Raoul Auernheimer: Mehr Ibsen
Jene Theaterfreunde, denen die Schaubühne mehr als einen
bloßen Zeitvertreib bedeutet und das große Amt des Dramatikers nebst allem
anderen auch eine Art weltlicher Seelsorge ist, sehen sich, wenn sie bei Ibsen
beten oder beichten wollen, in den letzten Jahren immer häufiger gezwungen,
sich auf die gedruckten Schriften dieses Dichters zurückzuziehen. Ibsen wird ja
kaum mehr in Deutschland gespielt, in Wien so gut wie gar nicht. Ist es
wirklich, wie säumige Theaterdirektoren oder oberflächliche Theatergänger so
gern zur Entschuldigung eines unentschuldbaren Mißstandes behaupten, bereits
„veraltet“ (als ob das wahrhaft Gute je veralten könnte)? Ist es der Krieg, der
eine Wandlung des Geschmackes von Ibsen weg herbeigeführt hat – im Gegensatz zu
jenem anderen Nordländer, Strindberg, den die Kriegsjahre in der Gunst des
großen Publikums so sehr befestigt haben? Oder sind es in erster Linie die
darstellerischen Mittel, die zu seiner dramaturgischen Bewältigung derzeit
mangeln? Diese letzte Vermutung, die das Phänomen, daß Ibsen nicht mehr
gespielt wird, ohne Wunder zu erklären sucht, dürfte für Wien genügen. Ibsen,
der als ein großer Dramatiker auch an den Schauspieler bedeutende Ansprüche
stellt, verlangt, um zu wirken, nach einem abgestuften Ensemble, wie es zurzeit
keine Wiener Bühne besitzt. Das Deutsche Volkstheater bildet selber keine
Ausnahme. Daß es sich trotzdem nicht davon abhalten ließ, wenigstens ein großes
Ibsen-Stück dem Spielplan neu einzuverleiben und damit eine geistige
Ehrenschuld gegen den Dichter einzulösen, ist verdienstlich, wenngleich es
fraglich bleibt, ob gerade der szenisch so anspruchsvolle und dramatisch
unzulängliche „Peer Gynt“ das hierfür geeignetste Werk war.
„Peer Gynt“, den Ibsen ebenso wie die „Gespenster“ und
manches andere seiner nordischen Prachtstücke
im sonnigen Süden, in Sorrent, zu Papier brachte, ist, obwohl unter
italienischem Himmel entstanden, eine äußerst dunkle Dichtung. Sie ist so
dunkel, daß der unbelehrte Zuschauer sich kaum darin zurechtfände und wie in
einem finsteren Walde ganz verirren müßte, wenn nicht da und dort ein Stern
durch das wirre Geäst schiene oder eine phosphoreszierende Dialogstelle ihm die
Richtung wiese. Eine solche blitzt etwa in jener Szene bei den „Trollen“ auf,
wo Peer Gynt sich mit dem Dovre-Alten unterhält. Der Dovre-Alte, der, wie die
dunkeln Ehrenmänner bei Ibsen gewöhnlich, eine philosophische Konversation
liebt, fragt den Ankömmling, unter anderm, worin seiner Meinung nach der
Hauptunterschied zwischen Mensch und Troll bestehe. Der liederliche und geweckte Bauernbursch, der Peer
Gynt ist – er soll das norwegische
Volk symbolisieren, belehren uns die Ibsen-Kommentatoren – antwortet
zynisch, der Unterschied werde so beträchtlich nicht sein. Aber der Dovre-Alte
erklärt ihm, er sei unendlich; denn, so sagt er – und von dieser Stelle geht
das Licht aus -: Das höchste Gebot des Menschen laute: „Sei du selbst!“, das
der Trolle aber heißt: „Sei du selbst – dir genug!“ Hier drückt uns der Dichter
den Schlüssel in die Hand, der in das Innere seiner Dichtung hineinführt.
Freilich,
um ihn zu gebrauchen, müssen wir vorerst ein Stück zurückgehen. Herr Gynt ist,
wie schon erwähnt, ein norwegischer Bauernbursch, eine symbolische Figur, aber
auch eine menschliche. Als solche stammt er von leiblichen Eltern, und Ibsen,
der uns einen Charakter immer auch naturwissenschaftlich durch seine Abstimmung
erklärt, macht uns gewissenhaft mit beiden Elternteilen bekannt. Die Mutter
lernen wir persönlich kennen; sie ist eine phantasievolle Närrin, unzufrieden
mit ihrem mißratenen Sprössling und doch verliebt in ihn, mit einer Ohrfeige
rasch bei der Hand, wenn sie sich über ihn ärgert, aber jederzeit bereit, ihn,
wenn ihm jemand nahetritt, wie eine Löwin ihr Junges zu verteidigen. Vom Vater
erfahren wir nur aus den Schilderungen der Mutter, daß er ein Verschwender, ein
Lump war, und das ist auch der Sohn, dazu ein Lügner, wenn auch einer von der
liebenswürdigen Sorte, ein Lügner aus Phantasie. Seine eigene Mutter beschwatzt
er, gleich in der ersten Szene mit einem erdichteten Jagdabenteuer, und da sie
ihm seine Verkommenheit vorhält, setzt sie der Unband lachend auf das Dach der
Mühle und sucht, während sie sich schreiend abzappelt, lustig das Weite. Aber
der Lügenpeter ist auch ein Don Juan, den die ehrbaren Mädchen im Dorfe meiden,
ja dem sogar die liebliche Solveig, da er sie bei einer ländlichen Hochzeit zum
Tanze bittet, angstvoll einen Korb gibt. Um sie dafür zu strafen, entführt er
von der Hochzeit weg, unter der Rase des Bräutigams, die Braut ins Gebirge,
indem er mit ihr auf den Armen die unwegsamen Schroffen emporklettert.
Am nächsten Morgen stößt er sie dann wieder von sich, ins
Elend, in die Schande; denn er liebt sie gar nicht, er liebt Solveig, und sie,
die engelsreine Solveig, liebt ihn, den wegen Frauentrubel aus der Gemeinde
Ausgestoßenen, gleichfalls. Sie sucht ihn in seiner Hütte auf, will ihr
Schicksal mit dem seinen für immer vereinigen. Allein, nun ist es dazu zu spät;
Die Verführte tritt mit ihrem Kind dazwischen, und Peer Gynt bleibt nichts
übrig als die Flucht – die Flucht vor sich selbst und, als äußerlicher Ausdruck
dieser seiner inneren Lage, die Flucht ins Ausland. Zuvor aber hat er noch eine
Szene mit der sterbenden Mutter, die dichterisch schönste des Stückes. Er lügt
sie über ihren Zustand hinweg, gaukelt ihr eine Schlittenfahrt vor, wie sie
ihn, als er noch ein Kind war, vor dem Einschlafen zu tun pflegte, und –
kutschiert sie so unvermerkt in den Tod . . . Euthanasie nennen die Ärzte diese
letzte Wohltat. Die arme Aase hat sie ganz umsonst, bloß weil sei einen so reizend
verlogenen Sohn hat.
Sollte er vielleicht trotz alldem „er selbst“ sein? In
dieser Szene hat es fast den Anschein, aber in dem nun folgenden vierten Akt
droht der Mensch in Peer Gynt ganz zum Troll auszuarten, das heißt zu einem
Erzegoisten, der, nur im materiellen Genuß, auf- und untergehend, „sich selbst
genug“ ist. Peer Gynt ist in diesem Akt, der ein Menschenalter später in Afrika
spielt, ein reicher Mann und großer Herr, ein „Kaiser“ von Heldes Gnaden, ein
„Prophet,“ dessen im Negerhandel ruhende Anfänge längst vergessen sind, ein
Lebenskünstler und Genießer, den die liebliche Anitra ausplündert und der sich
von dieser Schönen willig plündern läßt, weil, wie er sagt: „ein achtbarer
Schriftsteller behauptet, daß uns das Ewig-Weibliche anzieht . . .“ All das ist
pure Ironie, romantische Ironie, wie dieser ganze eingeklemmte und beklemmende
Akt, dessen letzte Szene, tiefsinnig bis zur Unverständlichkeit, im Irrenhause
in Kairo spielt. Der nächste, in dem Peer Gynt wieder um ein paar Jährchen
älter und um die Erfahrung reicher ist, daß der bloß materielle Egoismus
notgedrungen zum Wahnsinn führt, endigt das abenteuerliche Schicksal Peer Gynts
dort, wo es seinen Anfang nahm, in des Dichters nordischer Heimat. Es beginnt
jene Auseinandersetzung mit Gott, die den faustischen Kern dieser seltsamen
Dichtung ausmacht. Der heimkehrende Peer Gynt begegnet dem „Knopfgießer“, einem
jener unheimlichen Gesellen von nüchternster Symbolik, die Ibsen in den
Gestaltenkreis des modernen Theaters eingeführt hat. Der Knopfgießer droht dem
Gealterten, ihn einzuschmelzen, wie die meisten, die weder gut noch böse
gewesen sind und deshalb noch einmal in den Schmelztiegel zurück müssen; denn
nur diejenigen, die im Bösen ganz „sie selbst“ gewesen sind, verfallen dem
Teufel. Hier also blickt zum zweitenmal jenes rätselhafte Wort auf, und diesmal
leuchtet es auch Peer Gynt besser ein. Unwillkürlich wehrt sich sein Egoismus
gegen die Unterstellung, nicht ganz „er selbst“ gewesen zu sein. Um dem
Knopfgießer zu entgehen, will er in Gottesnamen sich sogar dem Teufel
überantworten und macht sich erbötig, den Beweis zu liefern, daß er dessen
nicht ganz unwürdig ist. Aber der „Magere“, der, als Jesuit verkleidet, mit
einem Schmetterlingsnetz über der Schulter, auf den Seelenfang ausgeht, weist
ihm diabolisch nach, daß alle
seine Sünden an dilettantischer Halbheit kranken. So droht nun Peer Gynt, vom
Teufel wie von Gott verworfen, endgültig dem Knopfgießer, der Namenlosigkeit,
der Spurlosigkeit zu verfallen. Denn „wie und wo war er, wie sein Gott sich
verstanden“, fragt er Solveig verzweifelt. Allein die mütterliche Solveig, die
all die Zeit in Treue seiner geharrt hat, ist um eine Antwort nicht verlegen.
In ihrem „Glauben, Hoffen, Lieben“, erwidert sie, war er die ganze Zeit über
derjenige, der er wirklich war, er selbst, und als solcher der Erlösung würdig.
Mit anderen Worten: Das Ewig-Weibliche zieht schließlich, wie Faust, so auch
Peer Gynt hinan – diesmal ohne alle Ironie.
Das rätselreiche,
im Lesen unendlich anziehende, aber auf der Bühne in seiner Vielbildrigkeit kaum
ohne Erlösung erträgliche Stück stammt aus Ibsens dramatischen Gesellenjahren,
in denen der spätere Meister noch tastend nach der ihm eigentümlichen Form und
Technik suchte. Halb episch gedacht, wie der ungefähr gleichzeitige „Brand“ –
Peer Gynts dramatischeres Seitenstück – dazu aus dem Märchengrund der Sage
hervorgewachsen, somit dem mit der nordischen Märchenwelt nicht vertrauten
Ausländer zur Hälfte gar nicht, zur anderen Hälfte kaum verständlich, ermüdet
die einer spannenden Verwicklung ganz entbehrende Dichtung auf der Bühne schon
durch ihre unverhältnismäßige Länge. Diese Ermüdung zu bannen, müßte die erste
Sorge des Regisseurs sein, und man kann nicht sagen, daß dies Herrn Direktor
Bernau völlig gelungen ist, so wenig, wie es vor Jahren dem in Wien
gastierenden Direktor Barnowsky gelang. Das überlebensgroße Stück ist wohl
überhaupt zu groß für einen Abend, man müßte es an zwei aufeinanderfolgenden
spielen. So wäre der vierte Akt, mit dem ein neues Stück oder das Stück von
neuem beginnt, an den Anfang des zweiten Teiles gestellt, allenfalls
erträglich, während er in der jetzigen Form ein für das Publikumsinteresse fast
unüberwindliches Hindernis bedeutet, zumal der häufige, fünfmalige Szenenwechsel
den Ablauf dieses gefährlichen Aktes immer wieder unliebsam verzögert. Diese
weltläufigen Szenen müßten, wie der zum Weltmann gewordene Peer Gynt einmal
sagt „vorüberfliegen wie ein Bonmot“, was derzeit keineswegs der Fall ist.
