gestohlen. Von dem überaus bereitwilligen Klienten. Der sich den Spaß
mit dem Pelz, der zweieinhalb Millionen wert war, bereitwilligst dreißigtausend
Kronen hatte kosten lassen.
In: Neues Wiener Journal, 08.01.1922, S. 4.
Joseph Eberle: Zum 12. November – Umsturzerinnerung (1925)
Joseph Eberle: Zum 12. November – Umsturzerinnerung
Wer heute geschichtliche Erinnerung pflegt, auf Ereignisse der Vergangenheit zurückblickt und über sie nachdenkt, kommt bei den Modemenschen nicht gut an. „Laßt die Toten ihre Toten begraben“, wird ihm ins Gesicht gedonnert. Das Bild von Lots Weib, das nach dem brennenden Sodom zurückschaute und zur Salzsäure erstarrte, wird ihm vorgehalten. Und doch: Einzig der Sinn für die Geschichte, das Leben aus den Zusammenhängen mit der Geschichte, das Betrachten der Geschichte zwecks Lernens aus der Geschichte, unterscheidet Kulturvölker von Nomaden. Der Geschichtsverächter wird Sklave der Tagesmode, Schlachtopfer der Tagesillusionen.
Wenig ist so lehrreich wie die Geschichte von Katastrophen, von Umsturzzeiten. Es sind zumeist die Schlußakte gewaltiger Dramen, wo das Geschehen sich überstürzt, wo Knoten entwirrt, Rätsel gelöst werden, wo ein Stück Räderwerk der Dinge sichtbar wird, wo menschliche Werte und Unwerte, Tugenden und Charakterlosigkeiten, Tapferkeiten und Feigheiten in hüllenloser Nacktheit sichtbar werden. Katastrophen, Umstürze sind immer erschütternde Lektionen über Völkergesetze und Menschenqualitäten. […]
***
Der Umsturzgedächtnistag wird in Österreich und in verschiedenen Nachfolgestaaten als Festtag gefeiert; in Wirklichkeit müßte er als Trauertag begangen werden. Er wäre angebrachter, Trauerfahnen auszuhängen und über alttestamentarische Klagelieder nachzudenken, als Volksmassen mit Banner und klingendem Spiel in Parade aufmarschieren zu lassen. Der Umsturzgewinner sind ja so wenige, die Zahl der Umsturzverlierer dagegen ist Legion.
Die Zerschlagung der Donaumonarchie und die Begründung neuer Staaten und Regierungssysteme auf ihrem Gebiet ist zum Teil die Folge äußeren Druckes, des verlorenen Krieges; zum Teil die Wirkung langjähriger innerer Wühlereien, denen Not und Verwirrung die Wege ebneten. Umstürze können die begreifliche natürliche Reaktion gegenüber Tyrannenherrschaft und Volksausbeutung sein; sie können aber ebenso die Frucht geistiger Erkrankungen, phantastischer Ideologien sein. Letzteres war beim Umsturz in Österreich-Ungarn, soweit er von Innenkräften bedingt und von langer Hand angestrebt war, vorwiegend der Fall. Die Umsturzführer waren Sklaven einer falschen Ideologie. So berechtigt gesunde Schätzung von Nation und Volk, von Muttersprache und Heimat ist, so falsch ist die Vergötterung, die Verabsolutierung des Nationalen. Neben dem Nationalstaat steht gleichberechtigt, in gewisser Hinsicht sogar höherberechtigt und übergeordnet, der Völkerstaat oder Völkerbund, der Volksstämme, die zahlenmäßig zu klein zu eigenen normalen Staatsgebilden sind, zu einem gewissen gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Leben zusammenfaßt, zumal wenn die Geographie, wenn die Geschichte und die Gesetze der Volkswirtschaft zu solcher Zusammenarbeit drängen. Die Ideologie des Nationalstaates beziehungsweise die These „Jeder Nation auch ein eigener Staat“ ist Ausfluß des neueren Individualismus. Sie ist eine Modesache im Hinblick auf die Gesamtgeschichte; sie ist ein blutiger Anachronismus im Hinblick auf neuere Entwicklungen: in Presse und Kulturorgani-//sation, in Handel und Verkehr treten immer mehr große internationale Mächte hervor; die Bedrohung Europas durch die anderen Kontinente legt europäische Solidarismen größerer und kleinerer Ordnung geradezu gebieterisch nahe. Wie lächerlich ist da der Wille zur politischen Balkanisierung, zur Duodezstaaterei! Jedenfalls hat die Balkanisierung Altösterreichs nicht die versprochene Freiheit, sondern nur Versklavung gebracht. In den Klageliedern des Jeremias heißt es vom niedergebrochenen Jerusalem, vom besiegten Judenvolk: „Wie sitzet so einsam die Stadt, einst an Volk so reich; wie eine Witwe ist die Gebieterin der Völker geworden, ihre Feinde sind ihre Beherrscher, ihre Widersacher sind reich geworden. Unser Erbe ist Fremden zuteil geworden, unsere Häuser Ausländern, unser Wasser trinken wir um Geld, unser Holz müssen wir um Zahlung erwerben, Knechte haben Gewalt über uns erlangt, niemand rettet uns aus ihrer Hand. Fürsten werden an der Hand aufgehängt, das Antlitz der Ältesten wird nicht geachtet.“ Muß das nicht heute auch von Wien und Budapest und Agram gesagt werden? Wo ist heute die Freiheit der Österreicher, der Ungarn, der Slowenen, der Kroaten, der Slowaken? Ehedem war Österreich-Ungarn eine führende Großmacht und jeder Staatsangehörige Nutznießer der Großmachtstellung; die neuen kleinen Staaten sind nur Spielbälle, Spielzeuge der Großen, und jeder Staatsbewohner erleidet dieses Schicksal mit. In Wien und Budapest ist das ganze staatliche Sein von Ententekrediten abhängig. Vertrauensmänner des Auslandes überwachen als Kontrollorgane die Schlüssel des Geldschrankes! Aber nicht nur die Wirtschaft – die ganze Kulturpolitik, die Frage, ob Antisemitismus oder nicht, ob konfessionelle oder konfessionslose Schulleiter, ob Anschlußkundgebungen oder nicht, wird vom Ausland bestimmt, wird vom Ausland belobt oder mit bitteren Repressalien bedacht. […]
Es gab schwere Mängel, starke verfassungsrechtliche Unausgeglichenheiten in der alten Donaumonarchie, die ein längerer Weltkrieg steigerte. Weil das alte Regime, die alte Obergesellschaft dafür verantwortlich gemacht wurde, galt der Kampf der Umsturzführer vor allem diesem Regime, dieser Obergesellschaft. Aber auch hier sind die Umsturzführer von langer Hand Sklaven von Falschvorstellungen. […] Seit 1848 sind die Parlamente, die Journale, die Universitäten, die Bücher das eigentlich Führende der Völker, sind Könige und ihre Ministerien weitgehend gezwungen, sich zu begnügen, Exponenten der stärksten geistigen und politischen Strömungen ihrer Länder zu sein. Wie dürfen dann Monarchien und Adel für die Entwicklung dieser Zeit verantwortlich gemacht werden! Die Journale waren die geistigen Nährmütter des Kapitalismus und seiner Unerträglichkeiten. Die Journale legten Holz ins Feuer der nationalen Überspannungen und Zwistigkeiten; die Journale sangen das hohe Lied der Volksvermögen fressenden Plutokratie, die Journale förderten den Aufstieg des Judentums, die Journale förderten den Libertinismus und Zynismus im Buchwesen. Die Journale aber waren nicht in den Händen von Monarchie und Adel! Die Parlamentarier wieder sekundierten weithin der Weltmacht Presse, fütterten den nationalen Egoismus, leisteten Lakaiendienste für die Reitzes und Rothschild, für die Gutmann und Taussig, machten die Bedürfnisse von Industrie und Handel einseitig zu wichtigsten Staatsbedürfnissen; die liberalen Koryphäen der Universitäten aber gingen voran, gingen voran in der Verkündigung des Dysevangeliums vom Kapitalismus und Nationalismus, vom Egoismus und Libertinismus – warum wendet sich die Umsturzführung nicht gegen diese wirklichen Könige der Neuzeit und die Fluchwirkungen ihrer Politik? Warum gegen die um die wahre Führungsmacht gebrachte Dynastie, gegen den Adel, die, noch bessere Traditionen und besseren Geist verkörpernd, als letzte Vertreter konservativer Kultur und Wirtschaft, übervölkischer Versöhnlichkeit, gesunden Interessenausgleiches der Gesamtvolksschichten, eher Verstärkung ihrer Position als Vertreibung , Vermögenskonfiskation und Tod verdienten? Schon im Hinblick auf die französische Revolution, bei Besprechung der Frage der an ihr Schuldigen, wendet sich Carlyle gegen jenen Pharisäismus, der sich anklagend einseitig nur gegen das alte Regime kehrt, das damals noch wirkliche Führungsmacht war. Gegenüber denen, die nur von der Schuld des Königs, der Königin, der Minister sprechen, betont er mit größtem Nachdruck die Schuld des ganzen Volkes – auch rückwärts, bis zu Karls des Großen Tagen; die Schuld aller, die auf ihren Posten irgend einmal ihre Pflicht nicht erfüllt haben. […]
Nicht als ob das alte Regime in Bausch und Bogen gerechtfertigt werden sollte; es hatte seine genügende Portion Mängel. Gerade wenn nicht nur gefragt wird: Wer war schuld an soundsoviel Fehlentwicklung?, sondern wenn weiter gefragt wird: Warum hat Gott die Katastrophe mit allem Drum und Dran zugelassen?, muß auf viel mangelnde Aktivität, auf allerlei geistige Unzulänglichkeiten in der Erfassung der brennenden Zeitaufgaben beim alten Regime hingewiesen werden. Ganz und gar gefehlt ist es nur, die kleineren Schuldigen abzuurteilen, die großen aber laufen zu lassen. Ganz und gar gefehlt ist es nur, die energischen Vertreter schlechter Ideen den unvollkommenen Vertretern guter Ideen vorzuziehen.
