Felix Salten: „Ein großer amerikanischer Erzähler.” Theodor Dreiser.
Leute, die ihn persönlich
kennen, schildern Theodor Dreiser als einen gar nicht frohen, ja als einen
grämlichen, unwirschen Mann. Und nach dem Erscheinen seiner Bücher, die der
Paul-Zsolnay-Verlag in die deutsche Sprachgemeinschaft eingeführt hat, wurden
einige beachtenswerte Stimmen laut, die erklärten, Dreiser sei eigentlich kein
Dichter. Er selbst schrieb einmal den Satz: „Es gibt zu viel Religion in der
Welt.“ Dieser Ausspruch, derart zitiert, ganz für sich allein, ohne
Zusammenhang mit allem, was vorhergeht und was folgt, klingt merkwürdig
nüchtern. Ein Mann wird da sichtbar, auf den die Schilderung flüchtiger
Besucher zu passen scheint, eine unfrohe, verdüsterte, pessimistische Personnage,
die dem hell-heitern, optimistischen Wesen der Amerikaner schroff entgegensetzt
ist. Hernach liest man die Stelle: „Siehst du den nahenden Morgen? Dann freue
dich. Und wenn du an seinem Licht erblindest -, freue dich auch. Du hast
gelebt.“ Jetzt steht ein anderer vor uns. Einer, der weder unwirsch noch
trübselig ist, sondern nach schwerem Ringen mit der ganzen tragischen und
humorigen Buntheit des Daseins aufrechtgeblieben an diese Welt glaubt. Die
Vermutung ergibt sich, es könne um die Schilderung von Dreisers Persönlichkeit
ebenso bestellt sein, wie um Zitate, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden.
Jemand hat ihn einmal besucht, ein anderer hat ihn irgendwo getroffen, und nun
schildern sie Theodor Dreiser nach dem Eindruck dieser halben Stunde, die gar
keinen Zusammenhang mit seinem Leben, mit seinem Arbeiten, mit dem Geheimnis
seines Temperaments aber seines Schicksals besitzt. Was liegt daran? Das
Charakterbild berühmter Männer wird immer verfälscht. Wissentlich oder
unwissentlich. Meist unwissentlich. Aber die Geschichte wimmelt ja von
Fälschungen. Falsche Bildnisse, falsch beleuchtete Tatsachen, daraus setzt sich
die Historie der Menschheit zusammen. Was ist Wahrheit? hat schon Pilatus
gefragt. Wer richtig zu lesen versteht, wem Intuition gegeben ist, wird der
Wahrheit nahe kommen. Seiner eigenen Wahrheit, die aus seinem persönlichen
Empfinden, aus dem Grad seines persönlichen Ahnungsvermögens entspringt. Und es
kann, vielleicht, manchmal, die wirkliche Wahrheit sein.
Sollen wir ernsthaft darüber streiten, ob Theodor Dreiser
ein Dichter ist? In deutschen Bezirken herrschen sonderbare Ansichten über das
Wesen des Dichters. Einer schreibt Versdramen oder Lyrik, die in Prosa
aufgelöst, das prosaisch Landläufige, das Belanglose seiner Arbeit offenbaren,
doch er gilt, wenigstens eine Zeitlang, als Dichter. Der andere schreibt
Luftspiele oder Späße, und kein Mensch nennt ihn einen Dichter, weil er
Heiterkeit erregt, weil einer, der sein Publikum zum Lachen bringt, in
Deutschland sehr selten und sehr ausnahmsweise ernst genommen wird, weil man,
während man lacht, gar nicht merkt, gar nicht darauf achtet, aus welchen
tragischen Untergründen der Humor sich entwickelt. Also hat man auch nur wenig
Organ, hat nur wenig traditionelles Verstehen für die edle Seelenhaftigkeit
einer Leistung, die tragische Konflikte vom Rand des Todes, von der Finsternis
des Abgrundes in die Sonne des Lebens rückt. Es bleibe also unerörtert und
ungesagt, ob Theodor Dreiser ein Dichter ist, wie es ja gleichgültig bleibt, ob
man ihn einen Dichter nennen will oder nicht. Keineswegs mir allein, vielen
tausenden deutschen Lesern gilt er, seit seine Bücher vorliegen, als eine
außerordentlich wertvolle Bereicherung unserer geistigen Güter, als eine große
Erscheinung, die man zu den großen Erscheinungen der letzten Jahre stellen muß,
zu denen, die aus dem englischen Sprachbereich zu uns kamen, zu John Galsworthy
und Joseph Conrad. Dieses Dreigestirn, Conrad, Galsworthy und Dreiser, ergänzt
durch den genialen Jack London, durch den sanften Stevenson, den radikalen
Upton Sinclair und den prächtig unterhaltsamen Sinclair Lewis bilden ein längst
schon notwendiges Gegengewicht zur zermalmenden, auflösenden Dichtung der
Russen. Je tiefer diese englischen und amerikanischen Erzähler in das Bewußtsein
deutscher Leser eindringen, je stärkeren Eindruck sie üben, eine um so
gesündere Reaktion bewirken sie nach der Jahrzehnte dauernden Vergiftung der
deutschen, der europäischen Seele durch Tolstoi und Dostojewski. Freilich,
Tolstoi und Dostojewski, so wenig angebracht es immer auch sein mag, die beiden
durch das „und“ miteinander zu verbinden, diese Zwei sind Dichter von
homerischem Rang. Aber welch‘ tiefe Gegensätze die zwei auch trennen, weder die
psychopathische Ethik des einen, noch der mattoide Religionsdilettantismus des
andern lassen sich ins Europäische übersetzen. Vorboten sind sie, alle beide,
einer gewaltigen, einer spezifisch russischen Umwälzung, die nach Europa
übertragen, den Kontinent in einen blutgetränkten Schutthaufen verwandeln würde,
wie sie selbst, diese Vorboten, die europäische Seele in ein hysterisches Chaos
zu wandeln begannen. Nun kommen die großen Erzähler vom Westen her, von
England, von Amerika und es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß sie gerade
jetzt kommen, einer nach dem andern, während Rußlands selbstbefreiendem
Niederbruch, während Rußland in Blut und Not danach ringt, wieder aufzustehen,
immer noch der Welt und immer noch sich selbst ein schicksalsschweres Rätsel.
Diese Erzähler aus dem Westen sind unserem Wesen „verwandt, sie leben in
unserer Welt, sie haben unsere Begriffe; man braucht ihre Schriften nur aus dem
Englischen ins Deutsche zu heben und sie sind restlos, sie sind wirklich
übersetzt. Eine frische, freie Luft weht uns erfrischend und befreiend, aus ihren
Büchern entgegen. Die Welt wird weit vor unseren Augen, die Ozeane schimmern,
erotische Landschaft breitet sich und die Probleme der Menschheit haben nichts
von ihrem Ernst, nichts von ihrer Tragik und Tiefe verloren. Keine Spur sarmatisch-asiatischen
Giftes ist in diesen Erzählern, sie sind unsere Brüder, sie sind Helfer und
Wegbereiter für unsere deutschen Romandichter.
Liebt man die Darstellung tragischer Geschicke, und jeder
liebt sie, der nicht in einem wesenlosen Optimismus versumpert ist, dann wird
einem Theodor Dreisers Roman „Eine Amerikanische Tragödie“ kostbarer Besitz.
Ein schmerzhaft wahres Buch, ein Buch, das peinigt und foltert, gegen das man
sich zur Wehr setzt, das einen doch nicht losläßt und von dem man schließlich
überwältigt wird. Zweimal habe ich die Lektüre dieses Buches unterbrochen,
tagelang, habe zweimal, erschüttert und aufgewühlt, nicht gewagt,
weiterzulesen, aus Scheu, noch stärker erschüttert zu werden. Aber während
dieser Tage ging ich umher, vollständig eingesponnen in das Schicksal des
traurigen jungen Menschen der die Hauptgestalt dieser Tragödie ist. Selten,
sehr selten hat eine Existenz, die es im Alltag oder in der Dichtung, mich so
gefangen gehalten und so erregt, wie dieser unglückselige Clyde. Als die
Absicht in ihm erwachte, sich seiner Geliebten zu entledigen, sie um die Ecke
zu bringen, weil sie seinem Aufstieg hinderlich wurde, da mußte ich das Buch weglegen.
Ich hatte Angst, Clyde könne seinen wirren irren Vorsatz ausführen.
Unerträglich war der Gedanke, dieses reizende, opferwillige, schuldlose Mädchen
werde von der Hand eben des Mannes sterben, dem sie sich in vertrauender Liebe
hingegeben hatte. Und diesen armen, einsamen, weltfremden Burschen in
Verzweiflung zu sehen, weil seine Geliebte Mutter werden sollte, weil er
dadurch gezwungen wäre, sie zu heiraten, und weil das alle seine Hoffnungen,
seine neue Liebe zur Millionärstochter vernichten würde, dieses Umgarntsein
einer jungen, leidenschaftlich zur Höhe drängenden Seele, dieses Hineintaumeln
Clydes in Wunschträume, dieses Spielen des Haltlosgewordenen mit
verbrecherischen Möglichkeiten war niederschmetternd. Wie ich das Buch beiseite
legen mußte, um Fassung zu gewinnen, so zwang es mich nach ein paar Tagen, die
Lektüre, in diesem Fall richtiger: das Miterleben, das Miterleiden
fortzusetzen. Und wieder stockte ich vor der Hinrichtung. Das war keine Justiz,
kein Verfahren der irdischen Gerechtigkeit. Ein nüchterner parteipolitischer
Kuhhandel vollzog sich. Und ein junges Menschenleben fiel ihm zum Opfer. Es dauerte
wieder einige Tage, bis ich weiterlas. Fiel dieses Leben wirklich als Opfer
politischer Streber? Wird es keine Gnade geben, im letzten Moment vielleicht?
Es gab dann keine. Theodor Dreiser und sein Roman kennen keine Gnade, kennen
keinen gemilderten Schluß. Nur Tatsachen kennen sie, aus der Welt des
Tatsächlichen gegriffen.
Alle diese Vorgänge aber, um ein Kleines weniger intensiv
geschildert, diese Menschen, um einen einzigen Grad weniger glühend lebendig
gestaltet, und man würde das Buch ruhiger, würde es etwa mit der Gespanntheit
lesen, wie irgendeinen guten Kriminalroman. Man würde nämlich ebenso wenig im
Ernst daran glauben, wie man auch sonst an Kriminalromane nicht ganz glaubt.
Doch hier geht’s gar nicht um Glauben oder Unglauben. Von der ersten bis zur
letzten Zeile regt sich keine Sekunde in uns der leiseste Zweifel an der
grausamen Wirklichkeit dieser Welt, an der entsetzlichen Wahrheit aller
Zusammenhänge und Geschehnisse. In der meisterhaften Komposition dieser drei
Bände, in ihrer virtuosen Architektur erscheint nichts komponiert, spürt man
nirgendwo die Arbeit des Romanarchitekten. Der laufende Sturz aller Ereignisse
vollzieht sich vom Anfang bis zum Schluß mit unaufhaltsamer Notwendigkeit. Und
man begleitet dieses Hinstürzen voll atemloser Teilnahme. Hier ist der Alltag,
den wir alle kennen, durch den wir alle gehen, unberührt, oder die Augen
schließend, wenn die Gefahr droht, zu arg erschüttert zu werden. Hier ist
dieser Alltag und man wird gezwungen, die Augen zu öffnen. Hier ist das Spiel
seiner Zufälle, das Schicksal wird, hier ist seine unbarmherzige Härte, sind
lockende Verführung, hier sind seine Höhen und seine Abgründe. Hier sehen wir
einmal seine Tragödie, eine seiner Tragödien, so genau, als habe ein kundiger
Reporter sie beschrieben, so menschlich durchleuchtet, als sei ein großer
Dichter mit seinem Herzen am Werk gewesen.