Hiezu wäre freilich auch erforderlich, daß die bloße szenische Andeutung an die
Stelle des realistisch ausgemalten und auf Massenwirkungen zugespitzten
Bühnenbildes träte. So vollendet dieses im einzelnen Falle geraten ist – beispielsweise
die sehr malerisch angelegte Hochzeit und das unheimliche Gemengsel
moosfarbiger Trolle – so wenig tragen diese Bilder in ihrer Gesamtheit zur
Vollendung des Ganzen bei, so wenig können sie auch vergessen machen, daß es
dem Deutschen Volkstheater für die interessante Hauptrolle an einem eigentlich
interessanten Schauspieler fehlt. Herr Everth sucht, was ihm in vieler Richtung
abgeht, durch angenehmste Mittel und eine gewisse liebenswürdige
Allerweltsmunterkeit zu ersetzen; er besetzt von Anfang an den guten Kerl, der
Peer Gynt unter anderm ist, und täuscht so eine Zeitlang darüber hinweg, daß
Peer Gynt doch auch noch mehr, noch anderes ist: die Verallgemeinerung der
Gestalt, den Ecce-Homo=Zug bleibt er uns schuldig. Die Solveig, die eine ewige Gestalt, obwohl
eine kaum angedeutete Theaterfigur ist, wird von Fräulein Denera seelisch
reizvoll verkörpert; ihr Widerspiel, Anitra, ein allerliebster Troll unter den
Weibern, dem es weniger um die Seele als um Opale und Fußspangen zu tun ist,
machte das Publikum mit Fräulein Gettke bekannt, einer zierlichen und, wie es
scheint, wohlunterrichteten jungen Schauspielerin, die auch sehr hübsch tanzt.
Dem besonderen Ibsen-Ton, jener scheinbaren Nüchternheit, die, wenn man sie
abklopft, so unheimlich klingt, kam in der Rolle des Knopfgießers Herrn Teubler
am nächsten.
Der Philosoph Otto
Weininger nennt Ibsens „Peer Gynt“ eines der gewaltigsten Erlöserdramen aller
Zeiten, nur mit dem „Faust“ und „Parzival“ vergleichbar. Diese überschwängliche
Meinung schien das durch die übermäßige Länge des Abends ermüdete Publikum der
gestrigen Aufführung nicht zu teilen, aber die hingebungsvolle Aufmerksamkeit,
mit der die meisten die Strapazen eines nicht alltäglichen Theaterabends
ertrugen, ließ erkennen, wie groß und wie allgemein das Bedürfnis nach Ibsen
ist. Das Beste an dieser wohldurchstudierten, fleißigen, von der Griegschen
Musik wie von einem goldenen Band stimmungsvoll durchwirkten
„Peer-Gynt“-Aufführung ist doch, daß sie uns zu Ibsen zurückführt. Ihr
schönster Erfolg wäre es, wenn sie unsere Theaterdirektoren veranlassen würde,
einer auf dem Theater immerhin problematischen Dichtung die Meisterstücke
Henrik Ibsens von den „Gespenstern“ bis zu „John Gabriel Borkmann“ folgen zu
lassen. Daß die Schauspieler dazu fehlen, kann auf die Dauer keine Entschuldigung
sein; wenn sie fehlen, so müssen sie gefunden und an Wien gebunden werden. Das
Wiener Theater würde sich selbst zur Armut und literarischen
Bedeutungslosigkeit verurteilen, wenn es sich einer fortwirkenden geistigen
Anregung, wie sie die Beschäftigung mit der großen Ideenwelt Ibsens bedeutet,
auf die Dauer entziehen wollte.
In: Neue Freie Presse, 21.3.1920, S. 2-3.
Stefan Zweig: Roman der Inflation (1929)
Die phantastischen Tage der Inflation, da Geld wie Gummi sich dehnte, Werte wegschmolzen wie Eisstücke auf der Herdplatte, da Unten und Oben, Armut und Reichtum innerhalb weniger Stunden sturzhaft ineinander übergingen – diese urwitzigen Tage sind den meisten heute nur mehr gespensterhaft gegenwärtig, ein Alptraum, ein tolles Feuer- und Schattenspiel. Aber andererseits sind sie noch zeitlich zu nahe, diese Tage, zu gestrig, zu vorgestrig, als dass die Historiker sich schon wissenschaftlich bewältigt hätten. Noch fehlt, hier in Oesterreich und überall, das richtige Museum des Krieges und der Nachkriegszeit mit den Photographien der verfallenden Häuser, der ausgeleerten Auslagen, der ausgedörrten Menschen, noch fehlt die klinische, wissenschaftliche Analyse jener Tollwutzeit. Bereits wird es mühsam, sich an jede einzelne Schwankung und Schwellung zu erinnern, und doch ist es ander[er]seits zu früh, in Geschichtswerken wie eine fremde Epoche unsere vorgestrige zurückzulernen: darum bedeutet diese Zwischenzeit ideale Bildnerepoche für den Künstler. Er kann, ehe die Vergangenheit ganz zum Dokument wird, also papierkalte Anschauung, noch aus eigener Erinnerung die Epoche zeichnen, einzelne Fälle zum Typischen erheben, zufällige Wirklichkeit zum gültigen Werk. Und man sieht: gerade jetzt beginnt in der deutschen Epik der Krieg erst zu sprechen1, zehn Jahre nachdem die letzten Kanonen gebellt, die letzten Mörser Mord in die Welt geschmissen haben, und jetzt auch erst scheint die Zeit gekommen, seine letzte Folgekrankheit, die Inflation, künstlerisch aufs Korn zu nehmen. Gestreift im Vorübergehen oder mit der Blendlaterne angelichtet hat diesen Morbus viennensis schon mancher: unser verstorbener Freund Paul Zifferer hat in seiner Kaiserstadt einen solchen Querschnitt durch die Uebergangszeit mit der ihm besonders eigenen Sorgfalt und Sauberkeit vorgezeichnet2, Raoul Auernheimer in einem Roman einzelne dieser Umschaltungen mit Figuren ironisch umrissen3, Felix Braun in seiner Agnes Altkirchner manche Krise lyrisch untermalt4, aber keiner von ihnen hat so zentral das Problem an der Wurzel gefaßt, beim Geld, in der tollwütigen Gier nach dem sich blähenden und schwindenden, dem plötzlich vom Himmel fallenden und über Nacht in nichts zerfließenden Geld der Inflation, keiner so ehern und hinreißend bisher das absurde Geschehnis eingekreist als Robert Neumann in seinem Roman Sintflut (Engelhorns Verlag, Stuttgart).
Robert Neumann, der diesen harten Griff getan, hatte bisher nur sein Handwerk legitimiert. Zuerst mit lyrischem Fingerspiel, einem Gedichtband, dann mit der heitern Stiläfferei Mit fremden Federn, diesem berühmt gewordenen Parodienbuch. Aber schon in der sehr gelungenen Rahmennovelle Die Pest von Lionora spürt man den geborenen Fabulisten und in der zündenden Reportage seiner Jagd auf Menschen und Gespenster einen brennend klugen, scharfäugigen Beobachter5. All dies ist aber nur Vorbereitung, nur Fingerspiel; hier in diesem Roman zeigt er zum erstenmal die Faust. Mit einem klirrenden Stoß zerschlägt er die Matt//scheibe der Vergesslichkeit, mit einem prachtvollen, unerbittlichen Ruck reißt er die Tür auf zur Kloake jener Fäulnis.
Er schont dabei nicht unsere Nerven. Gestank schlägt einem entgegen, grässliche Gärung, schwefliger Geruch von Sodom und Gomorrha. Aber mit festem Fuß stapft der Erzähler hinein in diesen phosphoreszierenden Sumpf und zieht uns unerbittlich mit. Bis zu den Knien watet er weiter durch den ganzen Stall des Augias6, den ganzen Unrat fegt er heraus ans Licht, unnachgiebig, unbarmherzig. Er greift der Zeit bis an die Eingeweide und schwemmt sie mit der Lauge durch. Sentimentale seien gewarnt: in diesem Buche geht es durchaus ungemütlich zu, nichts wird verdeckt und verschönert, nichts verschwiegen und gemildert, nicht eine falsche Gemütlichkeit in die Schwindelepoche hineingeschwindelt, sondern eher das Phantastische noch übersteigert, das Fiebrige überhitzt. Mit Aquarellfarben kann man keine Apokalypse malen; Goya und der Höllenbreughel7 sind darum die wahren Vorbilder des Erzählers Robert Neumann für diesen wilden Herrentanz ums Geld.
Ausgezeichnet schon die rein technische Anlage des Werkes. Eine Kindheit in einem Vorstadthaus. Vorn die Fabrik, gute, brave Geschäfte, gemächliche Leute, rückwärts Arme und Aermste. Dies Oben und Unten, Vorn und Rückwärts, Arm und Reich, Bürger und Proletarier, Jude und Christ natürlich sorgsam geschieden. Aber auf den Rinnsteinen des Hofes, auf den Bauplätzen nebenan spielen die Kinder gemeinsam. Sie verbinden die Gegensätze, und dank ihrer blickt man gleichzeitig in alle Türen, die wohlverschlossenen und locker angelehnten, in die guten Stuben und in die Mansarden. Das ganze Vorspiel dieses Romans überwölbt eine Kindheit, und diese dauert bis zum August 1914.
Dann kommt ein Loch. Ein schwarzer Fleck, absolute Leere, ein Nichts: die fünf Jahre Krieg. Kein Wort über ihn, keine Zeile; erst später wird man wissen, was diese fünf Jahre verändert und verwandelt haben. Der eigentliche Roman setzt ein, wie der Eisenbahnzug den Helden (wie schlecht passt ihm dieses Wort!) im Viehwaggon in zerschlissener Uniform über die Grenze zurückführt. Er kommt an mit leeren Taschen und einem gallbitteren Herzen, beschäftigungslos, fremd, ausgeheimatet und starrt das alte Haus, in dem er aufgewachsen, an wie die Kuh den neuen Zaun. Alles ist anders geworden, die Fassaden, die Geschäfte, die Menschen. Der kleine Schokoladenhändler im Vorderhaus ist gigantischer Unternehmer, Marke Omnia, er handelt mit Wolle und Seide, mit Getreide, mit Papieren und Nicht-Papieren, das heißt, mit wertlosen Aktien. Der wackere deutsche Beamte, bei dem er aufgezogen war, ist seine rechte Hand, die Greifhand, der kleine eingewanderte, halbverhungerte Samuel Klein die linke, die Versteckhand, die Denkhand geworden, ein Trio, das aus der zum Zerreißen gespannten Saite des Wiener Elends musiziert. Alle drei sind sie, jeder in seiner Art, aufgestiegen aus den kleinen Verhältnissen ins scheinbar Gigantische auf Kosten Unzähliger, die ringsum verhungern, alle drei besessen, betrunken von der Tollgier nach dem Mehr und Mehr. Und nun sieht man, wie diese Eiterblase (diese vergiftete Jauche aus fremdem Blute)8 schwillt und schwillt zu immer kankhafterer Größe, wie der Organismus des ganzen Staates durch dieses geschwürige Konzerngewächs fiebrig erschüttert wird, bis die Beule endlich platzt. Aber schon hat ihn selbst, den hundearm Zurückgekehrten, das Fieber gefasst, er wird mitgerissen, dieser unheldische Held, in eine jener kartenhaft aufgetürmten Unternehmungen, wo mit allem gehandelt wird und Geld wieder zu nichts; aus dem Viehwagen, mit dem man ihn heimtransportierte, schwingt er sich in ein eigenes Auto, saust immer höher die Serpentinen der Macht und des Erfolges hinauf, bis er plötzlich übe einer zu kühn genommenen Kurve an die Schranken des Gesetzes anrennt und abstürzt. Aehnliches ist oftmals erzählt worden, aber niemals so spezifisch die Wiener Inflation geschildert mit ihren spannweiten Gegensätzen, die gräßliche Nähe jämmerlichster Entbehrung neben polizeilich verbotenen, frenetisch verschwenderischen Unterhaltungen bei herabgelassenen Gardinen, die Spannungen innerhalb derselben Familie zwischen krassen Verdienern, leeren Snobs, überzeugten Kommunisten, das ganze Auf und Ab, Kreuz und Quer, Hinauf und Hinunter, die vollkommene Durchmischung und Durchschichtung in der riesigen Maschine Inflation, die gleichzeitig Geld zerbröselt und Seelen zerquetscht. Mit einer bewundernswerten Menschen- und Episodenfülle belegt Robert Neumann zahlenmäßig genau und exakt alle Formen dieser Geistverwirrung und Wertverwirrung innerhalb der verschiedensten Gesellschaftsschichten, aber schon selbst ergriffen von jener Besessenheit des Mehr und immer noch Mehr, schaufelt er in diesen Hexenkessel noch alles Phantastische des letzten Jahrzehnts hinein, alles was sich an Frechem und Absurdem, an Pathetischem und Perversem im geschüttelten Gefäß der Zeit herausdestillierte. Die ganzen ‚Fälle’ der Nachkriegszeit, der Fall Haarmann9, die Episode Bekessy10, die feisten Figuren unserer Pseudo-Stinnes, der fünfzehnte Juli11, alles das wird in diese schon überfüllte Sphäre noch gewaltsam hineingedrückt, nur um sie noch irrwitziger, tollwütiger erscheinen zu lassen. Manchmal werden durch solche Überfülle Gestalten in ihren Dimensionen verzerrt, das Dämonische der Figuren noch überdämonisiert: der große Schieber Abel wird zu einem Fedor Karamasow12, und sein Sohn Aljoscha, hier Ruben genannt, noch dazu Homosexueller, Hellseher und Kokainist. Ach, was pelzt er alles hinein: Häuser gehen in Flammen auf, Menschen werden gemordet, Verschwörungen geplant, schon spürt man manchmal durch die überhitzten Hitzigkeiten den angebrannten öligen Geruch der Kolportage, und noch immer schaufelt der Unermüdliche neuen Chrafit und Dynamit in sein Geschütz. Freilich, er kann sich rechtfertigen, daß gerade die großen epischen Meister wie Balzac und Dostojewski nur durch Outrierung, durch Ueberdimensionierung erst rechten Raum für ihre Riesengestalten fanden, aber von Dostojewski stammt auch das weise Künstlerwort: „Es gibt nichts Phantastischeres als die Wirklichkeit.“ Wo der Dichter Erlebnis groß zu sehen berufen ist, bedarf es keiner gewaltsamen Steigerung mehr und das Zuviel an Wahrhaftigkeit mindert die reine und endgültige Wahrheit.