Jedenfalls hat der Sturz der konservativen Mächte, hat die volle Demokratisierung das erwartete soziale Heil nicht gebracht, sondern nur die sozialen Übel vermehrt. Die Gegensätze von arm und reich sind nicht verschwunden, sondern nur gewachsen. An Stelle der Feudaladels tritt mit wesentlich vermehrter Macht und mit wesentlich vermehrtem Besitz der Industrie- und Handels-, vor allem der Bank- und Börsenadel. […]//
Ein altes großes Reich wurde zerschlagen, die alte Dynastie wurde vertrieben: nun regiert der internationale Geldmann, der Geldadel, das Geldkönigtum im Zeichen jenes Geldsymbols und Geldstolzes, von dem Carlyle sagt: „Es ist das schlechteste und niedrigste unter allen Bannern und Symbolen der Herrschaft, nur möglich in einer Zeit des Unglaubens in allem, außer in brutaler Gewalt und Sensualismus. […]
Was ist bei solcher Sachlage, bei solcher Auffassung der Sachlage die Aufgabe? Nicht jammern und die Hände in den Schoß legen, auch nicht tun, als ob die Tatsachen aus der Welt geschafft werden könnten, sondern durch Aufklärung und Tat tapfer für das Morgen zu arbeiten.
Die falsche nationale Ideologie trägt schwerste Mitschuld an dem gegenwärtigen Elend. Also Abbau, Bekämpfung dieser Ideologie! So sehr jedes Volk Anspruch auf volle Auswirkung seiner nationalen Eigenart hat, so falsch ist jede Verabsolutierung des Nationalen auf Kosten der höheren Werte: Religion, Kultur, Recht. Kleine Völker scheinen von der Natur verkürzt gegenüber den großen Völkern, deren Zahlen- und Landschaftsverhältnisse von selbst den eigenen Staat mit sich bringen; dafür entgehen sie der Symbiose mit anderen Völkern viel mehr der Gefahr der geistigen Verengung und rassischen Erschlaffung. Nicht Balkanisierung Mittel- und Südosteuropas und damit Degradierung Mitteleuropas zum Schlachtfeld, zur Weide, zum Experimentierfeld Fremder, sondern Föderierung und damit Freiheit Mittel- und Südosteuropas muß Zukunftslösung sein.
Eine weitere schwere Mitschuld am gegenwärtigen Elend trägt der überspannte Demokratismus. Also: Abbau der üblichen Ideologie und Kampf für gesündere, organische Auffassungen! Die Demokratie bedarf starker Gegengewichte, das Regime von untenher gewisser Bindungen von obenher. Christliches Ideal war immer die Synthese der bewährtesten Staatsverfassungen, die Verbindung des demokratischen mit dem aristokratischen und monarchischen Prinzip. Wer dieserart konservativ denkt, ist nicht Romantiker, Träumer und Illusionist, sondern Illusionisten und Träumer sind jene Naivlinge der Provinz, jene Grasgrünen unter 25 Jahren und jene unruhigen Neophyten aus dem Judentum über 25, die, ohne Kenntnis des Riesenhaften und Dämonischen der modernen plutokratischen Mächte, nicht einsehen, daß diesen gegenüber wieder Mächte aufgeboten werden müssen, daß echte Dynastien und Aristokratien geradezu letzte Schutzpfeiler gegen die Gegenwartsplutokratie sein können. Ganz abgesehen davon, daß nicht die Gesellschaft der gleichgeordneten Atome, sondern die hierarchisch geordnete Gesellschaft das Normale ist, wie denn auch der Himmel, die Gemeinschaft der Heiligen, nicht demokratisch, sondern hierarchisch geordnet ist. Es gibt keine Kultur ohne starke Wirksamkeit der Faktoren Tradition und Autorität, so auch keine politische Kultur ohne Wirksamkeit von Mächten der Tradition und Autorität.
[…]
In: Schönere Zukunft. Kulturelle Wochenschrift. Wien Nr. 7, 15. Nov. 1925, S. 157-160.
Fred Heller: Wiener Spiegelbilder. Nachttänze (1922)
Fred Heller: Wiener Spiegelbilder. Nachttänze
Ein Uhr nachts. Alle Gaststätten sind geschlossen, die letzten Schlaflosen wandern nach Hause. Ein junger Mann darunter, Bankbeamter – natürlich, was sollte er denn sonst sein, möchte man sagen -, vom Familienkonzert im Café nicht allein befriedigt. Aber um ein Ihr nachts ist auch das Abenteuer bereits schlafen gegangen, die wenigen Leute, die ihm begegneten, gähnten aus aufgestellten Rockkragen hervor.
Plötzlich, in einer kleinen Gasse, die den Heimweg abkürzte, trat dem jungen Mann ein kleiner dicker Herr entgegen.
Gelindes Erschrecken, Griff nach der Hosentasche rechts außen. Nach der Brieftasche.
Doch der Herr zieht höflich den Hut, sagt guten Abend, und fragt, mit den Fingern schnippend:
„Nichts los mehr, was, junger Herr? Sie gingen gewiß noch gern zu einer kleinen Unterhaltung.“
„O, nein, ich . . . ich gehe nach Hause.“
„Schade!“ macht der andere. „Ich wüßt’ was ganz Exquisites. Nackttänze, junger Herr.
Du lieber Gott, welcher junge Mann würde auf das hin nicht – wenigstens theoretisch – neugierig!
„Wo?“ erkundigte sich das Bankbeamtchen.
„Ein paar Schritte weit. Ich führe Sie hinauf.
Hinauf – aha, Privatwohnung. Das war interessant. Nur eines: „Das Entree?“
„Tausend Kronen. Und für die Adresse nach Belieben,“
Der Führer hielt diskret seine Hand hin. Offen.
Als er seine Rekommandationsgebühr hatte, schritt er voraus.
Drei, vier Häuser weit. Vor einem unauffälligen Haustor blieb er stehen, zog einen Schlüssel, öffnete und ließ den späten (er sagte „frühen“) Gast ein.
Im Hausflur war’s stockdunkel.
„Leise!“ befahl der Führer. Nach ein paar Schritten aber hielt er den Besucher aus Wien zurück und flüsterte: „Bleiben Sie hier einen Augenblick stehen. Ich mache drüben im Hoftrakt Licht. Dann folgen Sie mir vorsichtig. Im Hause hier darf man ja keine Ahnung haben, Sie verstehen!“
Der junge Mann verstand. Und stand still. Wartete mit Herzklopfen, bis drüben Licht gemacht werden würde. Doch – es wurde nicht. Es wurde nicht Licht, es wurde bloß eine Tür geöffnet, dann blieb alles still. Eine Viertelstunde lang.
Der herausgeklingelte Hausmeister schaute den unbekannten jungen Mann groß an. Schließlich führte er ihn über den Hof zum Hinterhaus, das einen eigenen Eingang hatte, in der Parallelgasse. Den ihm beschriebenen Herrn kannte der Hausmeister nicht. Aber er verstand allmählich.
„Morgen wird ein anderes Schloß ans Haustor g’macht. Da kann ja wirklich jeder Schlosserg’sell . . .!“
Der junge Mann hatte den Hausmeister stark im Verdacht des Einverständnisses. Er wollte sofort zur Polizei. Aber – er ging nicht. Weil er sich ein bißchen schämte. Und weil man ja nicht weiß, ob man wegen Besuches von Nackttänzen, selbst wenn sie gar nicht existieren, nicht auch noch mit Arrest bestraft werden kann.
Das Freundschaftsband.
Der Gymnasiallehrer für klassische Philologie besaß einmal so viele Freunde, daß er sie kaum zählen konnte. Man nannte ihn allgemein einen ungemein sympathischen Menschen, mit dem zu Verkehren ein Vergnügen. Dabei vermochte der Unvoreingenommene nichts Besonderes an ihm zu finden. Er ist ein Normalmensch in des Wortes weitester Bedeutung. Von seiner Normalfigur angefangen bis zu seinem Lieblingsgespräch über unregelmäßige Verba. Doch gerade die Normalfigur war’s, die ihm so viele Freunde schuf. Ja, die Normalfigur und der dazu gehörige Frack. Der klassische Philologe besaß nämlich einen prächtigen Frack, den er selbst nie trug, dessen Existenz er aber einmal verraten, damals, just vor einem Jahr, und seither wuchs seine Freundesschar zusehends. Und wenn man so recht in freundschaftliche Gespräche vertieft war, kam stets der eine oder der andere auf den Frack zu sprechen, und das Resultat war, daß der Professor ihn dem einen oder dem anderen für eine Nacht gern leihen wollte, um ihm den Besuch eines Balles, einer Redoute zu ermöglichen; er selbst ging ja ohnehin nicht zu Tanzfesten.
Der Frack verband das Dutzend gute Freunde mit dem Gymnasiallehrer so fest wie das innigste Freundschaftsband. Ueber den ganzen Fasching. Dann, in den Wochen darauf, bleib einer nach dem anderen aus dem Stammcafé weg. Der Professor vereinsamte mehr und mehr und schließlich stand, beziehungsweise saß er wieder ganz allein an seinem Tischchen.
Man zeigte sich ihn, wenn von der Freundschaft die Rede war. Ein Opfer. Ein Zeuge für den Eigennutz und alle sonstigen Schlechtigkeiten der Menschen.
Seit kurzen jedoch beginnen sich die ehemaligen Genossen der unregelmäßigen Verba wieder einzufinden. Einer nach dem anderen. Am Tisch des Professors sitzen bereits wieder sechs. Und jeder findet ihn ungemein sympathisch und nennt es eine Tücke des Schicksals, daß man so lange auf das Vergnügen verzichten mußte, mit ihm zu verkehren.
Der Gymnasialprofessor ist aber jetzt wirklich freundlich. Er läßt alle in ihm schlummernden geselligen Künste wach werden, um seine Runde zu unterhalten. Selbst auf das Gespräch über die unregelmäßigen Verba hat er verzichtet, um das Freundschaftsband von einst – über das bisher taktvoll jede Bemerkung vermieden worden ist – durch seine inneren Werte zu ersetzen. Denn den Frack – o über den Augenblick, da es herauskommen wird! – den Frack trägt sein drei Vierteljahren der Oberkellner. Derselbe, der die neue Freundschaftsrunde bedient.
Causa X.
Zu einem der ersten Wiener Rechtsanwälte kam ein Mann, einen Rechtsfall vorzutragen. Er versicherte den Advokaten seines besonderen Vertrauens, da man ihn ihm sehr warm empfohlen hätte. Daraufhin erzählte er den Fall.
Es war eine verworrene Erbschaftsgeschichte. Der Großvater hatte, so berichtete der Klient, zweimal geheiratet, und da hätten sich dann seine Kinder aus erster Ehe mit den Kindern, welche die zweite Frau, eine Witwe, in die Ehe brachte, verheiratet. Von einem dieser beiden Paare sei er ein Sohn. Vor einem halben Hagre nun war der Großvater gestorben und hatte ein außerordentliches Vermögen hinterlassen. Es stritten sich jetzt die verwickelten Verwandtschaftsverhältnisse um das Recht des Anteils, um das teilweise auch testamentarisch verteilte Vermögen herum.