Das Amerikanische an dieser Tragödie sind die sozialen
Verhältnisse. Die Straßenbettler-Prophetie von Clydes Vater, sein gutgläubig
stümperndes Predigertum ist amerikanisch. Und amerikanisch ist der krasse
Gegensatz zwischen den Leuten, die zu viel Geld, und denen, die gar kein Geld
haben. Amerikanisch scheint die allgemeine Ansicht, daß Armut eine Schande ist.
Und das Schachspiel politischer Parteien, das die Verwaltung wie die Justiz mit
in seine Kombinationen und Spekulationen wie selbstverständlich einbezieht.
Manches von diesen Dingen, mancher von diesen Zuständen braucht freilich nur
mit anderen Lokalfarben getüncht zu werden und paßt auch, je nach der Farbe,
anderswohin, als nach Amerika. Doch dieses Buch ist amerikanischem Boden
entwachsen, ist von einem amerikanischen Geist ersonnen und von der Urfarbe der
Vereinigten Staaten nicht zu lösen. Ins allgemein Menschliche, ins allgemein
Gültige aber wächst die Tragödie des jungen Menschen, der arm geboren ist, der
mittellos, wehrlos, führerlos und hilflos einer Welt voll Glanz, Luxus,
Schönheit und Freude gegenübersteht. Die Tragödie eines jungen Menschen, der
Leidenschaft und Phantasie genug besitzt, um mit allen seinen Trieben von
dieser Welt des Reichtums in Brand gesteckt zu werden, der hinreichend
sinnlich, unverbraucht und unerfahren ist, um sich, wie man das bei uns nennt,
zu „verplempern“, der dann in Verwirrung gerät und unschuldig schuldig wird. Sehr
viele Leute gibt es, besonders Frauen, die aus Sympathie und Mitleid für die
reizende, ehrenhafte Roberta den jungen Clyde streng verurteilen und ihn ehrlos
nennen. Mag sein, daß sie recht haben, mag auch sein, daß Clyde ehrlos ist,
obwohl er im Grunde jenseits der landläufigen Ehrbegriffe steht. Den Satten und
Baldgesättigten fällt es sehr leicht, eine Ehre zu haben und sie ohne jede
Probe, ohne jede Versuchung zu behalten. Wer aber die Armut kennt, denkt über
diese „ehrenhaften“ und „ehrenwerten“ Leute doch anders. Und wer die bitterste,
schmerzhafteste Armut erlebt hat, die Armut am Rande des Reichtums, in naher
Nachbarschaft des üppigen Schwelgens, muß den unglücklichen Clyde so tief
verstehen, muß sich ihm so brüderlich verbunden fühlen, daß er zu gar keinem
Urteil über den vom Schicksal Vernichteten gelangt, sondern nur zu fieberndem
Erschüttertsein.
Eine amerikanische Tragödie ist auch der andere Roman von
Theodor Dreiser „Jennie Gerhardt“. Aber auch diese Dichtung ragt weit über
ihren Schauplatz hinweg ins Ewigmenschliche. Wie es überall und zu allen Zeiten
junge Männer gibt und gegeben hat, deren Schicksal dem des Clyde Griffith
gleicht, so gab und gibt es überall, zu allen Zeiten Jennie Gerhardts. Jung,
schön, bescheiden und arm. Liebevoll und opfermutig. Hingebend und
pflichtbewusst. Naiv und selbstlos. Ein Spielzeug männlicher Begierden. Dann in
ihrer seelischen Reinheit gefühlt, die Frau, der Männer wirkliche
Herzensneigung entgegenbringen. Sie hat Pech, denn sie ist arm. Immer hat sie
Pech und immer trägt sie ihr Unglück sanft, still, geduldig. Ein reicher
älterer Mann, der sie, ein halbes Kind noch, verführt, will sie heiraten, weil
sich die Folgen einstellen und weil er sie liebgewonnen hat. Er stirbt
plötzlich. Ein junger Mensch aus reichem Hause nimmt sie, reißt sie einfach an
sich, weil ihre Schönheit seine Sinne entfacht; verliebt sich dann in sie,
verzeiht ihr die uneheliche Tochter, die sie von dem älteren Herrn hat, denn
der wollte sie ja heiraten. Dieser junge Mensch lebt mit Jennie wie Mann und
Frau. Jahrelang. Gewöhnt sich an sie, an ihre magdliche Zärtlichkeit, an ihre
Treue, an den Zauber ihrer „schüchternen Seele“ … und vermählt sich zuletzt mit
einer anderen, mit einer Dame aus seinen Kreisen. Jennie bleibt allein mit
ihrer Tochter, die sie durch einen raschen Tod verliert. Den Geliebten sieht
sie nur einmal noch, als sie den Sterbenden bis an sein Ende pflegt. Eine
ergreifende Gestalt, so lebendig, so wahr und so bestrickend wie nur irgendeine
der wunderbaren Frauengestalten in irgendeinem der unvergänglichen Dichterwerke.
Es sind noch einige prachtvolle Gestalten in diesem Buch. Jennies Vater, der
einfache, glaubensstarke, sittenstrenge Deutsche. Jennies Mutter, der alten
Millerin und vielleicht auch der Marthe Schwerdtlein ein bißchen verwandt; vor
allem: Lester, der Geliebte, und das Schicksal ihres Lebens.
Ein Verwandter an Format und Art dieses Lester ist der
Held in Dreisers frühem Romanwerk „Der Titan“. Frank Algernon Cowperwood hat
die frische, draufgängerische Manier, Frauen zu nehmen. Aber er nimmt viele. Er
nimmt sie wie ein Raubtier seine Beute, wie ein kleiner Junge das ersehnte
Spielzeug. Er ist gierig und naiv. Er ist raffiniert und unschuldig. Er hat
einen unbeugsamen Willen, eine Riesenkraft des Herzens wie des Verstandes und
er wirkt wie ein Element. Von Jugend an ist er entschlossen, eine Großmacht in
der Finanzwelt zu werden. Man wirft ihn nieder, man sperrt ihn ein, aber man
kann ihn nicht besiegen. In Philadelphia wird es sein Ruin, daß er die Tochter
eines einflußreichen Mannes verführt hat. Er heiratet sie nach seiner
Scheidung. In Chicago wird er beinahe vernichtet, weil er ein Verhältnis mit
der Gattin eines Finanzmagnaten begann. Er überwindet alles; er ringt auch die
Eifersucht seiner zweiten Gemahlin nieder, die er oft und oft betrügt; er macht
Schluß mit ihr, als er, schon über Fünfzig in leidenschaftlicher Liebe zu einer
Achtzehnjährigen entbrennt. Liebe und Geschäft, Geschäft und Liebe, Erfolg und
Niederlage und trotzdem wieder Erfolg füllen diese drei Bände, die eben
erschienen. In langen, gründlichen Auseinandersetzungen werden gewaltige
Spekulationen, Börsenmanöver, Gründungen und Geldkrisen beschrieben. Wer etwas
von diesen Dingen versteht, wird gespannt und gefesselt sein. Aber auch
diejenigen, denen das Geschäftswesen fremd bleibt, folgen interessiert. Denn in
diesen Kapiteln wird der Aufstieg der U.S.A. von den Sklavereikriegen bis zum
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt. Objektiver und nicht so parteiisch
gefärbt wie in Myers „Entstehung der großen amerikanischen Vermögen.“
Ein bedeutsamer Mann, der mächtige Unternehmungen
beherrschte, sagte mir einmal vor langer Zeit: „Was soll unsereinen an der
modernen Literatur reizen? Es steht nirgendwo etwas von den Dingen, die wichtig
sind, mit denen sich die Welt beschäftigt, nichts von den Kämpfen, Arbeiten,
Entdeckungen und Wagnissen, durch die wir alle eigentlich vorwärts kommen.“ An
diesen Mann muß ich jetzt denken. Wenn er noch lebte, er hätte sich am „Titan“
gefreut.
Aber unzählig Lebende werden an sich an Theodor Dreiser
freuen und Unzählige, die nach uns leben, werden an diesem großen Dichter
Erschütterung und Erhebung finden. Mögen heute auch einige der Meinung sein,
Dreiser sei nicht modern, sei eine trockene Wiederholung Zolas, er ist weder
trocken, noch eine Wiederholung, so wenig wie er wahrscheinlich in Wirklichkeit
als Mensch mürrisch ist. Und er bleibt so zeitlos modern, wie alles, was
einfach und tief, wahrhaft und menschlich ist, immer modern sein wird. Er ist
so wahr wie das Leben selbst, so unbarmherzig wie das Schicksal, von so echter
Tragik wie der Tragiker der Antike, so reich an Gestalten wie nur ein wirklicher
Schöpfer; er liebt die Menschheit, glaubt an die Zukunft, wie nur ein großer
Dichter zu glauben und zu lieben vermag. Und sein Feld ist die junge
amerikanische Erde, die so reich ist an Erlebnissen und Dramen des Alltags, daß
sie ganz natürlich ihre eigenen, großen Dichter hervorbringen muß. Heute gehört
Theodor Dreiser zu den stärksten dichterischen Erscheinungen der Welt und
„drüben“ scheint er vorläufig der weitaus stärkste zu sein.
In: Neue Freie Presse, 7.10.1928, S. 1-4.
Rudolf Lothar: Der Dadaismus (1918)
Kubismus? Längst überwundener Standpunkt. Futurismus? Kunst von vorgestern, beinahe schon Philistergeschmack. Wir stehen schon viel weiter. Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag. Es sind die Ufer einer neuentdeckten Märcheninsel, und die Sonne, die sie bescheint, ist nicht etwa die gute, alte, brave, goldgelbe Sonne, sondern ist grün oder blau oder violett. Die Märchen aber, die auf der Insel erzählt werden, sind vorläufig noch allen Profanen unverständlich. Nur die Entdecker, die Eingeweihten, die Priester und Eroberer zugleich sind, deuten die Wunderrätsel.
Es ist zweifellos, daß der Dadaismus, der in Zürich seine Hochburg hat, vom Futurismus ausgegangen ist. Die ersten Gemälde, die man mit den Dadaistenausstellungen sah, bemühten sich, der Geometerie pittoreske Eindrücke nach futuristischem Rezept zu entlocken. Aber bald stürmten die Dadaisten über die bunte Fauna der aufs malerische angewendeten Geometerie hinaus und hißten das eigene Banner des Nochnichtdagewesenen. Vom Nochnichtdagewesenen kann man im Grunde genommen beim Dadaismus noch nicht sprechen. Denn die Wurzeln des Dadaismus – das muß man ihm einräumen – stecken in jedem Menschenleben.
Man kann es ohne Übertreibung sagen, daß jeder Mensch einmal ein Kind gewesen ist und als solches einmal „Dada“ gesagt hat. Nur blieb es der Zürcher Gemeinde vorbehalten, in diesem „Dada“ das Symbol heiligster Kunstäußerung zu erblicken. Der Dadaismus stellt sich uns also vor als die wahre Rückkehr zur äußersten Ursprünglichkeit, zur idealsten Primitivität. Lasset uns sein wie die Kinder! Im kindlichen Spiel erblicken die Dadaisten ehrfurchterschauernd die heiligsten Offenbarungen der Kunst. Und darum sind die Gemälde, Holzschnitte und Zeichnungen, die man in den dadaistischen Zeitschriften und auf den dadaistischen Ausstellungen sieht, nur den Malereien und Zeichnungen eines Kindes vergleichbar, das zum ersten Mal Tinte, Bleistift oder Farbe in die Hand bekommt. Ich habe lange darüber nachgedacht, welcher kindlichen Kunstäußerung die zehn Holzschnitte gleichen, mit denen H. Arp die „25 Gedichte von Tristan Tzara“ illustriert hat. Nun weiß ich es. Es ist die Technik der Klecksographien mit denen ein Justinus Kerner sich einst vergnügte. Man macht Tintenkleckse auf Fließpapier und legt dann das Blatt zusammen. Auf diese Weise kann man ein Raffael der Dadaisten werden. Die Dadaisten haben übrigens eine sehr entwickelte Kunsttheorie. Sie wollen die Überlieferungen der Negerkunst, der alten Ägypter und Byzantiner fortsetzen und vor allem die atavistische Empfindlichkeit ausrotten, die uns aus den hassenswerten Tagen der Renaissance im Blute stecken geblieben ist.
