Arthur Schnitzler: Der Kampf gegen ‚Schund und Schmutz‘

Ist der Begriff der Schmutzliteratur praktisch zu umgrenzen und wie?

             Meiner Auffassung nach field unter die Rubrik Schmutzliteratur manches literarisches Erzeugnis, das mit der Behandlung sexueller Themen nicht das geringste zu tun hat und das man, wie man früher zu sagen pflegte, jedem jungen Mädchen ruhig in die Hand geben durfte. Aber es ist mir wohl bekannt, daß nach dem Sprachgebrauch unter Schmutzliteratur nur jene Produkte verstanden werden sollen, die sich ohne künstlerische oder belehrende Absicht mit sexuellen Themen in solcher Art befassen, daß bei dem hiezu prädestinierten Leser eine sexuelle Erregung eintritt oder wenigstens eintreten könnte.

In diesem Sinn läßt sich freilich der Begriff der Schmutzliteratur praktisch nicht umgrenzen. Je nach Bildungsgrad, Empfindlichkeit, gutem Willen des Beurteilers wird der Begriff weiter oder enger gefaßt werden, und ebenso wie es Leute gibt, die zwischen den obszönen Späßen eines jämmerlichen Witzblattes und der „Büchse der Pandora“ keinen merkbaren Unterschied zu finden vermögen, gibt es wieder andere, die um der künstlerischen Vorzüge eines Werkes willen dem Autor gewisse Frivolitäten zu verzeihen geneigt sein werden, selbst wenn sie nicht ganz ohne Absicht eingestreut worden sind.

Schon an dieser Verschiedenheit des Standpunktes wird jede Möglichkeit scheitern, den Begriff der Schmutzliteratur zum Zwecke gesetzlicher Maßnahmen mit juristischer Schärfe zu präzisieren. Die wesentlichste Schwierigkeit liegt eben darin, daß die befürchtete Gefahr der sexuellen Erregung ebenso von einem künstlerisch bedeutenden als von einem wertlosen Literaturprodukt ausgehen kann. (Mit den Werken der bildenden Kunst verhält es sich ebenso.) Und gerade den patentierten Sittlichkeitswächtern mangelt meistens sowohl Fähigkeit als guter Wille, eine Unterscheidung zwischen einem künstlerisch wertvollen und einem künstlerisch wertlosen Werke zu treffen.

Die seltsame Tatsache fällt immer wieder auf, daß verstorbene Schmutzliteraten, wie Boccaccio, Ovid und andere, keineswegs mit der gleichen Intensität angegriffen werden wie lebende. Doch erklärt sich das nicht etwa daraus, daß von diesen Verstorbenen, da doch ihre Werke noch leben, eine Erregung der Sinnlichkeit nicht zu befürchten oder daß diese Erregung minder bedenkliche Folgen auszulösen imstande wäre, sondern einfach daraus, daß man den verstorbenen Verfassern der immer noch lebendigen Werke durch Verbote und Beschimpfungen keinerlei Schaden mehr zufügen kann. Es zeigt sich ferner, daß manchmal schon innerhalb weniger Jahre ein beträchtlicher Umschwung sowohl in der Beurteilung eines einzelnen Werkes als auch in den allgemeinen Anschauungen über die Sittlichkeit eintreten kann. Aber selbst angenommen, es ließe sich eine absolut und für die Dauer gültige Unterscheidung zwischen vermeintlicher und wirklicher Schmutzliteratur treffen und man ließe dann die literarisch wertvollen Werke trotz ihrer sexuell erregenden Eigenschaften frei ausgehen, würde sich damit das Gesetz nicht auf denselben Standpunkt stellen, wie es die Gesundheitspolizei täte, wenn sie der schönen, aber krank befundenen Dirne die Lizenz zur weiteren Ausübung ihres Gewerbes nur darum nicht entzöge, weil sie eben schön sei?

Welchen Schaden stiftet die Schmutzliteratur?

             So eng oder so weit ich den Begriff zu umgrenzen suche, kaum einen, mit dem sich der Staat oder das Gesetz zu beschäftigen hätte. Daß sie gelegentlich in einem reifen oder in einem unreifen Individuum Regungen der Sinnlichkeit auszulösen imstande ist, darin kann ich um so weniger einen Schaden erblicken, als die Summe der Erregungen, die der sogenannten oder wirklichen Schmutzliteratur zu verdanken sind, gewiß nicht den millionsten Teil derjenen Errgegungen ausmachen, die auf anderem Wege ausgelöst werden und gegen die einzuschreiten völlig undurchführbar wäre; und endlich auch darum, weil ich in der Sinnlichkeit an sich überhaupt keinerlei Gefahr zu erblicken vermag. Die Gefahr liegt ausschließlich in Gesundheitsschädigungen, denen die unbelehrte, ungebändigte oder leichtfertige Sinnlichkeit ausgesetzt ist, und jedermann wird zugeben müssen, daß der Schade, den eine zu früh aus dem Spital entlassene Prostituierte oder ein gewissenloser Lump niederer oder höherer Kategorie anzurichten imstande ist und tatsächlich Tag für Tag anrichtet, unendliche Male bedeutender ist, als der Schaden, den die Schmutzliteratur aller Zeiten zu stiften imstande gewesen ist oder wäre.

Hat die Schmutzliteratur auch einen Nutzen? Und wie verhält sich dieser Nutzen zum Schaden?

             Diejenigen Produkte, die geschlechtliche Themen mit Kühnheit und Eigenart behandeln (die also vernünftigerweise überhaupt nicht zur Schmutzliteratur zu rechnen sind), haben selbstverständlich den gleichen Nutzen, den literarische Produkte anderer Art besitzen: sie gewähren dem dazu veranlagten Menschen künstlerischen Genuß. Aber für eine beträchtlich größere Gruppe von Menschen, für die der künstlerische Genuß überhaupt nicht in Frage kommt, kann leider sogar die wirkliche Schmutzliteratur einen gewissen Nutzen gewähren, indem sie ihnen eben den einzigen aus literarischen Produkten zu gewinnenden Genuß bietet, dessen solche Menschen bei ihrer geringen geistigen Kapazität überhaupt fähig sind.

Welche Momente befördern die Schmutzliteratur insbesondere gegenüber der besseren Lektüre?

             Die Verbreitung der Schmutzliteratur wird dadurch gefördert, daß den meisten Menschen von allen vielleicht außerordentlichen Eigenschaften eines Buches überhaupt nur die eine Qualität ersichtlich wird, daß es sexuell erregend wirkt. Und vielleicht sind dieser Gefahr gerade die beruflichen gewerbs- oder zwangsmäßigen Bekämpfer der Schmutzliteratur in besonders hohem Maße ausgesetzt, da ja ihre Aufmerksamkeit notwendig auf diese eine verpönte Qualität ununterbrochen gerichtet ist.

Soll man die Schmutzliteratur bekämpfen?

             Gewiß soll man das, aber der zuweilen zweifellos echte sittliche Ernst, mit dem man sich gegen die Schmutzliteratur wendet, steht kaum je im richtigen Verhältnis zu dem erzielten Resultate. Unendlich wichtiger als der Kampf gegen die Schmutzliteratur, der, wie die Erfahrung lehrt, sich allzuhäufig auch gegen eine reine, echte, wenn auch kühnere Art von Literatur zu wenden pflegte und pflegt, und in dem so oft Heuchelei, politische Ranküne und gutgläubige Beschränktheit das große Wort führen; ehrlicher in ihren Absichten und bedeutungsvoller in ihren Zielen sind Aufklärung, Hygiene, Einsicht und Gerechtigkeit. In diesen Bemühungen um diese Güter ist der Kampf gegen die wirkliche Schmutzliteratur notwendig mit inbegriffen – soweit er nicht in Fragen der Aesthetik und des Geschmackes übergreift; diese aber fallen nicht in die Kompetenz der Staatsgewalt – glücklicherweise.

In: Neue Freie Presse, 10.6.1928, S. 10-11.

N.N.: Radio, Politik und Radiopolitik

Seit einiger Zeit hören wir, wenn wir Radio hören wollen, ein merkwürdiges Nebengeräusch. Es handelt sich um ein überaus schrilles und hartnäckiges Geräusch von scharf ausgeprägtem Charakter, den man nicht vergißt, wenn man ihn einmal begriffen hat. Nicht genug an der Straßenbahn, nicht genug am Fading-Effekt, jetzt tritt noch dieses Neue hinzu, jetzt bestürmt, jetzt verfolgt man uns von allen Seiten mit Politik.

So etwa könnte heute der reine Radioamateur, der Radioamateur an sich sprechen, dann nämlich, wenn dieses Wesen anders als in der Theorie vorstellbar wäre. Die Theorie würde obendrein falsch sein. Radio ist auch theoretisch unfähig, den Typ eines Radiosportfexen hervorzubringen, der für nichts als Radio Sinn hat und für alles auf der Welt, was nicht Radio heißt, verloren ist. Radio ist vielzu intim und legitim mit allen Kräften des Lebens verbunden, als daß seine besten, seine wirklichen Anhänger sich auch nur für die Zeit, da sie Radio treiben, aus dem Zusammenhange mit dem Lebendigen lösen könnten, namentlich aus jenem allerstärksten, der Politik heißt.

Nein, nein: für alle Radiofreunde – und je treuer sie in ihrer Freundschaft sind, desto mehr – gilt es, zur Kenntnis zu nehmen, daß das Radio Österreich in seiner politischen Periode angelangt ist. Radio marschiert durch einen gefährlichen Engpaß. Wachsamkeit ist nun erste Radiopflicht.

Man wird von uns, die wir unsere Einsicht in das politische Wesen des Radio niemals verborgen haben, nicht billig verlangen können, den politischen Streit, der es nun umtobt, der politischen Sphäre ganz entrückt zu betrachten. Wir geben zu, daß dieser Streit vom Standpunkt des Radio beklagenswert ist, wir behaupten, daß er nicht ganz unvermeidlich war. Wohl nicht für immer; eines Tages mußte er ausbrechen. Es steht nun sichtbar im Kräftespiel der Parteien. Man muß zusehen, wie jene Kräfte ihr Gleichgewicht in bezug auf Radio untereinander wieder herstellen. Wie es ohne sein Hinzutun Streitobjekt geworden ist, muß es gewärtig sein, Kompensationsobjekt zu werden. Die Parteien haben den Wert des Radio als Waffe schon zu gut begriffen, als daß sie es jemals halb oder ganz aus der Hand zu geben gesonnen wären. Die eine Partei gibt die Parole aus: „Wer an Gottesfrieden rührt, wird auf Granit beißen.“ Die andere Partei pflanzt ein Kampfpanier auf, darauf steht zu lesen die Parole: „Steuerbegünstigung für Radiokultur.“ Der Brief des Stadtrates Breitner besagt nicht mehr noch weniger, als daß die Gemeinde Wien ihre nicht unbeträchtlichen Kräfte zur Kontrolle Radio-Wiens einzusetzen entschlossen ist. Ihr formales Recht, eine Lustbarkeitssteuer aufs Radio zu legen, ist eine vielumstrittene juristische Frage. Mit ihrem moralischen Recht, das hier ganz wesentlich in Frage ist, steht es nach unserem Dafürhalten folgendermaßen: Die Gemeinde Wien hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, darauf einzuwirken, daß die Leistung des Wiener Senders die beste sei, denn sie ist die natürliche Vertreterin der allgemeinen Interessen der Wiener, zu denen auch der Ruf dieser Stadt gehört.

Soweit wäre die Sache in Ordnung. Wir behaupten, und zwar nicht leichtsinnig, daß eine Verständigung darüber, was gute Sendung, erreicht werden kann. Das Niveau Radio-Wiens muß gehoben werden. Darin sind Wiener Stadtverwaltung und Direktion der Ravag eines Sinnes.

Wer wagt es übrigens schon, mit einiger Genauigkeit anzugeben, was der Mehrzahl der Hörer recht ist? Wenn irgend ein Faktor Verlangen danach trägt, nicht ganz auf Vermutungen angewiesen zu sein, so steht ihm schon heute das vorläufige Material der Abstimmung der „Radiowelt“ zur Verfügung, das nicht Agitationsmaterial, sondern Studienmaterial ist. Wir wollen die Hauptsache verraten: Soweit sich heute das Ergebnis bereits ablesen läßt, schaut es etwa so aus: Keine Politik und keine Predigt. Wir sind überzeugt, daß die Richtung, die in diesen Worten ausgedrückt ist, sich noch stärker akzentuieren wird. Eine solche Stellungnahme des Publikums aber könnte, obschon sie nur negativ ist, das Übereinkommen über das große positive Programm Radio-Wiens, das wir Radioamateure sehnlich wünschen müssen, nicht unwesentlich erleichtern.