Der Rechtsanwalt notierte die Daten. Er fragte mancherlei, denn es war mancherlei nicht gleich klar und dem Klienten schien die Angelegenheit sehr zu Herzen zu gehen, so nervös war er. Es schien ihm die Information reichlich lang zu dauern.
Aber endlich erklärte sich der Advokat, der ja, wie gesagt, eine Leuchte in seinem Fach war, hinlänglich informiert und er zweifelte scheinbar auch nicht daran, daß der Sohn der Tochter und des Stiefsohnes seiner Großmutter sowie des Sohnes und der Stieftochter seines Großvaters ein durchaus berechtigter Erbe sei.
Der Klient legte die geforderten Dokumente vor und unterschrieb die Vollmacht. Dann reichte er dem Rechtsanwalt als Vorschuß auf die Expensennote dreißigtausend Kronen, ohne Widerrede, ja geradezu mit Zuvorkommenheit.
Hierauf ging er.
Er hatte eine noble Art, die Tür zu schließen. Beinahe unhörbar. Ein feiner Mensch!
Der Rechtsanwalt schrieb sofort die nötigen Briefe. Das Diktat dauerte allerdings viel länger als fünf Minuten. Der Doktor mußte nämlich zu Gericht. Er hatte es eilig. Und überdies ärgerte es ihn, daß er von dem so überaus bereitwilligen Klienten nur dreißigtausend Kronen Vorschuß verlangt hatte. Noch mehr ärgerte er sich jedoch, als er im Vorzimmer seinen kostbaren Stadtpelz nicht fand.
Fort war er. Gestohlen. Von dem überaus bereitwilligen Klienten. Der sich den Spaß mit dem Pelz, der zweieinhalb Millionen wert war, bereitwilligst dreißigtausend Kronen hatte kosten lassen.
In: Neues Wiener Journal, 08.01.1922, S. 4.
Ludwig Hirschfeld: Das Wiener Leben ein Fiebertraum. Eine Influenzaphantasie (1921)
Ludwig Hirschfeld: Das Wiener Leben ein Fiebertraum. Eine Influenzaphantasie
Ab und zu ein bißchen krank sein, das ist heute der Gesundheit sehr zuträglich. Miserabel fühlt man sich jetzt doch nur, solange man gesund ist, seinen Mitmenschen, den behördlichen Einfällen, dem Telephon, den Preisen und Tagesereignissen hilflos ausgeliefert. Im Moment, wo man sich aus diesem überreizten und stark überzahlten Wiener Leben zurückzieht ins Privatleben eines Krankenzimmers, wird das alles sofort ganz belanglos. Wenn man dann hustend und in nasse Wickel eingepackt im Bett liegt, fühlt man sich wohl und geborgen, und wenn der Hausarzt sagt: „Sie müssen mindestens acht Tage liegen,“ da hat man nach langer Zeit wieder einmal das herrliche Gefühl: Es kann dir nix g’scheh’n.
Darum war ich auch hocherfreut, als sich zur rechten Zeit eine kleine Influenza einstellte, gerade als ich vor allerlei lang hinausgeschobenen schweren Entschlüssen stand: einen Stoff für einen neuen Frühjahrsanzug aussuchen, das Einkommen für das Steuerbekenntnis zuschneiden, die Sommeraufenthaltsrechnung ohne den Wirt machen, zum Entzweiungsrendezvous und zum Zahnarzt gehen. Diese ganzen Frühjahrssorgen sind eines schönen, fiebernden Morgens vertagt und erledigt, wo einen der Hausarzt mit Influenza ins Bett schickt. Aber es war diesmal nicht das Richtige. Es hat die apathische Stimmung gefehlt, die sonst ein Krankenzimmer behaglich erfüllt. Wie überflüssige und lästige Krankenbesuche haben sich die Wiener Tagesereignisse und Neuigkeiten hereingedrängt, mich behelligt und irritiert. Wie das jetzt schon so ist, bringt jeder ein Stück Tagessorgen von draußen herein. Der Hausarzt konstatiert besorgt, daß mein Puls lebhaft und die Börse matt ist, die Bedienerin und die zur Aushilfspflege herangezogene Hausbesorgerin laben mich mit den letzten Teuerungen. Außerdem blättere ich zwischen zwei Schwitzkuren die Zeitungen durch und weiß zum Schluß nicht mehr genau, was ich eigentlich gehört und gelesen habe. Es scheint gerade jetzt enorm viel vorzugehen, Reformen und Neuerungen von umstürzender lokaler Bedeutung. Oder kommt es nur mir in meinem konfusen Fieberzustand so vor? Träume ich, oder habe ich, ohne es zu wollen, eine expressionistische Komödie des heutigen Wiener Lebens verfaßt? Soweit ich mich noch erinnern kann, sind darin folgende Personen vorgekommen:
Das sind die handelnden Personen der Fieberkomödie, die als zeitgemäße Figuren natürlich nicht mit sich handeln lassen, sondern auf ihren Forderungen unerbittlich bestehen. Der passive Held ist der Patient, womit natürlich nicht gerade ich gemeint bin, sondern der Wiener im allgemeinen und der Mittelständler im besonderen.
Die erste Szene spielt sich zwischen dem Patienten und dem Hausarzt ab, der eben von einem Riesenthermometer die Temperatur abliest: „140 Grad.“ – „Um Gotteswillen, Herr Doktor, das ist doch nicht möglich. Sie meinen wohl 40 Grad.“ – „Das war einmal im Frieden. Wo alles so stark gestiegen ist, sollen gerade die Fiebertemperaturen nicht gestiegen sein?“ – „Werde ich da überhaupt davonkommen?“ – „Ausgeschlossen. Schon deshalb nicht, weil Sie ein unbescholtener, korrekter Oesterreicher sind. Ja, wenn Sie ein ausländischer Valutenschieber wären, da würden Sie bestimmt davonkommen. . . . Gurgeln Sie fleißig und kaufen Sie sich Juli-Süd. Zum Schwitzen brauche ich Ihnen nichts zu verordnen. Lesen Sie nur die letzten Nachträge zur Personaleinkommenssteuernovelle. Das genügt.“
Er läßt mich richtig allein mit meinen Steuersorgen. Weiß Gott, wieviel Fatierungstermine ich da im Bett versäume. Der Angstschweiß bricht aus. Kann mir denn niemand raten und helfen. . . . Aus dem Dunkel der Ofenecke löst sich eine sonderbare Gestalt ab: ein uralter Mann, kahlköpfig, mit einem langen, grauen Bart und in einem wallenden Mantel gehüllt, der mit lauter Paragraphenzeichen und Verordnungszahlen gemustert ist. „Wer sind Sie denn? – „Ich bin der, der die letzten Steuervorschriften versteht.“ – „Dann sind Sie kein irdisches Wesen und zur Erteilung von Steuerauskünften nicht konzessioniert.“ Unbekümmert zieht er aus seinem Mantel endlose Bogen von hoffnungslos gelbgrauem Amtspapier hervor und murmelt dabei: „Gesetz vom soundsovielten, Novelle, Nachtragsverordnung, Durchführungsbestimmung.“ Und dabei beginnt er, mich in die Bogen einzupacken wie in einen Stammumschlag. „Um Gotteswillen, lassen Sie mich doch zuerst lesen. Ich muß ja bis 15. Mai fatieren. Er schüttelt den kahlen Kopf: „Alles längst veraltet. Bis Sie gesund sind, gilt das nicht mehr. Das hat alles nur den Zweck, Ihnen warm zu machen.“ Und er wickelt mich immer weiter ein, bis ich mich gar nicht mehr wie ein Mensch fühle, sondern wie ein papiergewordenes Steuersubjekt, und läßt mich hilflos liegen.
Matt und gebrochen erwache ich aus meinem Angsttraum und sehe die Hausbesorgerin an meinem Bett stehen und neben ihr einen verdächtigen Burschen. „Was bringen S’denn, Frau Schebesta?“ Wie einen Dolch zieht sie aus ihrem Busen einen Haustorschlüssel hervor und reicht ihn mir. „Was soll ich denn damit?“ – „Das Sperrsechserl ist abgeschafft worden. Sie kriegen Ihren eigenen Schlüssel und können nach Haus’ kommen wann und mit wem Sie wollen. Es geht mich leider nichts mehr an.“ Ist die Welt aus den Fugen oder bin ich wirklich ernstlich krank. . . . „Und wer ist denn der Herr?“ – „Bitt’ schön, das ist unser ständiger Einbrecher. Jetzt, wo sich jeder hergelaufene Kerl einen Haustorschlüssel verschaffen und einbrechen kann, kriegt jedes Haus seinen Einbrecher zugewiesen, damit eine Ordnung ist. Und bitt’ schön, dann möchte ich auch gleich vom Reinigungsgeld reden. Es wird jetzt nach der neuen Vorschrift ganz anders berechnet: die Zahl der Fenster plus der Zahl der Stufen zur Wohnung mal Regentage und schmutzige Füss’. . . .“
Bevor ich der sinnreichen Rechnung noch folgen kann, läutet es draußen heftig. Der Gaskassier tritt ein, sonst sehr liebenswürdiger Herr, heute sieht er streng und drohend drein: „Ich erteile Ihnen einen amtlichen Verweis. Sie haben im abgelaufenen Monat bloß 29 Kubikmeter Gas verbraucht.“ – „Mehr zu verbrauchen, war doch streng verboten?“ – „Natürlich, aber geduldet war es längst. Haben Sie das nicht bemerkt? Und Sie wollen ein echter Wiener sein? Schämen Sie sich nicht? Daß Sie mir von nun an mehr Gas verbrauchen. Baden und waschen Sie sich so viel Sie wollen. Nur keine Schmutzerei. Das Sparen hat aufgehört, wo die Kohle ohnehin so teuer ist.“ Und dann verwandelt er sich in seinen Kollegen, den Elektrizitätskassier: „Warum brennen Sie denn so eine lumpige Sechzehnerlampe? Verwenden Sie Fünfziger oder meinetwegen Bogenlampen, wie sie jetzt in allen Straßen eingeführt werden. Wir brauchen ein Elend bei festlicher Beleuchtung. Die Welt soll sehen, wie schlecht es uns geht.“ Und plötzlich verwandelt er sich wieder, diesmal in einen kommunalen Würdenträger. Ich weiß nicht, wer er ist, aber er sieht sehr wohlgenährt und gesinnungstüchtig aus. Er hält mir ein Päckchen Straßenbahnfahrscheine unter die Nase: „6 Kronen 50 Heller im Vorverkauf. Nicht der Mühe wert. 7 Kronen ist doch auch kein Geld. Wem kommt es heute auf 2 Kronen mehr an? Wenn Sie sich dazu noch eine Reiseunfallversicherung kaufen, können Sie nach zwei bis drei Straßenbahnfahrten ein reicher Mann sein. . . . Nächstens werden Sie vielleicht schon um 20 Kronen bis Mitternacht fahren können. Dann können Sie auch bis 1 Uhr im Gasthaus sitzen, bis 2 Uhr im Kaffeehaus. Das Nachtleben muß wieder amtlich eingeführt werden, das Wiener Leben bei Tag heißt ohnehin nichts. Bisher hat die Gemeinde ihren Bürgern bloß Sorgen gemacht, jetzt wird sie ihnen auch schlaflose Nächte bereiten. . . .“
Nein, diese wüsten Gesichte halte ich nicht länger aus. Wie komm’ denn ich mit meiner Influenza dazu, die Gemeindefinanzen in Ordnung zu bringen? Wo ich ohnehin schon ganz verschmachtet bin. Jetzt wär’ eine kleine Erfrischung gut, am besten eine Orange. . . . Kaum gedacht, ist schon eine Hand da und darunter eine Orange, bereits geschält und zerteilt. Die Hand ist nicht sehr sauber, aber die guten Sachen kriegt man ha immer nur unter solchen Händen. Ich kenne sie gut, es ist die Hand meines Schleichhändlers, er selbst bleibt wie immer rätselhaft dunkel und unsichtbar und sagt verlockend: „Die Spalte 20 Kronen.“ Eine Spalte kann ich mir schon leisten. Ah, das tut wohl . . . noch eine. „Dreißig Kronen.“ Die nächste 40 und jede mehr als die vorherige. „Was ist denn das für eine Orange?“ – „Das ist überhaupt keine Orange. Das ist der Preisabbau, mit dem die Regierung jetzt das Gremium der Schleichhändler betraut hat. . . . Wenn der Herr vielleicht Würfelzucker braucht – oder ägyptische Zigaretten, garantiert von Derbysiegern. . . . Das Stück 5 ungarische Kronen, andere nehm’ ich nicht. . . .“ Und dann wird es dunkel, ich weiß nicht mehr, was Valuta ist und habe offenbar das Bewußtsein vollständig verloren. . . .