In erster Linie führen sie in ihrem Schrifttum einen erbitterten, ja geradezu berserkerhaften Kampf gegen Syntax und Interpunktion. Sie haben das prachtvolle Schlagwort vom „Antisyntarismus der freigelassenen Worte“. Und damit kommen wir dem Wesen ihrer Dichtungen nahe. Fort mit dem Unsinn der sinnvollen Sätze, fort mit der Schnürbrust des Satzbaues, fort mit den Eselsbrücken der Interpunktion! Worte, Worte, Worte in Freiheit! … Ich könnte hier ins Unendliche fortschreiben, ohne meinen verehrten Lesern auch nur den leisesten Begriff dadaistischer Kunst beibringen zu können. Darum lasse ich die Dichter der dadaistischen Schule selber sprechen: Im September 1916 erschienen die „phantastischen Gebete“ von Richard Hülsenbeck. Das schmächtige Bändchen beginnt mit folgender Hymne:
Ebene
Schweinsblase Kesselpauke Zinnober cru cru cru
Theosophia pneumatica
Die große Geistkunst = poème bruitiste aufgeführt
zum ersten Mal durch Richard Huelsenbeck DaDa
oder oder birribum birribum saust der Ochs im Kreis herum oder
Bohraufträge für leichte Wurfminen-Rohlinge 7/6 cm Chauceur
Beteiligung Soda calc. 98/ 100%
Vorstehund damo birridamo holla di funga qualla di mango
damai da dai umbala damo
brrs pffi commencer Abrr Kpppi commence Anfang Anfang
sei hei fe da heim gefragt
Arbeit Arbeit
brä brä brä brä brä brä brä brä brä
sokobauno sokobauno sokobauno
Schikaneder Schikaneder
Schikaneder
Man darf aber ja nicht glauben, daß dieses Gedicht einen Höhepunkt der neuen Poetik bilde. Da kenne ich ganz andre Höhepunkte! Ich möchte am liebsten das ganze Büchlein zur Erbauung des Lesers abschreiben! Eine ganze Flut von neuen Bildern stürmt auf uns ein. Wortbildungen schießen vulkanisch aus den Hirnen der Dadaisten. Und man muß gestehen, in ihrem Bilderreichtum übertreffen sie alles, was Menschenkunst je geschaffen hat. Paraffinflüsse fallen aus den Hörnern des Mondes, der See Drizunde liest die Zeitung und verspeist dabei ein Beefsteak, über den Spiegel deines Leibes saust der Jahrhunderte Geschrei, zwischen den Intervallen deines Atems fahren die bewimpelten Schiffe, Luftschlangen und Flittergold sind in den Runzeln deiner Stirne, Larven von Wolkenhaut haben die Türme vor die blendenden Augen gebunden, Zylinderhüte riesige o aus Zinn und Messing machen ein himmlisches Konzert, usw. . . . Und wie überraschend in ihrer Plastik sind die Verse:
vom Himmel fä-ällt das Bockskatapult, das
Bockskatapult
wir blasen das Mehl von der Zunge und schrei’n
und es wandert der Kopf auf dem Giebel
Aber in diesen „Gebeten“ ist immerhin noch eine Spur von Wortverbindungen. Es ist, als ob der Fluch des Satzbaues von der neuen Kunst wie eine Eierschale abgestreift werden müsste. Das ist restlos gelungen in dem unvergleichlichen Chorus Sanctus.
a a o a e i i i i o i i
u u o u u e u i e a a i
ha dzk drrr bn obn br buß bum
ha haha hihihi lilili leiomen
Dieser Chorus ist offenbar vierstimmig gedacht. Als Schlachtgesang der Dadaisten gilt aber, wie ich mir sagen ließ, der Cantus: Die Primitiven. Er lautet:
Indigo indigo
Trambahn Schlafsack
Wanz und Floh
Indigo indigai
Umbaliska
Bumm DADAI
Der richtige Dadaist dichtet in allen Kultursprachen. Mit Hülsenbeck um die Palme ringt ein junger französischer Poet Pierre Albert = Birot, der in Nr. 2 der Dadaistenzeitschrift einige Verse „Pour Dada“ veröffentlicht hat. Sie lauten:
AN AN AN AN AN AN AN AN
AN AN AN
IIII I I
POUH-POUH POUH-POUH RRRA
si si si
drrrrr oum oum
AN AN AN AN
Aaa aaaa aaa tzinn
UI I I I I
HA HA HA HA HA HA HA
rrrrrr rrrrrrrrrrrrrrrrrrrr
Auf den Vortragsabenden der Dadaisten soll dieses Gedicht von Birot ganz besondere Wirkung geübt haben. Denn natürlich sind alle diese Verse, die ich eben zitierte, nicht nur für das Lesen im stillen Kämmerlein, vor dem Kamin und im blühenden Garten bestimmt, sondern, sie werden auch bei den Zusammenkünften der Dadaisten von Rhapsoden kunstvoll vorgetragen. Ich bin nur ein Laie im Dadaismus, und trotz aller Bemühungen ist es mir noch nicht gelungen, alle Feinheiten dieser Buchstabenlyrik und Begriffsphantastik zu enträtseln. Aber auch auf meine Philisterseele wirken die Verse Hülsenbecks, die unter dem Titel „Schalaben Schalabei Schalamezomai“ erschienen sind. Ist Tristan Tzara der Goethe der neuen Richtung, so ist Hülsenbeck das Haupt ihrer Romantik. Auch aus diesem Büchlein muß ich ein paar Verse anführen. Sie gehen mir nicht aus dem Kopfe, seitdem ich sie gehört habe. Und ich setzte sie hieher, auf die Gefahr hin, daß sie auch meine Leser nicht loslassen und sie bis in ihre Träume verfolgen werden:
der Phosphor leuchtet im Kopf der Besessenen
schalamezomai
und die Säue stürzen in den See der Lamana
heißt
schlage an deine Brust die aus Gumme ist laß
flattern
deine Zunge über die Horizonte hin
wedele mit deinen Ohren so die Eisgrotte zerbricht
ich sehe die Leiber der Toten über die Teppiche zerstreut
die Toten fallen von den Kirchtürmen und das
Volk
schreiet zur Stunde des Gerichts
ich sehe die Toten reiten auf den Baßtrompeten
am Tage des Monds
rot rot sind die Köpfe der Pferde die in der
Ebene schwimmen.
Mein lieber alter verstorbener Freund, der Dichter Heinrich Bulthaupt in Bremen, hatte einen Talisman gegen jeden Aerger. Es waren vier Verszeilen, die er dann vor sich hinsagte: „Con el ay, con el marabay, con el u, con el marabu.“ Ich habe das Rezept selbst oft angewendet und es hat seine Wirkung nicht verfehlt. Nun aber bin ich im Zweifel, ob nicht die Zauberformel Hülsenbecks noch bessere Dienste leistet:
Schalaben schalabai schalamezomai.
Man sage sich diese Formel, wenn man sich ärgert, ein paar tausendmal laut vor, und die aufgeregten Wogen des Gemütes werden sich glätten.
Die Dadaisten haben in Zürich ihre Zeitungen und Zeitschriften, sie veröffentlichen Bücher und halten Vorträge, sie veranstalten Bilderausstellungen. Es scheint, daß die Gemeinde sehr groß ist, denn manche dieser Bücher sind vollkommen vergriffen. So zum Beispiel das erste Heft der Monatsschrift „Dada oder La première aventure céleste de Mr. Antypirine“ von Tr. Tzara. Die Dadaisten dichten in mehreren Sprachen. Französisch, italienisch und deutsch. In Frankreich und Italien erscheinen auch Bruderorgane, Revuen, Wochen- und Monatsschriften. Sie alle kämpfen für die von Syntax und Kultur befleckte Reinheit der Buchstaben und Worte. Es wäre jammerschade, wenn man nicht auch in Wien von dieser Bewegung Kunde hätte. Die Zeiten sind düster und schwer, und ich weiß kein besseres Mittel, sich über das Chaos des Tages zu erheben, als eine Lektüre dadaistischer Kundgebungen.
In: Neues Wiener Tagblatt, 3.10.1918, S. 2-3.
M. Feichtlbauer: Abrechnung mit der deutschen Modeliteratur (1931)
M. Feichtlbauer (Salzburg): Abrechnung mit der deutschen Modeliteratur
Forst de Battaglias Buch „Der Kampf mit dem Drachen“.
Abrechnung mit der deutschen Modeliteratur.1 Forst de Battaglias Buch „Der Kampf mit dem Drachen“.
Von Studienrat Prof. M. Feichtlbauer (Salzburg).
Schon im fünften Kapitel seines Buches „Der Kampf mit dem Drachen“ stellt Forst de Battaglia den kläglichen Zustand der heutigen Dramenliteratur fest. Im siebten Kapitel seines Buches, betitelt „Die Schaubühne als antimoralische Anstalt“, widmet er dem heutigen deutschen Theaterstück eine besondere Betrachtung. Das Ergebnis ist betrüblich, aber es müssen zuvor Götzen zertrümmert werden, wenn Echtes zur Anerkennung gelangen soll. Wer sich beruflich mit Literatur beschäftigen muß und dabei das Werden unserer dramatischen Dichtung verfolgt hat, dem ist dieses Kapitel so ganz aus der Seele geschrieben.
Schon die Einleitung Battaglias ist interessant: „Die dramatische Muse von heute hat drei Väter: Wedekind, Sternheim und Georg Kaiser. Zwei Dichter, zwei Denker, zwei Clowns. Wedekind: Dichter und Clown, Sternheim: Clown und Denker, Kaiser: Denker und Dichter. Doch wie beim satyrischen Roman führt auch hier beim satirisch-satyrischen Zeitstück, das jener epischen die dramatische Hin- und Herrichtung der Tradition folgen läßt, die Ahnenreihe weiter, weit zurück. Jedenfalls bis zu ihm, dem die Schaubühne eine moralische Anstalt war, weshalb er die herrschende Moral seiner Zeit befehdete: zum Friedrich Schiller ‚Der Räuber‘ und von ‚Kabale und Liebe‘… . Die Motive Schillers und des ‚Sturm und Drang‘ der Lenz und Klinger sind auch die der modernsten Dramatik. Grabbe und Büchner folgen: genialisch-antibürgerlich, antimoralisch, lüstern-lustig, bitter-erbitternd, unflätig, höhnisch, witzig, literatenhaft-weltmännisch, aristokratisch-demokratisch, herzhaft-zerebral, den Westen um seinen Schwung beneidend und den Osten um die Freuden des Diwan.“
B. spricht von der „Tendenz“, die den Zeitstücken, wie sie gespielt werden, zugrunde liegt und die keine andere ist, als: Sturm gegen jedwede Autorität: Staat, Monarchie, Familie, ständisch aufgebaute, nach Klassen gegliederte Gesellschaft. „Die Heutigen (im Gegensatz zum jungen Schiller) möchten die Autoritäten zerstören, entweder aus anarchischer Freude am Chaos oder um einem völlig Neuen, noch Ungekannten die Straße zu bahnen. Weit klarer (und sehr wirkungsvoll) tritt auf der Bühne diese Absicht hervor als im Roman, wo sich die Tendenz leichter hinter der Erzählung verbergen kann.“ So kehren denn in der Tages- und Zeitdramatik immer die gleichen Motive wieder: Väter und Söhne, eheliche Verhältnisse, besonders Eheirrungen, Staat, Gesellschaft. Und „der Weisheit letzter Schluß: alles muß verungenieret werden“.