Vorläufig wird gekämpft und zum Kampfe gerüstet.

In: Radiowelt, 1925, H. 2.

Oskar Maurus Fontana: Radio-Kulturbeirat und Schriftsteller

Daß den Schriftstellern für ihre Arbeit ein Honorar, auch beim Rundfunk, gebührt, darüber besteht kein Zweifel mehr. Auch die Ravag hat nach der Protestversammlung der Schriftsteller sich zu den Verhandlungen bereit erklärt. Damit aber, daß einige Honorare bewilligt werden, kann die Grundforderung der Schriftsteller nicht erledigt werden, denn diese Grundforderung, die aus dem Verantwortungsbewußtsein der Schriftsteller gegenüber dem Geist kommt, sie lautet: Dem bisherigen administrativ-technischen Beirat der Ravag muß ein Radio-Kulturbeirat ehestens angeschlossen werden und in ihm muß der Schriftsteller Sitz und Stimme haben.

Diese Forderung wird nicht zum erstenmal erhoben und auch nicht von den Schriftstellern allein. Daß sie trotzdem noch immer nicht gehört wird, das ist zumindest merkwürdig. Man begreift nicht, wieso eine Zeit, eine Gesellschaft auf ihr bestes Wissen verzichten, warum jede Mitwirkung des schöpferischen Geistes schon im Keim erstickt wird. „Alle unsere Würde besteht im Gedanken. Richtig zu denken, ist das Prinzip der Moral“, hat Pascal gesagt. Und das heißt, daß mit dem Maß des richtigen Denkens auch das Maß der Sittlichkeit erhöht würde. Sollte die höhere Sittlichkeit, die das bessere Denken verbürgt, nicht gewünscht werden? Stören am Ende die besten Köpfe? Freilich, dem Geschäft tut das Dunkel des Nichtwissens, des halben Wissens, gut.

Aber das Radio ist so wenig nur ein Geschäft, wie es bloß eine technische Angelegenheit ist. Es ist ein Mittel des Geistes oder (für Pessimisten gesagt) es könnte eines sein. Ein solches Mittel des Geistes bloß auf die Berufsinteressen einzuschränken und jede Mitarbeit der geistig Schöpferischen auszuschließen, ist eine Unmöglichkeit. Trotzdem geschah sie, geschieht sie.

Als die Verordnung, die den Ausbau eines der wichtigsten geistigen Hilfsmittel unserer Zeit regeln sollte, in Österreich geschaffen wurde, arbeitete ein Bundesministerium mit, die Parteien wurden gehört, die verschiedensten Kammern – zum Schluß hatten sich alle placiert, nur den Geist hatte man vergessen, den hatte man ausgeschlossen.

Dieses Unrecht, das bei der Schaffung des Radiobeirats passierte, muß wieder gutgemacht werden. Man kann den Geist nicht ausschließen, er ist stärker als eine jede Macht, die ohne ihn auszukommen glaubt. Im heutigen Radiobeirat sitzt kein Schriftsteller, kein Musiker, kein Wissenschaftler. Solche Ausschaltung des Geistes ist, falls man aus ihr ein Prinzip zu machen gesonnen ist, beschämend nicht bloß für den Schriftsteller, sondern für die Kultur unseres Landes.

Darum: Ohne jedes weitere Zögern muß der Radio-Kulturbeirat geschaffen werden. Das deutsche Beispiel muß befolgt werden. (Hätte man ihm schon früher gehorcht, solche unerquickliche Streitigkeiten über ein paar schäbige Honorare wären der Öffentlichkeit erspart geblieben!)

Dieser Radio Kulturbeirat soll keine Versammlung von Würdeträgern sein, sondern eine elastische Rückendeckung gegen das Leben, das sich immer ändert. Darum kann der Radio-Kulturbeirat keine Ernennungen auf Lebensdauer kennen, die Mandatsdauer der einzelnen Mitglieder muß begrenzt sein, sein äußeres Bild muß sich so ändern können, wie es dem Ablauf geistiger Bewegungen entspricht. Keine Erstarrung! Denn sie ist geistfeindlich. Kein Beamtentum! Denn das entfernt vom Leben.

Man sieht aus solchen Andeutungen, wie notwendig dem Rundfunk ein solcher Radio-Kulturbeirat sein müßte. Den Rundfunk nur auf die Arbeit seiner Angestellten beschränken, heißt, ihn zur Erstarrung, zur Lebensfremdheit verurteilen. Das Radio braucht die Mitarbeit des Geistes, wie das Ackerland Sonne und Regen.

In: Radiowelt, 1927, Nr. 49, S.8

Viktor Silberer: Semmering-Rekord

Wenn man nur die Zahl der Besucher und das von ihnen verausgabte Geld in Betracht zieht, so hat der Semmering heuer eine Wintersaison, die alles bei weitem übertrifft, was dort jemals vorher an Massenbesuch und Aufwand zu verzeichnen war. Das Stammpublikum der Vorkriegszeit aber ist vom weiteren Besuche des ihm einst so lieb gewesenen, herrlichen Ortes ganz ausgeschlossen. Was nur an Großschiebern und sonstigen neuen Reichen in Wien in den teuersten Nachtlokalen in tollster Verschwendung praßt, bevölkert derzeit den Semmering, und treibt es dort womöglich noch ärger als in der Stadt. Dabei sind zwei Merkmale dieser Gesellschaft von heute zu verzeichnen. Erstens, daß es unter ihr fast gar keine alte Leute gibt und zweitens die bis zur Verrücktheit entwickelte Tanzwut. Woher alle die Burschen das viele Geld haben, die hier, allerdings nur soweit es sich um die leichte Hand im Geldausgeben handelt, als Grandseigneurs auftreten oder die indischen Nabobs spielen, bildet ein großes Rätsel. Aber gewiß ist, daß das viele Geld da ist und in leichtsinnigster Weise vergeudet wird.

Zur Charakteristik eine kleine Episode: Ein soeben angekommenes Paar betritt die Halle des Hotels und wird vom „Chef de reception“ empfangen. Beide in kostbarste Pelze gehüllt. „Zimmer“, sagt kurz der Jüngling. – „Haben bitte eines bestellt?“ fragte der Chef. – „Nein,“ war die Antwort. – „Ja bitte, da kann ich dann nicht dienen; denn was noch nicht besetzt ist, ist alles längst fest bestellt!“ – „Machen S’keine G’schichten, sperr’n S‘ uns ein schönes Zimmer auf, da haben Sie zehntausend Kronen!“

Das Tanzen hat den Charakter einer Seuche angenommen. Es wird, nicht etwa zu einer bestimmten Stunde, im ausgeräumten Speisesaal oder in der Halle täglich abends getanzt, sondern es gibt dafür weder mehr eine Orts- noch eine Zeitbestimmung. Man tanzt vielmehr jederzeit und überall; schon gleich nach dem Frühstück, noch vor dem Essen, nach dem Essen, bei der Jause, vor und nach dem Abendmahl, bis das letzte Licht erlischt, in allen möglichen Räumen, Gänge nicht ausgenommen! Dabei wird neben aller anderen Verschwendung auch ein enormer Luxus mit frischen Blumen getrieben. Die kleinste Nelke kostet 40 K, eine Chrysanthemeblüte 50 bis 100 K, eine Orchidee aber wird mit zweihundert bis fünfhundert Kronen das Stück bezahlt und diese Blumen schmücken nicht nur die Frisuren der Damen und stecken in den Knopflöchern der Smokings der Herren, sondern es wird dann, im Höhepunkt des Vergnügens und der Freude am schönen Leben in der neuen Zeit, gegenseitig damit geworfen.

Im sterbenden Wien aber gehen zur gleichen Zeit Hunderttausende, darunter auch viele ehedem bemittelte, ja selbst sehr wohlhabende Leute, wegen Mangels einer ausreichenden Ernährung in aller Stille der völligen Entkräftung und damit einem langsamen Hungertode entgegen. Leben doch auch Tausende von Familien, die früher sehr gut situiert waren, ja zu den Reichen zählten, schon seit längerem nur mehr vom Verkaufen besseren Hausrats.

In: Prager Tagblatt, 20.1.1921, S. 2.

Karl Tschuppik: Die Plakatwand

In der Wiener Invalidenschule, wo die Opfer des Krieges im Gebrauch ihrer verstümmelten Glieder unterwiesen werden, hat kürzlich einer der Lehrer an die Invaliden die Frage gerichtet, ob sie wohl wissen, wofür sie ihren gesunden Körper geopfert haben. Die Antworten, welche der Lehrer erhält, sind in mehrfachem Sinne beachtenswert; ein Teil der Invaliden gab einfache und richtige Antworten, ungefähr des Inhalts, daß der Einzelne nicht dazu gekommen sei, sich Rechenschaft über sein Verhältnis zum Kriege zu geben, da alle einer Macht zu gehrochen hatten, gegen welche der Einzelwille sich nicht aufzulehnen vermochte. Neben dieser schlichten und klugen Erwiderung finden sich jedoch weit mehr Erklärungen, aus denen zu ersehen ist, daß das alte Denken selbst unter den Kriegsopfern fortlebt, Erklärungen, die an Stelle einer individuellen Anschauung ein Wort oder mehrere Wörter aus dem reichen Arsenal der ehemaligen Kriegsphraseologie setzen. So schreibt ein treuherziger Mann, es sei „um die Ehre des Vaterlandes“ gegangen; ein anderer antwortet, „in der Not“ habe der Soldat zu folgen; ein dritter meint sogar, „Krieg müsse sein“ usw.

Das kleine Beispiel ist darum interessant, weil es die unglaubliche Fertigkeit der politischen Schlagworte und verkrusteten Wortbilder aufzeigt. Und es ist doppelt interessant bei Opfern des Krieges, von denen man annehmen müßte, daß sie durch das persönliche Erlebnis zu einer freieren, menschlicheren, voraussetzungsloseren Betrachtung der Dinge gekommen seien. Tatsächlich jedoch ist die Macht pathetischer Wortbilder weit größer, als man gemeinhin annimmt. Wenn man es sich recht überlegt, begnügt sich die Mehrzahl der Menschen, sobald sie den Kreis ihrer nächsten Angelegenheiten verlassen und eine Beziehung zur Allgemeinheit suchen, mit Wortbildern; sie stellen ihre ursprüngliche Art, die Welt zu sehen, gänzlich zurück und akzeptieren ohneweiters jedes geschwollene Wort der politischen Terminologie. Wer die Geschichte der letzten Jahrzehnte des alten Österreich daraufhin untersucht, der wird finden, daß die Wirklichkeit, wie sie war, niemals in Erscheinung getreten ist; die Politiker hatten zwischen ihr und den Gehirnen eine Wand errichtet, die mit pathetischen Worten tapeziert war. Die österreichische Wirklichkeit war das umgekehrte „Ding an sich“. Liegt in der Erkenntnistheorie Kants hinter der Erscheinung das mysteriöse „Ding an sich“, so lag in der österreichischen Welt die Wirklichkeit hinter der Tapetenwand der Abstraktionen. Das wirkliche Österreich war wohl sinnlich wahrnehmbar, mit den Augen zu sehen, mit den Ohren zu hören, mit den Händen zu greifen, aber die Menschen dieser Wirklichkeit ließen sich von der Tapetenwand düpieren.

Was ging uns, im Grunde genommen, diese Plakatwand an? Hatten die Menschen ihre Bestimmung, ihren Daseinszweck vergessen? War ihr Auge blind geworden für Sonne, Mond und Sterne? Hatten Wiesen, Wälder und das Blau des Himmels ihre Farbe verloren neben den Klexereien der Papierwand? Woher kommt es, daß die Sinne und die ursprünglichen Fähigkeiten durch Wortbilder zurückgedrängt werden können? Der Verlust der Naivetät, die Einbüßung der natürlichen Gabe, sich auf dem kürzesten Wege mit der Erscheinungswelt in Kontakt zu setzen – dieser Verlust ist offenbar das Werk langer Jahrhunderte, während welcher die Büttel und Autoritätshüter, Kirche, Staat, Schule und Polizei, den natürlichen Menschen in den Untertan verwandelt haben. Die Bereitschaft, an Stelle des natürlichen Bildes ein von irgendeiner Autorität empfohlenes oder befohlenes Wortbild zu setzen, ist eine anerzogene, oder, wenn man so sagen darf: angeprügelte Eigenschaft. Und es ist jedenfalls kein Zufall, daß die Empfänglichkeit für pathetische Wortbilder mit allen ihren furchtbaren Folgen bei keinem Volke so groß ist, wie bei den Deutschen.