Nach endlosem Schlaf erwache ich spät am Vormittag, matt und zerschlagen, aber fieberfrei. Gott sei Dank, alles war nur wüster Fieberspuk, nur böser Traum und sinnloses Delirium. Der Hausarzt kommt, ist sehr zufrieden mit mir und sagt: „Zwei, drei Tage bleiben Sie noch vorsichtshalber zu Hause. Dann dürfen Sie ausgehen. Ich kann Sie schon heute gesund entlassen.“ Langsam begehe ich meine Auferstehung, zögernd kehre ich wieder ins tägliche Leben zurück, zu den Bekannten, zum Telephon, zum Beruf, in die Straßen und zu den Tagesneuigkeiten. Aber ist denn das . . . ich bin doch fieberfrei . . . alles ist ja genau so, wie ich’s geträumt habe. Was ich für wüste Fieberphantasien gehalten habe, ist wüste Wiener Wirklichkeit, wie sie sich in den letzten Wochen zusammengedrängt hat. Es lohnt sich jetzt wirklich nicht, krank zu sein und Fieber zu haben in einer Zeit, wo die Wirklichkeit alle Fieberphantasien an Konfusion und Unwahrscheinlichkeit überbietet. Und ich habe mich schon lang nicht so miserabel gefühlt, wie an dem Tag, wo ich wieder gesund ins Wiener Leben entlassen wurde.
In: Neue Freie Presse, 24.04.1921, S. 10-11.
Klara Mautner: Bildergalerie der Straße (1921)
Klara Mautner: Bildergalerie der Straße
Man spricht sehr viel von Wiener Plakatkunst. Nicht jedem ist es gegeben, die künstlerischen und technischen Werte würdigen zu können, die sie bietet. Aber jeder Mensch mit klarem Blick und gesundem Urteil ist imstande, den moralischen Qualitäten der Plakate, die jetzt unsere Straßen säumen, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Man hastet nur zumeist rasch daran vorüber und nimmt sich nicht die Zeit zu näherer Betrachtung. Das heißt: wir Erwachsenen nehmen sie uns nicht. Die Heranwachsenden, die Schuljugend hat Muße genug, dazu und versäumt es gewiß nicht, die Bildergalerie der Straße liebevoll und sorgsam zu studieren und sich alle die Gemeinheit, Lüsternheit, deutlicher oder minder deutlich vertretene Erotik gründlich zu Gemüte zu führen. An Gelegenheit fehlt es wahrhaftig nicht. Da ist ein Pärchen in engster, absichtlich ungeschickter Tanzverschlingung zu sehen, dort fuchtelt ein ziemlich unbekleidetes Frauenwesen mit den Beinen in der Luft herum, hier streichelt eine Schöne ein Miniaturmännchen auf ihrem Schoß, auf jedem Ballplakat halten Männlein und Weiblein einander eng umschlungen und die Männer haben einen Ausdruck im Gesicht, daß man sich zu einer Ohrfeige veranlaßt fühlte. Natürlich können auch die Kinos in diesem Wettbewerb nicht zurückbleiben, das ist von vornherein einzusehen. Sie tragen ihr redliches Teil dazu bei, die Straßenausstellung für Halbwüchsige anziehend und lehrreich zu gestalten. Daß manche dieser Plakate flott gezeichnet, witzig und elegant sind, soll nicht geleugnet werden. Aber diese künstlerische Qualität (die übrigens beileibe nicht alle auszeichnet), kann mit der Tatsache nicht versöhnen, daß sauber empfindende Frauen – es gibt ja auch das noch in Wien – die Mehrzahl der angebrachten Plakate nicht näher ansehen können, ohne vor Scham und Zorn rot zu werden. Man muß ja durchaus kein Mucker sein, um an den verschiedenen Plakaten für Bälle, Vergnügungsetablissements usw. Anstoß zu nehmen. Dabei kann man dieser Schaustellung auf keine Art entgehen und es gibt auch kein Mittel, Kinder und Halbwüchsige von ihr fernzuhalten.
Welchen Eindruck es auf die Fremden machen mag, in einer Stadt, die in der ganzen Welt für ihre Hungernden gebettelt hat und weiter bettelt, alle Bretterwände mit Darstellungen wüstesten Lebensgenusses beklebt zu sehen, in der „sterbenden Stadt“ Plakate zu finden, deren sich keine Matrosenkneipe und kein Bordell zu schämen hätte, läßt sich leicht vorstellen. Was hilft es, wenn man noch so nachdrücklich darauf hinweist, daß die arbeitende Bevölkerung Wiens neben dem fidelen Schieberpack im bittersten Elend lebt. – die bunten Bilder sprechen gegen uns. Sie zeugen uns, weil wir sie dulden, weil wir aus Trägheit, Achtlosigkeit, Stumpfheit, diesem offenkundigen Unfug nicht entgegentreten. Die hohe Obrigkeit aber, sorgsame Hüterin unserer Sittsamkeit, die vor keinem Mittel zurückschreckt, eine bedenkliche Theatervorstellung, die zu besuchen wahrhaftig niemand gezwungen ist, findet es ganz selbstverständlich, daß sich an allen Straßenecken schamlose Gemeinheit breitmacht.
In: Wiener Morgenzeitung, 13.03.1921, S. 8.
Klara Mautner: Die den Hungertod sterben. Ein Blick in ein Elendsheim (1921)
Klara Mautner: Die den Hungertod sterben. Ein Blick in ein Elendsheim
In einem Kaffeehaus am Schottenring hat gestern ein Börsenbesucher im Ecartéspiel in der Zeit von sieben bis neun Uhr abends 700.000 Kronen verloren. Sein Nachbar hat im Laufe der letzten acht Tage an Julisüd-Aktien etwa zwei Millionen Kronen eingebüßt. Der dritte Partner, der sich an der Konterminespekulation mit Julisüd beteiligt hat, hat ein Sümmchen von etwa sieben Millionen Kronen eingesteckt.
Im Hause Straußgasse 15, dem Heime der Altershilfe sind im letzten Jahre vier Personen im Alter von 80 bis 95 Jahren nach akquirierter Knochenerweichung wirklich und buchstäblich den Hungertod gestorben. Und das kam so:
Es ist wie gesagt das Heim der Altershilfe. Ein altes 80jähriges Fräulein, die vergangene Weihnachten in aller Stille und Diskretion den Abschied vom irdischen Dasein genommen hat.
Sie war die Tochter eines Kaufmannes, stand seit einem Menschenalter allein in der Welt und lebte von den Zinsen eines Vermögens, das uns jetzt winzig erscheint, früher aber ganz ansehnlich war. Lebte recht behaglich und legte namentlich auf bescheidene Tafelfreuden, ein Gläschen „Damenlikör“, ein bißchen feines Backwerk und ihren dreimal heiligen Jausenkaffee viel Gewicht. „Essen und Zeitunglesen“ pflegte sie zu sagen, „das sind ja die einzigen Freuden für uns alle.“ Als der Krieg begann, wurde ihr die Zeitung verleidet. Und schon im zweiten Kriegsjahr mußte sie ihr Kapital angreifen. Dann ging es reißend weiter. Beim Kriegsende war vom Besitz des alten Fräuleins nicht mehr viel übrig. Nun begann das Verkaufen. Mit den feinen Bissen war es natürlich vorbei, aber für etwa zwei Jahre reichte es doch. Dann legte sich die alte Dame hin und starb an der „Wiener Krankheit“, wie der Arzt voll Bitterkeit sagte, am Hunger. Die alte Frau, die sie früher „bedient“ hatte und die auch jetzt noch manchesmal nach ihr sah, die sagte nachher, sie hätte wohl acht Tage lang nichts mehr zu essen gehabt. War sie auch achtzig und der Knochenmann in keinem Fall gar weit – Hungers sterben ist ein harter Tod.