B. weist bei den einzelnen Motiven mit beißendem Sarkasmus darauf hin, wie diese an sich so wichtigen Verhältnisse von unseren Dramatikern ins Gemeine verzerrt und mit souveräner Willkür behandelt werden: „Adel, Großbürger sind Schwachköpfe und Ausbeuter, die Kleinbürger sind Speichellecker und filzige Witzblattläuse, die Proletarier sind leider, leider durch lange Knechtschaft entartete gefallene Engel; erst an der Schwelle von Bordell und Zuchthaus beginnt die Großheit des neuen Menschen.“
Nun marschieren diese Zeitdramatiker nach der Reihe auf. Allen voran S t e r n h e i m: „Sternheim vermengt Drama und satirische Publizistik. Er stellt nicht nur komische, karikierte Gestalten auf die Bühne, … er beansprucht nicht nur, die deutsche Wirklichkeit seiner und der unmittelbar vorausgegangenen Epoche abzubilden, er fordert auch, daß wir die Karikatur als Wirklichkeit hinnehmen und hernach auf Grund der aus dieser karikierten Wirklichkeit gewonnenen Erfahrungen seine, Sternheims, im Dialog zerstreuten, doch darum nicht minder deutlichen Schlußfolgerungen: die Tendenz seines Schaffens mit Beifall bedenken. Ein Publizist, ein Zerrbildzeichner des ‚Simplizissimus‘ kann sich das erlauben. Seine Karikaturen sind stumm, und sie lassen jedem die Freiheit, sich zu ihnen den Text zu machen. … Die Figuren auf der Bühne gehören entweder ins Reich der Phantasie: die satirische mitinbegriffen, oder in das der Wirklichkeit. Doppeltes Bürgerrecht ist ihnen nicht zugebilligt.“ Durch einen Hinweis auf französische Dramatiker zeigt B., wie echte Dichter zu Werke gehen, und erklärt: „Sternheims Reihe der bürgerlichen Heldenleben ist ein zusammengekleisterter Film von Simplizissimusbildern. Jedes einzelne ergötzlich, wenn man es zweidimensional auf dem Papier betrachtet. Alle zusammen aufreizend, wenn sie dreidimensional über das Theater spazieren und uns typische Wirklichkeit, so etwas wie einen Kern der deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, vorgaukeln. Alle zusammen lächerlich nur und nicht belustigend, wenn sie als Plaidoyer [sic] im Prozeß gegen die herrschende Gesellschaftsordnung gelten wollen.“
B. zergliedert Sternheims Stücke, zeigt, wie unglaubhaft die Handlung, die Charaktere sind, und von welch „wahrhaft grandseigneurialer Wurstigkeit Sternheims Geschichtsumrahmung“ ist. Ein anderer Zeit- und Modedichter ist G e o r g K a i s e r. Zwar billigt ihm B., soweit es sich um die m i t t l e r e Periode von Kaisers Schaffen handelt, ungleich mehr Künstlertum zu als Sternheim, aber nach fünf Jahren „erlosch in ihm der poetische Funke, und seelenlos, von einem gut eingearbeiteten Mechanismus getrieben, produzierte seither eine Automate, die den Namen und die äußeren Züge des Denkspielers Georg Kaiser trägt“.
Nach einer Analyse des Stückes: „Oktobertag“ fragt B.: „Ward jemals der Stumpfsinn zu spitzfindigerem Zweck mißbraucht? … Von französischen Verhältnissen hat Kaiser so viel Ahnung wie ein Fulbe von der altmexikanischen Kunstgeschichte.“ Wir erfahren, wie einerseits Sudermann, anderseits Courths-Mahler bei Kaisers Stücken: „Oktobertag“, „Zwei Krawatten“ Pate gestanden sind, und wie auf ein drittes Stück wirklich kein anderer Name gehört als: „Kolportage“. „Vor 50 Jahren war das, je 10 Pfennig das Heft, auf der Hintertreppe an romantische Köchinnen zu verkaufen gewesen. Heute geraten wir in Verlegenheit, wo wir mit der Kritik anfangen sollen. Bei der Handlung? Sie ist die Ausgeburt einer jeder Kraft verlustig gegangenen Einbildungskraft. Bei den Charakteren? In jedem Wachsfigurenkabinett finden wir echteres Leben. Beim Aufbau? Diese Exposition übertrifft, schier unerhört, aber wahr, die des ‚Oktobertags‘ an Schleuderhaftigkeit. Bei der Sprache? Sie schwankt zwischen übersteigerter Manier des Kaisers, da er noch super grammaticos thronte, und einer zweiten kleinbürgerlichen Manier, der sich kein Blatt der Hausfrau mehr in seinen Romanen aus dem Leben der Hochgebornen befleißigt.“
Dann geht B. zu einem dritten Stückschreiber, zu E r n s t T o l l e r über, dem „Freund der Tiere, Schätzer der Menschen und Feind der Götter“. Einleitend charakterisiert er dessen Schaffen: „Eine mit Ausdauer des perpetuum mobile sich drehende Grammophonplatte humanitärer Sätze und Leitsätze. Ein Katapult, von dem ein ununterbrochener Regen von Phrasen gegen die Vorwände der bürgerlichen Staatsmoral donnert. Ein Tyrtäus revolutionärer Lieder, deren Sturmesbrausen schüchterne, echte Töne des Dichters überdröhnt. Ein gewissenhafter Hausvater in der Schaubühne als antimoralischer, d. h. unserer überlieferten Gesellschaftsordnung und Moral feindlicher Anstalt. Toller fängt meist mit einer zerstörten Idylle an, wagt Proben ernsthafter Charakterzeichnung. Bald jedoch geht er zum Pathos der Wahlreden über. … Das abwechselnde Duett des politischen Leitartikels und der populären Aufklärungsschriften läßt dann bis zum Schlusse keine künstlerische Gestaltung des Stoffes aufkommen.“ Aus den Stücken beleuchtet B. den „Deutschen Hinkemann“, „welches Drama noch am ehesten von der Liebe zu den Unterdrückten und vom Haß gegen die angeblichen Unterdrücker hervorgebracht“ ist, muß aber auch von diesem bekennen: „So wie Hinkemann empfinden keine deutschen Arbeiter. … So wie in diesem Melodrama reden keine deutschen Proletarier. Von der ersten Szene an: Theaterfiguren, nicht etwa Gestalten, gewordenes Empfindungsleben und Denkspiel eines Literaten.“
Es folgen nun mehr oder weniger ausführlich jene Dramatiker, die unsere moderne Bühne „mit Stücken versehen“, wie Rehfisch, Brecht und Mehring, diese „beiden Machtpolitiker im Geisteskampf, überzeugt, das beste Beweismittel sei, den Gegner totzuschlagen“, weiter Lampel, Friedrich Wolf, Bruckner, Hasenclever, Bronnen und schließlich Zuckmayer. B. zeigt bei allen sowohl die Verwerflichkeit der dargestellten Ideen als auch die Mängel in künstlerischer Hinsicht. Über Z u c k m a y e r mögen einige Sätze hier Platz finden. „K. Zuckmayer ist kein Dichter, er könnte ein ausgezeichneter Komödienschreiber sein, der mit reichlich vorhandenen Mitteln den anständigen Unterhaltungsdrang einer nicht zu anspruchsvollen Zuschauerschaft befriedigte. Im ‚Fröhlichen Weinberg‘ ist ein lustiger zweiter Akt, in dem mit Ausnahme von ein paar unechten sentimentalen und unnötigen ressentimentalen Sätzen alles den Stempel der Echtheit trägt und auf der Bühne wirkliches Leben herrscht. … Der Literat Zuckmayer hegt höhere Ambitionen. Er schickt diesem zweiten einen ersten Akt voraus, der eine schmierige Exposition, und er läßt einen dritten folgen, der in vier simultanen Akten eine üble Schwanklösung bringt. Die Charaktere entstammen entweder dem Simplizissimus oder den ‚Fliegenden Blättern‘. Nicht originell ist die Veräppelung des schwächlichen Übermenschen, aber der symbolische Misthaufen, der ist originell.“ Dann folgen einige Proben, die uns Zuckmayers Ansicht über „Sittlichkeit“ bekunden und seine Auffassung von Freiheit der Liebe, des Gedankens usw. Das Kapitel schließt: „Die Zahl der emsigen Arbeiter in fröhlichen Weinbergen ist Legion. … Das Ganze wäre nicht der Rede und der Schreibe wert, streifte nicht diese frisch-fröhliche Produktion von Stärkemitteln des öfteren das Gewand dramatischer Würde über, hätte sie nicht sogar durch den Kleist-Preis Krönung empfangen. … Wir durchforschten vergeblich die deutsche Schaubühne von heute nach einem Theaterwerk, das in der Geschichte, in dieser auf der Szene zu erneuernden, nie abgeschlossenen, stets lebendigen Handlung, die Väter: die Überlieferung, die Besinnung auf die Wurzeln des nationalen Daseins fände; ein Drama, das diesen seinen würdigsten Stoff mit kongenialen Geiste, Leben wiederschaffend, durchdränge. Wohl reiften und reifen bei Dichtern, die abseits vom Trubel verharren, einige über die Zeit hinausblickende Werke. Doch unter den Kassenstücken, den Klassenstücken, den Massenstücken werden wir nichts davon antreffen. Die Schaubühne ist, traurig genug, zur Anstalt, und dreifach beklagenswert, zur antimoralischen Anstalt geworden.“
In: Schönere Zukunft. Nr. 9, 29.11.1931, S. 201ff.
Leo Lania: Dichter für das revolutionäre Proletariat (1925)
Max Herrmann (Neiße) unternimmt den begrüßenswerten Versuch, eine proletarische Literaturgeschichte aufzubauen: In einer Sammlung von Schriften soll das wichtigste Lesematerial propagiert werden für ein Publikum, das klassenbewußt, mit revolutionärem Temperament Lektüre aufnimmt, also eine Art Klassikerbibliothek der proletarischen und revolutionären Dichtung gegeben werden. Das erste Bändchen liegt jetzt vor. Es ist Emile Zola gewidmet und stellt eine interessante, leicht faßliche, für den Arbeiterleser sehr wertvolle Einführung in das Schaffen und die Persönlichkeit des großen Romanciers dar. Max Herrmann verzichtet bewusst auf jede gelehrte literarische und kunstkritische Würdigung des Werkes Zolas ; ihm geht es darum, dem einfachen Menschen der Gegenwart sinnfällig aufzuzeigen, auf welchem historischen Hintergrund das gigantische Epos der Rougon-Macquart entstanden ist, welch tiefen inneren Beziehungen zwischen jener Epoche des zweiten Kaiserreichs und dem Heute bestehen, und welche Bedeutung so Zola nicht nur als unerbittlicher Sittenschilderer seiner Zeit, sondern auch als Kämpfer gegen die bürgerliche Gesellschaft für das revolutionäre Proletariat der Gegenwart besitzt. Die unerhörte Aktualität des großen Franzosen wird an dreien seiner berühmten Romane : „Das Glück der Familie Rougon“, „Rana“, „Die Sünde des Abbè Mouret“ exemplifiziert, „denn von diesen Bänden scheint am sinnfälligsten der Blick auf unsere aktuelle Gegenwart möglich, weil sie fundamental die fasslichen Elementarbegriffe, die Grundlagen geben, drei Voraussetzungen des Uebels festhämmern: die verräterische, gewissenlose Praktik der nach Einfluß, Reichtum, Macht um jeden Preis (den andere zu zahlen haben) Gierenden ; den würde- und bedenkenlosen Tanz ums goldene Kalb, um die augenblickliche Genußmöglichkeit, den die zur Herrschaft gelangten auszuführen pflegen ; den kirchlichen Köder, die Verquickung von Geschlechtlichem mit anmaßend Moralischem, wodurch die Autoritätsgläubigen vollends in Schrecken gehalten werden. Von allen drei Fällen ist die Parallele zu heutigen deutschen Verhältnissen leicht zu ziehen ; das durch Hinterhalt, Verrat und Ermordung so vieler echter Revolutionäre durchgesetzte Führertum deutschen Zustandes ; die übermütige Fallreife, im Kern faule Ueppigkeit unserer Luxuselite, das heuchlerische und stupide Sittlichkeitsgeschnüffel und Staatsmoralgetue klerikaler oder reaktionärer Bevormundung – sie entsprechen akkurat den von Zola gezeigten Typen.“ Max Herrmanns temperamentvolle Schrift – der ein packender Abschnitt aus dem „Glück der Familie Rougon“ angefügt ist, – erscheint gerade zur rechten Zeit, da endlich auch in deutscher Sprache das Gesamtwerk Zolas – in einer ersten sorgfältigen Uebersetzung bei Kurt Wolff, München – vorliegt ; möge Herrmanns Büchlein breitesten Schichten der Arbeiterschaft Anreiz und Wegweiser zur näheren Bekanntschaft mit Zolas universalem und einzigartigen Gesamtwerk werden!