Die Deutschen sind das Volk der unglücklichsten Geschichte. Die Verfälscher der Wirklichkeit haben auch die deutsche Geschichte gefälscht; seit dem Ende des deutschen Liberalismus zumindest, seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts, also bis auf unsere Tage, haben die offiziösen Geschichtsschreiber der borussischen Schule kein anderes Ziel gekannt, als die traurigen Tatsachen der denischen Geschichte in das verlogene Rampenlicht, der borussischen Geschichtsauffassung zu stellen. Der begabte Fälscher war darin zweifellos Heinrich von Treitschke, dem freilich der mildernde Umstand zugute kommt, daß er, mehr Dichter als Historiker, von der Wahrheit seiner Dichtung überzeugt war. Aber selbst ein Mann wie Karl Lamprecht, der in den zwei ersten Bänden seiner großangelegten deutschen Geschichte sich sehr ernst um die Aufhellung der deutschen Vergangenheit bemüht, selbst Lamprecht fiel dem allgemeinen Laster des Lakaitums zum Opfer und erfand im letzten Band einen eigenen Begriff, den Begriff der „Reizsamkeit“, um die Darstellung des nach dieser Erfindung benannten Zeitalters in eine Apotheose auf den göttlichen Repräsentativmann dieses Zeitalters, auf Wilhelm II., ausklingen lassen zu können.

Man wird diesen despektierlichen Bemerkungen vielleicht den Einwand entgegensetzen, daß jedes national fühlende Volk seine eigene Geschichte verherrlicht und sich dabei nicht an die Wahrheit gehalten habe. Das mag bis zu einem gewissen Grade richtig sein; aber es ist bei dieser Verherrlichung nicht gleichzeitig, was verherrlicht wird. Zweifellos hat, um nur dies Beispiel anzuführen, die Glorifizierung der großen Revolution den Franzosen geistig weniger geschadet, als jener Untertanendrill deutscher Professoren, der das Deutsche Reich als das Werk der herrlichen Dynastie darzustellen nicht müde wurde, Auf jeden Fall hat die durch viele Jahrzehnte betrieben Erziehung des Volkes im Sinne einer unbedingten Autoritätsverehrung zur Beherrschung der Köpfe durch Begriffe und weiter zur Verkrustung dieser Begriffe wesentlich beigetragen. Es war unter gewissen Schichten des deutschen Volkes ganz unmöglich geworden, über Dinge des täglichen Lebens, über Ereignisse und Einrichtungen des Landes voraussetzungslos, naiv, sprechen zu können. Nicht die Paragraphen des Strafgesetzbuches – die zu Wortbildern verkrusteten Begriffe verhinderten jede natürliche Aussprache. Der „Kaiser“, das „Vaterland“, die „Armee“, die „deutsche Wissenschaft“, der „Pflichtbegriff Kants“ – die deutsche Plakatwand war mit einer Unzahl solcher Worte beklebt, die einfach als heilige Dinge hingenommen wurden. Die österreichische Terminologie war bescheidener, ihr fehlte der große pathetische Atem, dennoch – wie viele Gehirne wurden mit Worten verkleistert wie: „die Belange“, „schimmernde Wehr“, „der welsche Feind“, „Österreich wird ewig stehen“, „Radetzky“, „Prinz Eugen“ usw. …? Es gibt noch immer altösterreichische Staatsphilosophen und Historiker, die den Untergang Österreich auf alle möglichen mysteriösen Ursachen zurückführen, dabei aber den einen, wahren, einfachen Grund nicht sehen: die Unwirklichkeit dieser verstorbenen Größe, die groß war nur auf der Wand der pathetischen Plakate. Kein Wunder aber, daß gerade diesen Schattenösterreichern jedes Verständnis für das wirkliche Österreichertum fehlt, welches so wirklich und lebendig war, daß es noch nach Österreichs Untergang fortlebt.

In: Prager Tagblatt, 1.2.1921, S. 2.

Paul Hatvani: Der russische Mensch

Die Psychologie, soll sie als Wissenschaft erfolgreich bestehen können, wird einmal an die Systematisierung des vorhandenen Materials schreiten müssen. Es wird die Typenpsychologie entstehen: die Festlegung genau fixierter Arten und Abarten, mit denen man rechnen kann und muß.

. . . Es sei hier versucht, einiges über den „russischen Menschen“ zu sagen, als Beitrag zu einer künftigen Typenpsychologie.

I.

. . . Er ist nicht an den geographischen Begriff gebunden. Sein entscheidendes Merkmal aber hat sich geographischen Anschauungen assimiliert: es ist die Seele, hinter der unendlich die russische Ebene, von Europa nach Asien reichend, sich erstreckt. Der Mensch, dem diese grenzenlose Landschaft zur Staffage dient, muß vor den harten Tatsachen kapitulieren. Sein Mut wird weich, sein Gefühl resigniert; der Blick wendet der Erde sich zu: mit einemmal wird die Erde nah, wird Heimat, und nichts ist da, was unwesentlich wäre. Verachtung? Er steht mit den kleinen Dingen des Alltags auf trautem Fuß. Der Alltag wird Mythos; verwirrt ihn nicht das bißchen Hirn, die Vernunft, die Gigantisches ausklügeln will und immer wieder in Demut sich beugt? Was soll der nie vollendete Höhenflug? Ein wenig Güte: und die Erde nimmt dich wieder liebevoll auf.

In Rußland mußte die fast perverse Resignation des Tolstojanismus entstehen. Dem russischen Menschen leuchtet die Legende der Entsagung ein; es wird von der Parabel „Wieviel Erde braucht der Mensch“ gerührt. In anderen Atmosphären, wo Geist in steiler Konsequenz den Dom baut, darin Begriffe wohnen und der Vernunft ein Altar errichtet ist . . ., scheucht dich der Eindruck der Banalität aus dem frommen Verständnis. Hier aber – der Tag vergeht, die Zeit bleibt stehen . . . – ist von den Erwägungen einer bodenreformatorischen, also politischen Anschauung bis zum memento mori des Grabes nur ein Schritt.

 . . . Ein verhängnisvoller Schritt. Und es sei gesagt, daß ein Recht, dieses Verhängnisvolle aufzuzeigen, nur dem Russen zusteht. Maxim Gorki hat in großer Eindringlichkeit auf die Gefahr Tolstoj für den Russen hingewiesen. Und er hat auch, was wichtiger ist, die größere Gefahr in jenem Dichter erkannt, der für Europa den Typus des russischen Menschen überhaupt geliefert hat, in Dostojewski. Und er nennt diese dunkle Gefahr, die uns alle ergriffen hat, „Karamasowismus“.

Karamasowismus: das ist eine Romantik ohne Inventar. Das ist eine Exaltation der Seele, ein Kapitulieren vor den Tatsachen, ein Masochismus, der entsteht, wenn Liebe kein Objekt findet. Dostojewski hat ihn gewiß nicht „erfunden“; aber er hat ihn am Eindringlichsten gestaltet. Dostojewski hat die Figur des ethischen Verbrechers in die Welt gestellt; er hat Christus übertrumpft: er hat den Sünder begnadigt um der armen Seele willen. Hie war kein Allesversteher am Werk. Dem mußte alles verziehen werden. Ein Gefühl schuf sich das ethische Gesetz: der Mensch, zur Erde, zum Mütterchen Erde gebeugt, wird der Gnade teilhaftig. Kniee nieder, Mensch, Bruder, bete und bekenne: dann ist alles wieder gut. Was immer auch geschehen ist; was immer auch geschehen wird: das Himmelreich kennt nur deine reine Seele; was du tatest, tat die Welt, die böse auf dich gelauert hat. Beuge dich, Brüderchen; Mütterchen Erde wird dich warm umarmen.

Und dunkel schweben darüber die Töne der Kirchenglocken.

II.

. . . Der eine Typus. Der andere ist – sein Widerspiel? nein! – . . . der andere ist Flucht in die Vernunft. Also Flucht nach Europa. ( . . . Man wird Bedenken äußern: ist „Vernunft“ identisch mit Europa? Dürfen wir den europäischen Menschen – ein vom russischen genau verschiedener Typ – mit dem „vernünftigen“ gleichsetzen? In der Typenpsychologie wohl; wenn auch nicht erschöpfend. Denn erschöpfend ist der Europäer erst durch den Zweifel an sich, durch die skeptische Vernunft charakterisiert. Sein Bewußtsein reagiert aus negativen Gründen; sein Glaube, sein Wissen entsteht aus Skepsis, aus Polemik. Er empfindet polar; er stellt jedem A ein non A gegenüber. Aber . . . er ist auch, und es kommt hier darauf an, der Mensch der Vernunft. Sein Weltbild entsteht aus Überlegungen. Ist’s auch manchmal grau, entschädigt für alles die bunte Theorie. Hamlet aber ist teilweise schon ein Vorläufer russischer Lebensmöglichkeiten, ein reziproker Raskolnikow etwa, der sich über Schuld und Sühne jedenfalls schon Gedanken macht . . . )

. . . „Gedanken macht“: darauf kommt es an. Gleichem Impuls entwächst der eine wie der andere Typ. Reflektierend gelangt der eine zur Erde; der andere reflektiert bewußt: das ist der ganze Unterschied. Und lockend steht der helle, geradlinige Bau europäischer Mentalität vor dem Auge, das aus dunkler Gefühlswelt aufblickt: ein banaler Wunsch löst den Glauben an das Glück der Wissenschaft aus. Der russische Student, der nach dem Westen kommt um revolutionäres Material gegen Rußland zu sammeln (ich spreche natürlich vom vorbolschewistischen Rußland!); und der ein Stück Demut und einen Rest Dämonie nach Europa verpflanzt . . .; der intellektuelle Westler ist Frondeur des eigenen Ichs. Oder hört auf, dem Typus anzugehören. Solange er Russe ist, geht der Strahl seiner Seele über das konventionelle Kalkül hinaus; er konfrontiert die Dinge mit der Unendlichkeit, die Zeit mit dem Ewigen.

Das Ewige aber ist entweder Gott oder die Idee.

Dem „echten“ Russen bleibt Gott der Angelpunkt der Welt; der Westler hat die Idee . . .; mags nun eine politische, revolutionäre, wissenschaftliche oder kulturelle sein. Ihr dient er; sein Ich ist ausgelöscht; er unterordnet die leiseste Vibration seiner Nerven ihrem Diktat.

III.

Die russische Art, Theater zu spielen, ist uns ergreifendes Beispiel. Die Russen haben noch Schauspielertruppen im alten Sinne des Begriffs. Sie bringen es zuwege, aus Hamlet ein Ensemble-Problem zu machen. Wie plötzlich weiße Seidenfahnen, den Leichnam apotheotisch umwallend, die Neurasthenie des shakespearischen Neurasthenikers von der Szene verscheuchen, ist Symbol und musikalische Wirkung. Wir mißverstehen das russische Theater – wie wir ja auch die russische Malerei, die russische Musik mißverstehen – wenn wir aus dem Ensemble Namen lösen. Seine Wirkung ist ein kollektivistisches Ereignis, für das wir nicht mehr, oder noch nicht, die richtige Einstellung haben. Und nun sei, den Übergang Pedanten überlassend, Entscheidendes gesagt: der russische Mensch hat keine „Nervosität“. (Auch die „Masse“ hat keine; sie steht den Dingen höchstens romantisch gegenüber.)

. . . Eine schwer verständliche Tatsache für den Europäer: es gibt nun einmal einen Menschentyp subtilster Art, der nicht mit den Nerven reagiert. Dessen schöpferische Berauschtheit festgefügt im Rahmen seiner Wirklichkeit bleibt; dessen Dämonie nicht aus dem Dunkel irritierter Leidenschaften quillt.

Der russische Mensch denkt nicht an den Grenzen des Bewußtseins; dort führt der Europäer sein Schattenspiel auf. Der russische Mensch hat aus asiatischen Abgründen noch das Gefühl für Stabilität sich gerettet; er hat die Erde, die unendliche Erde, unter sich und wankt und zittert nicht im Sturm der Gedanken. Er beugt nur seinen Körper, seine Seele, tief hinab; Mütterchen Erde bleibt fester Halt. Er ersetzt unsere Sensationen mit den Wundern, die wir, sie determinierend, zerstören. Er läßt es mit sich geschehen, daß es unerklärliche Dinge gibt.