Andere sind noch nicht so weit. Da ist ein alter Rentner. Welche Vorstellung behaglicher Altersfreuden schließt das Wort nicht in sich! Sie hatten auch ein Menschenleben lang auf die Verheißung hin gespart und gedarbt, gerechnet und entbehrt, die beiden Leutchen. Durch 35 Jahre war der Mann Tag um Tag in die Fabrik gegangen – er war Maschinenbauer – durch 35 Jahre hatte die Frau den Ankauf jedes Bandes und jedes Dekagramm Butter sorgsam dreimal überlegt. Dann hatten sie so viel beisammen, daß sie eine Leibrente von 250 Kronen im Monat kaufen konnten. Für bescheidene Menschen bedeutete das wenn nicht Überfluß, so doch Behagen, Sorgenlosigkeit. Nun müssen die beiden Leute mit diesem Bettel ihr Auslangen finden. Der Mann hat eine schwere Operation hinter sich und ist völlig erwerbsunfähig, die Frau steht in hilfloser Verzweiflung den ins unbegreifliche verzerrten Verhältnissen gegenüber. Sie war immer eine Meisterin der echten Wiener Hausfrauenkunst, des „Einteilens“. Aber hier versagt auch diese Meisterschaft. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, bei diesen Einnahmen auch nur die rationierten Lebensmittel zu kaufen und daß ein Ding der Unmöglichkeit ist, mit diesen rationierten Lebensmitteln satt zu werden, muß wohl nicht erst bewiesen werden. Aber wo steht es denn auch geschrieben, daß zwei Arbeitsveteranen satt werden müssen?
Für ein altes Fräulein, Tochter eines hohen Staatsbeamten, gesellt sich zum Hunger noch ein weiteres schwieriges Problem. Sie hat bisher trotz ihre 69 Jahre bei Bekannten im Haushalt wacker mitgearbeitet. Nun brauchen die eine jüngere Hilfskraft und die kleine zarte Alte wird nächste Woche obdachlos sein. Von der staatlichen „Gnadengabe“ von 127 Kronen im Monat kann sie die Kosten einer Wohnungsschieberei nicht bezahlen. […]
In: Der Morgen. Wiener Montagblatt, 23.5.1921, S. 3.
Klara Mautner: Beim Wäscheflicken (1921)
Klara Mautner: Beim Wäscheflicken
Offen gesagt, habe ich niemals zu jenen Patenthausfrauen gehört, die nach einem einzigen Blick auf ein schadhaftes Taschentuch mit unfehlbarer Sicherheit sagen konnten, ob Stopfwolle 120 oder 116t/s das richtige Heilmittel sei und die beim Einsetzen von Flecken „Fäden zogen“, um die Naht nur ja gerade herauszubringen. Aber wenn mir auch die stürmische Begeisterung fehlte, so war das Flicken in der guten alten Zeit doch auch nicht jene kunstlose Beschäftigung, zu der es jetzt geworden ist.
Schon die Einleitung zur Arbeit ist niederdrückend. Man stellt beim Bügeln der Wäsche mit stiller Befriedigung fest, daß so ziemlich alle Flecken, die man das vorige Mal eingesetzt hat, wieder zerrissen sind. Es gibt zwar reizende Abwechslung dabei. Bei dem einen Wäschestück ist im Fleck selbst ein mächtiger Riß (kein Wunder, war doch besagter Flecke ein alter Hemdärmel), bei dem anderen befindet sich der mächtige Riß nicht nebenan. Eine gewisse sanfte Prüfung des Herrenhemdes ergibt, daß es noch „fast tadellos“ ist. Wenn ich den Rücken einsetzen, die Brust erneuern und den oberen sowie unteren Teil der Aermel frisch geben werden, wozu dann selbstverständlich eine Kragenleiste gehört, so ist es gar nicht ausgeschlossen, daß mein Mann das Prachtstück zwei Tage tragen kann, ohne daß seine Ellbogen fürwitzig ans Licht drängen oder sein Rücken die nähere Bekanntschaft des Rockfutters macht. Ein Ziel, des Schweißes Edlen wert. Also an die Arbeit. Der Fleckerlbinkel, Schatz jeder Hausfrau, trete in die Arena.
Der Fleckerlbinkel erscheint. Er ist ein Schatten seiner selbst geworden, mager wie ein Kopfarbeiter, ausgeplündert wie die Wiener Kunstsammlungen. Ich wühle in dem rot-weiß gestreiften Polsterüberzug, der selbst eine wehmütige Erinnerung bedeutet, ist er doch der letzte von dem Dutzend der Ueberzüge fürs „Mädchenbett“. Er hatte elf leuchtende Schwestern – sie sind effektvolle Sommerkleider und ein Pyama geworden. Jetzt sind sie verschwunden wie die Hausgehilfin selbst und nur jene stolze Säule blieb. Der Inhalt des Fleckerlbinkels ist in ähnlichem Verhältnis zusammengeschmolzen. Außer ein paar Resten von Wiener Werkstättenkreton, etlichen bunt geblumten Bändern, einem Stück giftgrünen Satins und einer grün-gelb gestreiften Waschseide sind nur winzige Fleckchen der verschiedensten Kleidungsstücke vorhanden. An größeren Flecken gibt es sonst nur noch ausrangierte Wäschestücke, von denen der eine oder der andere Teil noch verwendbar ist. Man nimmt also aus einem Polsterüberzug ein Stück zum Hemdenflicken oder man setzt vom „Stock“ eines Hemdes einen „Spiegel“ ein. Beides ist ganz gleich aussichtsreich – es hält drei Tage. Und nun gar das Stopfen von Taschentüchern, Geschirrtüchern, die nichts als ein einziger Riß sind und nach Pensionierung schreien wie ein Hofrat mit vierzig Dienstjahren! Man weiß wahrhaftig nicht, wo man anfangen soll zu flicken, zu stopfen, zu bessern, denn eigentlich sollte sich von Rechts wegen der Fleck über das ganze Tuch erstrecken.
Aber es ist auch ganz gleichgültig, wo man anfängt; aus der nächsten Wäsche kommt das Stück ja doch wieder als Invalide. Um so mehr als der Zwirn, den man jetzt um teures Geld kauft, einfach den Anforderungen der Zeit nicht gewachsen ist und jede zweite Naht aufreißt. Knöpfe, die man sorgsam annäht, hüpfen graziös davon, und zwischen Wäschebändchen und dem Zwirn, der sie festhält, herrscht ein edler Wettstreit: Wer der erste sein soll, den Dienst zu kündigen.
Das aber macht das Wäscheflicken zu einer so trostlosen Beschäftigung, das läßt jede Arbeit zur Heilung der Wäscheschäden als übelste Zeitverschwendung erscheinen. Denn was hilft’s, daß ich die Löcher in den Socken mit „Strickstopf“ kunstgerecht und mühsam ausbessere. Morgen bringt sie mir mein Mann ja doch mit diesem anklagenden Blick und macht mit den Zehen „Bewegung in freier Luft“. Das ist vielleicht für die Zehen sehr erfreulich, für mich aber nicht, denn es bedeutet, daß die neue, sündhaft teure Stopfwolle auch nur eine schöne Illusion und – Papier ist.
Und wenn ich so zwischen den Wäscheinvaliden sitze, bald dieses bald jenes unentbehrliche Stück in die Hand nehme, mich aber doch nicht zum Flicken entschließen kann, weil ich die Aussichtslosigkeit des Beginnens erkenne, dann überkommt mich das heiße Verlangen, meine gesamte Wäsche zusammenzupacken und – in den Fleckerlpack zu schieben. Denn dort gehört sie von Rechts wegen hin.
In: Neues Wiener Journal, 27.08.1921, S. 13.
Max Winter: Fremdenführung (1921)
Max Winter: Fremdenführung
Das Ausland wird nicht müde, Wiens Elendsbilder zu schauen. Woche um Woche neue Gäste, die meist aus ernster sozialer Anteilnahme heraus oder wenigstens beseelt von Mitleid und Hilfswillen kommen, um sich durch Augenschein zu überzeugen, wie es bei uns geht oder daß es oft schon nicht mehr geht. Aerzte, Politiker, Schriftsteller, Frauen, Gemeindeverwalter sind es, die zu uns kommen. Bei solchen Wanderungen macht auch der Führer mancherlei Erfahrungen. Immer wieder in das Elend hineinleuchten, es immer wieder sehen – das schärft das Gewissen und läßt einen nicht verzagen, wenn man manchmal auch von Kleinmut gepackt wird, daß es so gar nicht vorwärts gehen will. Es sind schreckliche Bilder, die es da oft zu schauen gibt.
*
Ein Besuch im „Erbsienhaus“. Das Haus „zum Bienenstock“ in der Schimmelgasse ist noch immer so, wie es vor zehn, wie es vor fünfzehn, vor fünfundzwanzig Jahren war. Immer noch dieselben Menschenkerker vom Parterre durch vier Stockwerke bis unter das Dach. Tür an Tür! Und hinter jeder eine einfenstrige Kammer und jede dieser Kammern die Wohnung für eine Familie. Im Volksmund heißt es „Erbsienhaus“. Dahin begehrte unlängst ein englischer Lord geführt zu werden. Alles, was er vorher an Elend im Lichtental gesehen hatte, fand seine – Anerkennung. Alles erschien ihm so rein. Kein Vergleich mit den Londoner „Slums“, wie die Wohnhöhlen in London-Ost heißen. Nur in die letzte Lichtentaler Behausung war er mit Widerstreben eingetreten, in dieses eine Zimmer, das Koch-, Schlaf-, Speise- und Krankenraum einer siebenköpfigen Familie zugleich ist. Aber außer dem leichten Widerstreben, hier einzutreten, hatte nichts eine stärkere Anteilnahme verraten. Der Lord hatte im englischen Oberhause vordem eine Rede zu Gunsten Wiens gehalten und England aufgerufen, die Bundeshauptstadt Oesterreichs nicht im Stiche zu lassen. Nun wollte er sein Gewissen beruhigen, ob er nicht zu viel über Oesterreichs Elend gesagt hatte. Darauf war wohl seine Zurückhaltung zurückzuführen. „Das alles ist nichts, was wir nicht auch in London hätten.“ Aus seinen Mienen war es auch nun zu lesen, als er aus dieser Wohnung trat, daß er insgeheim so dachte. Fast wäre man versucht gewesen, sich zu entschuldigen, daß das Wiener Elend „nur“ diese Formen zeigt. Da raunte einem aber der Geist böser Erinnerung das Wörtchen: „Erbsienhaus“ zu. In einer Viertelstunde hält der Kraftwagen an der Ecke der Schimmelgasse und der Landstraßer Hauptstraße. Zu rechter Hand im Parterre des Hauses Nr. 17 – eben des Hauses „zum Bienenstock“ – ist Wohnung an Wohnung, völlig licht- und luftlos. Das darum, weil das einzige Fenster jeder dieser Wohnkerkerzellen in einen anderthalb Meter breiten Luftschacht mündet, der das „Erbsienhaus“ von dem Nachbarhaus trennt. Wir klopfen von Tür zu Tür, bis wir ein „Herein“ hören. Dort treten wir ein. „Wir“ ist eigentlich zuviel gesagt. Da der englische Lord diese Wohnhöhle sieht, scheut er sich, einzutreten, und tritt an die Wand des Ganges zurück. Die Kutschersfrau hat gerade Besuch. Eine Alte ist bei ihr und bestätigt jedes Wort der Schwergeplagten, die hier haust. An der linken Wand stehen hintereinander zwei Betten. In jedem liegt ein stöhnendes, fieberndes Kind. Vor den Betten ein Kinderwagen. In diesem das dritte Kind, das jüngste, das Brustkind der braven Mutter. „So lange ich es an der Brust habe, lebt es. Setze ich es ab, wird es mir krank werden und sterben wie die anderen zwei.“ So hatte es die Frau vor einiger Zeit einem anderen Besuche erzählt. Der Tatbestand von heute gibt ihr recht. Die zwei ältesten Kinder sind in dieser Wohnung gestorben. Die zwei nächsten liegen schon fiebernd dahin – nur das fünfte, das Brustkind, ist noch gesund. „In dieser Wohnung ist kein Kind davonzubringen.“ Der Lord hört die furchtbare Anklage. Er ist unruhig und drängt. „Wollen Sie noch andere Wohnungen sehen?“ – „Nein!“ Er drängt an die Luft, auf die Gasse. Mit Mühe ist er noch zu bewegen, einen Blick in den Rattenhof zu werfen, in dessen äußerster Ecke der einzige Hochquellenauslauf für die 216 Wohnungen ist, die in diesem Hause untergebracht sind. Ihm die Aborte zu zeigen – je 25 bis 30 Menschen müssen einen benützen – dazu ist er nicht zu bringen. Nur hinaus! Hinaus! Erst in einiger Entfernung vom Hause bleibt der Gast stehen und fragt: „Ist in diesem Hause nicht Typhus?“
Jetzt konnte man hoffen, daß der englische Freund das Gefühl hat, daß er im englischen Oberhause nicht zuviel gesagt hat, wenn er von einem außerordentlichen Elend Wiens gesprochen hatte.