Martin Andersen Nexös Romane und Erzählungen sind heute Gemeingut aller literarisch Interessierten, dem Proletariat aber als Schöpfungen eines wahren Arbeiterdichters besonders wert und teuer. Dem Dietz-Verlag gebührt daher Dank, daß er eine Reihe kürzerer Erzählungen in einem besonderen Bändchen vereinigt hat, die ein anschauliches Zeugnis von des Dichters gediegener Kunst geben und so auch Arbeitern, die nicht über die Mittel verfügen, Andersen Nexös große proletarische Romane „Pelle der Eroberer“ und „Stine Menschenkind“ zu erwerben, eine intime Kenntnis seines Wesens und Schaffens vermitteln. Unwillkürlich wird man an Gorki erinnert, mit dem der Däne manchen Zug gemeinsam hat: die proletarische Abstammung, die tiefe Verbundenheit mit den Armen und Elenden seiner Klasse, die monumentale Realistik. Aber Andersen Nexö ist robuster, geschlossener als Gorki. Er hat etwas von einem Bauern, obwohl er aus einer Arbeiterfamilie stammt, die Menschen seiner Erzählungen scheinen wie aus Holz geschnitzt, die Schicksale, die er gestaltet, primitiv, düster, und so ist er auch selbst: sachlich, herb, kein Grübler, fest in dem steinigen Boden seiner meer- und sturmumtosten Insel wurzelnd. Eine kleine Erzählung „Todeskampf“ ist in dem Bändchen, eine Meisterleistung in der psychologischen Durchleuchtung eines Menschen, an Dostojewski gemahnend – der Atem stockt, wenn man diese Seiten liest. „Schicksal“ heißt ein andrer, und ihr letzter Satz ist typisch für diese von aller Sentimentalität frei, grandiose Realistik des Dänen: „Das Schicksal selbst kennt keine Nerven: Es geht über einen Menschen hinweg wie ein Eisenbahnzug, und man merkt nur ein weiches Wiegen.“
Ein besonderes Lob gebührt der sorgfältigen Ausstattung des Bändchens.
Der gleiche Verlag gibt jetzt einzelne größere Abschnitte aus dem „Phantasus“ des Arno Holz in kleinen Bändchen gesondert heraus. „Taten und Träume“ heißt der eine, „Ueber die Welt hin“ der andre Band. Auch hier ist die Ausstattung mustergültig, die gewiß für die Verbreitung der billigen Bändchen ein Anreiz sein wird. Es ist zu begrüßen, daß auf solche Art Holz` berühmte Dichtung auch weiten Schichten der Arbeiterschaft zugänglich gemacht wird.
Zum Schluß sei noch auf ein Buch hingewiesen, daß eigentlich nicht in diese Reihe gehört: In einer Sammlung von Künstlermonographien, „Grafiker der Gegenwart“, erscheint eine Würdigung Heinrich Zilles von Adolf Behne mit vielen Reproduktionen der Graphiken Zilles. Hier wird uns kein Dichter, aber ein Maler des Proletariats vorgestellt: „Heinrich Zille ist weder der erste Künstler, der Proletarier zeichnete, noch der erste Künstler, der aus dem Proletariat kam. Aber durch ihn stellt sich zum erstenmal das Proletariat selbst dar. Denn Heinrich Zille hat sich nicht vom „Proleten“ zum „Künstler“ entwickelt, sondern der Proletarier ist schöpferisch geworden und ist Proletarier geblieben.“ Zille hat nicht die edle Sentimentalität der Käthe Kollwitz, nicht die aggressive Schärfe und die politische Aktualisierung von George Grosz, er zeichnet nur unerbittlich „sein Milljöh“, die Straßen des Berliner Nordens, dies Proletarierviertel mit seinen Typen und Gestalten; aber wie ergreifend ist diese sachliche Objektivität, wie fühlt man aus jedem Blatt die menschliche Güte, das tiefe Empfinden dieses „besten Berliners“, und wie einfach ist das gezeichnet, wie erschütternd sein trockener Witz. Zille hat das Epos des Großstadtproletariats gezeichnet, aber er spiegelt nicht weniger treffend „das Gesicht der herrschenden Klasse“, wie die Blätter von George Grosz und wie die Gestalten der Kollwitz, wenn es auch meist nur das Lumpenproletariat und nicht die klassenbewußte Arbeiterschaft ist, die in Zilles Mappen eingefangen wird: „Kampf um Arbeit und Bleibe, Kampf ums Brot, Abwechselnd Kinderwagen und Leichenwagen – und dazu weggeschleppt werden als Kanonenfutter in den Weltkrieg.“ Aber es ist auch bei allem ein lachend überlegenes und „Und doch“, ein energiereicher Optimismus. Wo wäre denn auch sonst der Mut zur Revolution?“
In: Arbeiter-Zeitung, 20.4.1925, S. 5.
Otto Neurath: Absage an Spengler (1921)
Die Wirkung von Spenglers „Untergang des Abendlandes“ ist in Österreich nicht so verderblich wie in Deutschland. Der feuilletonistische Geist des Österreichers ist zwar natürlich auch durch die Theorie, die Spengler heute nicht mehr als pessimistisch gelten lassen will, angezogen worden, aber die Vorteile seiner Nachteile haben sich doch bewährt: der wienerische Skeptizismus leistete einer tieferen Einflußnahme Spenglers Widerstand. Nicht so in Deutschland. Dort hat Spengler wirklich ein im Innersten aufgewühltes Geschlecht noch mehr gelähmt, noch hoffnungsloser gemacht. In dieser Hinsicht ist das Buch Otto Neuraths „Anti-Spengler“ (bei Georg Callwey in München erschienen) eine Tat. Neurath entkleidet Spenglers Trivialität ihrer hieratischen Hoheit, er weist das Schwankende und Nebulose seiner vielgerühmten Methode auf, er geht den Unzulänglichkeiten seiner willkürlich aufgebauten Argumente nach. Mit der Erlaubnis des Autors geben wir im nachstehenden aus dem „Der Gestaltenden Jugend gewidmeten“ Buche einen Teil der Einleitung wieder.
Dio von Prusa rief Wehe über sein Zeitalter und verglich Athen dem Scheiterhaufen des Patroklos, der nur auf die Flammen warte, die ihn entzünden; Wells malte bald im Stile bisheriger Erfahrung, bald ins Groteske gesteigert Bilder unserer Zukunft; Oswald Spengler dagegen beschwört lehrhaft deutelnd die überlieferte Wucht der Einsicht, statt als Dichter und Seher vor das Volk zu treten. Er will durch Methode und Beweis Zustimmung erzwingen, will Geschichte systematisch „vorausbestimmen“, die Zukunft des Abendlandes „berechnen“ und von vornherein feststellen, was man in Hinkunft an Kunst und Wissenschaft, Technik und Politik novj erfolgreich in Angriff nehmen dürfe. Drängende Notwendigkeit mag bewirken, daß wir uns für ein ungenügend begründetes Zukunftsbild als Grundlage unseres Tuns entscheiden. Vielleicht muß unsere Pädagogik, unsere Verfassung, unser Recht zum Ausdruck bringen, ob wir mit dem „Untergang“ oder mit einer anderen Stufe unserer Entwicklung rechnen. Aber darüber keine Täuschung: eine Entscheidung ist kein Beweis. Wer sich als Prophet oder Prophetenschüler für eine Prophezeiung beharrlich einsetzt, mag die Richtigkeit der Prophetie durch die Beeinflussung der Wirklichkeit erweisen. Die Prophetie wird zur Ursache ihrer eigenen Verwirklichung! Aber mit „Berechnen“ und „Beweisen“ hat das nichts zu tun. Spengler widerspricht durch sein Bestreben, alles zu berechnen, alles zu beweisen nicht nur dem Wesen des Prophetischen, sondern auch eigenen Anschauungen über die Aufgabe! „Natur soll man wissenschaftlich traktieren, über Geschichte soll man dichten. Alles andere sind unreine Lösungen.“ Ist sein Werk eine Dichtung? – Nein. Was denn? – Nach Spenglers eigenem Spruch: Eine unreine Lösung.
Ein Werk über die Zukunft der Menschheit unterliegt von vornherein nicht dem Maßstab für Einzelforschungen. Bedenklichste Annahmen, kühne Lückenfüllungen, ja ungenügend begründete Abänderungen festgefügter wissenschaftlicher Lehren muß man fallweise zulassen, soll nicht das Gesamtgebäude verhindert werden. Wo mehrere Konstruktionen gleich möglich sind, vermag menschliche Enge oft nur eine auszuführen, man wird sie auch in dieser Vereinzelung dankbar begrüßen, ebenso eine bildhaft-bestrickende Schilderung als Ersatz strengen Beweises, froh, endlich ein umfassendes Bild an Stelle zerstreuter, unverknüpfbarer Einzelstücke zu besitzen. Wir fordern aber Schritt für Schritt einen klar erkennbaren Charakter solcher Darstellung; wir wollen wissen, wo Vermutungen, wo gründliche Beweise vorliegen, wollen wissen, ob die mitgeteilten Tatbestände als gesichert gelten, wollen wissen, was bloße Lückenfüllung, was wohlbegründetes Einzelergebnis reifer Forschung ist.
Durch grundsätzliche Erörterungen über seine Methode sucht Spengler den oft unklaren Darlegungen, die überdies in sich widerspruchsvoll sind, höchste Beweiskraft beizulegen. Wo der Prophet, der Führer eine Zukunft, ein Ziel abschildern mag, müssen bei Spengler flüchtig gezimmerte Methoden dies Ergebnis liefern und den Leser in die Knie zwingen, auch wenn dabei das vielfältig verknüpfte Gewebe unserer gesamten Erkenntnis in Fetzen ginge. Wer nicht mitgeht, wird nach bewährten Mustern für verständnislos erklärt. Wie in Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern wird mancher, wo nichts Greifbares ist, Prunkgewänder und heroische Gestalt zu sehen vorgeben.
Nicht die falschen Einzelergebnisse, nicht die falschen Tatsachen, nicht die falschen Beweise machen Spenglers Buch so ungemein gefährlich, sondern vor allem seine Methode, Beweise zu führen, und seine Darlegungen über Beweisführungen überhaupt. Dagegen muß man sich zur Wehr setzen. Wer hoffend und strebend eine frohe Zukunft gestalten will, der soll wissen: keiner der Spenglerschen „Beweise“ reicht aus, ihn daran zu hindern; wer sich aber mit dem Gedanken an den „Untergang“ befreunden will, der soll wissen, daß er es auf Grund eines Entschlusses, nicht eines Beweises tut!
Wenige Bücher stellen so hohe Anforderungen an das hingebende Vertrauen des Lesers. Wer kann auf allen Gebieten, die Spengler berührt, nachprüfen, zumal Hinweise auf Quellen fehlen? Und doch zahlreiche grobe Irrtümer, die aus Nachschlagewerken berichtigt werden können, Irrtümer, die Träger bedeutsamer Beweisketten sind. Derlei wird durch die Größe der Aufgabe nicht gerechtfertigt. Daß altbewährte Erkenntnisse und Fachleuten vertrautes Handwerkszeug als alles umwälzende Neuheiten Spenglerscher Prägung auftreten, beurteile jeder nach Geschmack! Auf welcher Höhe glaubt sich aber Spengler, daß er sich zu Sätzen vorwagt, wie: „Ich frage mich, wenn ich das Buch eines modernen Denkers zur Hand nehme, was er – außer professoralem oder windigem Parteigerede vom Niveau eines mittleren Journalisten, wie man es bei Guyau, Bergson, Spencer, Dühring, Eucken findet – vom Tatsächlichen der Weltpolitik, von den großen Problemen der Weltstädte, des Kapitalismus, der Zukunft des Staates, des Verhältnisses der Technik zur Zivilisation, des Russentums, der Wissenschaft überhaupt ahnt?“ Solchen Maßlosigkeiten ist auch der weniger Vorgebildete gewachsen, nicht aber andauernd verächtlichen Äußerungen über geschichtliche und sonstige gelehrte Forschung; es wird nicht jeden sofort klar, daß Spengler einen Denker gegen den anderen ausspielt, überspitzte Äußerungen noch überspitzend.