. . . Verhängnisvoll war es, in diese russische Welt das Wort „Fortschritt“ zu schleudern. (Verhängnisvoll für die Ideologie; notwendig und wunderbar für den Menschen, der sie bewohnt.) Fortschritt ist ein westlicher, ein „europäischer“ Begriff; er setzt die Tatsache einer Entwicklung voraus; er hat Rückgrat; er bäumt den Menschen auf; er ist ein Angriff auf die Demut, die den Menschen zur Erde beugt.

Mütterchen Erde mach ein verdutztes Gesicht: wer befahl dem Söhnchen, gerade zu stehen? Wer hebt ihn in die Labilität? Der schwerfällige Körper, der schwerfällige, der schwermütige Geist, setzt sich dem Abenteuer aus. Ist’s nicht das große europäische Abenteuer, in das der Asiate, der Gleichgewichtsmensch, sich da stürzt?! Zwischen den beiden Möglichkeiten, Europa und Asien, ist Rußland das Versuchskaninchen. Wer der russischen Erde flieht, hat nur diese zwei Wege offen: beide bedeuten Revolution.

Den Typus hält die seelische Struktur aufrecht. Die Seele weiß vom Dilemma der beiden Möglichkeiten nichts; sie hat sich von den geographischen Problemen abstrahieren lassen. Der „russische Mensch“ kommt überall vor; ein Hauch auch jener Steppe, aus Dostojewski, erfaßt den Ahnungslosen, der „ahnungslos“ in jenem tieferen Sinne ist. Dich ergreift plötzlich diese aktive Passivität des Karamasowismus; plötzlich hat das Ethos ein neues, ein uralt-zeitloses Gesicht. Du überwindest den Alltag; die kleinen Dinge werden wesenhaft; sie sind Symbole zweiten Ranges und rührend elementar. Die Welt, Gottes Spielzeugschachtel, ist eng und weit zugleich: ihr buntes Ornament, – fröhliches Lachen, trauriges Lächeln – ist da, um dem unerbittlich-ernsten Inhalt die annehmbare Form zu geben. Der russische Mensch hat keine Banalität.

IV.

. . . Ergreifend Neues in der europäischen Literatur dieser Zeit: der unbanale Mensch.

Man wird die Erscheinung, oberflächlich, aus den Einflüssen der großen russischen Dichter, der großen russischen Tatsachen, ableiten wollen. Aber diese Einflüsse treffen mit einer zeitbedingten seelischen Stimmung zusammen, die den melodischen Akkord erklingen läßt. Der Europäer ist von der Sehnsucht des Russentums erfaßt . . .: er verläßt mit einemmal die Ebene der Nerven und neigt sich dem faszinierenden Typus zu. Die Erde hat ihn wieder!

. . . Europäische Geistigkeit, Europas Geist, ist eine Angelegenheit des bewußten Nervensystems. Die schöpferische Nervosität des europäischen Menschen ist der Inhalt seiner „Kultur“; er reagiert subtil und ist imstande, aus Dingen der Vernunft ein Gefühl zu produzieren. Seine ganze Tragik läßt sich aus der Diskrepanz ableiten, die zwischen der Menge des Wissens und der Menge der Gefühle besteht. (Oder eigentlich: seine Problematik. Sie verursacht, letzten Endes, die kulturelle Nervosität; sie treibt ihn in die schöpferische Decadence, aus der ihn ein scheinbarer, oft maskierter Optimismus hebt, um ihn wieder ins Chaos versinken zu lassen . . .) Für den Russen besteht diese Problematik nicht; er verzichtet auf die Feststellung der entscheidenden Mengen; er verzichtet zugunsten des Gefühls. Seine Nerven werden von den kulturellen Tatsachen nicht berührt; seine Nervosität ist allenfalls eine Zivilisationserscheinung und niemals kulturschöpferisch. Das russische sei ein junges Volk, sagt einmal Dostojewskij und die Jugend junger Völker zehrt noch aus dem Kräfteüberschuß der Erde. Kindern ist nichts banal; darum steht der russische Mensch noch gläubig und unbeirrt vor den von uns, ach! so hemmungslos überwundenen Tatsachen. Er hat Sentiment noch nicht zur Sentimentalität degradiert; er hat sich das Gefühl restloser Sachlichkeit bewahrt. Er bleibt Mensch, bedingungslos, vor den Ereignissen seiner Welt und seines Ichs.

Sehnsucht nach dieser Sachlichkeit, Sehnsucht nach der Unbedingtheit des russischen Menschen, hat den Typus in Europa erstehen lassen, Er, der Typus ist eine Überwindung der Nervosität . . .: vielleicht nur Krisis, aber immerhin Tatsache.

. . . Wenn nun aber der europäische Mensch (wobei wir an seine restlos entbürgerlichte Form denken wollen) den nervösen Typ darstellt, so bedeutet russisches „Westlertum“ – wie es etwa Turgenjew personifiziert – Revolte gegen das statische Prinzip der Seele. Wir können Dostojewskis Auflehnung gegen Turgenjew verstehen; er mag gefühlt haben, daß da ein bedenkliches Experiment vor sich geht. Man lese den ergreifend-hassenden Brief, den er, 1867 aus Genf, über seine Begegnung mit Turgenjew an Apollon Maikow schrieb: in dessen Zeilen empört sich die erdnahe Religiosität wider dem Zweifel der Nerven. Rußlands grenzenloser Raum steht den europäischen Tatsachen gegenüber.

. . . Man liest heute in Europa sehr viele russische Bücher und weiß nicht genau, was dies bedeutet. Man gibt sich dem Gefühl der seelischen Werte hin und unterscheidet nur ungenau: uns überwältigt das Szenarium, wir haften am Gegenständlichen, wir sind befangen. Aber das Serum der russischen Idee – oder vielleicht ists die slawische überhaupt?! – ist in unser Blut gedrungen und siehe da: der „russische Mensch“ wird heimisch in Europa. Oder können wir etwa das Phänomen Kunt Hamsun anders deuten?!

In: Die Wage, 12.5.1923, S. 296-300.

Marianne Pollak: Vom Reifrock zum Bubikopf. Revolution und Mode

Die Mode ist seit jeher die besondere Domäne der Frau gewesen. Durch Schminke und Haartracht, durch Halsausschnitt und Faltenwurf haben die Frauen jahrtausendelang verstanden, dem Mann zu gefallen. Die Tracht ist vor allem ein lebendiger und sinnfälliger Ausdruck der jeweiligen  E r o t i k  einer Zeit. Immer haben Revolutionsepochen in der Geschichte strenge Kleiderordnungen gelockert und einer ungezwungenen und freieren Kleidung Raum geschaffen. Denn das Kleid ist zugleich eines der wichtigsten Mittel der  K l a s s e n s ch e i d u n g. Jede neue Mode geht von der herrschenden Schicht in der Gesellschaft aus, die darauf sieht, daß die Masse des Volkes ihr es in Schnitt und Ausführung der Gewänder nicht gleichtue. Die höhere Vernunft der menschlichen Kleidung aber liegt schließlich in ihrer  Z w e ck m ä ß i g k e i t, indem sie den Körper vor Wetterunbill schützt und den Gebrauch der Glieder nicht hemmt.

Als am Ausgang des fünfzehnten Jahrhunderts Europa, aus der Enge bäuerlicher und zukünftiger Wirtschaft erwachend, die grandiose Entwicklung zum Welthandel durchmachte, da brach eine Zeit ungehemmter Lebensfreude für die besitzenden Klassen an: die  R e n a i s s a n c e. Die grobe, die Körperformen entstellenden und verhüllenden Trachten des asketischen  Mittelalters waren kein richtiges Kleid für den machterfüllten Handelsherrn, dem die Schätze des Erdballs zuströmten. Die reiche Bürgersfrau der Renaissance – Rubens hat ihr unvergängliches Porträt geschaffen – trug nicht nur bei Festlichkeiten, nein auch daheim, ja auf der Straße und selbst in der Kirche, unter den Augen der Geistlichkeit, den tiefen  B r u st a u s s ch n i t t. Weit ausladende  W u l st e n r ö ck e  verbreiterten die Hüften durch Umlegen von schweren Stoffrollen, die nicht selten bis zu fünfundzwanzig Pfund schwer waren. Obendrein wurde die weibliche Brust mit Hilfe des Mieders, ja oft durch Wattierungen hervorgehoben. Strotzende Kraftfülle war das Schönheitsideal der Renaissance.

Im darauffolgenden Zeitalter der uneingeschränkten Macht des Landesfürsten wurde sozusagen der angedeutete Körper modern. Die Renaissance hat das Starke und Nackte geliebt. Das  R o k o k o  schwärmt für das Zarte und Ausgezogene. Der französische Hof wurde das Modevorbild für ganz Europa, Ludwig XIV., „der größte Komödiant der Gottesgnadenidee“, der erste Geck seiner Zeit. Die Mode spiegelt die ökonomischen Verhältnisse sehr deutlich wieder. Da im  A b s o l u t i s m u s  eine ganz besonders schroffe Klassenscheidung die Masse der arbeitenden Untertanen von der Gesellschaft der herrschenden Genießer trennte, machte die vom Adel ausgehende Mode den Körper zu jeder Art Arbeit völlig untauglich. Die Damen in ihren unnatürlich hohen  S t ö ck e l s ch u h e n, mit ihren  W e s p e n t a i l l e n  und riesenhaften  R e i f r ö ck e n – eine Fortführung des Wulstenrockes der Renaissance – konnten sich nur gravitätisch und tänzelnd fortbewegen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr Vorbild war ja auch die majestätische Steifheit des Monarchen, und oberstes Sittengesetz jener Tage, da die „Gesellschaft“ dem Abgrund entgegentaumelte, war: Körperliche Arbeit schändet.

Wieder stößt eine große geschichtliche Umwälzung die steifgraziösen Formen des Rokokos um:  d i e  f r a n z ö s i s ch e  R e v o l u t i o n. Die Adeligen in ihren Allongeperücken und edelsteinbesetzen Jabots, die gebrechlichen Luxuspüppchen königlicher Sinnenfreude mußten ihre gepuderten Köpfe auf der Guillotine lassen. In wilden Sturm fegte das Pariser Volk durch die Gassen. Dazu kann man keine Reifröcke brauchen. Die fließenden Gewänder der Antike wurden die Revolutionsmode: das  E m p i r e, die  m i e d e r l o s e  g r i e ch i s ch e  T r a ch t der Tunika, die, unter der Brust abgebunden, in weichen Falten den Körper schmeichlerisch umfließt.

Die regungslosen Jahre des  V  o r m ä r z , vom Wiener Kongreß bis 1848, und nach einem kurzen Revolutionsrausch die  R e a k t i o n  der fünfziger Jahre sind in der Frauenmode die eigentliche  B l ü t e z e i t  d e s  K o r s e t t s. Der weibliche Körper wird – gleich dem menschlichen Geist – in der unsinnigsten Weise eingeschnürt und mißhandelt. So wie der bis oben zugeknöpfte Mann in Zylinder und steifer Halsbinde als das Symbol staatserhaltender Zuverlässigkeit galt, so die Frau mit ihrer eingepreßten Taille und der Unzahl der gestalteten Unterröcke, die endlich zum Ungetüm der  K r i n o l i n e  entarteten: sie sollte in jeder Lebenslage würdig und geruhsam erscheinen.

Was folgt, ist nur eine Änderung im Verunstalten der natürlichen Formen. Als die Krinoline in ihrem grotesken Umfang nicht mehr überboten werden konnte, wurde das Drahtgestell zum alten Eisen geworfen. Aber das Mieder blieb und behauptete seine Macht noch durch mehr als fünf Jahrzehnte. Erbarmungslos mußte jede Frau, die etwas auf sich hielt, in  den Schnürleib, und die Mode verlangte von ihr, sich in der wahnwitzigsten Weise zusammenzupressen. Geraffte Röcke mit der besonderen Pikanterie des Cul de Paris wurden letzte Mode. F e st s i tz e n d e  „T a i l l en“, in denen obendrein noch Fischbeine sonder Zahl eingenäht waren, machten jeden freien Atemzug unmöglich. Die Alltagskleidung war hochgeschlossen; bis zum Hals hinauf quälten Steifheit und Enge. Nur im Ballsaal durfte die Dame im tiefen Ausschnitt erscheinen.