Und dabei ist gerade die Darstellung des Wirklichen, die Abschilderung des Geschäftlich-Sachlichen die Genialität dieses Romans. Nie, auch bei Zola nicht, ist eine Börsenszene, das Hinaufpeitschen einer wertlosen Aktie durch Selbstsuggestion und Massensuggestion so hinreißend, so gleichzeitig wahr und dichterisch geschildert worden; bis in die Nerven hinein hat Robert Neumann in Geschäfte, Betriebe, Bündelungen, Affären und Seelenschwindeleien der Inflation gesehen, es ist eine wahre Lust, nachzulesen, wie er eine Bestechung, eine Schiebung, eine Erpressung schildert – niemals kalt, ironisch, sondern immer ingrimmig genau, leidenschaftlich beteiligt, wie Dichter sonst nur an ihren Liebesszenen und geistigen Diskussionen. Gerade diese dokumentarischen Schilderungen, wo die Zeit nicht mehr im Hohlspiegel verzerrt gesehen, sondern gleichsam unter die Lupe genommen wird, machen seinen breitströmigen, tausendwelligen Roman zu einem der wichtigsten Bücher, die wir seit Jahren aus Wien bekommen haben, halb Epos, halb zorniges Pamphlet der Schieberjahre, reich an unvergesslichen Einzelheiten und kühn in der Wölbung. An der Größe der Anlage ist hier ein junger Künstler selbst groß geworden, und schon in diesem ersten Roman erreicht er durch Ueberlegenheit der Konzeption, abwechslungsreiche Fülle der Figuren, weitgespannte Kontrastierungen jenes Welthafte, das wahrhaft wichtigen, epischen Gebilden immer notwendig ist. Und auch dort, wo er noch ins Maßlose, ins Uebermäßige sich verliert, geschieht es nur durch Leidenschaft, durch eine gewaltsam zurückgehaltene und doch wieder feurig vorbrechende Erbitterung über das Verbrecherische jener Zeit und das Gebrechliche unserer Welt – die einzige Leidenschaft also, die selbst im Uebermaß immer dem Künstler ziemt und die allein erst jedes literarische Werk menschlich legitimiert.
In: Neue Freie Presse, 8.3.1929, S. 1-3.
Richard von Schaukal: Zuchtlose Jugend und ihre Schriftstellerei (1926)
Man liest immer wieder in jüdischen Blättern, daß eine neue Jugend entstanden sei, die sich insbesondere mit dem überkommenen Verhältnis der Kinder zu den Eltern auf ihre zeitgemäße Weise auseinandersetze. Selbstbewusst, um nicht zu sagen aufdringlich, verkündigt denn auch, von den Schriftleitungen dazu aufgefordert, der und jener Vertreter dieser ›neuen Jugend‹, meist irgendein achtzehnjähriger Verfasser eines der trotz Misserfolgen im einzelnen stets als Gattung beliebten brünstigen ›Entwicklungstheaterstücke‹, seine höchst unliebsamen Anschauungen über die Ansprüche seiner Altersgenossen auf unbedingte Freiheit usw. Es melden sich dann auch unterweilen die nichts weniger als ehrwürdigen Erzeuger jener wortreichen Verfechter des Umsturzes ihrerseits in denselben Blättern zu Wort – in den illustrierten erotischen Magazinen1 fügt der rührige Verlag die willkommenen Bildnisse von Vater und Sohn bei – und orakeln resigniert über den Umschwung der Zeiten und die auf dem Gebiete des sogenannten Familienlebens bevorstehenden sensationellen Ereignisse.
Ob derlei Ergüsse ihren Lesern ebenso ekelhaft sind, wie dem, der wider Willen darauf stößt und nicht umhin kann, einen angewiderten Blick in diese ›Dokumente der Zeit‹ zu tun, ist zweifelhaft, vielmehr kaum anzunehmen, jedenfalls, wenn nicht gleichgültig, doch insofern nicht eben belangvoll als ›Leser‹ solcher ›Literatur‹ ihren Geschmack mit sich selbst abmachen mögen; aber was einmal mit aller Entschiedenheit gesagt werden muß, ist, daß in dieser ganzen Diskussion zwischen ›neuer Jugend‹ und zurechtgewiesener, aber einsichtig-verzichtender Elternschaft sich nur ein Kapitel von privater Armseligkeit [gesperrt gedr. im Orig.] zu maßgebender Bedeutung aufspielt. Mögen die Familien, um die es sich hier handelt – sie sind alle irgendwie mit der herrschenden jüdischen Literatur unauflöslich verwoben – ihre Erfahrungen als Heilsbotschaft oder unentrinnbares Gesetz des Fortschrittes verkünden: es gibt anderswo immer noch wohlgeborene und wohlerzogene Kinder bis fünfundzwanzig und mehr Jahren, die nicht im entferntesten jenen Radaumachern gleichen, sondern bei aller Begabung, allem Scharfsinn, aller Urteilsfähigkeit im Verhältnis zu ihren achtbaren Eltern die uralte kindermäßige Zucht und Sitte als ein selbstverständliches Gut schöner und reiner Seelen in Liebe und Selbstachtung hegen und pflegen und hüten werden, solange es die Klasse – nicht Generation – der unmündigen Kinoschauspieler und Nackttänzerinnen, die freilich eine schmachvolle Last für die mühsam um ihr Dasein kämpfende ›alte‹ Gesellschaft bedeuten, nicht dazu gebracht haben wird, daß die Venus vulgoviva als Staatsgöttin verehrt werden muß.
In: Schönere Zukunft, Nr. 50, 19.9.1926, S. 1230.
Leo Lania: Emigranten (1929)
Der Berliner Rundfunk sendet am 31. Mai [1929] Leo Lanias Schauspiel „Emigranten“ als Uraufführung. Wir veröffentlichen nachstehend aus dem Werk, welches die politischen Kämpfe ungarischer Emigranten in Paris schildert, eine Szene.
Berthe (eine Visitenkarte bringend): Der Herr ist draußen. (Ohne Antwort abzuwarten, ab.)
Ilona (lesend): Graf – Kelemen – (wischt sich wie erwachend über die Stirne, blickt dann fragend, hilflos Remer an.)
Remer (kalt, sicher): Sie empfangen ihn natürlich. Ich warte nebenan bei Ihrem Mann (Ab.)
Berthe (von draußen schreiend): Die nächste Türe!
Kelemen (eintretend): Ach, ich störe? Du packst gerade.
Ilona: Bemühst du dich persönlich, um die Durchführung deines Ausweisungsbefehles zu kontrollieren?
Kelemen (sehr entschieden): Adieu! (Wendet sich zur Türe, dort innehaltend.) Ich bin heute nicht in der Stimmung, mit dir zu streiten. Und ich habe keine Zeit dazu.
Ilona (verwirrt, unwillkürlich einlenkend): Bitte – (einen Stuhl anbietend) worum handelt es sich?
Kelemen (kurz): Um dich.
Ilona: was – ?
Kelemen: Ich bedaure die harte Maßregel der Ausweisung.
Ilona (ironisch): So? Du bedauerst sie?
Kelemen: Ich bedauere sie natürlich nicht. Sie ist verdient.
Ilona: Und kommt euch politisch sehr gelegen.
Kelemen: Es freut mich, daß ihr die Größe der Niederlage, die eure Bewegung erleidet, offen eingesteht.
Ilona: Bist du etwa deshalb gekommen, weil du hofftest Zeuge unserer Verzweiflung zu sein, uns jammern und wehklagen zu hören?
Kelemen: Ich weiß, daß dir die Ausweisung erspart geblieben ist.
Ilona: Ah – das weißt du?
Kelemen: Irre ich?
Ilona: Nein.
Kelemen: Du wirst also nicht mit deinen – mit Graf Vertes reisen?
Ilona (zögernd): Das — — und wenn ich doch mit ihm reise?
Kelemen (lächelnd): Aus Trotz, nicht wahr (Ernst). Nun, ich nehme nicht an, daß du deine Entscheidungen nicht nach Vernunftgründen triffst, sondern aus der reinen Sucht, mir etwas Böses anzutun.
Ilona: Und du bist überzeugt, daß mir die Vernunft gebieten muß, mich von meinem Mann zu trennen?
Kelemen (gelangweilt): Du willst also doch reisen?
Ilona (finster): Ich bleibe vorläufig hier.
Kelemen: Und deshalb bin ich gekommen.
Ilona (Schweigt.)
Kelemen: Ich begrüße deinen Entschluß. Diese Feststellung wird dich hoffentlich nicht veranlassen, ihn sofort zu ändern.
Ilona: O nein!
Kelemen: Was zwischen uns steht, kann nicht über Nacht vergessen werden. Wir haben beide gefehlt. Aber die Trennung von Graf Vertes —
Ilona (scharf): Die vorübergehende Trennung von meinem Mann. Eine Trennung auf einige Wochen.
Kelemen: Das werden die Verhältnisse ergeben. Diese Trennung räumt ein großes Hindernis unserer Verständigung aus dem Wege.
Ilona: Zwischen uns gibt es keine Verständigung. Nie – nie! Die Reise meines Mannes hat damit nichts zu tun.
Kelemen: Doch – doch! Sehr viel zu tun.
Ilona: Wieso?
Kelemen: Ich bin überzeugt, daß diese Trennung auf deine politische und menschliche Stellung nicht ohne Einfluß bleiben kann.
Ilona: Hahaha, du machst dich lächerlich!
Kelemen (leise): Ich bin bescheiden geworden, Ilona. Schon das Bewußtsein, dich endlich von ihm getrennt zu wissen, genügt mir – (lächelnd) muß mir genügen. Ich will sogar Opfer dafür bringen.
Ilona: Was für Opfer?
Kelemen: Politische. Ich würde erwirken, daß die Ausweisung gegen einen Teil der Emigranten – die offenkundig Verführten – es kämen etwa zehn Familien in Betracht, zurückgenommen wird.
Ilona (entgeistert): Das – das ist – (schreiend) Erpressung!
Kelemen (begütigend): Da du ohnehin entschlossen warst! Es ist ein Geschenk, daß ich dir machen will. Da kannst du höchstens von Bestechung reden.
Ilona: Ich nehme kein Geschenk von dir an! Ich lasse mich nicht bestechen!
Kelemen: Auc nicht, wo deine Genossen daraus Nutzen ziehen würden? Das Geschenk käme anderen zugute – darfst du es da zurückweisen?
Ilona (in steigernder Erregung): Ich – das ist — (verzweifelt) ich weiß nicht –
Kelemen: Ich verlange von dir kein Opfer, zugunsten dieses Emigrantengesindels schon gar nicht –
Ilona: Kein Wort –!