All diese Bedenken dürfen uns aber darüber nicht täuschen, daß es Spengler gelungen ist, ein das gesamte Menschentum umfassendes Gebäude zu skizzieren, in dem verschiedensten Richtungen entstammende Erkenntnisse vereinigt werden – unzulänglich, widerspruchsvoll, vielfach in sinnloser Verzerrung, aber doch einigen Leitgedanken untergeordnet. Es ist denkbar, daß Gedanken dieses Buches wertvolle Anregungen geben werden – sie tun es sicher durch den ausfordern –; aber das darf nicht den Sinn für die unerhörte Vergewaltigung abstumpfen, die in diesem Buch dem Denken zugefügt wird. Vor den auflösenden Wirkungen auf das Denken muß sich auch der schützen, welcher gewissen Anschauungen zustimmen mag.
Das Buch befriedigt ein heute stark vorhandenes Sehnen nach geschlossener Weltanschauung. Ist es nur Zufall, daß es in derart unzulänglicher, unkritischer, anmaßender, zersetzender Weise befriedigt wird? Auf die Dauer hilft da kein Tadeln, nur Bessermachen. Es wäre tragisch, wenn die, welche solch ein Gebäude fester fügen könnten, gerade durch ihre höhere Kritik und Besonnenheit gehemmt würden, ein Werk zu schaffen, das unbekümmertes Vorwärtsstreben, Hinnehmen notwendiger Unzulänglichkeiten voraussetzt.
Immer häufiger rächt sich das übertriebene Spezialistentum der letzten Jahrzehnte, jene bewußte Abkehr vom Ganzen der Weltanschauung. Als ob nicht aus dem Ganzen allein alle Einzelforschung letztlich Anregung und Ziel erhielte! Die Einzelwissenschaften bedürfen eines Weltbildes, sonst sind sie der Skepsis oder dem Übermut ausgeliefert, welche Spenglers Schrift zu absonderlicher Gemeinschaft verknüpft.
Viele fühlen sich durch Spengler befreit. Wir wollen von Spengler befreien, von jener Art Geist, die lockend und vergewaltigend Klarheit des Urteils und Schärfe des Schließens zur Selbstbesinnung führenden Widerspruch, welchen sie herzernichtet, Fühlen und Schauen verzerrt.
(Vollständiger Text des Buchessays in: O. Neurath: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften Bd. 1, Hg. von Rudolf Haller und Heiner Rutte, Wien: Höder-Pichler-Tempsky 1981, S. 139-196; der Auszug ist wortident, ausgenommen die unterschiedliche Schreibweise von herzernichtet in der Zs. Wage und zernichtet in der Werkausgabe)
In: Die Wage, 2.7.1921, S. 292-293.
Leo Kofler: Sozialistische Unterhaltung und Kultur (1931)
Leo Kofler: Sozialistische Unterhaltung und Kultur
In einer Diskussion über das Tanzen in der Jugendbewegung sind Gedanken ausgesprochen worden, die festzuhalten im folgenden versucht werden soll.
Der Drang nach Neugestaltung der Welt hat die Jugendbewegung geschaffen. Mag sie zuerst in ihren bürgerlichen Formen bloß verneinend gewesen sein, so ist sie als proletarische Jugendbewegung bestrebt, ihr ganzes Wollen und Handeln dem sozialistischen Befreiungskampfe unterzuordnen.
In dieser bedingungslosen Unterordnung besteht ihre Leistung. Dadurch gerade unterscheidet sie sich in erster Linie vom erwachsenen Proletariat, das mehr oder weniger dem Einfluß der bürgerlichen Menschenbeherrschung unterlegen ist und von dem wir jene vollkommene Unterordnung unter das sozialistische Weltbild nicht erwarten können. Und es ist gerade die Jugend, die dank ihrer Eigenart diese Lücke auszufüllen am meisten bereit und verpflichtet ist.
Was soll unter dieser Unterordnung verstanden werden? Gestaltung der Freizeit durch Überwindung der bürgerlichen und Schaffung einer sozialistischen Kultur. Das Fehlen einer die proletarische Bewegung durchdringenden sozialistischen Kultur kann unter Umständen ein Hemmnis für den Fortschritt des Sozialismus werden. Es soll nicht verkannt werden, daß weite Schichten von aktivem Kampf und Gestaltung der Freizeit überzeugt sind, wie die Existenz der „Kunststelle“ und der verschiedensten „Arbeitergemeinschaften für proletarische Kultur“ es beweisen. Aber trotzdem besonders die Jugend sich diesen Grundsatz zu eigen gemacht hat, haften in der Praxis Unklarheiten an den Vorstellungen sogar geschulter und weitblickender Funktionäre.
Diese Unklarheiten haben ihre Wurzel in der bürgerlichen Auffassung von der Unterhaltung, von der verlangt wird, daß sie wie die Kunst tendenzlos sei und bloß dazu diene, durch Ablenkung das Einerlei des Lebens erträglicher zu machen. So wie die Bildung für das nachrevolutionäre Bürgertum zum Selbstzweck geworden ist, gerade so die „Unterhaltung“, die in Wirklichkeit nichts anderes ist als ein raffiniertes Aufsichwirkenlassen von allen erdenklichen „Annehmlichkeiten“, wenn auch zum Teil reaktionär gefärbt. Angefangen von den Gladiatorenkämpfen der alten Römer bis zum modernen Tanz ist Streben nach Tendenzlosigkeit der Unterhaltung symptomatisch für eine degenerierte, dem Untergang geweihte Klassengesellschaft, der als Gesamtheit die über sich selbst hinausfahrende Zielsetzung fehlen muss; für die herrschende Klasse ist daher Freizeit Flucht aus der Wirklichkeit ins Eigenartige (mag es sinnlich grausam oder romantisch sein).
Nur das Proletariat kennt jene revolutionäre Zielsetzung, die allein zur sinngemäßen Gestaltung der Freizeit und somit der Unterhaltung führt und nur die proletarische Jugend kann in der Übergangszeit die Wächterin eines Ideals sein, das verwirklicht sozialistische Kultur sein wird. Niemals haben sich neue Formen der Kunst, der Erziehung und der Geselligkeit durchgesetzt, die nicht auch sonst im revolutionären Wollen zum Neuen verwurzelt waren, und jede dem Untergang geweihte Gesellschaftsordnung hat, um sich zu betäuben, Lebensformen hervorgebracht, die tendenzlos, das heißt zwecklos waren.
Die gewaltige Einheit von Leben und Lebensgestaltung, die nichts anderes in sich schließt als zwei Seiten des revolutionären Wollens, darf nicht durchbrochen werden durch Kompromisse, zumindest dort nicht, wo ihre Notwendigkeit von vornherein nicht gegeben ist – bei der Jugend.
Es ist unrichtig, daß man sich hie und da bei einer Tanzunterhaltung „ausruhen“ und „entspannen“ muß; man kann sich bei einem revolutionären Kinostück sehr gut ausruhen. Sport und Wandern bieten die nötige Entspannung. Es ist ebenso unrichtig, daß man Tanzunterhaltungen für die Jugendbewegung propagandistisch auswerten könne, denn hier gilt am meisten das Wort, daß es richtiger ist, Sozialdemokraten zu erziehen, als Stimmen zu gewinnen.
Erziehen wir Sozialdemokraten, indem wir der Jugend Stätten bauen, in denen sie erkennt, daß alles im Leben, auch die Unterhaltung, nicht für sich bestehen kann, „der Jugendliche muß aufgehen in einer Welt, die viel größer ist als sein ärmliches Ich.“ (Engelhardt: „Der Mann in der Jugendbewegung.“)
In: Bildungsarbeit, 1931, H.1, S. 7.
Felix Salten: „Ein großer amerikanischer Erzähler.” Theodor Dreiser (1928)
Leute, die ihn persönlich kennen, schildern Theodor Dreiser als einen gar nicht frohen, ja als einen grämlichen, unwirschen Mann. Und nach dem Erscheinen seiner Bücher, die der Paul-Zsolnay-Verlag in die deutsche Sprachgemeinschaft eingeführt hat, wurden einige beachtenswerte Stimmen laut, die erklärten, Dreiser sei eigentlich kein Dichter. Er selbst schrieb einmal den Satz: „Es gibt zu viel Religion in der Welt.“ Dieser Ausspruch, derart zitiert, ganz für sich allein, ohne Zusammenhang mit allem, was vorhergeht und was folgt, klingt merkwürdig nüchtern. Ein Mann wird da sichtbar, auf den die Schilderung flüchtiger Besucher zu passen scheint, eine unfrohe, verdüsterte, pessimistische Personnage, die dem hell-heitern, optimistischen Wesen der Amerikaner schroff entgegensetzt ist. Hernach liest man die Stelle: „Siehst du den nahenden Morgen? Dann freue dich. Und wenn du an seinem Licht erblindest -, freue dich auch. Du hast gelebt.“ Jetzt steht ein anderer vor uns. Einer, der weder unwirsch noch trübselig ist, sondern nach schwerem Ringen mit der ganzen tragischen und humorigen Buntheit des Daseins aufrechtgeblieben an diese Welt glaubt. Die Vermutung ergibt sich, es könne um die Schilderung von Dreisers Persönlichkeit ebenso bestellt sein, wie um Zitate, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden. Jemand hat ihn einmal besucht, ein anderer hat ihn irgendwo getroffen, und nun schildern sie Theodor Dreiser nach dem Eindruck dieser halben Stunde, die gar keinen Zusammenhang mit seinem Leben, mit seinem Arbeiten, mit dem Geheimnis seines Temperaments aber seines Schicksals besitzt. Was liegt daran? Das Charakterbild berühmter Männer wird immer verfälscht. Wissentlich oder unwissentlich. Meist unwissentlich. Aber die Geschichte wimmelt ja von Fälschungen. Falsche Bildnisse, falsch beleuchtete Tatsachen, daraus setzt sich die Historie der Menschheit zusammen. Was ist Wahrheit? hat schon Pilatus gefragt. Wer richtig zu lesen versteht, wem Intuition gegeben ist, wird der Wahrheit nahe kommen. Seiner eigenen Wahrheit, die aus seinem persönlichen Empfinden, aus dem Grad seines persönlichen Ahnungsvermögens entspringt. Und es kann, vielleicht, manchmal, die wirkliche Wahrheit sein.