Es ist kein Zufall, daß die niederträchtige Herrschaft des Mieders wieder erst durch eine geschichtliche Epoche des  U m st u r z e s  gebrochen werden konnte. Unser eigenes Geschlecht ist Zeuge und Nutznießer der tiefgehenden  R e v o l u t i o n i e r u n g  d e r  F r a u e n m o d e  geworden.

Noch vor zwanzig Jahren war es im Bürgertum bis tief hinein in die Reihen der Arbeiterschaft gang und gäbe, den Töchtern Stück für Stück eine Ausstattung vorzubereiten und anzuschaffen. Aber wie hat diese  W ä s ch e  ausgesehen! Da wurde meterlang Zacke um Zacke für den Hemdansatz mit der Hand geschlungen, solide schwarze Strümpfe eingekauft, steifsitzende, geschwungene Miederleibchen, die gerade nur den Hals freiließen, zugeschnitten und flaumiger Flanell zu Unterröcken verarbeitet. Man stelle sich nur ein Sportsmadel von heute mit einem solchen Flanellunterrock vor!

Nicht anders ist es um die  F r i s u r  bestell. Nur mit grenzenlosem Staunen kann man der vielen „Einlagen“ gedenken, die für einen ordentlichen Schopf notwendig gewesen sind. Sie waren der letzte Ausklang jenes Perückenmonstrums, das die Damen des achtzehnten Jahrhunderts auf ihren – leeren! – Köpfen spazierengeführt hatten und das mit den verrücktesten Symbolen aller Art schwer behangen war: der „Fontange“. Die Schopfeinlagen um die Jahrhundertwende und später – Kopfmatratzen hat man sie in gerechtem Gott genannt – haben zwar nicht mehr die stattliche Höhe eines Meters erreicht wie ihr Vorbild, aber sie waren darum nicht weniger ungesund und machten das freie Ausatmen der Kopfhaut unmöglich. Jedes Haar mußte bei der morgendlichen Frisur fein säuberlich über den Wulst gelegt werden, um die künstliche Unterlage ordentlich zu verdecken. Und doch verschob sich der Bau bei jeder unvorhergesehenen Bewegung! Wie ungern entschloß man sich in jenen Tagen, das Haar am Nachmittag ein zweitesmal zu frisieren. Es war eine wirklich zeitraubende und schwierige Beschäftigung. In der rhythmischen Frauenturnstunde von heute könnte eine Dame mit auffrisiertem Schopf nicht mittun . . .

Der  K r i e g, der unsere Männer in die Schützengräben zwang, hat der Frau alle Gebiete des Arbeitslebens geöffnet. Sie fand Einlaß im Ministerium und in der Munitionsfabrik, kam zum Schreibtisch und auf den Kutschbock, ins Geschäft und in den Straßenbahnwagen. Überall mußte weibliche Arbeitskraft den eingerückten Mann ersetzen, ja es war die Frauenarbeit allein, die den halbwegs geregelten Fortgang der Wirtschaft möglich gemacht hat. Diese Zeit der unerhörtesten Kraftanspannung, des Hungers und der schamlosen Unterordnung der arbeitenden Menschheit unter das Gesetz des Massenmordes hat die bis dahin schlafenden Frauen zum Erwachen gepeitscht: Sie haben arbeiten müssen – und diese Arbeit hat sie denken gelehrt!

Und wieder hat eine Revolution mit eisernem Besen alte, strenge, steife Modeformen weggefegt. Wieder ist eine Revolutionsmode aufgetaucht. Aber diese letzte grundlegende Wandlung in der Frauenmode mußte sich – obwohl noch immer von Pariser und Londoner Modekönigen ausgehend und von ihnen ausgebeutet – wohl oder übel doch der geänderten gesellschaftlichen Funktion des weiblichen Geschlechts anpassen und  d a s  K l e i d  d e r  a r b e i t e n d e n  F r a u  schaffen: Das beengende Mieder ist verschwunden, der Hals frei, der Rock gekürzt und das lange Frauenhaar geschnitten.

Ist auch das nur ein revolutionärer Augenblickseinfall der wankelmütigen Modegöttin? Gewiß, in der kapitalistischen Wirtschaft wird der gesellschaftliche Geschmack in kurzen Zwischenräumen Extremen zugetrieben, um den Absatz künstlich zu steigern. Aber  k u r z e r  R o ck,  f r e i e r  H a l s,  l o s e  T a i l l e  u n d  B u b i k o p f,  diese vier wesentlichen äußeren Merkmale der modernen Frauenerscheinung, gehen über die gewöhnlichen Modeschöpfungen weit hinaus. Denn zum erstenmal verbindet sich hier der Wunsch nach Schönheit mit wirklicher Zweckmäßigkeit.

Für das Verwurzeltsein der heutigen Frauentracht in dem gesellschaftlichen Prozeß der Revolutionierung, der ganz besonders die Frau erfaßt, ist es bezeichnend, daß heute der  M a n n  auf dem Gebiet der Kleidung rückständiger ist. Er bleibt bei dem dunklen, dicken und dumpfen „Anzug“, dessen Weste, ein sinnlos gewordenes Überbleibsel, überhaupt nur dazu dient, daß sich kein Lufthauch bis zur Haut verirre. Auch der im Kriege aus Sparsamkeitsgründen zeitweilig verschwundene steife Kragen taucht immer öfter wieder auf und ist heute schon wieder das Sinnbild der Respektabilität geworden.

Die Frauen sind in ihrer Kleidung fortschrittlicher. Die heutige Mode entspricht wirklich den Anforderungen der Zeit. Wie herrlich können unsere Mädel in ihren kurzen Röcken laufen und springen! Wie natürlich schön ist es, wenn ihre losen Haare im Winde flattern! Wieviel leichter und gründlicher ist heute die Pflege und Reinigung der Haare! Wie praktisch ist der Bubikopf beim Sport, bei der Arbeit, in der Küche! Wie angenehm für die arbeitende Frau, sich bücken und wenden zu können, ohne daß Schnürbänder ihr den Magen zusammenpressen! Bei allen diesen großen praktischen Vorzügen entbehrt die moderne Frauenkleidung aber keineswegs der Grazie. Sie ist schön, weil sie vernünftig ist. Diese Elemente des Fortschritts wird keine Laune der Mode, kein Interesse des Konfektionskapitals mehr vollständig aus der Frauenkleidung zu tilgen vermögen. Und diese Errungenschaften der Freiheit des menschlichen Körpers soll uns keine Reaktion, die die Frauen zurück in Kirche, Küche und Mieder pressen will, mehr rauben!

In: Arbeiter-Zeitung, 5. Dezember 1926, S. 10.

Dr. Eugenie Schwarzwald: Lob der Republik. Eine Festrede in der Schule

Wenn wir einen Geburtstag feiern, so fragen wir uns: Wie stehen wir zu dem Gefierten, was bedeutet er für unser Leben, was könnten wir für ihn tun? Das heutige Geburtstagskind ist unsere Republik.

Was ist eine Republik? Die Republik ist ein Land, ein Staat, in dem alle, das ganze Volk, alle Schichten, Klassen, Stände, Berufe, beide Geschlechter sich an der Herstellung des Allgemeinwohles beteiligen, also um alle öffentlichen Angelegenheiten tätig bemüht sind. An der Spitze steht kein Monarch, weder ein absoluter noch ein durch Konstitution beschränkter. Aber das ist nicht das Entscheidende. Ein Monarch kann ein Despot sein, ein Willkür ausübender Tyrann wie Iwan der Schreckliche oder wie Caligula; er kann aber auch ein heilsam schaffender Philosoph sein wie Marc Aurel; ein Schützer des Landes wie der englische Protektor Oliver Cromwell, der erste Diener des Staates wie Friedrich der Große, oder ein Menschenfreund wie Josef II. Es kann sogar vorkommen, daß sich ein Volk unter einem Monarchen wohlfühlt. Wenigstens hat dies der kluge französische Heinrich IV. angestrebt und Harun al Raschid, wie die arabische Sage erzählt, erreicht. Aber ein von oben regiertes Volk bleibt doch bevormundet, gegängelt, wenn nicht gar versklavt und ausgebeutet. Wie ein Kind erst ein ganzer Mensch wird, wenn es eine Angelegenheiten versteht und tätig selber wahrnimmt, weil es da erst in den Besitz und den Genuß aller seiner Kräfte und Fähigkeiten kommt, so ist ein Volk erst dann keine bloße Herde, wenn es nicht allein sich auf den Verstand und den Charakter seines Herrn oder Hirten zu verlassen hat, so daß seine eigenen Kräfte, seine Geistesgaben, seine Energie, seine organisatorischen Fähigkeiten einschlafen, sondern wenn jeder Volksgenosse den öffentlichen Geist und alle Angelegenheiten der Gemeinschaft mitbestimmt.

Haben wir aber dann schon eine wahre Republik, wenn sich alle Glieder des Volkes um die öffentlichen Angelegenheiten kümmern? Wenn sie eine Anstalt zum Besten aller sein soll, so müssen alle, die damit zu tun haben, auch wissen, was das allgemein Beste ist, und wenn sie es w i s s e n, es auch w o l l e n. Viele Leute glauben, das sei schon Republik, wenn alles geschieht, was die Mehrheit beschließt. Wenn ihr etwas Gescheites einfällt, so ist ja alles in Ordnung. Aber weiß denn die Majorität immer, was recht ist? Verstand und guten Willen muß man haben, ob man nun ein Monarch, eine Oligarchie von feudalen Rittern oder reichen Bürgern, ein Senat oder eine Parlamentsmehrheit ist. Haben wir nicht gesehen, daß nicht nur Monarchen, sondern auch Parlamente den Weltkrieg beschlossen haben? Ganze Völker können, wie ein einziger, Kriege wollen und führen, um sich durch Eroberungen, Unterdrückungen und Versklavung am Unglück anderer Völker zu bereichern. Ihr habt ja römische Geschichte gelernt. Diese Republik ist ein berühmtes, richtiger berüchtigtes Beispiel für das Gesagte. Solche Republiken können gefährlicher und schädlicher sein als Despotien.

Soll also die Republik eine Gemeinschaft zum Wohle aller werden, so müssen alle lernen, worin das Allgemeinwohl besteht und müssen den Willen haben, dieses durchzusetzen, sogar dann, wenn ihr privates, persönliches Interesse nicht damit übereinstimmt.

Viele glauben, daß sie ihre Bürgerpflicht erfüllt haben, wenn sie sich einer politischen Partei anschließen und nach deren Weisungen handeln. Dazu hat natürlich jeder ein Recht. Insbesondere, wenn dieser Anschluß aus guten Gründen erfolgt, aus Überzeugung, aus Sympathie oder Familientradition. Wir haben Parteien für alle Interessen, Stände und Klassen. Parteien für die Bauern, für die Arbeiter, für die Fabrikanten, für die Kaufleute, für die Beamten, und alle diese nehmen naturgemäß die Interessen ihrer Mitglieder wahr. Alle diese Interessen sind  berechtigt und in Ordnung und verdienen geschützt zu werden, solange sie niemand anderen verletzen. Der Bauer hat das klare Recht, in Frieden und ungestört die Früchte des Bodens und seiner Arbeit zu genießen und zu verwerten. Und seine Partei handelt richtig, wenn sie Einrichtungen, die ihm nützen und seine Arbeit erleichtern, schafft und darauf acht gibt, daß das Gemeinwesen nicht unternimmt, was ihm schaden könnte. Wie aber würde euch das gefallen, wenn diese Partei ihre Macht im Staate dazu gebrauchen wollte, alle, die keine Bauern sind, zu zwingen, ihre Lebensmittel zu besonders teuren Preisen beim Bauern zu kaufen? Oder wenn die Fabrikantenpartei den Bauern zwingen wollte, daß er für die Industrieprodukte, die er braucht, mehr bezahlt als sie wert sind, damit es dem Fabrikanten besonders gut gehe? Oder wenn irgendeine Partei die Fabriksarbeiter zwingen wollte, auf ihre wohlverdiente Muße, auf den Schutz ihrer Gesundheit und ihrer Sicherheit zu verzichten? Oder sie verhindern wollte, Arbeit dort zu suchen, wo sie am besten bezahlt wird? Wenn eine Partei es durch Zahl, Macht und Agitation durchsetzt, daß die Interessen irgendeiner Klasse zum Nachteil der anderen Klassen im Staate bevorzugt werden, so ist die Republik nicht besser als eine Despotie. Kurz  gesagt: die Interessen jedes einzelnen müssen auf die des anderen Rücksicht nehmen. Wir nennen einen Privatmann, der sein Wohl auf Kosten oder gar zum Schaden anderer fördert, einen elenden Egoisten. Ebenso müssen wir den Staat nennen, wenn er ebenso handelt. Die echte Republik kann nur auf allgemeiner Gerechtigkeit beruhen, mit Schonung aller für alle.