Kelemen (sich ereifernd): Eine Bande von Spitzeln, die sich gegenseitig verkaufen und an den Galgen liefern — !
Ilona: Und du brüstest dich damit?!
Kelemen: Ich habe nur gekauft, was jene verkauften.
Ilona: Schuft!
Kelemen (aufspringend, blaß vor Wut): Hüte dich— !
Ilona: Drohe nur, drohe! So bist du mir schon lieber! Du kalter, du harter Greis – du Unmensch!
Kelemen (seine letzte Beherrschung verlierend): Menschlichkeit ist ja eure stehende Redensart! Man merkt nur nichts von ihr! Attentate, Mord, Verrat – einer gegen den anderen – eine bewundernswerte Kameradschaft, eine erhebende Solidarität!
Ilona (stürzt zur Türe links, gellend): Ernö! Ernö!
Kelemen: (verblüfft)
Vertes: (Gefolgt von Remer)
Ilona (auf Vertes zu, hängt sich an ihn): Hilf mir – hilf mir!
Kelemen: (Wendet sich an der Tür jäh um, seine Verblüffung nicht meisternd.)
Ilona: Ja, zu früh triumphiert. Jagt uns nur durch Europa – hetzt uns eure Spitzel auf die Fersen – arbeitet mit Bestechung und Erpressung – wir ergeben uns nicht! (Vor Kelemen tretend) Jeder für jeden! Das Los der hundert Vertriebenen werden wir teilen – er (auf Vertes zeigend) und ich! Es gibt keine Ausnahme! Hörst du, es gibt keine einzige Ausnahme! Hinaus!
Kelemen (schwankt, greift sich ans Herz, einen Augenblick scheint es als stürze er, weg): Ilona! (Dann rafft er sich auf) Wie sehr musst du mich hassen —— (wankt gebrochen hinaus).
In: Der Deutsche Rundfunk 7. Jg. H. 21 (1929), S. 654.
Franz Anderle: Radiofreiheit (1924)
N.N.(= Franz Anderle): Radiofreiheit
Über Nacht, wie das bei allem, was mit Radio zusammenhängt, schon zu sein pflegt, hat unsere politische Einstellung zu ihm eine Wandlung erfahren: Seit ein paar Tagen stehen wir in Österreich im Vorstadium
des Kampfes um die Radiodemokratie,
eines Kampfes, der überall ausgefochten werden muß und der bei uns scharf zu werden verspricht.
Unser Standpunkt in diesem Kampfe ist bald gewählt: wir treten aus allgemeinen und aus besonderen Gründen als Menschen, als Österreicher und als Radiobeflissene
für die Radiodemokratie
ein. Wir wollen unsere besten Kräfte im Kampfe für sie einsetzen, denn wir wissen, daß hier Entscheidendes auf dem Spiel steht.
Es wäre zu wenig gesagt, wenn man den Kampf für Radiofreiheit einen Teilkampf im großen Kampfe für Preßfreiheit nennen wollte. So verhalten sich die Dinge nicht. Der Kampf für Preßfreiheit, der sein Heldenzeitalter und seine Helden, seine Opfer und seine Verräter gehabt hat, war eine der Formen, in denen sich der Auftrieb, der Selbstbefreiungswille des Bürgertums bestätigt hatte. Er war eine typische Erscheinung des XIX. Jahrhunderts, die diesem ihren Stempel aufgedrückt hatte. Der Kampf um die Radiofreiheit ist echtestes XX. Jahrhundert [gesp. im Orig.], untrennbar von diesem und nur in dessen Rahmen verständlich. Es handelt sich vor allem um ein wesentlich
technisches Problem.
Das war die Preßfreiheit ja auch, ebenso wie auch die Radiofreiheit ihrerseits neben dem technischen Moment auch ein nicht zu übersehendes Machtmoment enthält. Aber das Verhältnis dieser beiden Momente verschiebt sich bei dem Problem der Radiofreiheit entscheidend zugunsten der technischen. Es handelt sich, wie bei allem, was mit Radio nur im entferntesten zusammenhängt, auch hier um ein Problem sui generis, das nach den eigenen Voraussetzungen betrachtet werden will.
Über das Ideal sind wir uns ja klar und hoffentlich sind wir darin mit den meisten unserer Leser einig:
Der ideale Zustand wäre der, daß jeder mit jedem auf dem Radiowege frei und ungehindert verkehren kann.
Ebenso klar müssen wir uns aber darüber sein, daß dieser Zustand heute unerreichbar ist. Heute liegen die Dinge vielmehr so, daß
wenn jeder frei funken könnte, unweigerlich ein Chaos entstehen müsste.
Das Chaos im Äther ist gewiß nicht das, was wir wünschen. Wir wünschen vielmehr das Chaos zu organisieren, wir wünschen aus dem Chaos einen Kosmos zu machen.
Radio dürfe nicht das Monopol einzelner, auch nicht das Monopol einer Partei werden.
Gewiß: Radio muß allen gehören. Aber wie es einrichten, daß diese Erfindung, deren Wesen das Monopolisiertwerden auszuschließen scheint, wirklich allen ohne Unterschied zugute komme? Es ist schwer, hier einen umfassenden, praktischen, befriedigenden positiven Vorschlag zu erhalten.
Es ist nun einmal so, daß einer praktischen Radiodemokratie im oben definierten utopischen Sinne von vornherein
natürliche Schranken
gezogen sind. Die hauptsächlichste liegt vielleicht nicht einmal in der Natur der Hertzschen Welle, sondern in der Beschaffenheit der menschlichen Seele hinsichtlich ihrer Aufnahmefähigkeit für das gesprochene Wort,
eine Tätigkeit, die nicht unbeschränkt ist. Wenn Mannigfaltigkeit der Preßprodukte, wenn eine Vielzahl der Zeitungen wesentlich für die praktische Wirkung der Preßfreiheit ist, so kann das aus dem Wesen der Radiofreiheit schon deshalb nicht als Forderung abgeleitet werden, weil man beim Hören schneller ermüdet als beim Lesen, weil man gedruckte Zeitungen durcheinander lesen, aber
gesprochene Zeitungen nicht durcheinander hören kann,
zumindest heute noch nicht. Die Regelung des Radiowesens auf eine immerhin mögliche Anpassung unserer Sinnesorgane einzustellen, hätte aber keinen Sinn.
Aus diesem Sachverhalte geht für die Radiozeitung eigentlich eine überraschende Forderung hervor:
Sie sollte eine kurze, gedrängte, sich auf die möglichst gewissenhafte Meldung der Tatsachen beschränkende Zeitung sein: so objektiv wie keine der gedruckten Zeitungen ist.
Objektivität und Tatsachenfülle scheint uns der eigentliche Stil der Radiozeitung zu sein.
Aber wir sehen voraus, daß diese Objektivität, so ehrlich sie auch angestrebt werden sollte, immer angezweifelt werden wird (und auch die Zweifler werden möglicherweise ehrlich sein), namentlich, wenn die Herausgeber jener objektiven Zeitung, der Radiozeitung, im Zusammenhang mit irgendeiner Partei, mit irgendeiner Richtung gebracht werden können. Ob diese Frage überhaupt zu denjenigen gehört, die der Radiogesetzgeber einmal gerecht wird lösen können, lassen wir dahingestellt.
[…]
Wer aber soll ordnend, gebietend, verbietend, strafend eingreifen? Wir glauben doch: der Staat. Die anderen Lösungen dürfen wir für den Augenblick außer Acht lassen. Nun gut also, der Staat. Aber welcher Staat?
In: Radiowelt, H. 3, 23.3.1924, S. 1.
Raoul Auernheimer: Die Signatur der Epoche (1919)
Ein Sommerbrief aus Wien
Sie sind sehr klug, verehrte Freundin. Was, wenn es erst bewiesen werden müßte und nicht hinlänglich bewiesen wäre durch die Geschicklichkeit, mit der Sie sich allen Schwierigkeiten zu Trotz in zwölfter Stunde eine Einreiseerlaubnis in das heilige Land Tirol zu verschaffen mußten, zur Evidenz hervorginge aus einem kleinen Satz des leider nur so kurzen Briefes, mit dem Sie mich dieser Tage beglückt haben. Denn was ist Klugheit? Man könnte definieren: Selbst einen möglichst kurzen Brief zu schreiben, der den Empfänger veranlaßt, uns in einem sehr langen zu antworten. Darauf aber verstehen Sie in der Mitte Ihrer zwölf Zeilen mit einer so vollendeten Unschuld an mich richten. Ich soll Ihnen, die Sie bereits seit Wochen – Sie Glückliche! – von der Weltgeschichte völlig abgeschnitten leben, in zwei Worten sagen, worin augenblicklich die Signatur der Epoche besteht. Die Signatur der Epoche und in zwei Worten ! Daran erkenne ich die Meisterin, auf deren Schreibtisch sich nicht umsonst so viele literarische Episteln häufen. Ja, Sie wissen, wie man die spröde Feder eines Schriftstellers in Bewegung setzt. Hätten sie einen langen Brief von mir beansprucht, so wäre ich Ihnen, bei aller Verehrung, die Antwort wahrscheinlich ziemlich lange schuldig geblieben. Aber zwei Worte ! Wer wäre so hartherzig, Sie einer guten Freundin abzuschlagen? Unwillkürlich beginnt man, darüber nachzudenken, sic mit der aufgeworfenen Trage zu beschäftigen, die Signatur der Epoche zu studieren, die Ergebnisse seiner Studien zu Papier zu bringen. Und so fängt man sich, zu Ihrem Vergnügen, in Ihrer Schlinge.
Mir wenigstens ist es so ergangen. Denn, wie ich Ihnen offen eingestehen will, im Anfang nahm ich Ihren Auftrag ernst und versuchte ihn buchstäblich zu erfüllen. Ich ging in unserem sommerlichen Wien umher und suchte die Signatur der Epoche, wie die mittelalterlichen Weisen die Quadratur des Zirkels gesucht haben. Ich blieb vor unseren Anschlagsäulen und =tafeln stehen, auf denen die längste Zeit die kommunistischen Aufrufe neben den Anpreisungen unserer neusten Heurigenetablissements zu lesen waren, und ich glaube, sie gefunden zu haben. Ich ging über den Ring, auf dem man jetzt fast nur Ungarisch reden hört und keinem einigen seiner Wiener Bekannten begegnet, obwohl sie nachweisbar alle, bis auf ganz wenige bedauerliche Ausnahmen, noch in Wien sind, und ich hatte dieselbe Empfindung. Ich sah über die von Wagen entvölkerte Ringstraße, über die nur hin und wieder ein zwitscherndes italienisches Automobil rast – die unseren dürfen nicht zwitschern und können nicht rasen – ein seltsam närrisches Fuhrwerk schwanken und ich meinte, wiederum die Signatur der Epoche, unserer Wiener Epoche zumindest, vor Augen zu haben. Denken Sie sich eine auf Räder gestellte turmartige, viereckige Plakatsäule, die auf allen vier Seiten von den Ankündigungen eines neuen Vergnügungsetablissements bunt überzogen ist und die ein ausgemergeltes Pferdchen – so ausgemergelt, daß man ihm alle Rippen zählen kann – mühsam vorbeischleppt, wiederholt kraftlos innehaltend und den blutjungen Kutscher zum Absteigen nötigend. Ist das nicht die Signatur der Epoche, wie wir sie jetzt in unserem halbverhungerten und zur anderen Hälfte so krampfhaft vergnügten Wien durchmachen? Schließlich glaubte ich ihr etwas später, im Weiterwandern, noch einmal zu begegnen, und zwar vor unserem Grillparzer-Monument im Volksgarten. Sie haben Grillparzer – ich meine natürlich sein Denkmal – noch ein seiner guten Zeit gekannt und Sie haben ihn sicherlich noch deutlich vor Augen, wie er inmitten der schön bewegten Reliefdarstellungen aus seinen Werken, bescheiden thronend dasitzt, mit seitlich geneigtem Haupt, in dieser Haltung, die für eine gewisse Art verstorbener Oesterreicher so charakteristisch ist ; denn sie bedeutet zugleich ein Ausweichen, aber auch, indem man ausweicht, ein Sichbehaupten, und beides war Grillparzers Art, die der Bildhauer aufs glücklichste in den Marmor bannte….Nun, Sie würden diesen Ihren Grillparzer, den Inbegriff des Altösterreichertums, aber in unanfechtbar reiner Form, zur Stunde nicht wiedererkennen. Man hat ihn, wie Sie wissen, bübisch bemalt und seither verhüllt. Nun sitzt er da wie eine Niobe, die ihr Peplum trauernd über den Kopf gezogen hätte, oder wie ein unförmiges Marktweib, das in einen Rotzen eingehüllt schläft. Soll man auch darin die Signatur der Epoche erblicken? Ich glaube, es hieße das, unserer Epoche unrecht tun, und einen Bubenstreich, der eben nur ein Bubenstreich ist, unstatthaft verallgemeinern.