Sollen wir ernsthaft darüber streiten, ob Theodor Dreiser ein Dichter ist? In deutschen Bezirken herrschen sonderbare Ansichten über das Wesen des Dichters. Einer schreibt Versdramen oder Lyrik, die in Prosa aufgelöst, das prosaisch Landläufige, das Belanglose seiner Arbeit offenbaren, doch er gilt, wenigstens eine Zeitlang, als Dichter. Der andere schreibt Luftspiele oder Späße, und kein Mensch nennt ihn einen Dichter, weil er Heiterkeit erregt, weil einer, der sein Publikum zum Lachen bringt, in Deutschland sehr selten und sehr ausnahmsweise ernst genommen wird, weil man, während man lacht, gar nicht merkt, gar nicht darauf achtet, aus welchen tragischen Untergründen der Humor sich entwickelt. Also hat man auch nur wenig Organ, hat nur wenig traditionelles Verstehen für die edle Seelenhaftigkeit einer Leistung, die tragische Konflikte vom Rand des Todes, von der Finsternis des Abgrundes in die Sonne des Lebens rückt. Es bleibe also unerörtert und ungesagt, ob Theodor Dreiser ein Dichter ist, wie es ja gleichgültig bleibt, ob man ihn einen Dichter nennen will oder nicht. Keineswegs mir allein, vielen tausenden deutschen Lesern gilt er, seit seine Bücher vorliegen, als eine außerordentlich wertvolle Bereicherung unserer geistigen Güter, als eine große Erscheinung, die man zu den großen Erscheinungen der letzten Jahre stellen muß, zu denen, die aus dem englischen Sprachbereich zu uns kamen, zu John Galsworthy und Joseph Conrad. Dieses Dreigestirn, Conrad, Galsworthy und Dreiser, ergänzt durch den genialen Jack London, durch den sanften Stevenson, den radikalen Upton Sinclair und den prächtig unterhaltsamen Sinclair Lewis bilden ein längst schon notwendiges Gegengewicht zur zermalmenden, auflösenden Dichtung der Russen. Je tiefer diese englischen und amerikanischen Erzähler in das Bewußtsein deutscher Leser eindringen, je stärkeren Eindruck sie üben, eine um so gesündere Reaktion bewirken sie nach der Jahrzehnte dauernden Vergiftung der deutschen, der europäischen Seele durch Tolstoi und Dostojewski. Freilich, Tolstoi und Dostojewski, so wenig angebracht es immer auch sein mag, die beiden durch das „und“ miteinander zu verbinden, diese Zwei sind Dichter von homerischem Rang. Aber welch‘ tiefe Gegensätze die zwei auch trennen, weder die psychopathische Ethik des einen, noch der mattoide Religionsdilettantismus des andern lassen sich ins Europäische übersetzen. Vorboten sind sie, alle beide, einer gewaltigen, einer spezifisch russischen Umwälzung, die nach Europa übertragen, den Kontinent in einen blutgetränkten Schutthaufen verwandeln würde, wie sie selbst, diese Vorboten, die europäische Seele in ein hysterisches Chaos zu wandeln begannen. Nun kommen die großen Erzähler vom Westen her, von England, von Amerika und es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß sie gerade jetzt kommen, einer nach dem andern, während Rußlands selbstbefreiendem Niederbruch, während Rußland in Blut und Not danach ringt, wieder aufzustehen, immer noch der Welt und immer noch sich selbst ein schicksalsschweres Rätsel. Diese Erzähler aus dem Westen sind unserem Wesen „verwandt, sie leben in unserer Welt, sie haben unsere Begriffe; man braucht ihre Schriften nur aus dem Englischen ins Deutsche zu heben und sie sind restlos, sie sind wirklich übersetzt. Eine frische, freie Luft weht uns erfrischend und befreiend, aus ihren Büchern entgegen. Die Welt wird weit vor unseren Augen, die Ozeane schimmern, erotische Landschaft breitet sich und die Probleme der Menschheit haben nichts von ihrem Ernst, nichts von ihrer Tragik und Tiefe verloren. Keine Spur sarmatisch-asiatischen Giftes ist in diesen Erzählern, sie sind unsere Brüder, sie sind Helfer und Wegbereiter für unsere deutschen Romandichter.
Liebt man die Darstellung tragischer Geschicke, und jeder liebt sie, der nicht in einem wesenlosen Optimismus versumpert ist, dann wird einem Theodor Dreisers Roman „Eine Amerikanische Tragödie“ kostbarer Besitz. Ein schmerzhaft wahres Buch, ein Buch, das peinigt und foltert, gegen das man sich zur Wehr setzt, das einen doch nicht losläßt und von dem man schließlich überwältigt wird. Zweimal habe ich die Lektüre dieses Buches unterbrochen, tagelang, habe zweimal, erschüttert und aufgewühlt, nicht gewagt, weiterzulesen, aus Scheu, noch stärker erschüttert zu werden. Aber während dieser Tage ging ich umher, vollständig eingesponnen in das Schicksal des traurigen jungen Menschen der die Hauptgestalt dieser Tragödie ist. Selten, sehr selten hat eine Existenz, die es im Alltag oder in der Dichtung, mich so gefangen gehalten und so erregt, wie dieser unglückselige Clyde. Als die Absicht in ihm erwachte, sich seiner Geliebten zu entledigen, sie um die Ecke zu bringen, weil sie seinem Aufstieg hinderlich wurde, da mußte ich das Buch weglegen. Ich hatte Angst, Clyde könne seinen wirren irren Vorsatz ausführen. Unerträglich war der Gedanke, dieses reizende, opferwillige, schuldlose Mädchen werde von der Hand eben des Mannes sterben, dem sie sich in vertrauender Liebe hingegeben hatte. Und diesen armen, einsamen, weltfremden Burschen in Verzweiflung zu sehen, weil seine Geliebte Mutter werden sollte, weil er dadurch gezwungen wäre, sie zu heiraten, und weil das alle seine Hoffnungen, seine neue Liebe zur Millionärstochter vernichten würde, dieses Umgarntsein einer jungen, leidenschaftlich zur Höhe drängenden Seele, dieses Hineintaumeln Clydes in Wunschträume, dieses Spielen des Haltlosgewordenen mit verbrecherischen Möglichkeiten war niederschmetternd. Wie ich das Buch beiseite legen mußte, um Fassung zu gewinnen, so zwang es mich nach ein paar Tagen, die Lektüre, in diesem Fall richtiger: das Miterleben, das Miterleiden fortzusetzen. Und wieder stockte ich vor der Hinrichtung. Das war keine Justiz, kein Verfahren der irdischen Gerechtigkeit. Ein nüchterner parteipolitischer Kuhhandel vollzog sich. Und ein junges Menschenleben fiel ihm zum Opfer. Es dauerte wieder einige Tage, bis ich weiterlas. Fiel dieses Leben wirklich als Opfer politischer Streber? Wird es keine Gnade geben, im letzten Moment vielleicht? Es gab dann keine. Theodor Dreiser und sein Roman kennen keine Gnade, kennen keinen gemilderten Schluß. Nur Tatsachen kennen sie, aus der Welt des Tatsächlichen gegriffen.
Alle diese Vorgänge aber, um ein Kleines weniger intensiv geschildert, diese Menschen, um einen einzigen Grad weniger glühend lebendig gestaltet, und man würde das Buch ruhiger, würde es etwa mit der Gespanntheit lesen, wie irgendeinen guten Kriminalroman. Man würde nämlich ebenso wenig im Ernst daran glauben, wie man auch sonst an Kriminalromane nicht ganz glaubt. Doch hier geht’s gar nicht um Glauben oder Unglauben. Von der ersten bis zur letzten Zeile regt sich keine Sekunde in uns der leiseste Zweifel an der grausamen Wirklichkeit dieser Welt, an der entsetzlichen Wahrheit aller Zusammenhänge und Geschehnisse. In der meisterhaften Komposition dieser drei Bände, in ihrer virtuosen Architektur erscheint nichts komponiert, spürt man nirgendwo die Arbeit des Romanarchitekten. Der laufende Sturz aller Ereignisse vollzieht sich vom Anfang bis zum Schluß mit unaufhaltsamer Notwendigkeit. Und man begleitet dieses Hinstürzen voll atemloser Teilnahme. Hier ist der Alltag, den wir alle kennen, durch den wir alle gehen, unberührt, oder die Augen schließend, wenn die Gefahr droht, zu arg erschüttert zu werden. Hier ist dieser Alltag und man wird gezwungen, die Augen zu öffnen. Hier ist das Spiel seiner Zufälle, das Schicksal wird, hier ist seine unbarmherzige Härte, sind lockende Verführung, hier sind seine Höhen und seine Abgründe. Hier sehen wir einmal seine Tragödie, eine seiner Tragödien, so genau, als habe ein kundiger Reporter sie beschrieben, so menschlich durchleuchtet, als sei ein großer Dichter mit seinem Herzen am Werk gewesen.
Das Amerikanische an dieser Tragödie sind die sozialen Verhältnisse. Die Straßenbettler-Prophetie von Clydes Vater, sein gutgläubig stümperndes Predigertum ist amerikanisch. Und amerikanisch ist der krasse Gegensatz zwischen den Leuten, die zu viel Geld, und denen, die gar kein Geld haben. Amerikanisch scheint die allgemeine Ansicht, daß Armut eine Schande ist. Und das Schachspiel politischer Parteien, das die Verwaltung wie die Justiz mit in seine Kombinationen und Spekulationen wie selbstverständlich einbezieht. Manches von diesen Dingen, mancher von diesen Zuständen braucht freilich nur mit anderen Lokalfarben getüncht zu werden und paßt auch, je nach der Farbe, anderswohin, als nach Amerika. Doch dieses Buch ist amerikanischem Boden entwachsen, ist von einem amerikanischen Geist ersonnen und von der Urfarbe der Vereinigten Staaten nicht zu lösen. Ins allgemein Menschliche, ins allgemein Gültige aber wächst die Tragödie des jungen Menschen, der arm geboren ist, der mittellos, wehrlos, führerlos und hilflos einer Welt voll Glanz, Luxus, Schönheit und Freude gegenübersteht. Die Tragödie eines jungen Menschen, der Leidenschaft und Phantasie genug besitzt, um mit allen seinen Trieben von dieser Welt des Reichtums in Brand gesteckt zu werden, der hinreichend sinnlich, unverbraucht und unerfahren ist, um sich, wie man das bei uns nennt, zu „verplempern“, der dann in Verwirrung gerät und unschuldig schuldig wird. Sehr viele Leute gibt es, besonders Frauen, die aus Sympathie und Mitleid für die reizende, ehrenhafte Roberta den jungen Clyde streng verurteilen und ihn ehrlos nennen. Mag sein, daß sie recht haben, mag auch sein, daß Clyde ehrlos ist, obwohl er im Grunde jenseits der landläufigen Ehrbegriffe steht. Den Satten und Baldgesättigten fällt es sehr leicht, eine Ehre zu haben und sie ohne jede Probe, ohne jede Versuchung zu behalten. Wer aber die Armut kennt, denkt über diese „ehrenhaften“ und „ehrenwerten“ Leute doch anders. Und wer die bitterste, schmerzhafteste Armut erlebt hat, die Armut am Rande des Reichtums, in naher Nachbarschaft des üppigen Schwelgens, muß den unglücklichen Clyde so tief verstehen, muß sich ihm so brüderlich verbunden fühlen, daß er zu gar keinem Urteil über den vom Schicksal Vernichteten gelangt, sondern nur zu fieberndem Erschüttertsein.
Eine amerikanische Tragödie ist auch der andere Roman von Theodor Dreiser „Jennie Gerhardt“. Aber auch diese Dichtung ragt weit über ihren Schauplatz hinweg ins Ewigmenschliche. Wie es überall und zu allen Zeiten junge Männer gibt und gegeben hat, deren Schicksal dem des Clyde Griffith gleicht, so gab und gibt es überall, zu allen Zeiten Jennie Gerhardts. Jung, schön, bescheiden und arm. Liebevoll und opfermutig. Hingebend und pflichtbewusst. Naiv und selbstlos. Ein Spielzeug männlicher Begierden. Dann in ihrer seelischen Reinheit gefühlt, die Frau, der Männer wirkliche Herzensneigung entgegenbringen. Sie hat Pech, denn sie ist arm. Immer hat sie Pech und immer trägt sie ihr Unglück sanft, still, geduldig. Ein reicher älterer Mann, der sie, ein halbes Kind noch, verführt, will sie heiraten, weil sich die Folgen einstellen und weil er sie liebgewonnen hat. Er stirbt plötzlich. Ein junger Mensch aus reichem Hause nimmt sie, reißt sie einfach an sich, weil ihre Schönheit seine Sinne entfacht; verliebt sich dann in sie, verzeiht ihr die uneheliche Tochter, die sie von dem älteren Herrn hat, denn der wollte sie ja heiraten. Dieser junge Mensch lebt mit Jennie wie Mann und Frau. Jahrelang. Gewöhnt sich an sie, an ihre magdliche Zärtlichkeit, an ihre Treue, an den Zauber ihrer „schüchternen Seele“ … und vermählt sich zuletzt mit einer anderen, mit einer Dame aus seinen Kreisen. Jennie bleibt allein mit ihrer Tochter, die sie durch einen raschen Tod verliert. Den Geliebten sieht sie nur einmal noch, als sie den Sterbenden bis an sein Ende pflegt. Eine ergreifende Gestalt, so lebendig, so wahr und so bestrickend wie nur irgendeine der wunderbaren Frauengestalten in irgendeinem der unvergänglichen Dichterwerke. Es sind noch einige prachtvolle Gestalten in diesem Buch. Jennies Vater, der einfache, glaubensstarke, sittenstrenge Deutsche. Jennies Mutter, der alten Millerin und vielleicht auch der Marthe Schwerdtlein ein bißchen verwandt; vor allem: Lester, der Geliebte, und das Schicksal ihres Lebens.