Das erste Wort der wahren Republik heißt: Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu. Dieser einfache Satz, den ihr ja alle kennt, ist die Grundlage alles sozialen Lebens, des Staates und der ganzen Zivilisation. Dieser bescheidene Satz verwirft den Streit in der Kinderstube, den Unfrieden in der Schule, den Parteienzwist, die unaufrichtige Diplomatie und verdammt den Krieg, der einen Staat auf Kosten des andern vergrößert und bereichert. Er fordert gebieterisch, daß die Staaten und Völker miteinander umgehen wie anständige Menschen im Privatverkehr: mit Achtung und Rücksicht, liebenswürdig und höflich, krasse Eigenliebe, Roheit und Unhöflichkeit ablehnen. Durchboxen gehört nicht in die Republik.

Dieser Satz: Ne fais pas á autrui ce que tu ne voudrais pas qu’on te fasse, braucht nicht erst bewiesen zu werden. Er ist, wie die Logiker oder Mathematiker sagen, ein Axiom, ein Satz, der von selbst einleuchtet. Weshalb Vischer in seinem Roman „Auch Einer“ seine Helden sagen läßt, das Moralische verstehe sich von selbst, alle zehn Gebote fließen aus diesem Satze. Jedes denkende Hirn, jedes fühlende Herz schafft diesen Satz sozusagen neu aus sich selbst heraus, sonst könnte die Welt längst nicht mehr bestehen. In unaufhörlichem Streit und Kampf müßte die Menschheit zugrunde gegangen sein, natürlich ohne auch nur die kümmerlichste Kultur und Zivilisation entwickelt zu haben. Und auf die wollt ihr doch nicht verzichten?

Die wahre Republik ist die Verwirklichung der Gerechtigkeit für alle unter Mitarbeit aller. Auf diesem Fundament erst kann die  zweite Stufe des menschlichen Zusammenlebens aufgebaut werden, die auf dem indischen Worte beruht: Hilf, wo du kannst, denn wer nichts tut, tut übles. Die Gerechtigkeit besteht nämlich nicht in der bloßen Enthaltung von Schadentun, Verletzen, Kränken. Natürlich kann man damit schon ein ganz anständiger Mensch sein. Aber das ist zu wenig. Euch kommt ein solcher Mensch sicher kalt und wenig sympathisch vor. Und er erinnert euch an Kellers „gerechte Kammacher“, die ihr ja alle nicht leiden könnt. Er lebt nämlich nach dem egozentrischen Grundsatz: „Sehe jeder, wo er bleibe, sehe jeder, wie er’s treibe, und wer steht, daß er nicht falle.“ Ein richtiger Mensch aber, den geht es sehr an, daß auch die anderen, gleichgültig, ob mit oder ohne ihr Verschulden, nicht fallen. Ist er aber gar glücklich, so hat er das Bedürfnis, alles  um sich her wenigstens leidlos zu sehen. Das ist der innerste Kern des Christentums, welches als notwendige Ergänzung zu der Gerechtigkeit des alten Dekalogs hinzugetreten ist.

Oft hört ihr, Republik sei nichts anderes als Freiheit. Aber die Freiheit ist nichts Positives. Man kann sie definieren als Abwesenheit von Gewalt. Solange Gewalt von Despoten, Siegern und Eroberern, von Cliquen, Klassen, Parteien, Bündnissen oder Banden sich geltend machen kann, gibt es keine Gerechtigkeit. Freiheit ist also nichts Aufbauendes, sondern bloß die unentbehrliches Vorbedingung für das ordentliche Zusammenleben der Menschen. Das Positive aber muß gelehrt und geübt werden.

Auf unsere junge Republik dürft ihr stolz sein. Sie ist nicht in guten, friedlichen Zeiten, durch den starken Willen, den Freiheitsdrang oder die Selbstbesinnung einzelner geschaffen worden. Eine gewaltige internationale Katastrophe hat wie ein Sturmwind die alten Herren hinweggefegt und uns vor die Notwendigkeit gestellt, das neue Gemeinwesen aus eigener Kraft unter den schwersten Verhältnissen aufzubauen. So ist uns eine Aufgabe zuteil geworden, unvergleichlich schwerer als etwa jene der Schweizer, deren Vorfahren vor Jahrhunderten ihre politische Freiheit verteidigt und erobert haben. Diese haben es leicht, ihre Gemeinschaft langsam und bedächtig zu immer besserer Gesittung weiter zu gestalten. Aber je schwieriger die Aufgabe, desto größer die Ehre und Freude am Geleisteten. Was schon in wenigen Jahren geschehen ist, ist nicht wenig. Wenn ihr bedenkt, daß unser Land im Zustand äußerster Zerrüttung, wirtschaftlich fast zugrunde gerichtet, seiner besten Männer beraubt, seiner wichtigsten Hilfsmittel entkleidet, sich neu zu fassen und nicht nur neu zu organisieren, sondern erst wieder lebensfähig zu machen hatte, so werdet ihr verstehen, was das heißt, daß es bei uns im Lande keine äußerste Unordnung gegeben hat, daß wir den auflösenden Kampf aller gegen alle zu vermeiden gewußt haben. Wir haben unsern armen Staat in leidlicher Ordnung wieder aufgebaut, sind ein geachtetes Mitglied der europäischen Völkerfamilie geworden und ein wichtiges Stück der Kulturgemeinschaft geblieben. Ja, es gibt sogar einige Dinge, in denen wir anderen Ländern als Beispiel dienen. Dies alles ist das Verdienst gewisser Eigenschaften des Österreichers. Sein Sinn für geduldiges und rücksichtsvolles Zusammenleben, für Verständigung und Ausgleichung von Gegensätzen macht ihn für die Republik besonders geeignet. Diese Eigenschaften haben uns vor der Anarchie verzweifelter zurückströmender Armeen bewahrt, vor Aufständen hungernder Volksmassen, vor blutigen Gewalttaten der Revolution, wie vor Handstreichen der Reaktion. Die Zusammenarbeit der verschiedenen Interessengruppen, Parteien und Bestrebungen könnte in der Geschichte, wenn die Geschichte Luft hätte, auch schöne Dinge aufzuschreiben, als ein Beispiel aufgezeichnet werden, wie sich ein Volk durch seinen Charakter aus der äußersten Notlage hilft.

Die Eignung zum Republikaner ist die erste Voraussetzung für die wahre Republik. Da ihr sie besitzt, wird es euch leicht sein, alles zu lernen, was zu einem rechten Republikaner gehört, und es dann auch mit aller Liebe zu eurem schönen Vaterland zu tun. Wenn wir alle fest wollen, fleißig arbeiten, nicht nach links und nicht nach rechts sehen, sondern geradeaus, nicht groß tun und nicht verzweifeln, dann kann unsere Republik ein wohnliches Heim für alle werden. Dann wird sie mit Recht Republik heißen.

Legt euren Willen zur Republik als Geburtstagsgeschenk zu ihren Füßen.

In: Neue Freie Presse, 12. November 1925, S. 14

René Fülöp-Miller: Das Kino als Konkurrent der – Kirche. Trotzki über das Kino.

Die Russischen Machthaber betrachten Philosophie, Kunst, Dichtung, Malerei und Musik, einzig und allein von dem Standpunkt ihrer parteipolitischen Verwendbarkeit ; bei jedem Kunstwerk wird nur danach gefragt, inwieweit es für die „Vergesellschaftung“, für die Propaganda kommunistischer Ideen unter den Massen geeignet sei. So ist es denn nicht zu verwundern, daß die Bolschewisten auch die große suggestive Kraft des Films erkannt, und daß sie daher dem Kino eine ganz besondere Bedeutung zugemessen haben : Filmautoren und Kinoschauspieler, Operateure und Kinounternehmer gelten in Rußland als die „Stoßtruppen der militanten marxistischen Propaganda“.

In jener großen „Offensive gegen die alten Sitten und Bräuche“ wurden die bolschewistischen Filmleute mit einer sehr wichtigen Aufgabe betraut : sie sollten den Kampf gegen den Zauber der orthodoxen Kirche und gegen die religiösen Traditionen des russischen Lebens erfolgreich durchführen. Das Kino aber sollte gleichzeitig auch die Bevölkerung von dem Banne des Branntweins befreien, der in Rußland einen außerordentlichen Einfluss auf das Leben der Menschen ausgeübt hatte.

Die Führer der bolschewistischen Agitation hatten zuerst versucht, durch „aufklärende Vorträge“, durch atheistische und antireligiöse Flugschriften gegen die orthodoxe Kirche anzukämpfen ; durch einen Appell an das „kommunistische Gewissen der Bauern“ wieder glaubte man diese vom Schnapstrinken abhalten zu können. In keiner der beiden Richtungen jedoch gelang es, mit diesen Mitteln nennenswerte Erfolge zu erzielen. So sah man sich denn zu neuen Maßregeln genötigt und entschloß sich, das Kino zum Zweck der kirchenfeindlichen Agitation sowie einer geeigneten materialistischen Schulung der Massen im weitesten Maße heranzuziehen.

Leo Trotzki ist es gewesen, der die Unzulänglichkeit einer trocken-sachlichen Aufklärungspropaganda zuerst erkannt hat ; er ist zu der Überzeugung gelangt, man müsse der Eigenart des russischen Volkes Rechnung tragen und dessen Sehnsucht nach Anschaulichem, nach Zerstreuungen und Unterhaltung irgendwie befriedigen. In einer Schrift über die „Probleme des Alltagslebens in Rußland“ versucht Trotzki, seine Parteigenossen davon zu überzeugen, daß einig und allein das Kino geeignet sei, für die alten Lebensgewohnheiten der breiten Massen in Rußland ausreichend Ersatz zu bieten.

„Wir nehmen die Menschen so,“ heißt es in dieser Schrift, „wie die Natur sie geschaffen und wie die alte Gesellschaft sie zum Teil erzogen, zum Teil verstümmelt hat. Wir suchen nach Stützpunkten in diesem lebendigen Menschenmaterial, um unseren Parteihebel anzusetzen.“ Der Wunsch nach Aufheiterung und Zerstreuung, heißt es weiter, sei „ein durchaus berechtigtes Empfinden“ und darum müsse diesem Bedürfnis in immer künstlerischerer Weise entsprochen werden ; das Vergnügen solle gleichzeitig „zum Werkzeug der kollektiven Erziehung“ werden, „ohne pädagogische Bevormundung, ohne aufdringliches Hinlenken auf die Bahn der Wahrheit“.

„Das wichtigste Werkzeug auf diesem Gebiete, das alle anderen bei weitem übertreffen kann“, sei gegenwärtig das Kino, „Diese verblüffende Neuerung auf dem Gebiete des Schauspiels“, führt Trotzki des näheren aus, „hat das Leben der Menschheit mit unerhörter Geschwindigkeit durchdrungen. Der Kinoleidenschaft liege das Bestreben, sich abzulenken, zugrunde, der Wunsch, etwas Neues zu sehen, zu lachen und zu weinen. „Allen diesen Bedürfnissen gewährt das Kino die unmittelbarste und lebendigste Befriedigung, fast ohne an den Zuschauer irgendwelche Anforderungen zu stellen. Das erklärt die dankbare Liebe des Publikums für das Kino, für jene unerschöpfliche Quelle der Eindrücke und Erlebnisse. Dies ist der Punkt, ja sogar jene Fläche, auf der die erzieherischen Bemühungen des russischen Sozialismus ansetzen können.