Ueberhaupt die Epoche ! Man sagt ihr allerhand nach und nicht nur Gutes; es ist ja auch wirklich nicht alles schön und gut. Aber war das in früheren Epochen anders? Ich las kürzlich in den Briefen des Camille Desmoulins, dieses vielleicht liebenswürdigsten französischen Revolutionshelden, der die Revolution tadeln durfte, weil er für sie gelebt hat und an ihr gestorben ist. Nun, auch bei diesem Revolutionsritter ohne Furcht und – fast – ohne Tadel stößt man auf Sätze, in denen sich eine gewisse Verzagtheit, eine gewisse Hoffnungslosigkeit, jene mélancolie de quarante ans, die die Revolutionäre befällt, wenn die Revolution zu ihren Jahren kommt, ganz deutlich bemerkbar macht. Man kommt nämlich allgemach dahinter, daß Revolutionen – erschrecken Sie nicht, Bürgerin! – an den Tatsachen des Staates nur sehr wenig ändern. „Ehrgeiz an Stelle des Ehrgeizes und Habgier an Stelle der Habgier“, so charakterisiert Desmoulins, gewiß ein klassischer Blutzeuge, nach den ersten vier Jahren das Ereignis der französischen Revolution. Aber er läßt die und sich darum nicht fallen, sondern ermannt sich wieder mit den Worten : „Trotzdem ist der Zustand der Dinge, wie er jetzt ist, unvergleichlich besser als vor vier Jahren, weil es eine Hoffnung gibt, ihn verbessern zu können, eine Hoffnung, die unter dem Despotismus nicht da ist …“. So sprach auch Mirabeau, die ritterlichste Erscheinung der französischen Revolution, wie Desmoulins die sympathischste, mitten im Sturm der Aufstände das wahrhaft königliche Wort: „Ich bin für die Wiederherstellung der Ordnung aber nicht der alten Ordnung.“
Uebrigens, „weil wir grad vom Schießen reden“, wie ein Onkel von mir zu sagen pflegte, der in seinem Leben nicht geschossen hat: so möchte ich Ihnen noch einiges anvertrauen dürfen, war auf die französischen Zustände Bezug hat, aber nicht die von 1793, sondern auf die weit ungefährlicheren von 1840, über die Heine in seinen französischen Briefen schreibt. Ich bin unlängst beim Durchstöbern meiner Bibliothek auf diese Lektüre gestoßen und ich kann Ihnen versichern, es gibt augenblicklich keine aktuellere. Allein die Titelaufschriften im Inhaltsverzeichnis, unter denen Sie folgende finden: „Der Kommunismus“, „Die soziale Weltrevolution“, „Angst der Bourgeoisie vor dem Kommunismus“, mögen dies beweisen, und um wie viel mehr beweist es der Inhalt. Zumal das Kapitel über die soziale Weltrevolution klingt wahrhaft prophetisch. Heine, der so lange aus der Mode war, weil er sich als Dichter unterstand, auch eine politische Meinung zu haben, und der gerade darum jetzt augenscheinlich wieder in die Mode kommt, sieht die soziale Weltrevolution heraufdämmern nach einem Kriege zwischen Frankreich und Deutschland, „diesen beiden edelsten Nationen“, der damals wie so oft seither als ein schwarzes Gewitter finster drohend am Horizonte stand. Der Krieg selbst, meint Heine, werde nur der erste Akt „des großen Spektakelstücks sein, gleichsam das Wortspiel“. Den Inhalt des zweiten aber werde ausmachen „die Weltrevolution, der große Zweikampf der Besitzlosen mit der Aristokratie des Besitzes, und da wird weder von Nationalität noch von Religion die Rede sein: nur ein Vaterland wird es geben, nämlich die Erde, und nur einen Glauben, nämlich das Glück auf Erden …“. Und da sind wir auch schon mitten drinnen im theoretischen Kommunismus, von dem Heine in seiner die Ideen geistreich personifizierenden Art fragt, daß er „inkognito, ein dürftiger Prätendent, im Erdgeschoß der offiziellen Gesellschaft residiere“. Der Kommunismus, meint er weiter, sei der düstere Held, dem „eine große, wenn auch vorübergehende Rolle beschieden ist in der modernen Tragödie“, von der Heine vorausahnt, daß sie, im dritten Akt, meint einer kirchlichen Restauration und mit der Wiederaufrichtung der „alten absoluten Tradition“ enden könnte, wenn auch nicht enden muß. Einstweilen aber hält dieses Schreckgespenst die reaktionären wie die revolutionären Gemüter in Bann und hilft – im Paris von 1840 – dem braven Bürgerkönig Ludwig Philipp, die etwas wacklig gewordene Königskrone über seinem feisten Haupte zu befestigen. Und um diesen psychologischen Prozeß, der einigermaßen an den Umschwung der Geister bei unseren östlichen Nachbarn erinnert, anschaulich zu machen, erzählt Heine seinen Lesern die Geschichte vom gipsernen Elefanten. Erlauben Sie mir, daß ich sie ihm hier nacherzähle. Ohnehin dürfen Sie in Ihrer Vendée nicht so leicht mit einem kompletten Heine zusammenkommen. Und in einem anderen als in einem kompletten find Sie diese überaus lehrreiche Geschichte nicht.
Im Juli 1842, also in einer gleichfalls sehr hitzigen Zeit, beschäftigte den Gemeinderat von Paris eine sehr wichtige Frage, eine jener Fragen von scheinbar engster lokaler Bedeutung, die aber unter Umständen die Größe eines Symbols annehmen können. Es handelt sich um die Forträumig eines kolossalen Gipsmodells, das, einen Elefanten darstellend, als ein Ueberbleibsel aus der Kaiserzeit auf dem Pariser Bastillenplatz stand. Eine Zeitlang hatte man daran gedacht, es für ein Denkmal zu verwenden, das der Julirevolution geweiht sein sollte. Später kam man davon ab und errichtete die Juliussäule; und nun war jener alte Elefant aus Gips vollkommen überflüssig geworden, ein Verkehrshindernis, nichts weiter. Man hätte das nicht sehr kostbare, altersschwache Werk einfach zerschlagen und die Trümmer vom Kärrner fortschaffen lassen können, wenn nicht ein im Volk umgehender Aberglaube das Gipsmodell schließlich doch vor diesem pietätlosen Verfahren behütet hätte. Das Gerücht behauptet nämlich, daß sich im Bauch des gipsernen Freiheitsriesen im Laufe der Jahre eine ungeheure Zahl von Ratten angesiedelt hätte, die, durch den Zusammenbruch befreit, die angrenzenden Bezirke überschwemmen würden. „Alle Unterröcke zitterten bei dem Gedanken an solche Gefahr, und sogar die Männer ergriff eine unheimliche Furcht vor der Invasion jener langgeschwänzten Gäste.“ Kurz, der Gemeinderat beschloß, aus Furcht vor den Ratten, die „Gipsbestie“ nicht niederzureißen, sondern in Bronze ausgießen zu lassen und das daraus hervorgehende Monument am Eingang der „Barrière du Trône“ aufzustellen. Die Anwendung auf den Kommunismus und die daraus hervorgehende Stärkung der reaktionären Gewalt ist klar…
Mit dieser klugen Geschichte drückte Heine dem Sommer 1842 die Signatur der Epoche auf. Und dieser Sommer, der unsrige ? Ich glaube, es verhält sich bei uns nicht viel anders, obwohl wir in Wien keinen Bastillenplatz, keinen gipsernen Elefanten und vor allem auch kein Geld haben, ihn in Bronze auszugießen. Besonders das Geld fehlt uns und wird uns nach Besiegelung des unglücklichen Friedensvertrages in noch höherem Maße fehlen. Freilich unter Umständen hat jeder Geld, auch wenn er nicht, wie dies unter dem Diktaturschwert Bela Kuns üblich war, völlig ausgeraubt und von allen entblößt aus Ungarn nach Wien geflohen ist. Diese Ungarn, deren Einfluß es zum Teil zuzuschreiben ist, daß Wien zurzeit war nicht der schönste, wie Humoristen in früherer Zeit gern unter Beweis stellten, wohl aber der teuerste Sommeraufenthalt ist, zahlen, wie ich höre alle Preise und verderben dadurch unsere Geschäftsleute, an denen in dieser Beziehung ohnehin nicht mehr viel zu verderben ist. Sie machen es, aus der Schule des Kommunismus kommend, wie Madame Olympe de Gouges zur Zeit der großen Revolution, die, als sie ein Pariser Sansculotte auf der Straße abfing und, ihren Kopf wie ein gefangenes Huhn unter den Arm pressend, lachend ausrief : „Wer gibt mir fünfzehn Sous für den Kopf dieser Frau ?“, unter dem Arm schlagfertig-kläglich hervorwimmerte : „Lieber, lieber Freund, ich gebe dreißig.“ Uebrigens sind wir in diesem Falle, wie unsere Preisbildung in den letzten Monaten beweist, alle zu Ueberzahlungen bereit, und was die Ungarn betrifft, die sich bei uns restaurieren, so bezahlen sie die in Wien genossene Gastfreundschaft nicht nur mit einem im Verhältnis zu ihrem weißen „guten“ blauen Gelde, sondern unter Umständen auch mit harschen Worten, die hinter dem französischen um nichts zurückstehen. So soll unlängst einer beim Ueberschreiten unserer Grenze aus tiefstem Herzen humoristisch ausgeseufzt haben: „Mein Bedarf an Weltgeschichte ist jetzt für längere Zeit gedeckt.“ Das Wort, in dem einer ausspricht, was wir unausgesprochen jetzt alle empfinden, verdiente Flügel zu bekommen uns Sie sollten ihm welche machen, denn ich wüßte nichts, worin sie lesbarer und lapidarer enthalten wäre, wonach Sie mich fragen: Die Signatur der Epoche.
In: Neue Freie Presse, 15.8.1919, S. 1-3.
Anna Nußbaum: Jules Romains und das Kino
Es ist hier nicht der Platz, den Begründer des Unanimismus und der neuen klassischen Richtung in Frankreich nach seiner Bedeutung zu würdigen. Aber es wird interessieren zu erfahren, daß der Dichter von ›Europe‹, der ›Vie Unanimée‹, der ›Puissances de Paris‹, dessen satirisches Lustspiel ›Dr.Knock‹ in Wien uraufgeführt, dessen Film ›L‘Image‹ von der Vita-Filmgesellschaft gedreht wurde, schon im Jahre 1919 in seinem kinematographischen Roman ›Donogoo-Tonka‹ das erste literarische Drehbuch gegeben hat.1 Also lange bevor der Verlag Kiepenheuer die Idee zu seiner ›Sammlung zeitgenössischer Filmmanuskripte‹ gefaßt hatte. (Bekanntlich ist als erster Band dieser Sammlung ›Sylvester‹ von Carl Mayer erschienen). Die künstlerische Entwicklung des Films hat es mit sich gebracht, daß die Fachleute nicht mehr wie früher das Manuskript für etwas Unwesentliches, Regie für das allein Maßgebende halten. Heute wird eingesehen, daß nur aus gemeinsamer Arbeit von Filmschreiber und Regisseur wirklich Wertvolles entstehen kann.