*
Die Großmutter. Ein Schweizer Freund! Auch er wünscht Wiener Slums kennen zu lernen. Ganz anderswo bekommen wir so ein Stück Alt-Wien zu sehen. Erst klettern wir über fünf Stufen einer Eisentreppe, die auf die „Gasse“ mündet und klopfen an die Tür. Niemand meldet sich. Also wieder zurück und auf gut Glück anderswo angeklopft. Es ist nicht nötig. In dem engen Gäßchen sind die beiden Fremden längst bemerkt worden. Eine Tür öffnet sich und in ihrem Rahmen erscheint eine dicke Alte. „Können wir einen Blick in Ihre Wohnung machen?“ Es ist 6 Uhr abends. „Wann’s Ihna net schreck’n,“ sagte die Alte, „und a stinkets Wasser steht aa da in der Kuchl.“ Wir bücken uns, um durch die niedere Tür zu kommen. Eine schmale, ganz schmale Küche. Hinten, ganz hinten der Herd. Ganz im Dunkel. Zwischen der Tür und dem Herd laufen Wäscheleinen, an denen allerlei Gelump hängt. Ein übler Dunst erfüllt den Raum. Zur Linken führt eine Glastür in das Zimmer. Wir treten ein. Gekreisch und Mädelgelächter. Zwei junge Dinger sind in der Stube. Eine läuft zum Fenster. Schlimmste Unordnung. Ein Bett ist da und so etwas wie ein Sofa. Es können auch etliche Kisten sein, über die ein Strohsack geworfen ist. Das eine der Mädeln ist die Enkelin, das andere ein Bettmädel, ein „vazierendes“ Dienstmädchen. Der Schweizer versteht „vagierendes“ und fragt: „Vagabundierendes?“ Abwehrendes Gelächter der Mädchen. Gegenüber in der schmalen Gasse ist eine Kellerwohnung. Die Vorhänge an den Fenstern bewegen sich. Frauenneugierde. Die Enkelin erzählt, daß auch sie jetzt seit einer Woche aussetzen müsse. Sie arbeitet in einer Peitschenfabrik. 600 Kronen sei ihr Lohn. „Wie soll ich da leben? Nicht einmal Schuhe kann ich mir kaufen!“ – „Und da sitzen Sie den ganzen Tag hier? In dieser schlechten Luft?“ Der Schweizer ist ein Sonnenkind. Er kann es nicht begreifen, daß junge Menschenkinder hier ihr Leben zubringen sollen. „Hinaus in die Sonne, viel spazieren gehen!“ predigt er. Die beiden Mädeln lachen. „Allani haßt’s nix. Wir hab’n kann’ Verehrer nit und kane Schuah.“ Die Alte kramt in einem Küchenkastl, das alle ihre Heiligtümer enthält, und endlich zieht sie ein Bild hervor. Sie selber im Sonntagsstaat, zwei fesche Männer auf dem Bilde und ein jüngerer Buckliger. „So hab’n m’r vor’n Krieg ausg’schaut. Da san meine Söhne!“
„Welcher ist ihr Vater?“ Die Enkelin schweigt. „Ah, Sie sind das Kind einer Tochter der Frau . .“ – „Meine Mutter ist schon tot . . .“ sagt das Mädchen ausweichend.
Die Alte erzählt eine Geschichte, warum ihr Jüngster einen Höcker hat. Er ist als Kind aus dem Fenster gestürzt. Die beiden gradgliedrigen Söhne waren im Krieg. „So hab’n m’r vor’n Krieg ausg’schaut,“ wiederholt die Alte noch einmal. „Und so schau’n m’r heut aus! Den Fußboden hab’n m’r wegreißen müss’n, sonst hätt’n uns die Ratzen g’fressen. Jetzt leb’n m’r auf’n Lahm. Vor’n Krieg war’n a Massa Ratzen da, so was gibt’s in unsere Häuser heut gar net mehr. Dö san alle g’fressen worden.“ So räsoniert die Alte, dabei etwas übertreibend.
Als wir gehen, begleitet uns die „Enkelin“ noch auf die Gasse. Sie geht bis zum Brunnen. An den Füßen hat sie Tanzschuhe. Sie hatte drinnen sehr geklagt, daß sie ihre Schuhe seit vierzehn Tagen nicht vom Schuster holen könne, weil sie kein Geld habe. Einige Häuser weiter empfiehlt sich der Schweizer. Der Rückweg führt wieder an dem Gäßchen vorbei.
„Sie, Herr? Erlauben schon!“ Eine Frau gesellt sich zu. Die Neugierige von vorhin. „Sie war’n jetzt mit an’ andern Herrn bei dera Alten drin? Net wahr? . . .“ – „Ja, was weiter . . .“ – „Na, nix weiter, i man’ nur so, weg’n die Madeln . . .“ – „Was ist’s mit den Mädeln?“ – „Ganz rein is net. Man will nix sag’n, aber man kann sich doch schließlich aa net die Aug’n verbinden. So a schmale Gass’n sieht all’s. Von was leb’n s’ denn, die Madeln? Und dö Burschen, die jeden Abend kommen?!“ – „Burschen, in diese Wohnung, in dieses Rattenloch? Nein, das ist doch nicht möglich.“ – „Dran kann an sie aa nix sein, das laßt si denken. Wer da neingeht . . .“ Ein vielsagendes Achselschupfen. Vielleicht hat die Nachbarin recht. Auch die Wiener Slums, die Wiener Elendsherbergen, haben ihre Geheimnisse.
*
Strohdecken. In Favoriten, Absberggasse, mitten in der „Kreta“, stoßen wir in einer Kellerwohnung auf eine Uebergangsindustrie. Zwei Frauen und ein Mann verwandeln die großen Soldatenwachschuhe aus Stroh in Fußabstreifer. Die Schuhe trennen sie auf, die Abstreifer nähen sie zusammen. Sie erhalten für ein Stück 16 Kronen und 15 bis 18 Decken bringen die drei im Tag fertig. Von der bis zu Manneshöhe feuchten Wohnung bröckelt der Anwurf ab. In der Wohnung nebenan haust ein schon fast verzweifelnder Wehrmann. Seine zweieinhalbtausend Kronen Monatslohn können sein Kind, seine Frau und seine Mutter nicht vor dem schlimmsten Elend schützen. Das Kind ist ewig krank. „In dieser Wohnung kann es nicht anders sein,“ sagt der Wehrmann. „Mein Kind ist ein Opfer dieser Wohnung.“ Die Hausbesorgerin, die uns begleitet hat, verspricht, die erste freiwerdende bessere Wohnung im Hause dieser Familie zu geben. Die Kellerwohnung wird natürlich aber auch dann weitervergeben werden. Den Luxus, solche Mordwohnungen nicht weiterzuvermieten, kann sich Wien nicht leisten, das Wien nach dem so glorreich verlorenen letzten Habsburgerkrieg. Es sind Tausende, die in Wien in solchen entsetzlichen Wohnhöhlen zugrunde gehen – im Lichtental, im „Erbsienhaus“ und anderswo -, Tausende, und Wien ist dagegen machtlos oder doch so gut wie machtlos. Wenn die Fremden solchen Spuren folgen wollen, dann werden sie Bilder mit in ihre Heimat bringen, die sie nicht so bald vergessen werden. Bleiben sie nur auf der Ringstraße – dann wird man im Ausland bald erzählen: Wien ist schon wieder das alte!
In: Arbeiter Zeitung, 01.05.1921, S. 10.
Ludwig Hirschfeld: 10 Uhr vorbei. Zwei Kapitel aus einem Haustorschlüsselroman (1921)
Ludwig Hirschfeld: 10 Uhr vorbei. Zwei Kapitel aus einem Haustorschlüsselroman
Erstes Kapitel.
Es war im Jahre 1911, an einem jener milden Wiener Herbstabende, die meistens so unangenehm naßkalt sind. […]
Vorletztes Kapitel.