Indem das Kino anzieht und zerstreut, wetteifert es schon eben dadurch mit dem Wirtshaus und dem Schnaps, vor allem bei dem Problem, das der Achtstundentag mit sich gebracht hat, dem Problem, das freie Drittel des Tages angenehm auszufüllen. „Könnten wir“, fragt Trotzki, uns nicht dieses unvergleichlichen Werkzeuges bemächtigen?“ „Warum nicht?“ antwortet er. „Die zaristische Regierung hat durch ein weitverzweigtes Netz staatlicher Branntweinschenken eine jährliche Einnahme von rund einer Milliarde Goldrubel erzielt ; warum sollte der Arbeiterstaat nicht ein Netz staatlicher Kinos schaffen können, diesen Apparat der Zerstreuung und Erziehung immer tiefer in das Volksleben eingreifen lassen, hiemit den Alkohol bekämpfen und zugleich hohe Einnahmen erzielen? Gewiß wäre die Durchführung dieses Projekts nicht einfach, aber sie wäre auf jeden Fall natürlicher und zweckmäßiger als die Wiederaufrichtung des Schnapsvertriebes.“

Trotzki führt dann weiter aus, wie das Kino nicht nur mit der Kneipe, sondern auch mit der Kirche konkurrieren könne. Die russische Arbeiterklasse hänge nur aus Gewohnheit und Bequemlichkeit an dem Zeremoniell der orthodoxen Kirche. In diesem aber spiele das Element der Zerstreuung und der Ablenkung eine gewaltige Rolle. Da Bedürfnis des Menschen nach dem theatralischen Wesen werde durch die Kirche in sehr geschickter Weise befriedigt, während die antireligiöse Propaganda diesen Wirkungen bisher nichts Gleichwertiges habe entgegenstellen können.

Und hier, meint Trotzki, werde unser Denken wiederum ganz von selbst auf jenes mächtige und am meisten demokratische Werkzeug der Theatralik, auf das Kino, hingelenkt. Das Kino entfalte auf der weißen Leinwand viel großartigere Effekte als selbst die reiche, durch Erfahrung von Jahrtausenden hindurchgegangene Kirche. „In der Kirche wird immer nur eine religiöse Handlung Jahr für Jahr wiederholt, während das Kino von Tag zu Tag andere fesselnde und packende Vorführungen zu bieten vermag. Das Kino zerstreut, klärt auf, erstaunt die Phantasie durch seine Bilder und befreit die Menschen von dem Drang, in die Kirche zu gegen. Das Kino ist also auch die große Konkurrenz der Religion und darum jenes Werkzeug, dessen wir uns unbedingt bemächtigen müssen.“

Zum Beweis für die Richtigkeit seiner Ansicht führt Trotzki auch noch die Erklärung eines Arbeiters an, den er über die Wirkung des Kinos auf die Massen befragt hatte.

„Die Arbeiter,“ erklärte Trotzkis Gewährsmann, „sind jetzt für das Kino begeistert. Ich selbst liebe es sehr und die Leute gehen in Massen hinein. Freilich hat es in der letzen Zeit eine Menge spannender, aber im übrigen wertloser Filme gegeben, die das Publikum stark demoralisiert haben ; im allgemeinen aber ist das Kino doch eine große Errungenschaft und ein bedeutender Faktor der Kultur. Es muß nur darauf geachtet werden, daß die Filme einen anderen, wertvolleren Inhalt bekommen.“

Es ergibt sich aber aus der Betrachtung der wahren Situation, daß der Versuch, das Kino in dem Kampfe gegen Orthodoxie als revolutionäre Waffe zu verwenden, als gescheitert anzusehen ist.

Die russischen Kinos sind allerdings durchaus sehr gut besucht, aber daneben erfreuen sich, nach wie vor, auch die Kirchen eines regen Besuches ; der in seinem Innersten durchaus konservative Russe ließ sich eben aus seinen alten Gewohnheiten auch durch die Kinorevolution nicht aufstören. Und so kam es auch, daß die große Masse, ungeachtet selbst aller jener, zweifellos wertvollen und gutgemeinten antialkoholistischen Kulturbestrebungen Trotzkis, auch seinen Trinkergewohnheiten weiterhin vielfach treugeblieben ist.

Zur Zeit des strengen Alkoholverbots der letzen Jahre wurde eben neben dem eifrigen Kinobesuch heimlich, im stillen Kämmerlein, Schnaps gebrannt ; jener berühmt gewordenen „Samagonka“, der erst verschwand, nachdem jetzt das Alkoholverbot aufgehoben worden ist. Die Heilslehre von der sittigenden Kraft des Kinos hat also versagt und der Film wird wohl auch in Rußland sich mit der Rolle begnügen müssen, die er innerhalb seiner wahren Grenzen auch in Westeuropa unter Umständen als ein wertvolles Kulturinstrument zu spielen vermag.

In: Neue Freie Presse, 1. Januar 1926, S. 27

Ernst Fischer: Wandlung des russischen Geistes

Russische Revolution! Ungeheures Gefühl, sagenhaftes Erlebnis über alle Kritik hinaus. Man kann das Resultat der großen Erschütterung prüfen, so weit uns das Resultat bekannt ist, man kann die wirtschaftlichen, politischen, sozialen Ergebnisse des Bolschewismus, des Leninismus analysieren, man kann seine Zeitung bejahen oder verneinen, anerkennen oder verwerfen, man kann sich in tausendfältiger Form mit ihm auseinandersetzen – aber es bleibt ein Rest, der aller Vernunft entrückt scheint: die Intensität, die Größe dieser Revolution, die unvergleichlich und beispiellos ist. Und, je mehr die vulkanische Masse auskühlt, je deutlicher das Produkt, der Niederschlag der gigantischen Gärung mit all den Widersprüchen, die das Wesen der Wirklichkeit sind, statistisch erfaßbar, objektiver Betrachtung und subjektiver Wertung zugänglich wird, desto bezwingender wird die Erkenntnis, daß diese Revolution viel mehr als ein politisches Faktum, daß sie ein geistiges Ereignis von welthistorischer Bedeutung war. Und so selbstverständlich es ist, daß man an politischen Überzeugungen, taktischen Maßnahmen, wissenschaftlichen Theorien Kritik übt, daß man sie für gut oder schlecht, klarer gesagt, für nützlich oder für schädlich hält, so töricht wäre es, geistige Umgruppierungen, kulturelle Wandlungen zu kritisieren, an dem zu messen, was bisher war. Man kann ein Buch, ein Bild, ein Theaterstück technisch bewerten – obwohl auch das sehr schwierig und problematisch ist – man kann eine Kunstform für diletantisch, wirkungslos, unecht halten, aber man kann nicht die Lebensform, die geistige Haltung, deren Ausdruck sie ist, mit einer abfälligen, höhnischen oder entrüsteten Kritik aus der Welt schaffen. Ihre Bedingungen nachzuspüren, ihre Elemente zu untersuchen, ihr Lebendiges zu erfühlen, das ist Aufgabe dessen, der sie darzustellen versucht – ob er sie anerkennt oder ablehnt, ist seine Privatsache. Nur wenn er liebt oder haßt soll er zu seiner Liebe, zu seinem Haß sich bekennen – denn dann will er nicht sie, die fremde Lebensform, sondern seine an ihr sich entzündende Leidenschaft darstellen.

Solche Leidenschaftsausbrüche haben wir häufig erlebt – und es schien lange Zeit, als könne man über die geistige Bedeutung der russischen Revolution nur in Ekstasen der Liebe, in Krämpfen des Hasses sprechen: wurde von einer Seite alles, was diese Revolution gebar, bedingungslos wie Blendwerk der Hölle verdammt, so wurde es von der andern Seite wie Erfüllung tiefster Träume gefeiert. […]

Interessanter und wesentlich ergiebiger als die maßlosen Manifeste für und wider die geistige Schöpfung des Bolschewismus, als das unfruchtbare Geschwätz der bürgerlichen Ästheten war ein Buch des großzügigen Journalisten René Füllöp-Miller, „Geist und Gesicht des Bolschewismus“, das vor einigen Jahren erschien. Füllöp-Miller hatte begriffen, daß die russische Revolution mehr war als ein politisches und wirtschaftliches Ereignis, daß sich dort im Osten ein kultureller Umsturz vollzogen hatte, dessen Konsequenzen noch unabsehbar sind. Und er fürchtete, daß das, was in Rußland geschah, Europas Kultur gefährden, Europas Seele vergewaltigen könne. Daher wollte er warnen, wollte er zeigen, daß die neue Lebensform europäischem Wesen vollkommen fremd sei, daß der Bolschewismus als geistiges Erlebnis zwar asiatische Barbaren, nicht aber westliche Kulturmenschen befriedigen könne. Trotz dieser kaum verhüllten Tendenz und obwohl sehr viele Behauptungen des geistreichen Autors unbewiesen, sehr viele Kombinationen gewaltsam, sehr viele Erklärungen oberflächlich sind, ist das Buch wichtig, nicht nur, weil es ein großes kulturhistorisches Material enthält, sondern auch und vor allem, weil es einen ernsthaften Versuch darstellt, hinter der wirtschaftlichen und politischen Umgestaltung die geistige Wandlung zu sehen. Das Füllöp-Miller meint, die Mechanisierung des Lebens, die Entpersönlichung des Menschen, der Triumph der Maschine über die Seele sei der Sinn dieser Wandlung, daß er den Schatten Dostojewskys beschwört, der ihm wie den meisten Europäern als der Inbegriff des „Russentums“ (einer unveränderlichen und undefinierbaren Substanz) gilt, um über den Leninismus Gericht zu halten, daß er über Experimente sich lustig macht, ohne zu untersuchen, was sie bedeuten – das alles vermindert zwar das Gewicht seiner Leistung, entwertet sie aber nicht. […]

Die Revolution war die gewaltsame Lösung, der explosive Ausgleich. Der Feudalismus wurde zertrümmert, der Bauer bemächtigte sich des Bodens, das Mittelalter verbrannte und in den Flammen ahnte man eine neue Welt. Ungeheuerste Aktivität entfaltet sich; in Lenin, dem gewaltigsten Tatmenschen aller Zeiten, kündigte sich auf einmal der neue Typus an, in ihm verkörperte sich das Rußland des zwanzigsten Jahrhunderts. Probleme der Wirklichkeit waren zu lösen, wirtschaftliche, gesellschaftliche, politische Probleme, Gestaltung des Staates war möglich, war brennend wichtig, Trägheit, Schwermut und Passivität mußten als ärgste Laster gelten – die historische Situation siegte über die „russische Seele“. Daß diese ungestüme und radikale Wandlung groteske Übertreibungen zeitigte, daß der fanatische Wille, die Entwicklung eines halben Jahrtausends in einige Jahre zusammenzupressen und nicht nur alles Versäumte nachzuholen, sondern plötzlich allen voran in die Zukunft zu stürmen, oft in phantastischen Experimenten zum Ausdruck kam, daß die Verneiner jeder Romantik aus der Sachlichkeit selber etwas Romantisches machten, war kein Wunder: und der scheinbare Widersinn, daß diese russischen Revolutionäre die sehr primitiven Wirtschaftsformen dem Sozialismus aufzwingen wollten, das kapitalistische, mechanistische Amerika vergöttern, ist nichts Ungewöhnliches, nichts dem „Russentum“ eigentümlich. Es gibt eine Reihe von deutschen Literaten, die ebenso verzückt von Amerika reden, für die Großstadt, Technik, Maschine, die in der Seele des Amerikaners keine besonderen Gefühle auslösen, weil er sie als selbstverständliche Elemente seiner Welt betrachtet, lyrische, mythische Angelegenheiten sind, ungefähr so, wie für den Emporkömmling die Manieren der guten Gesellschaft etwas Geheimnisvolles und Beunruhigendes sind; tausendmal mehr in dem wirtschaftlich unentwickelten Rußland, in dem „Elektrifizierung“ ein Zauberwort, das Taylor-System ein Kultus, die Technik ein Glaubensbekenntnis wurde. Wer in Rußland an den Erfolg der Revolution glaubte, mußte voll Inbrunst an neue technische und ökonomische Formen glauben, mußte sich mit Pathos und Leidenschaft zu ihnen bekennen, mußte sie fast ins Religiöse steigern, weil er sonst empfindungsgemäß die Zusammenhänge zwischen den Schwung des Geistes, dessen jede Revolution bedarf, und den realen Aufgaben der russischen Revolution verloren hätte. An Inbrunst, an Spannkraft, an Gläubigkeit fehlte es den Revolutionären nicht, aber an Maschinen, an Fabriken, an Elektrizitätswerken fehlte es und deshalb blickten sie voll Sehnsucht und Neid nach Amerika und deshalb mußte die mangelnde Realität durch den glühenden Willen, sie förmlich aus der Erde zu stampfen, ersetzt werden. Das Bekenntnis zu Amerika, es war das Bekenntnis zu den Voraussetzungen der Sozialisierung, die man in übermenschlicher Arbeit der Geschichte abtrotzen wollte.