›Donogoo-Tonka‹ erschien zu der Zeit, da die französische Filmindustrie hauptsächliche auf italienische und amerikanische Zeugnisse angewiesen war, zuerst in der literarischen Zeitschrift der ›Nouvelle Revue Française‹, dann als Buch im gleichen Verlage. Jules Romains ist der Ueberzeugung, daß das Kino nicht nur getreue Wiedergabe der Wirklichkeit, sondern mit Ausnützung seiner fast unbegrenzten technischen Möglichkeiten geradezu Verwirklichung des Phantastisch-Irrealen werden kann. Der Rhythmus des Geschehnisse bleibt der des gewöhnlichen Lebens, wo es notwendig ist, soll verlangsamt oder bis zu höchster Geschwindigkeit gesteigert werden, sobald der seelische Zustand, die Stimmung der handelnden Person es fordern. Wodurch eben der Einbruch des Schemenhaften, Visionären hervorgebracht wird. (Diese Technik nützte der amerikanische Film von Anfang an zu komischen Wirkungen aus.) Der Film kann und soll ferner Gedanken, Erinnerungen, Träume, kurz die ganze seelische und gedankliche Arbeit der betreffenden Personen bildhaft darstellen. Theater versucht Bilder durch Worte auszudrücken. Kino ruft durch Bilder die Idee hervor. Kino und Theater stehen zueinander im schärfsten Gegensatz, dürfen einander nichts entlehnen. Jedenfalls kann das Kino nichts vom Theater lernen. Wie Romains seine Theorie in ›Donogoo-Tonka‹ verwirklicht, mag an einem Beispiel erläutert werden. Ein Gelehrter schwankt, ob er seine wissenschaftliche Würde einem Geldangebot opfern solle. Nicht nur ausdrucksvolles Mienenspiel gibt seinen inneren Kampf wieder, sondern vor allem zwei kurze Sätze, die seinem Kopfe zu entsteigen scheinen. „Ives de Troubadec, Mitglied des geographischen Instituts“ und dann gleich darauf: „5000 Francs“. Unnötig hinzuzufügen, daß letztere Erwägung den Sieg davonträgt. ›Donogoo-Tonka‹ ist nicht nur ein ausgezeichneter, sehr unterhaltender Roman in der wunderbar präzisen Sprache von Jules Romains; er ist vor allem auch ein vortreffliches Filmsujet (mit einigen Einschränkungen: zu häufiger Ortswechsel – Paris, Marseilles, Neapel, London, Porto, Amsterdam, San Francisco, Singapore usw. – das geht über die Kraft der reichsten Filmgesellschaft – und zu lange Textanschriften). Der junge Lamendin ist lebensmüde, sein Freund rät ihm, den Professor Miguel Rufisque (Institut für psychotherapeutische Biometrik) aufzusuchen. Er tut es, folgt dem Rate des Gelehrten und macht auf ziemlich ungewöhnliche Weise die Bekanntschaft des Geographen Ives de Troubadec. Dieser verzweifelt an seiner Wahl in die Akademie der Wissenschaften, da er öffentlich von seinen Kollegen wissenschaftlichen Betruges oder krasser Ignoranz geziehen wird. Hat er doch in seinem großen geographischen Werk über Südamerika von einer Stadt Donogoo-Tonka gesprochen, die erwiesenermaßen niemals existiert hat. Lamedin entdeckt neues Lebensinteresse, ist entschlossen, Troubadec und damit sich selbst Weg zum Ruhme zu eröffnen: die Stadt Donogoo-Tonka muß einfach gegründet werden. In einer wirbelnden Reihe köstlich-satirischer Szenen, die immer mit Darstellung der sich daran knüpfenden Gedanken vorgeführt werden, erfolgt nun Gründung der Aktiengesellschaft zur Ausnützung der Goldlager von Donogoo-Tonka, Anwerbung und Ausstattung der Mitglieder der Expedition, Reise, Ankunft in völlig unwirtlicher Gegend, Gründung und rapide Entwicklung der Stadt Donogoo-Tonka. In der Nähe wird tatsächlich ein Goldlager entdeckt. Ganz Frankreich jubiliert: Troubadec wird nicht nur in die Akademie gewählt: als „Vater des Vaterlandes“ wird er in der Stadt seiner Erfindung geehrt. Lamedin, der Gouverneur, sorgt für materielles und seelisches Wohlergehen seiner Bürger.
Kino: Verwirklichung des Unwirklichen – wenn auch nicht der einzige Weg zu weiterem Ausbau, doch gewiß eine Anregung von nicht zu unterschätzendem Wert.
In: Neue Freie Presse, 23.5.1924, S. 16.
Raoul Auernheimer: Mehr Ibsen (1920)
Jene Theaterfreunde, denen die Schaubühne mehr als einen bloßen Zeitvertreib bedeutet und das große Amt des Dramatikers nebst allem anderen auch eine Art weltlicher Seelsorge ist, sehen sich, wenn sie bei Ibsen beten oder beichten wollen, in den letzten Jahren immer häufiger gezwungen, sich auf die gedruckten Schriften dieses Dichters zurückzuziehen. Ibsen wird ja kaum mehr in Deutschland gespielt, in Wien so gut wie gar nicht. Ist es wirklich, wie säumige Theaterdirektoren oder oberflächliche Theatergänger so gern zur Entschuldigung eines unentschuldbaren Mißstandes behaupten, bereits „veraltet“ (als ob das wahrhaft Gute je veralten könnte)? Ist es der Krieg, der eine Wandlung des Geschmackes von Ibsen weg herbeigeführt hat – im Gegensatz zu jenem anderen Nordländer, Strindberg, den die Kriegsjahre in der Gunst des großen Publikums so sehr befestigt haben? Oder sind es in erster Linie die darstellerischen Mittel, die zu seiner dramaturgischen Bewältigung derzeit mangeln? Diese letzte Vermutung, die das Phänomen, daß Ibsen nicht mehr gespielt wird, ohne Wunder zu erklären sucht, dürfte für Wien genügen. Ibsen, der als ein großer Dramatiker auch an den Schauspieler bedeutende Ansprüche stellt, verlangt, um zu wirken, nach einem abgestuften Ensemble, wie es zurzeit keine Wiener Bühne besitzt. Das Deutsche Volkstheater bildet selber keine Ausnahme. Daß es sich trotzdem nicht davon abhalten ließ, wenigstens ein großes Ibsen-Stück dem Spielplan neu einzuverleiben und damit eine geistige Ehrenschuld gegen den Dichter einzulösen, ist verdienstlich, wenngleich es fraglich bleibt, ob gerade der szenisch so anspruchsvolle und dramatisch unzulängliche „Peer Gynt“ das hierfür geeignetste Werk war.
„Peer Gynt“, den Ibsen ebenso wie die „Gespenster“ und manches andere seiner nordischen Prachtstücke im sonnigen Süden, in Sorrent, zu Papier brachte, ist, obwohl unter italienischem Himmel entstanden, eine äußerst dunkle Dichtung. Sie ist so dunkel, daß der unbelehrte Zuschauer sich kaum darin zurechtfände und wie in einem finsteren Walde ganz verirren müßte, wenn nicht da und dort ein Stern durch das wirre Geäst schiene oder eine phosphoreszierende Dialogstelle ihm die Richtung wiese. Eine solche blitzt etwa in jener Szene bei den „Trollen“ auf, wo Peer Gynt sich mit dem Dovre-Alten unterhält. Der Dovre-Alte, der, wie die dunkeln Ehrenmänner bei Ibsen gewöhnlich, eine philosophische Konversation liebt, fragt den Ankömmling, unter anderm, worin seiner Meinung nach der Hauptunterschied zwischen Mensch und Troll bestehe. Der liederliche und geweckte Bauernbursch, der Peer Gynt ist – er soll das norwegische Volk symbolisieren, belehren uns die Ibsen-Kommentatoren – antwortet zynisch, der Unterschied werde so beträchtlich nicht sein. Aber der Dovre-Alte erklärt ihm, er sei unendlich; denn, so sagt er – und von dieser Stelle geht das Licht aus -: Das höchste Gebot des Menschen laute: „Sei du selbst!“, das der Trolle aber heißt: „Sei du selbst – dir genug!“ Hier drückt uns der Dichter den Schlüssel in die Hand, der in das Innere seiner Dichtung hineinführt.
Freilich, um ihn zu gebrauchen, müssen wir vorerst ein Stück zurückgehen. Herr Gynt ist, wie schon erwähnt, ein norwegischer Bauernbursch, eine symbolische Figur, aber auch eine menschliche. Als solche stammt er von leiblichen Eltern, und Ibsen, der uns einen Charakter immer auch naturwissenschaftlich durch seine Abstimmung erklärt, macht uns gewissenhaft mit beiden Elternteilen bekannt. Die Mutter lernen wir persönlich kennen; sie ist eine phantasievolle Närrin, unzufrieden mit ihrem mißratenen Sprössling und doch verliebt in ihn, mit einer Ohrfeige rasch bei der Hand, wenn sie sich über ihn ärgert, aber jederzeit bereit, ihn, wenn ihm jemand nahetritt, wie eine Löwin ihr Junges zu verteidigen. Vom Vater erfahren wir nur aus den Schilderungen der Mutter, daß er ein Verschwender, ein Lump war, und das ist auch der Sohn, dazu ein Lügner, wenn auch einer von der liebenswürdigen Sorte, ein Lügner aus Phantasie. Seine eigene Mutter beschwatzt er, gleich in der ersten Szene mit einem erdichteten Jagdabenteuer, und da sie ihm seine Verkommenheit vorhält, setzt sie der Unband lachend auf das Dach der Mühle und sucht, während sie sich schreiend abzappelt, lustig das Weite. Aber der Lügenpeter ist auch ein Don Juan, den die ehrbaren Mädchen im Dorfe meiden, ja dem sogar die liebliche Solveig, da er sie bei einer ländlichen Hochzeit zum Tanze bittet, angstvoll einen Korb gibt. Um sie dafür zu strafen, entführt er von der Hochzeit weg, unter der Rase des Bräutigams, die Braut ins Gebirge, indem er mit ihr auf den Armen die unwegsamen Schroffen emporklettert.
Am nächsten Morgen stößt er sie dann wieder von sich, ins Elend, in die Schande; denn er liebt sie gar nicht, er liebt Solveig, und sie, die engelsreine Solveig, liebt ihn, den wegen Frauentrubel aus der Gemeinde Ausgestoßenen, gleichfalls. Sie sucht ihn in seiner Hütte auf, will ihr Schicksal mit dem seinen für immer vereinigen. Allein, nun ist es dazu zu spät; Die Verführte tritt mit ihrem Kind dazwischen, und Peer Gynt bleibt nichts übrig als die Flucht – die Flucht vor sich selbst und, als äußerlicher Ausdruck dieser seiner inneren Lage, die Flucht ins Ausland. Zuvor aber hat er noch eine Szene mit der sterbenden Mutter, die dichterisch schönste des Stückes. Er lügt sie über ihren Zustand hinweg, gaukelt ihr eine Schlittenfahrt vor, wie sie ihn, als er noch ein Kind war, vor dem Einschlafen zu tun pflegte, und – kutschiert sie so unvermerkt in den Tod . . . Euthanasie nennen die Ärzte diese letzte Wohltat. Die arme Aase hat sie ganz umsonst, bloß weil sei einen so reizend verlogenen Sohn hat.
Sollte er vielleicht trotz alldem „er selbst“ sein? In dieser Szene hat es fast den Anschein, aber in dem nun folgenden vierten Akt droht der Mensch in Peer Gynt ganz zum Troll auszuarten, das heißt zu einem Erzegoisten, der, nur im materiellen Genuß, auf- und untergehend, „sich selbst genug“ ist. Peer Gynt ist in diesem Akt, der ein Menschenalter später in Afrika spielt, ein reicher Mann und großer Herr, ein „Kaiser“ von Heldes Gnaden, ein „Prophet,“ dessen im Negerhandel ruhende Anfänge längst vergessen sind, ein Lebenskünstler und Genießer, den die liebliche Anitra ausplündert und der sich von dieser Schönen willig plündern läßt, weil, wie er sagt: „ein achtbarer Schriftsteller behauptet, daß uns das Ewig-Weibliche anzieht . . .“ All das ist pure Ironie, romantische Ironie, wie dieser ganze eingeklemmte und beklemmende Akt, dessen letzte Szene, tiefsinnig bis zur Unverständlichkeit, im Irrenhause in Kairo spielt. Der nächste, in dem Peer Gynt wieder um ein paar Jährchen älter und um die Erfahrung reicher ist, daß der bloß materielle Egoismus notgedrungen zum Wahnsinn führt, endigt das abenteuerliche Schicksal Peer Gynts dort, wo es seinen Anfang nahm, in des Dichters nordischer Heimat. Es beginnt jene Auseinandersetzung mit Gott, die den faustischen Kern dieser seltsamen Dichtung ausmacht. Der heimkehrende Peer Gynt begegnet dem „Knopfgießer“, einem jener unheimlichen Gesellen von nüchternster Symbolik, die Ibsen in den Gestaltenkreis des modernen Theaters eingeführt hat. Der Knopfgießer droht dem Gealterten, ihn einzuschmelzen, wie die meisten, die weder gut noch böse gewesen sind und deshalb noch einmal in den Schmelztiegel zurück müssen; denn nur diejenigen, die im Bösen ganz „sie selbst“ gewesen sind, verfallen dem Teufel. Hier also blickt zum zweitenmal jenes rätselhafte Wort auf, und diesmal leuchtet es auch Peer Gynt besser ein. Unwillkürlich wehrt sich sein Egoismus gegen die Unterstellung, nicht ganz „er selbst“ gewesen zu sein. Um dem Knopfgießer zu entgehen, will er in Gottesnamen sich sogar dem Teufel überantworten und macht sich erbötig, den Beweis zu liefern, daß er dessen nicht ganz unwürdig ist. Aber der „Magere“, der, als Jesuit verkleidet, mit einem Schmetterlingsnetz über der Schulter, auf den Seelenfang ausgeht, weist ihm diabolisch nach, daß alle seine Sünden an dilettantischer Halbheit kranken. So droht nun Peer Gynt, vom Teufel wie von Gott verworfen, endgültig dem Knopfgießer, der Namenlosigkeit, der Spurlosigkeit zu verfallen. Denn „wie und wo war er, wie sein Gott sich verstanden“, fragt er Solveig verzweifelt. Allein die mütterliche Solveig, die all die Zeit in Treue seiner geharrt hat, ist um eine Antwort nicht verlegen. In ihrem „Glauben, Hoffen, Lieben“, erwidert sie, war er die ganze Zeit über derjenige, der er wirklich war, er selbst, und als solcher der Erlösung würdig. Mit anderen Worten: Das Ewig-Weibliche zieht schließlich, wie Faust, so auch Peer Gynt hinan – diesmal ohne alle Ironie.