Seitdem waren zehn Jahre vergangen. Eine neue Zeitrechnung hatte begonnen, bei der niemand auf seine Rechnung kam. Auch das große Zinshaus in der kleinen Seitengasse hatte daran glauben müssen. Es sah jetzt verwahrlost aus, wie jemand, der einst bessere Tage und reinere Wäsche gesehen hat. Aber noch immer war Herr Dolleisch „Portiehr“ und Hausbesorger, freilich nicht mehr so mächtig und gefürchtet, weil ja dieser Zeit gar nichts mehr heilig war, nicht einmal der Hausmeister. Heute, am 1. November, stand ihm ein besonders demütigender Gang bevor. Er mußte die Parteien befragen, ob und in welchem Ausmaße sie von der Beteilung mit Haustorschlüsseln Gebrauch machen wollten. Herrn Dolleisch war dabei zumute, wie einem depossedierten Tyrannen, der zum Hohne selbst seinen Untergebenen die Mitteilung von seiner Entthronung machen muß. Er begann seinen Rundgang im ersten Stock bei den angesehensten Parteien des Hauses – also beim Herrn Hofrat und beim Privatier Obermayer? Nein, lieber Leser, was fällt dir ein. In diesem Kapitel schreiben wir ja schon 1921 und folglich wohnte in der Hofratswohnung seit Jahr und Tag Herr Powondra, der den Greisler längst überwunden hatte, nicht mehr mit Eßwaren, sondern mit Lebensmitteln handelte, natürlich waggonweise, loko, noch lieber transit. Mit einem tiefempfundenen „Küss’ die Hand“, brachte Herr Dolleisch seine Anfrage vor, worauf die gnädige Frau sofort fünf Haustorschlüssel bestellte, davon einen für Fräulein Fanny, die ehemalige Hofratsköchin, die sich mittlerweile zu einer selbstbewußten, großartig frisierten und heftig umworbenen Hausgehilfin entwickelt hatte. Den gleich großen Haustorschlüsselbedarf hatte die gegenüber wohnende Familie des Tailors Aujeszky, denn beide Familien kommen von Drahrereien oft spät nach Hause, natürlich im Auto. Und wie stand es mit Alfred, dem leichtsinnigen jungen Privatbeamten? „Mein lieber Herr Dolleisch,“ achselzuckte er trübe, „die Rendezvous haben sich längst aufgehört, das kann sich ein Privatangestellter nicht leisten. Die Anny hat jetzt einen Generaldirektor und die heutigen Mädeln gehen überhaupt nur mit Schiebern. Ich bin froh, wenn ich mir selber hie und da ein warmes Nachtmahl zahlen kann.“ Schließlich stieg Herr Dolleisch noch zum Hofrat Danzinger und zum Privatier Obermayer hinauf. Die Beiden waren in den letzten Jahren um die Werte heruntergekommen, bis in den vierten Stock hinauf. Bei beiden roch es im Vorzimmer minderbemittelt nach Kohl und Kraut, hingen schäbige Röcke und Hüte an der Wand, beide entschuldigten sich höflich bei Herrn Dolleisch, daß sie keinerlei Verwendung für eigene Haustorschlüssel hätten: „150 Kronen, das kann ich mir nicht leisten. Wir gehen ohnehin nach zehn nicht mehr aus. Zu Hause bleiben ist noch das billigste.“ Was Dolleisch später zu folgender Bemerkung seiner Gattin gegenüber veranlaßte: „Wann mir nur dö zwa Hungerleider schon draußd hätt’n. Der ausg’franzte Hofrat und der Obermayer, der nix hat wie seine paar Netsch, dö san direkt a Schand für a besseres Haus . . . .“ Den ersten Schlüssel erhielt Fräulein Fanny ausgefolgt, die sich in der nächsten Sonntagnacht von einem sehr feinen jungen Mann begleiten und von ihm das Haustor aufsperren ließ. Am anderen Tag konnte man in der Zeitung lesen: „Gestern haben sich wieder 45 Wohnungseinbrüche ereignet.“ (Fortsetzung folgt.)
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Was zwischen diesen beiden Kapiteln geschieht und wie der Roman ausgeht, davon hat der Verfasser keine Ahnung. Das Manuskript ist ihm nämlich glücklicherweise irgendwie abhanden gekommen, vielleicht auch gestohlen worden, denn er hat schon während des Schreibens den Eindruck gehabt: der Roman kann mir gestohlen werden. Der redliche Dieb wird dringen gebeten, das Manuskript, eine große Menge von gutem Papier, in der Banknotenpresse abzuliefern, denn mehr ist der Roman ohnehin nicht wert.
In: Neue Freie Presse, 06.11.1921, S. 10-11.
Max Winter: Es gibt keine Not mehr in Wien (1920)
Max Winter: Es gibt keine Not mehr in Wien
So oft man jetzt mit Ausländern in Berührung kommt, äußern sie die allerstärksten Zweifel darüber, daß die Not in Wien noch eine solche wäre, daß wir ihrer nicht aus eigener Kraft Herr werden könnten. „Es gibt keine Not mehr in Wien,“ kann man immer wieder von den Menschen hören, für die der enge Umkreis um die Hotels Bristol, Imperial und Astoria Wien bedeutet – „wenigstens keine Not,“ wie die Wohlwollendsten hinzufügen, „die nicht auch bei uns zu Hause sichtbar wäre“. Gewiß, London und Paris, Mailand und Bern, Amsterdam und Stockholm, Kopenhagen und Christiania haben auch ihre Erscheinungen der Not, aber können mit diesen aus dem Wirken der kapitalistischen Wirtschaftsordnung dort wie überall erfließenden Erscheinungen der Not die besonderen Erscheinungen gleich gewertet werden, die in Wien zu schauen sind? Der Kenner wird diese Frage verneinen und jeder sozial Einsichtige wird ihm recht geben, wenn er selbst die Dinge in der Nähe betrachtet. Wir brauchen nur vom „Bristol“ weg zehn Minuten Straßenbahnfahrt nach Favoriten zu machen und dort ein wenig Umschau zu halten und wir werden Bilder einer Not schauen, die unseren Tagen und unserer Stadt förmlich „eigentümlich“ ist, die sich als Wirkung der Hungerjahre darstellt, die keiner Stadt der Welt so andauernd und so hart auferlegt wurden wie gerade Wien. Die Behauptung einiger englischer Freunde, daß die Not in Wien nicht mehr so hart in Erscheinung trete, gab dieser Tage wieder Anlaß zu solch einer Elendsreise durch Wien.
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Die Mahlzeiten eines tuberkulösen Kindes.
Um den hilfsbereiten Freunden nicht „gestellte“ Bilder zu zeigen, gehen wir in den Tramwayhäusern in Favoriten in die Tuberkulösenfürsorgestelle und erbitten uns dort die Adressen einiger Arbeiterfamilien mit vielen oder wenigen Kindern. Dabei läuft uns ein Kind über den Weg, das wir auch gleich um seine Lebensumstände befragen können. Die Fürsorgeleiterin zeigt uns die Einrichtung der Fürsorgestelle. Zu ihr gehört auch eine „künstliche Höhensonne“, eine Quarzlampe, unter deren gelbem Licht gerade so eine Kleine sitzt, der die Strahlen eben die Drüsen wegzaubern. Einige Minuten später und die kleine Rosa kommt von dem Vorhang hervor, kleidet sich an und stößt dann zu uns, da sie die Fürsorgeleiterin ruft. Der Vater ist tot, die Mutter ist Wäscherin. Außer Hause und im Hause, je nachdem es sich trifft. Wieviel die Mutter verdient, weiß die blasse Kleine nicht; aber was die Mutter mit diesem Verdienst leisten kann, das weiß das nett gekleidete Kind. Am Morgen bekommt die Kleine schwarzen Kaffee und Brot. Malzkaffee natürlich. Milch gibt es keine für dieses tuberkulöse Kind. Das war doch im Frieden ein wenig anders. Da konnte jedes solche Kind Milch haben, so viel es nur vertrug. Vormittags gibt es ein Stück Brot.
„Und nichts dazu? Keine Butter, keine Marmelade?“ fragt der Wortführer der Engländer, ein Prediger der „Freien Kirche“, die Kleine. „Nein, nur Brot,“ lautet die Antwort der Kleinen. Mittags erhält die Kleine die „amerikanischer Ausspeisung“: Zehn Hektonem oder etwa ein Viertel dessen, was so ein stark unterernährtes, blutarmes Kind brauchen würde. Die Jause ist wie das Frühstück: Schwarzer Kaffee und Brot.
„Machst du dir die Jause selbst, wenn die Mutter auswärts ist?“ – „Nein, eine Nachbarin wärmt mit den Kaffee auf.“ – „Den macht also die Mutter in der Früh?“ – „Ja!“ – „Und was gibt es abends?“ – „Erdäpfelsuppe oder Knofelsuppe. Brot oder manchmal ein Gemüse oder eine Mehlspeise.“ – „Und am Sonntag?“ – „Da kocht die Mutter zu Hause: eine Mehlspeise oder sonst etwas.“ – „Fleisch?“ – „Fast nie. Hie und da ein Stückerl.“
„Warst du schon im Ausland?“ – „Ja, voriges Jahr im März in der Schweiz.“ – „Und seither nicht?“ – „Nein, seitdem nicht mehr.“ – „In welche Klasse gehst du?“ – „In die „dritte Bürger“ komme ich jetzt.“ – „Ja, wie alt bist du denn?“ fragen wir verwundert die Kleine, die das Aussehen einer höchstens Zehnjährigen hat, und die Antwort lautet: „Im September werde ich 13 Jahre.“ Wir gewinnen mit der Kleinen so die erste Kandidatin für ein Erholungsheim, das die englischen Freunde gleichsam als einen ersten Pfeiler für die Brücke von Volk zu Volk in Salzburg errichten wollen.
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Der Haushalt eines aufrechten Arbeiters.
Wir haben eine ganze Reihe von Adressen erhalten. Eine, die nächste, greifen wir heraus. Es ist die eines Arbeiters, der am Ende der Leebgasse wohnt. Sieben Kinder sind da: 19, 18, 16 Jahre die älteren, 13, 9, 8 und 6 Jahre sind die schulpflichtigen alt. Der Vater ist Lackierergehilfe. Die neunzehnjährige Tochter steht in Behandlung der Tuberkulösenfürsorgestelle, die achtzehnjährige, sehr rachitisch, ist in den letzten Jahren „ausgewachsen“ und wird nun vom orthopädischen Spital in der Gassergasse behandelt. Zwei der Kleinen, dreizehn und neun Jahre alt, haben Spitzenkatarrh; beide waren mit Hilfe des städtischen Jugendamtes im letzten Winter in Südtirol. Es ist Samstag vormittag. Wir kommen gerade zurecht, um einen tiefen Blick in den Haushalt eines aufrechten Arbeiters tun zu können. Am Abend vorher hat der Vater seinen Wochenlohn erhalten. Nach Abrechnung der Abzüge für die Krankenkasse (12 Kronen), für die gewerkschaftliche und politische Organisation (5*60 Kronen) und eines Vorschusses von 100 Kronen hat der Vater 814 Kronen nach Hause gebracht und die sechzehnjährige, noch nicht kranke Tochter, die Schachtelmacherin in einer Apotheke ist, 200 Kronen. Zusammen standen der Mutter und Vorsteherin dieses Haushalts genau tausend Kronen zur Verfügung. 14 Kronen behält sich der Ernährer der Familie für seinen Tabak.