Das formte die neue Geistigkeit: die Kunst, vor dem Zusammenbruch der alten Mächte psychologisch, fatalistisch, Sprengstoff der Seele, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in das Nervensystem des Menschen konzentrierend, wurde nun „materialistisch“, aktivistisch, Sprengstoff der Gesellschaft, die Welt in die Wirklichkeit der Dinge und Ereignisse konzentrierend. Majakowsky, einer der Dichter, die im alten Rußland die Würdigkeit und den Überdruß des an allem verzweifelnden geistigen Menschen verkörperten, begeisterte sich an den Umsturz des Bestehenden, an der grellen Härte und Sachlichkeit der neuen Forderungen, er, der an den Sinn der Kunst nicht mehr glaubte, begriff angesichts der Revolution, daß man der Kunst neuerlich einen Sinn geben konnte: Aufruf zum Kampf, Ausdruck dessen, was nun wichtiger und bezwingender waren als alles, Ausdruck der politischen und sozialen Ereignisse. Die Sprache als Instrument der schönen Gefühle, der einsamen Seelenkomplikationen war abgebraucht, nun aber gab es Worte, die wie mit Ekrasit geladen waren, die man wie Bomben in die Masse schleudern konnte, die unmittelbar und berauschend wirkten: Elektrifizierung, Technik, Revolution, Internationale, Rote Garde – und diese Worte wie Blöcke aneinandergereiht, gegenständlich und dennoch durchfiebert von Fanatismus, waren die Elemente der Poesie, die nun begann. Einfacher und wuchtiger als die Gesänge des intellektuellen Majakowsky waren die plumpen Hymnen Budnji Demjans, poetische Tagesbefehle der Revolution, unverschnörkelte Manifeste des Klassenkampfes.

Es würde zu weit führen, alle Experimente zu schildern, in denen der Geist des Bolschewismus um Ausdruck rang: was diesen Experimenten gemeinsam war, ist die Erkenntnis von der sozialen, von der revolutionären Funktion der Kunst, die Erkenntnis, daß es im Sturme der Weltgeschichte nicht auf das Schicksal des einzelnen ankommt, nicht auf Seelenprobleme, nicht auf das, was die Menschen unterscheidet, sondern auf das, was sie zu kollektiver Aktion vereinigt, daß es sich, wenn Tausendjähriges stürzt und Niegewesenes aufsteigt, nicht um den „Ewigkeitswert“ einer Dichtung, eines Kunstwerkes, sondern um Aktualität und politische Wirkung handelt. Erst, wenn eine Klasse ihr Wesen gesellschaftlich verwirklicht, wenn sie das in ihr waltende revolutionäre Prinzip erfüllt hat, wenn nicht mehr die Macht zu erobern, sondern die Macht zu verwalten ist, kann sie versuchen, im Kunstwerk unpolitisch und weise zu sein! Solange sie kämpft, solange sie gegen alte Gesellschaftssysteme anrennt, ist Kunst ein Mittel, ist Kunst eine Waffe in diesem Kampf. Das haben die Künstler des Bolschewismus erkannt. Und mit unerhörter Entschlossenheit unterwarfen sie das Theater, das Kabarett, die Literatur, alle Kunstgattungen dieser Erkenntnis. Es gelang ihnen, das Theater, den Film, die kulturellen Gebilde, die am stärksten und unmittelbarsten soziologisch bedingt sind, von Grund aus zu wandeln, es gelang ihnen nicht oder nicht in diesem Maße bei allen übrigen Kunstgattungen.

[…]

Aber die freie, die auf sich selber angewiesene Kunst?

Sie ist lebendig wie nirgends in Europa. Und vor allem der russische Roman ist wieder bedeutungsvoll, fast so bedeutungsvoll wie der russische Film.

Um Romane zu schreiben, bedarf der Künstler einer gewissen Ruhe, einer gewissen Stabilität. In der ersten Revolutionszeit konnten keine Romane entstehen, in Gedichten und Theaterstücken entlud sich die geistige Spannung: als aber der Bolschewismus gesichert war, als Trotzky der Armee „das Knochengerüst eingerenkt“ und Lenin die Wirtschaft verhältnismäßig stabilisiert hatte, als man die Ereignisse einiger Jahre überblicken konnte ohne fühlen zu müssen, daß morgen schon alles anders sein könne als heute, war es wieder möglich, Romane zu schreiben. Und es zeigte sich, daß die junge Generation in Rußland, obwohl das Tempo der Entwicklung auf einmal stockte, obwohl die wirtschaftliche Reaktion die Seelen ernüchtert hatte, obwohl das Resultat der Ereignisse eine große Halbheit ist, die Zeit, in der wir leben, begreift, tausendmal besser begreift als die junge Generation in Deutschland, in Frankreich, in England. An der Idee des Bolschewismus gemessen enttäuscht seine Wirklichkeit: aber diese Enttäuschung verleitet die jungen Russen nicht dazu, aus der Wirklichkeit in die Romantik zu fliehen – im Gegenteil: stolz und tapfer bekennen sie sich zu dieser Wirklichkeit, schonungslos setzen sie sich mit den Problemen der Revolution, mit den Problemen des Sozialismus auseinander, unsentimental, in glühender Sachlichkeit schreiben sie die Geschichte der letzten Jahre. Immer ist es die Gesellschaft, die sie interessiert, immer ist es ein überpersönliches Schicksal, das sie schildern, immer stellen sie Menschen dar, in denen das welthistorische Ringen um die Neugestaltung aller Beziehungen zwischen den Menschen und Dingen sich spiegelt, nein, in denen es sich vollzieht. Sie wissen genau, daß es nichts Größeres gibt als die Revolution, deren erste Phasen wir erlebt haben, und weil sie das wissen, gibt es für sie nur einen Stoff: eben diese Revolution. In den westlichen Ländern knüpfen die meisten jungen Künstler dort an, wo man 1914 aufhörte, schwächlich und unfruchtbar: mag sein, daß die Revolution in Deutschland zu schnell vor sich selber erschrak, um künstlerisch so verpflichtend zu wirken wie die Revolution in Rußland, jedenfalls gibt es in Deutschland sehr, sehr wenige Bücher und Theaterstücke, die wichtig sind, wogegen in Rußland ein wichtiges Kunstwerk nach dem andern produziert wird.

Da ist vor allem Gladkows großer Roman „Zement“. Das Problem der Nepzeit, das Problem der siegreichen Revolution wird aufgerollt. Gljep, der Rotgardist, kehrt aus hundert Schlachten in sein Heimatsdorf zurück. Er träumte von einem romantischen Wiedersehen mit all den hübschen Dingen, die er verlassen hatte, von einer Familienidylle, von einem Leben wie eh und je.

Aber die Wirklichkeit ist anders als dieser Traum, die Straßen sind schmutzig und ungepflegt, die Häuser verwahrlost und halb verfallen, die Menschen hungrig und faul. Und die Frau, die kleine verliebte Frau, nach der er sich sehnte, ist anders geworden, hart, sicher und selbstbewußt, sie hat das Kind in ein Kinderheim gegeben, sie kümmert sich nicht um den Haushalt, sie sitzt nicht am Fenster und wartet auf ihren Gljep, sie spielt in der politischen Organisation eine Rolle, studiert marxistische Werke, sie nimmt an Sitzungen und Versammlungen teil, sie hat eine eigene Meinung und einen eigenen Willen. Ja, der Krieg hat alles umgestürzt, die Revolution hat alles verwandelt. Und wie ein Kleinbürger, wie einer der nichts von der neuen Zeit wissen will, bäumt sich Gljep gegen das veränderte Leben auf. Er war bereit, sein Blut und seine Gesundheit für die Revolution hinzugeben, aber sein Heim, seinen Traum von Familienglück und Ehebehaglichkeit, den will er nicht hingeben, den hält er für sein ewiges Recht. Das ist das eine – das andere ist nicht so persönlich, aber nicht weniger problematisch: die Fabrik, die große Zementfabrik, steht schon seit vielen Jahren, die Arbeiter, zermürbt und korrumpiert von dem dröhnenden Müßiggang des Krieges, der Revolution, wollen lieber in ihren Klubs debattieren, um jedes Stück Brot mit den Kommissären streiten, in Hunger und Elend verkommen als arbeiten. Nein, sie denken gar nicht daran, die verrosteten, von Spinnweb überwucherten Maschinen wieder in Gang zu setzen, sie lungern zerlumpt herum und warten auf irgendein Wunder. Nur der Maschinenmeister behütet seine eisernen Lieblinge, nur einer der alten Ingenieure hockt in seinem Arbeitszimmer über den Zeichnungen, gespenstischer Wächter einer zerborstenen Welt.

[…]

Arbeiten muß man, sagt Gljep, das ist die einzige Lösung. Und er reißt die Genossen mit, die Muskeln straffen sich wieder, das Blut pulsiert in den Adern. Arbeit, Arbeit, Flamme, die über alles Persönliche, alles Quälende und Verworrene triumphiert. Und die Maschinen erwachen aus ihrem Schlaf, die Kolben stampfen, die Transmissionen singen, die Förderkörbe klimmen den Berg hinan. Ungeheure Musik der Arbeit. – Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, hundert Schwierigkeiten müssen sie überwinden, hart und grausam müssen sie sein, um sich das Nötigste zu beschaffen, aber sie greifen zu, sie sind nicht sentimental, sie kennen keine Schonung. Kosaken, Weißgardisten überfallen das Werk, da legt man die Schaufel weg und nimmt das Gewehr, da kämpft man mit derselben unerbittlichen Kraft gegen Menschen, wie man gegen den Widerstand der Materie kämpfte – und kehrt wieder zurück zur Arbeit, die das Entscheidende ist. Oh, sie haben’s nicht leicht, Gljep und die Seinen, sie müssen mit Dingen fertig werden, von denen sie früher nichts wußten, mit Problemen der Verwaltung, der Organisation, der Weltanschauung, mit Problemen der Erotik und des Gesellschaftslebens, der Freiheit und der Verantwortung. Alles müssen sie aus sich selber vollbringen, es gibt keine Traditionen, unbeholfen und schwerfällig, wie man ist, muß man die neue Welt gestalten, muß man sich in der neuen Welt zurechtfinden. Aber über alles hinaus donnert und singt das Werk, das sie, die Arbeiter, auf eigen Faust, aus freien Stücken, wieder in Gang gebracht haben, steigt der Hymnus der Arbeit, der Hymnus der Revolution empor.

Tapfer, ehrlich und strotzend von Lebenskraft ist dieses Buch, „unrussisch“, wenn man nur die Dichter des Zarenreiches als russisch gelten läßt, durchstürmt von ungestümer Aktivität. Gladkow macht sich und den Lesern nichts vor, er weiß, daß in Rußland nur ein Bruchstück dessen verwirklicht wurde, was man verwirklichen wollte, er kennt die Schwächen und Mängel der bolschewistischen Gesellschaft, er schildert sachlich und objektiv – aber durch all das braust und jubelt das leidenschaftliche Bekenntnis zu der Wandlung des Lebens, zu der Wandlung des Geistes in Rußland, seine Liebe zur Revolution und zur Arbeit. Und darum ist das Buch nicht „naturalistisch“ und nicht „romantisch“, nicht ein Stück Literatur, sondern ein Stück Leben.

[…]

Erkennt man in diesen drei Romanen, die aus einer Fülle von interessanten und bedeutenden Büchern herausgegriffen wurden, die Wandlung des russischen Geistes? Welch ein Bekenntnis zur Wirklichkeit, welch eine Härte und Präzision, welch ein unverschwommener, unromantischer Wille zur Lebensgestaltung! Das ist nicht mehr die „russische Seele“, die man wie eine rätselhafte Gottheit verehrte, das ist der Geist des Marxismus, der Geist der Revolution, der unsere Sprache spricht wie die Sprache des jungen Rußland. Die Probleme, die Tragödien, die Erkenntnisse jeder Revolution werden in diesen Büchern dargestellt, und während die deutsche, die westliche Literatur noch immer an der Vergangenheit schmarotzt, ist die russische Literatur heute der Ausdruck unserer Zeit, Flamme und Geist der Gegenwart. Darum lieben wir über alle Kritik und alle Gegensätze hinaus dieses bolschewistische Rußland.

In: Der Kampf, 1927, S. 499-507