Das rätselreiche, im Lesen unendlich anziehende, aber auf der Bühne in seiner Vielbildrigkeit kaum ohne Erlösung erträgliche Stück stammt aus Ibsens dramatischen Gesellenjahren, in denen der spätere Meister noch tastend nach der ihm eigentümlichen Form und Technik suchte. Halb episch gedacht, wie der ungefähr gleichzeitige „Brand“ – Peer Gynts dramatischeres Seitenstück – dazu aus dem Märchengrund der Sage hervorgewachsen, somit dem mit der nordischen Märchenwelt nicht vertrauten Ausländer zur Hälfte gar nicht, zur anderen Hälfte kaum verständlich, ermüdet die einer spannenden Verwicklung ganz entbehrende Dichtung auf der Bühne schon durch ihre unverhältnismäßige Länge. Diese Ermüdung zu bannen, müßte die erste Sorge des Regisseurs sein, und man kann nicht sagen, daß dies Herrn Direktor Bernau völlig gelungen ist, so wenig, wie es vor Jahren dem in Wien gastierenden Direktor Barnowsky gelang. Das überlebensgroße Stück ist wohl überhaupt zu groß für einen Abend, man müßte es an zwei aufeinanderfolgenden spielen. So wäre der vierte Akt, mit dem ein neues Stück oder das Stück von neuem beginnt, an den Anfang des zweiten Teiles gestellt, allenfalls erträglich, während er in der jetzigen Form ein für das Publikumsinteresse fast unüberwindliches Hindernis bedeutet, zumal der häufige, fünfmalige Szenenwechsel den Ablauf dieses gefährlichen Aktes immer wieder unliebsam verzögert. Diese weltläufigen Szenen müßten, wie der zum Weltmann gewordene Peer Gynt einmal sagt „vorüberfliegen wie ein Bonmot“, was derzeit keineswegs der Fall ist. Hiezu wäre freilich auch erforderlich, daß die bloße szenische Andeutung an die Stelle des realistisch ausgemalten und auf Massenwirkungen zugespitzten Bühnenbildes träte. So vollendet dieses im einzelnen Falle geraten ist – beispielsweise die sehr malerisch angelegte Hochzeit und das unheimliche Gemengsel moosfarbiger Trolle – so wenig tragen diese Bilder in ihrer Gesamtheit zur Vollendung des Ganzen bei, so wenig können sie auch vergessen machen, daß es dem Deutschen Volkstheater für die interessante Hauptrolle an einem eigentlich interessanten Schauspieler fehlt. Herr Everth sucht, was ihm in vieler Richtung abgeht, durch angenehmste Mittel und eine gewisse liebenswürdige Allerweltsmunterkeit zu ersetzen; er besetzt von Anfang an den guten Kerl, der Peer Gynt unter anderm ist, und täuscht so eine Zeitlang darüber hinweg, daß Peer Gynt doch auch noch mehr, noch anderes ist: die Verallgemeinerung der Gestalt, den Ecce-Homo=Zug bleibt er uns schuldig. Die Solveig, die eine ewige Gestalt, obwohl eine kaum angedeutete Theaterfigur ist, wird von Fräulein Denera seelisch reizvoll verkörpert; ihr Widerspiel, Anitra, ein allerliebster Troll unter den Weibern, dem es weniger um die Seele als um Opale und Fußspangen zu tun ist, machte das Publikum mit Fräulein Gettke bekannt, einer zierlichen und, wie es scheint, wohlunterrichteten jungen Schauspielerin, die auch sehr hübsch tanzt. Dem besonderen Ibsen-Ton, jener scheinbaren Nüchternheit, die, wenn man sie abklopft, so unheimlich klingt, kam in der Rolle des Knopfgießers Herrn Teubler am nächsten.
Der Philosoph Otto Weininger nennt Ibsens „Peer Gynt“ eines der gewaltigsten Erlöserdramen aller Zeiten, nur mit dem „Faust“ und „Parzival“ vergleichbar. Diese überschwängliche Meinung schien das durch die übermäßige Länge des Abends ermüdete Publikum der gestrigen Aufführung nicht zu teilen, aber die hingebungsvolle Aufmerksamkeit, mit der die meisten die Strapazen eines nicht alltäglichen Theaterabends ertrugen, ließ erkennen, wie groß und wie allgemein das Bedürfnis nach Ibsen ist. Das Beste an dieser wohldurchstudierten, fleißigen, von der Griegschen Musik wie von einem goldenen Band stimmungsvoll durchwirkten „Peer-Gynt“-Aufführung ist doch, daß sie uns zu Ibsen zurückführt. Ihr schönster Erfolg wäre es, wenn sie unsere Theaterdirektoren veranlassen würde, einer auf dem Theater immerhin problematischen Dichtung die Meisterstücke Henrik Ibsens von den „Gespenstern“ bis zu „John Gabriel Borkmann“ folgen zu lassen. Daß die Schauspieler dazu fehlen, kann auf die Dauer keine Entschuldigung sein; wenn sie fehlen, so müssen sie gefunden und an Wien gebunden werden. Das Wiener Theater würde sich selbst zur Armut und literarischen Bedeutungslosigkeit verurteilen, wenn es sich einer fortwirkenden geistigen Anregung, wie sie die Beschäftigung mit der großen Ideenwelt Ibsens bedeutet, auf die Dauer entziehen wollte.
In: Neue Freie Presse, 21.3.1920, S. 2-3.
Hans Ankwicz-Kleehoven: Juliausstellungen. Ein Epilog (1924)
Das wichtigste künstlerische Ereignis dieses Monats war unstreitig die Ausstellung der von Professor Dr. Peter Behrens geleiteten Meisterschule für Architektur [gesperrt gedr. im Orig.] an der Wiener Akademie der bildenden Künste. Sie lieferte den erfreulichen Beweis, daß jetzt auch an unserer bisher allzusehr im „Akademischen“ befangenen Kunsthochschule – zumindest in der Architekturklasse – jener Geist des Fortschrittes wieder lebendig ist, der dort mit Otto Wagner ausstarb und seitdem bloß an der Kunstgewerbeschule bei Josef Hoffmann und Oskar Strnad eifrigste Pflege fand. Nunmehr nehmen wieder unsere beiden staatlichen Kunstschulen schöpferischen Anteil am Aufbau einer neuen Kunst und erziehen die Jugend zu Idealen, die den Forderungen der Zukunft bereits in ausgeprägter Form Rechnung tragen.
[…]
Und wie von der Akademie in Bälde eine neue Raumkunst ausgehen wird, so sehen wir an der Kunstgewerbeschule in der Ausstellung des Professors Cizek eine neue vom Raum ausgehende Flächenkunst im Werden. Auch die in der Fichtegasse Nr.4 (2. Stock) untergebrachte Ausstellung der Cizekschen Klasse für ornamentale Formenlehre eröffnet die überraschendsten Perspektiven auf kommende Kunstmöglichkeiten und zeigt, zu welch ungewöhnlichen Leistungen unsere jungen Burschen und Mädchen befähigt sind, wenn ihr reiches Talent an den richtigen Lehrer gerät. Aber obwohl der Name des Professor Cizeks als eines der erfolgreichsten Kunstpädagogen heute in der ganzen Welt bekannt ist, ist sein Ruf doch scheinbar noch nicht bis nach Wien gedrungen, denn Wien liegt ja bekanntlich ein wenig abseits von der „Welt“. Nur so konnte es kommen, daß man diese Abteilung wie so manches andere unersetzlich Wertvolle für überflüssig gehalten und darum aus Sparsamkeitsgründen mit dem laufenden Schuljahr „abgebaut“ hat. Demnach ist die vorstehende Ausstellung die beste und reifste, die der Kurs bis jetzt gezeitigt hat, zugleich auch seine letzte gewesen. Man kann sie unter Führung Professor Cizeks jederzeit besichtigen und fühlt sich darin in eine völlig neue Welt versetzt, in deren originelle Formen-und Farbensprache man sich bei einigem guten Willen rasch einlebt. Professor Cizek hatte seinen Schülern heuer das Thema gestellt, die Außen- und Innendekoration zu einem modernen Gesellschaftshaus mit Theateranbau zu entwerfen, und diese Aufgabe wurde nun mit ebensoviel Erfindungsgabe wie in durchaus einheitlichem Stilwillen gelöst. Hervorzuheben sind namentlich die Arbeiten der hochtalentierten Giovanna Klien, die einen unerschöpflichen Reichtum an dekorativen Einfällen mit feinstem Gefühl für erlesene Farbenharmonien verbindet, in denen der Geist Klimts in kubistischem Gewande wiederzuerstehen scheint; Elisabeth Karlinsky lieferte die Zeichnungen zu feinen, von Max Blaha ausgeführten Glasätzungen und betätigte sich mit Erfolg auch als Plastikerin, von Marie Ullmann stammt ein wirkungsvoller konstruktivistischer Fries, von Walter Harnisch der Entwurf zu einem modernen Theater, von Otto Erich Wagner der Plan zu dem erwähnten Gesellschaftshaus, von Herbert Ploberger eine Anzahl konstruktivistischer Plastiken. Es wäre höchst bedauerlich, wenn durch die Abbaumaßnahmen an der Kunstgewerbeschule auch ein guter Teil der Lebensarbeit Professor Cizeks in Frage gestellt würde, dessen unablässiges Bemühen, im Verein mit seinen Schülern neue, zeitgemäße Ausdrucksmittel zu schaffen und die Verwendbarkeit des Kinetismus auch in der angewandten Kunst zu erweisen, gerade in der jüngsten Ausstellung von schönstem Gelingen gekrönt erschien. […]
In: Wiener Zeitung, 1.8.1924, S. 4.
Amerikanische Automobilgrotesken (1921)
N.N: Amerikanische Automobilgrotesken
Es ist ganz selbstverständlich, daß in einem Lande wie in den Vereinigten Staaten von Amerika, wo nach den letzten Zählungen auf jeden siebenten Einwohner ein Automobil kommt, das Automobil auch in Kunst und Literatur, in der ernsten Betrachtung und in der witzigen Satire, eine bedeutende Rolle spielt. Eine der bekanntesten Persönlichkeiten in der amerikanischen Automobilindustrie hat sich die Mühe genommen, eine lange Reihe guter und weniger guter Witze, die über den bekanntesten amerikanischen Wagen, den Ford, der bekanntlich in vollkommen gleicher Ausführung täglich zu etwa 3000 Stück die Fabrik verläßt, in Umlauf sind, zu sammeln und in einem eigenem Büchlein zu vereinigen. Das Ueberraschende daran ist nur, daß der Verfasser und Herausgeber dieses Werkes – Mr. Henry Ford selbst ist, der Schöpfer und Fabrikant des seinen Namen führenden Autos. Mit seltener Selbstironie hat Ford alle diese zum Teil beißend boshaften Witze und satirischen Anekdoten über sein Fabrikat in Druck gegeben und dafür gesorgt, daß die Sammlung massenhafte Verbreitung finde. Er hat sich das erlauben können, weil er gewußt hat, daß sein Auto bereits derart verbreitet und gut eingebürgert ist, daß ihn auch Spott und Hohn nicht schaden können. Im Gegenteil, es hat den Anschein, als ob Mr. Ford mit dem Büchlein ein neues Mittel zur weiteren Popularisierung seines Wagens gefunden haben will.