„Und das ganze Geld is scho auf’gangen, seit gestern abend!“ sagt die Frau. – „Die ganzen tausend Kronen? Was haben Sie denn da eingekauft?“ – „Das können Sie genau sehen. Hier sind die Konsumzettel und was ich sonst gekauft habe.“
Diese Wochenrechnung aufzustellen war nicht ganz so einfach. Wiederholt versagte das Gedächtnis der Frau, was die einzelnen Zahlenansätze auf den Zetteln bedeuteten, wofür sie noch Geld ausgegeben hatte. So gleich bei einer Konsumvereinspost von 12 Kronen, die für 10 Dekagramm Wurst ausgegeben wurden – am Freitag abend. (Jedes Kind bekam eine Scheibe Wurst.) Dazu bemerkt die Frau: „Wir haben oft vierzehn Tage kein Fleisch.“ Die zweiten 12 Kronen für 10 Dekagramm Wurst fallen der Frau auch nicht gleich ein. Sie sind für den Ernährer allein bestimmt. Er erhält den teuren „Leckerbissen“ entweder Samstag mittag oder abends, je nachdem die Mahlzeit aus der Ausspeisung ausfällt.
„Und was gibt es am Sonntag?“ – „Vorigen Sonntag haben wir Zwetschkenknödel gemacht. Was ich morgen kochen werde, weiß ich noch nicht. „Gefüllte Paprika“ wären gut. Aber der Reis ist so teuer und ein halbes Kilogramm Fleisch brauchen wir noch dazu. Das wird diesmal nicht reichen.“
Der englische Freund fragt einmal: „Und Ei kaufen Sie keines?“ – „Nein, wir haben eine Henn’. Unsere Klane hat s’ aus Ungarn mitbracht, wie sie vor zwei Jahren dort war. Die legt immer jeden zweiten Tag ein Ei. Sie wird täglich auf die Wiese geführt. Da muß einer aber aufpassen!“
„Wie viel zahlen Sie Miete?“ Die Familie hat eine aus Zimmer, Kabinett und Küche bestehende Wohnung. – „Neununddreißig Kronen.“ – „Legen Sie in jeder Woche etwas zurück?“ – „Nein, der Zins muß vom letzten Wochenlohn im Monat zahlt werd’n.“ – „Da geht Ihnen dann aber der Betrag für andere Sachen ab?“ – „In so aner Wochen wird halt weniger Margarine kauft. Da müss’n die Kinder das Brot vormittag trocken essen.“ – „Auch die vier Kranken?“ – „Da kann ich leider keinen Unterschied machen. Die anderen sind ja auch nicht stark.“
„Kaufen Sie kein Obst?“ fragte wieder der englische Pfarrer. – „Sehr wenig. Wenn ich ein Kilogramm kaufe oder zwei, was ist das für so viele Kinder?“
„Und Käse?“ – „Kann ich gar nicht kaufen. Im Konsumverein haben sie schon oft einen gehabt. Ich habe aber nie einen kaufen können. Immer nur das Notwendigste.“
„Und Tee?“ – „Nein, den kauf’ ich nie, auch nicht Kaffee. Nur Kakao. Den können die Kinder mit Wasser und bitter trinken, den Kaffee nicht.“
„Und keine Marmelade?“ – „Nie.“
„Und keine Butter?“ – „Nie. Dafür kaufe ich jede Woche ein Kilogramm Margarine. Wenn man das eine kauft, kann man das andere nicht kaufen. Für den Kleinen habe ich bisher vom englischen Hilfswerk immer noch Kondensmilch erhalten. Nun ist er aber auch sechs Jahre alt und jetzt ist es aus.“
In: Arbeiter Zeitung, 05.09.1920, S. 6.
Ellinor Tordis: Bewegungschöre (1929)
Ellinor Tordis: Bewegungschöre
Man hat im zwanzigsten Jahrhundert nicht nur das Radio und unerhörte Möglichkeiten der Technik, man hat vor allem den menschlichen Körper entdeckt, den menschlichen Körper als kostbarstes Gut der Masse. Lange Zeit war der Körper etwas Verbotenes, etwas, das zu verhüllen und zu mißachten Sitte und Sittlichkeit forderten; erst die Renaissance hat wieder, in blühendem Kunstwerk, die Schönheit des Körpers gepredigt, den Körper als Offenbarung der Gottheit dem hellen Licht italischen Tages vermählt. Aber der schöne, der harmonische Körper war ein Luxus, den sich wenige leisten konnten, war das Privileg einer kleinen Elite. Intellektuelle, Kleinbürger, // Arbeiter besaßen nur Bruchstücke eines Körpers, Hirn, Hand, Fuß, Werkzeug der Arbeit, nicht mehr.
Das ist anders geworden; die Entdeckung, die Eroberung des menschlichen Körpers ist das Große unserer Zeit. Die Masse, die turnt und schwimmt und wandert und Sport betreibt, sie verkörpert, in ungebrochenem Sinn des Wortes die Wandlung, der Jahrhunderte.
Man könnte nun meinen, übertriebene Körperkultur entfremde die Menschen dem Geiste, dränge sie in ein junges Barbarentum – aber das ist nur scheinbar richtig. Wir leben mitten im Übergang und darum ist vieles plump, kraß, outriert, ist vieles unharmonisch und allzu materialistisch. Doch was als Hygiene, Körperpflege, Gesundheitswillen rationalistisch begann, steigert sich ins Ästhetische, verklärt sich ins Künstlerische. Der Sport wird zum Schauspiel (Fußball), zur Schule der Schönheit (Tennis), die Touristik ist mehr als primitive Lust an der eigenen Leistungsfähigkeit, ist beinahe religiöses Verlangen ins Freie, Hohe, Einsame, das Turnen wird zur rhythmischen Gymnastik, entfaltet sich zum Tanz. Der gesunde, harmonische Körper ist auch ein geistiges Phänomen.
Aber ein Zweites offenbart sich im Sport und all seinen Formen: der Wille zur Aktivität. Die Masse will nicht mehr Publikum, nicht mehr passives Material der Entwicklung sein, sie will tätig das Leben gestalten. So begreift man zum Beispiel die Wandlung des Tanzes: die alte Ballettkunst war ein Beruf für wenige, die sich ihm widmen wollten oder mußten, der neue Tanz, Reigen und rhythmisches Körperspiel, ist nicht mehr feudaler Luxus, sondern eine Massenbewegung.
Diesem Willen zur Aktivität, zur tätigen Anteilnahme am Künstlerischen, entsprang der Sprechchor, uralte Kunstelemente zu neuem Leben erweckend. Aber der Sprechchor allein genügt nicht, entspricht nicht der Zeit des auferstandenen Körpers: er muß zum Bewegungschor werden. Das alte Vortragswesen, das nur Gesicht und Hände als Ausdrucksmittel duldete, mutet uns heute schon sonderbar an: der ganze Körper drücke das Lebensgefühl aus, das ist unsere Forderung.
Sprechchor und Bewegungschor – das setzt sich überall durch.
Aber wir leben auch hier im Übergang, wir müssen auch hier das Maß und die Mitte finden.
Es gibt prinzipiell zwei Möglichkeiten, einen Bewegungschor zu schulen: man kann ihn als Maschine und man kann ihn als Organismus auffassen. Der Bewegungschor als Maschine, höchste Exaktheit und Gleichförmigkeit, Gleichzeitigkeit aller Bewegungen, Unterwerfung alles Individuellen unter einen strengen, präzisen Rhythmus, das endet nach meiner Meinung im Drill, in der Militarisierung, Mechanisierung alles Menschlichen, in einem mißverstandenem Kollektivismus, das führt dazu, daß viele Kunstwerke vergewaltigt werden, daß der Geist sich der Disziplin unterwirft. Der Bewegungschor als Organismus, Entdeckung, Befreiung des persönlichen Rhythmus in jedem einzelnen, die Erziehung des Körpers zu seinen eigenen Gesetzen und die freiwillige Unterordnung aller Mitwirkenden unter die Melodie, unter den Geist eines Kunstwerks, das ist nach meiner Meinung die lebendige Form der Zukunft.
Der Lehrer, die Lehrerin darf dem Chor nicht die eigenen Bewegungsgesetze diktieren (jeder Körper hat neben den allgemeinen auch seine eigenen Gesetze), sondern muß jeden der Schüler, der Schülerinnen zu den ihnen gemäßen Ausdrucksmitteln ermutigen. Die Voraussetzung dazu ist, daß in allen das Körpergefühl geweckt wird, daß alle das Organische begreifen lernen. Die Funktionen der verschiedenen Körperpartien müssen klar werden: immer hat der Mensch mit seinen Händen Gefühle ausgedrückt, immer mit seinen Beinen dem Rhythmus gedient. Die Hand hat zugegriffen, hat sich geballt und entfaltet, hat gebetet und gedroht, die Füße sind marschiert; der Tanz darf das nicht zerstören, nicht verdrehen. Gesicht, Hände, Oberkörper müssen Empfindungen, Melodie, Seele gestalten und die Beine den Takt, den Rhythmus in Körperbewegung übersetzen. Das ist organisches Grundgesetz, darauf baut alles andere sich auf.
Wenn das Körpergefühl, das Körperbewußtsein geweckt ist, muß jeder einzelne versuchen, Musik und Empfindung körperlich so auszudrücken, wie es seinem Wesen entspriht; der Lehrer soll Fehler korrigieren, aber den Schüler gelten lassen. Sind junge Menschen erst einmal fähig, persönliches Erleben mit ganzem Körper zu reproduzieren, dann müssen und werden sie lernen, sich einem Überpersönlichen, Geistigen, einem Kunstwerk unterzuordnen, den höheren Gesetzen einer Dichtung, einer Musik sich anzupassen, ohne auf ihr eigenes Wesen Verzicht zu leisten. Nicht die mechanische Gleichförmigkeit aller Bewegungen, nicht das Unisono, sondern die Harmonie der Körper ist das, was erstrebt werde n muß. Nur so kann ein Chor jedem Kunstwerk auf seine Weise gerecht werden, nur so vereinen sich Geist und Körper in einer schönen Synthese.
Der Bewegungschor wird sich in absehbarer Zukunft nicht nur auf sich selber beschränken, er wird ein wichtiges Element jedes Bühnenwerkes mit Massenszenen, der entscheidende Faktor großer sozialistischer Festspiele sein. Er wird die Menschen zur schönen, ausdrucksvollen Bewegung, zur Vergeistigung des Leibes erziehen.
Und solche Erziehung zu körperlicher Freiheit und harmonischer Unterordnung ist gleichzeitig eine Erziehung zu lebendigem Kollektivismus, zu produktiver Gemeinschaft.
In: Kunst und Volk, Nr. 6/1929, S. 177-179.