Ein Selbsterlebnis Fords sei den anderen Anekdoten vorangestellt. Als Ford eines Tages auf einem seiner Wagen eine Fahrt ohne Chauffeur über Land unternahm, sah er einen anderen Ford-Fahrer in Panne stecken. Er bot sich an, die Störung zu beheben, was ihm auch gelang. Nach getaner Arbeit wollte ihm der Besitzer des wieder in Gang gesetzten Autos einen Dollar geben, welche Schenkung Ford lächelnd mit den Worten ablehnte, er sei ein reicher Mann und danke für das Trinkgeld. Empört antwortete der andere: „Schneiden Sie gefälligst nicht auf! Wenn Sie wirklich ein reicher Mann wären, würden Sie nicht mit so einem lumpigen Kasten von Ford fahren.“
Weitere Anekdoten: Ein Chauffeur, der in einer Garage um Beschäftigung bat, rühmte sich, jede Automobilmarke am Geräusch des Wagens zu erkennen. Man ging auf seinen Vorschlag, eine Probe zu machen, ein, und verband ihm die Augen. Tatsächlich hatte er bereits sieben Wagen richtig agnosziert, als unvermutet ein Hund, dem Gassenjungen einen alten Topf an den Schweif gebunden hatten kläffend und heulend in die Garage stürzte. „Jetzt kommt ein Ford!“ rief sofort der Chauffeur mit den verbundenen Augen.
Angebliche Notizen in der Fachpresse: „Gerüchtweise verlautet, daß Ford sich mit dem Plane trägt, eine bedeutende Ersparnis an seinem Wagen zu verwirklichen. Er will den Geschwindigkeitsmesser entfernen, da sich die Entbehrlichkeit dieses Apparats erwiesen hat. Der Wagen selbst stellt nämlich den besten Geschwindigkeitsmesser dar, denn bei 15 Kilometer in der Stunde klirren die Lampen und die Scheinwerfer, bei 25 Kilometer klirrt der Windschirm und bei 40 Kilometer klirren die Knochen der Fahrgäste.“ – Eine andere derartige Notiz: „Seit kurzem ist der Ford-Wagen mit einem ganz neuartigen Signalapparat ausgestattet. Der Apparat arbeitet wie ein Grammophon und tritt automatisch in Tätigkeit, sobald der Wagen eine Stundengeschwindigkeit von vierzig Kilometer erreicht. Dann beginnt der Signalapparat den bekannten Choral: „Näher, mein Gott, zu dir“ zu spielen.“
Schlagworte: Automobil, Automobilgroteske, Ford, Grammophon
In: Neue Freie Presse, 1.1.1921, S. 31-32.
Friedrich Adler: Brief an Leo Trotzky (1919)
Werter Genosse Trotzky!
Während meiner Haft war ich der Gegenstand mannigfaltiger Kundgebungen. So wurden unter anderem Kasernen und Kinder, Regimenter und Straßen nach mir benannt. Natürlich alles ohne meine Zustimmung, die man ja wegen der Gefängnismauern und anderer Hindernisse nicht einholen konnte. Wenige Tage nachdem ich herauskam, hatte ich aber bereits Gelegenheit, eine weitere solche Ehrung unter Hinweis auf meine Abneigung gegen den Personenkultus zu verhindern, wie Ihnen vielleicht aus meiner Broschüre „Nach zwei Jahren“ bekannt ist.
Nun melden die Zeitungen, daß mir auf Ihren Antrag eine Ehrung aberkannt wurde, von deren Existenz ich bisher allerdings nichts wußte. Ich erfahre gleichzeitig, daß ich bisher Ehrenmitglied des russischen Sowjetkongresses gewesen und es fernerhin nicht mehr sein soll. Ich weiß nicht, ob die Zeitungsnachricht wahr ist, oder zu jenen 25 Prozent der Meldungen über Rußland gehört, die frei erfunden sind.
Aber wie immer es mit dieser nicht einmal platonischen Ehrenmitgliedschaft stehen mag, jedenfalls erscheint sie mir recht belanglos, ich hatte niemals Sinn für Titel und Orden. Ich würde auch an sich über die Sache kein Wort verlieren, aber da Sie in dieser schweren Zeit sogar Muße für solche Zeremonien zu haben scheinen, wage ich es, Sie für ein paar Augenblicke in Anspruch zu nehmen, um Sie gerade durch dieses Beispiel – daß nicht einmal mir diese Ehrenmitgliedschaft bekannt geworden war – daran zu erinnern, wie wenig wir voneinander wissen.
Seit wir im August 1914 Abschied nahmen, als Sie mit dem letzten Zuge vor den Mobilisierungstagen Oesterreich verließen, hatten wir nicht Gelegenheit, uns zu sprechen oder auch nur zu schreiben. Und so wie zwischen einzelnen Genossen die Verbindung abriß, so war es zwischen den Staaten überhaupt, ob sie nun „feindlich“ oder neutral gewesen. Auch heute ist das noch lange nicht überwunden. Wir wenigstens haben das Gefühl, über Rußland nahezu gar nicht Zuverlässiges zu wissen, wir sind noch immer auf Berichte angewiesen, die in ihren Schrecknissen und Verklärungen lebhaft an die Schilderungen der Reisenden über das alte Wunderland Ophir gemahnen, und deren Wahrheitswert durch die politisch Leidenschaft pro oder kontra sicherlich nicht erhöht wird. Gerade in den letzten Tagen hatten wir wieder ein drastisches Beispiel dafür. Eine Gruppe von Georgiern, die vor wenigen Wochen Moskau verlassen haben, passierte Wien auf der Reise in ihre Heimat. Sie bestand aus Bolschewiken und Antibolschewiken. Was die einen weiß schilderten, malten die anderen mit gleichem Temperamente schwarz, und umgekehrt. Welche von beiden Schilderungen der Wahrheit näher kam, vermögen wir absolut nicht zu entscheiden. Wir sind daher nach wie vor in unserem Urteil über die sozialistische Bewegung in anderen Ländern äußerst zurückhaltend, und werden in dieser Vorsicht immer wieder bestärkt, wenn wir erfahren, wie wenig es den Genossen anderer Länder gelingt, die Besonderheiten unserer Lage zu erfassen.
Neben aller Bewunderung für die Energie und Ausdauer, die Sie und Ihre Freunde auch in den verzweifelten Situationen in den zwei Jahren Ihrer Herrschaft immer wieder bewiesen haben, bestand bei mir stets die lebhafteste Beunruhigung darüber, daß Sie gerade diese Schranken, die der Einsicht in die Verhältnisse anderer Länder durch die Schützengraben gezogen wurden, nicht einzuschätzen vermögen. Am schlimmsten war diese Beunruhigung, als ich von meiner Zelle aus Ihnen zusehen mußte, wie Sie in Brest-Litowsk agierten. Was ich vom Anfang dieser Verhandlungen an befürchtet habe, trat in aller Schrecklichkeit ein. Sie rechneten mit der Reife der revolutionären Entwicklung in Oesterreich und Deutschland, als ob Sie davon etwas wissen könnten, während es doch nur Ihre Wünsche waren, die Sie in Ihre politischen Entschlüssen projizierten. Und ebenso wie Sie die Bedeutung des Jännerstreikes 1918, insbesondere was Deutschland betrifft, falsch eingeschätzt, haben Sie sich immer wieder über das Tempo der Entwicklung den ärgsten Täuschungen hingegeben. Ich maße mir nicht an, zu entscheiden, ob Sie auch bezüglich der Entwicklung in Rußland die Zeitdistanzen nicht abzuschätzen vermochten, was Deutschland und Oesterreich betrifft, sind Sie jedenfalls von einer Illusion in die andere verfallen.
Sie glaubten Oesterreich zu kennen, weil Sie vor dem Kriege längere Zeit in Wien gelebt haben. Aber bereits Ihre glänzende wenige Wochen nach Kriegsausbruch geschriebene Broschüre enthielt Irrtümer über die Vorgänge in unserer Partei. Und je länger der Krieg andauerte, um so mehr wuchs die Isolation. Ich konnte das sehr anschaulich an dem Verhalten Ihrer Freunde in meinem speziellen Falle erkennen. Nach dem Attentat im Oktober 1916 zeigte sich Lenin vollständig verständnislos für die Situation, aus der es hervorging, und gehörte eigentlich zu dem großen Chor derjenigen, die es verurteilten. Nach meinem Prozeß wieder wollten Ihre Freunde mich durchaus für sich reklamieren, [G. J. ] Sinowjew nach geradezu zum Bolschewiken stempeln. Wie weit das für Ihre Freunde damals taktische Zweckmäßigkeit oder ehrlicher Irrtum war, vermag ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls dürfen sie heute nur ihre mangelnde Einsicht und nicht mich anklagen, wenn Sie nun erkennen, daß ich zwar ein revolutionärer Sozialdemokrat bin, aber durch aus nicht die bolschewistische Taktik als alleinseeligmachend anzuerkennen vermag. Daß sowohl das Attentat als der Prozeß richtiger eingeschätzt werden konnten, beweist Martow, der in beiden Fällen den klaren Blick bewies und im Wesentlichen richtig urteilte.
Aber über diese zwar psychologisch interessanten, aber sachlich belanglosen Irrtümer hinaus glaubten Sie zur Zeit des Umsturzes im November 1918, in die Arbeiterbewegung in Oesterreich eingreifen zu wollen. Sie sandten Geld her. Dagegen ist an sich sicher nichts zu sagen. Auch wir sandten in Betätigung internationaler Solidarität unseren bescheidenen Mitteln entsprechend so oft wir konnten materielle Unterstützung an Bruderparteien ins Ausland. Aber in diesem Falle war es doch anders. Nicht eine Partei suchte Geld, sondern zum Geld wurde eine Partei gesucht. Leider konnten Sie neben dem Geld nicht auch etwas politischen Verstand mitsenden. Und so entstand jene Serie von politischen Fehlern, die man als Tätigkeit der kommunistischen Partei in Deutschösterreich bezeichnet. Mir war von Anfang an klar, daß es unvermeidbar sei, daß sich zu der ökonomischen Basis – nämlich dem russischen und später ungarischen Geld – eine Partei finde, der Absplitterungsprozeß in unserer Arbeiterbewegung infolge Ihres Eingreifens notwendig eintreten müsse. Aber ich habe diesen Prozeß mehrmals gefördert, weil ich ihn nach bestem Wissen und Gewissen für ein Unglück für die proletarische Aktion hielt. Die Leute der neuen Partei kamen damals am 3. November, einen Tag, nachdem ich das Gefängnis verlassen, zu mir mit dem naiven Ansinnen, ich möge ich Führung übernehmen. Ich habe sogleich abgelehnt und wenn ich jetzt alles rückschauend überlege, so kann ich heute wie in jedem Augenblick dieses ganzen Jahres aussprechen, daß es ein großes Unglück für die revolutionäre Entwicklung der Arbeiterklasse gewesen wäre, wenn ich mich von Stimmungen hätte fortreißen lassen und nicht den Weg sozialistischer Pflicht gegangen wäre. Und daß ich diesen großen Fehler nicht gemacht, das ist es, was Sie und Ihre Freunde, die die Dinge hier nicht trennen und durch politische Kinder „informiert“ werden, mir nicht verzeihen. Aber ich brauche nur auf den Friedhof hinübergehen, den Ungarn jetzt darstellt, um vollständig darüber beruhigt zu sein, daß ich zwar nicht Ihren Wünschen gemäß, aber im wahren Interesse der proletarischen Revolution handelte, wenn ich dabei mitwirkte, das Proletariat Deutschösterreichs vor entscheidenden Niederlagen zu bewahren und es kampffähig zu erhalten.
Ich bin heute in der merkwürdigen Lage, daß meine russischen Freunde aller Richtungen mit mir unzufrieden sind. Aber gerade, daß alle von Axelrod bis Lenin in der Unzufriedenheit mit mir einig sind, gibt mir die Zuversicht, daß vielleicht doch ich es bin, der auf jenem Wege ist, der allein zu einer kraftvollen Internationale des revolutionären Weltproletariats führen kann.
Meine Ansichten darüber Ihnen im Einzelnen auseinanderzusetzen, übersteigt den Rahmen dieses Briefes. Hoffentlich wird es bald einmal mündlich möglich sein. Vorläufig bestehen allerdings leider noch die Fronten, die Sowjetrußland von der übrigen Welt absperren und mich zwingen, diese anspruchslosen Zeilen zu drücken, damit sie vielleicht doch Aussicht haben, Sie zu erreichen.
Mit sozialistischem Gruße ihr
Friedrich Adler
In: Der Kampf. Sozialdemokratische Wochenschrift, 13.12.1919, S. 805.