Ein Verwandter an Format und Art dieses Lester ist der Held in Dreisers frühem Romanwerk „Der Titan“. Frank Algernon Cowperwood hat die frische, draufgängerische Manier, Frauen zu nehmen. Aber er nimmt viele. Er nimmt sie wie ein Raubtier seine Beute, wie ein kleiner Junge das ersehnte Spielzeug. Er ist gierig und naiv. Er ist raffiniert und unschuldig. Er hat einen unbeugsamen Willen, eine Riesenkraft des Herzens wie des Verstandes und er wirkt wie ein Element. Von Jugend an ist er entschlossen, eine Großmacht in der Finanzwelt zu werden. Man wirft ihn nieder, man sperrt ihn ein, aber man kann ihn nicht besiegen. In Philadelphia wird es sein Ruin, daß er die Tochter eines einflußreichen Mannes verführt hat. Er heiratet sie nach seiner Scheidung. In Chicago wird er beinahe vernichtet, weil er ein Verhältnis mit der Gattin eines Finanzmagnaten begann. Er überwindet alles; er ringt auch die Eifersucht seiner zweiten Gemahlin nieder, die er oft und oft betrügt; er macht Schluß mit ihr, als er, schon über Fünfzig in leidenschaftlicher Liebe zu einer Achtzehnjährigen entbrennt. Liebe und Geschäft, Geschäft und Liebe, Erfolg und Niederlage und trotzdem wieder Erfolg füllen diese drei Bände, die eben erschienen. In langen, gründlichen Auseinandersetzungen werden gewaltige Spekulationen, Börsenmanöver, Gründungen und Geldkrisen beschrieben. Wer etwas von diesen Dingen versteht, wird gespannt und gefesselt sein. Aber auch diejenigen, denen das Geschäftswesen fremd bleibt, folgen interessiert. Denn in diesen Kapiteln wird der Aufstieg der U.S.A. von den Sklavereikriegen bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erzählt. Objektiver und nicht so parteiisch gefärbt wie in Myers „Entstehung der großen amerikanischen Vermögen.“
Ein bedeutsamer Mann, der mächtige Unternehmungen beherrschte, sagte mir einmal vor langer Zeit: „Was soll unsereinen an der modernen Literatur reizen? Es steht nirgendwo etwas von den Dingen, die wichtig sind, mit denen sich die Welt beschäftigt, nichts von den Kämpfen, Arbeiten, Entdeckungen und Wagnissen, durch die wir alle eigentlich vorwärts kommen.“ An diesen Mann muß ich jetzt denken. Wenn er noch lebte, er hätte sich am „Titan“ gefreut.
Aber unzählig Lebende werden an sich an Theodor Dreiser freuen und Unzählige, die nach uns leben, werden an diesem großen Dichter Erschütterung und Erhebung finden. Mögen heute auch einige der Meinung sein, Dreiser sei nicht modern, sei eine trockene Wiederholung Zolas, er ist weder trocken, noch eine Wiederholung, so wenig wie er wahrscheinlich in Wirklichkeit als Mensch mürrisch ist. Und er bleibt so zeitlos modern, wie alles, was einfach und tief, wahrhaft und menschlich ist, immer modern sein wird. Er ist so wahr wie das Leben selbst, so unbarmherzig wie das Schicksal, von so echter Tragik wie der Tragiker der Antike, so reich an Gestalten wie nur ein wirklicher Schöpfer; er liebt die Menschheit, glaubt an die Zukunft, wie nur ein großer Dichter zu glauben und zu lieben vermag. Und sein Feld ist die junge amerikanische Erde, die so reich ist an Erlebnissen und Dramen des Alltags, daß sie ganz natürlich ihre eigenen, großen Dichter hervorbringen muß. Heute gehört Theodor Dreiser zu den stärksten dichterischen Erscheinungen der Welt und „drüben“ scheint er vorläufig der weitaus stärkste zu sein.
In: Neue Freie Presse, 7.10.1928, S. 1-4.
Leo Lania: Im Nebel. Skizze (1923)
Die Großstadt hatte Josef hervorgebracht. Er war ihr Werk. Und man sah es ihm an, in welcher Eile sie ihn zusammengezimmert, wie wenig Mühe sie sich mit ihm gegeben hatte.
Da war sein Kopf zum Beispiel: ein Kopf, der rund und schön, glatt hätte werden sollen wie die Köpfe aller anderen Menschen. Die Großstadt aber hatte es gemacht wie die die Jungens, wenn sie einen Schneemann bauen, hatte ihn in ihrer verfluchten Eile eine elende Stümperarbeit geliefert, und so kam es, daß Josefs Schädel lauter Unregelmäßigkeiten zeigte, Beulen und Ecken, und daß seine kurzen grauen Haare so wild und widerspenstig nach allen Seiten standen wie die Borsten einer ruppigen Bürste. Mitten in sein Gesicht hatte ihm die Stadt einen grünlichblaurot schillernden Fleischklumpen als Nase gesetzt, hatte ihm einen schwarzen, speckigen Gehrock mit auf den Weg gegeben und eine hohe, zerschlissene Pelzmütze. So war wohl Josef auf die Welt gekommen: mit der Nase, dem Rock, dem Kopf und der Mütze. Und so saß er auch müde, eine Schnapsflasche unterm Arm, am Fluß und blinzelte den vorbeiziehenden Vögeln nach und der dünnen, grauen Rauchfahne, die drüben am hohen Fabriksschlot hing – schlaff, gewissermaßen auf halbmast zur Ehre des Feiertags. Von Zeit zu Zeit stieß er mit dem Fuß kleine Steine ins lehmige Wasser.
*
So schrecklich gleichgültig ist doch das alles; Träge wälzt der Fluß seine schmutzigen, gelblichgrünen Fluten zwischen den steilen Böschungen dahin. Rückwärts, dort, wo Dunst und Rauch in einer dicken Wolkenwand gegen den Himmel steht, ist die Stadt, aus der er kommt, Licht, Leben, Menschen und Brücken, spiegeln sich Paläste und Kaufhäuser in seinen perlenden Wassern.
Auch hier draußen ist noch die Stadt. Dort rechts die Fabrik, Schlote, phantastische Gerippe aus Eisen und Glas. Und dennoch glaubt man die Stadt weit, weit entfernt.
Flußabwärts beginnt der Wald, eine graubraune Silhouette und die Nebel, die aus dem Fluß steigen, flattern wie milchweiße Schleier über den armseligen, zerzausten Bäumen.
Am anderen Ufer: Strecken freien Baugeländes und ein paar große, freistehende Mietkasernen, die aussehen, als hätten sie alle ihre Wünsche und Hoffnungen schon seit langem vergessen und seien nun verdammt, für ewig hier zu stehen, schutz- und freundschaftslos.
Weihnachtstag.
Ganz leise atmet das Leben. Fern bellt ein Hund, dann wird es still. Ein paar Krähen ziehen schreiend dem Walde zu. Dort hat sich schon die Dämmerung zum Schlafen verkrochen.
Ueber allem liegt etwas Schweres, Trostloses: keine Trauer, die einen elegisch, nachdenklich stimmen könnte, sondern eine hoffniungslose Oede. Wozu überhaupt denken? Der Himmel von einem gleichmäßigen unbestimmten Grau ist weit entfernt und grausam kalt.
All das läßt Josefs verhutzelte Gestalt noch kleiner und unansehnlicher erscheinen. Wie in sich zusammengesunken hockt er da auf der kalten schwarzen Erde – das Gras, das im Sommer die Böschung überwuchert und ihr einen gewissen bescheidenen Aufputz gibt, ist schon längst verdorrt und eingestampft, der graue Kiesgrund schaut allenthalben durch. Josef läßt die Beine über den Fluß baumeln und döst gelangweilt vor sich hin. Woran er wohl denken mochte?
*
An gestern abend dachte er; an gestern abend.
Ein feiner Herr das gewesen. Und nobel. Alles was recht ist, zehn Gläschen Schnaps ist schon allerhand. Wenn das so hinunterrinnt durch die Kehle – ganz warm wird einem dabei, in allen Fingerspitzen spürt man’s kribbeln. Aber er hat’s auch ausgehalten. O, unterkriegen läßt er sich nicht so leicht. Da haben sie Gesichter gemacht, als er so ein Gläschen nach dem anderen hinunterschüttete.
[…]
*
Da saß auf einmal das Mädchen neben ihm.
Josef hatte gar nicht gemerkt, wie sie hergekommen war. Plötzlich kauerte sie neben ihm auf der Erde, hatte die Knie hochgezogen, den Kopf in die Hände gestützt und schaute über den Fluß. Dann streifte sie Josef mit einem langsamen, müden Blick und schloß halb die Augen, als wollte sie einschlafen.
Auch Josef blinzelte sie von der Seite an, mißtrauisch.
Kein Wort wird gewechselt. Aber Josef ärgert sich: Weil man auch nie seine Ruh‘ und Frieden hat… und was sie ihn so anzustarren braucht!
Das Mädchen, siebzehn- bis achtzehnjährig, verhungert und verwahrlost, in schadhaften Schuhen und einem Samtrock, der einst sehr elegant gewesen sein mußte, hatte ein fadenscheiniges Wolltuch über die fleckige, rosa Seidenbluse geschlagen – die eckigen Schultern zeichneten sich deutlich darin ab. Das hellblonde Haar, in Löckchen gezupft, umrahmte ein hübsches Gesichtchen, das in seiner Blässe wie ausgelaugt schien und das noch fahler wirkte durch die zwei roten Flecken, die auf die Wangen geschminkt waren. Ihre blutlosen Lippen zitterten vor Kälte, daß es aussah, als murmelte sie immerfort etwas vor sich hin. Und dazu wiegte sie ihren Oberkörper, und der Kopf schwankte leise hin und her, als säße er nur ganz lose auf ihrem dünnen Hals und als hätte sie nicht einmal mehr die Kraft, ihn im Gleichgewicht zu erhalten.
Das Mädchen schob sich ganz nahe an Josef heran, immer noch ein Stückchen und noch eines […]
„Schnaps drin?“ Sie zeigte auf die Flasche, die sie unter dem Arm hielt. Eine hohe gebrochene Stimme. Dann riß ihr ein trockener Husten die Worte von den Lippen und schüttelte ihren Leib, daß sie sich in Krämpfen bog.
Nein, machte Josef mit dem Kopf und nach einer Weile:
„Das ist’s… verfluchte Kälte!“
Das Mädchen gab keine Antwort, blickte teilnahmslos, die Hand vor den Mund gepreßt, ins Leere.
„Elendiges Wetter,“ knurrte sich Josef in Wut. Es wird bald finster werden, dann kann man hier draußen krepieren wie ein Hund.“
„Hast gar keinen Schnaps?“ Und dann ganz [?] wie ein Kind, das weinen will: „Oder was zum essen?“
„Hab nichts!“ begehrte Josef auf.
Wieder Schweigen. Beide husten trocken, müde, gleichzeitig.
*
Josefs Gedanken verlieren sich langsam in die Ferne:
Ja, so eine Gläschen Schnaps wär’ schon nicht schlecht… und ein anständiges Stück Brot dazu – und Speck vielleicht; wenn man dann einen solchen Bissen in den Mund steckt – wie Butter zergeht das einem auf der Zunge. Josef mußte schlucken, so trocken ist seine Kehle, und der Speichel quillt ihm wie ein Kautschukstummel im Mund. Sein Blick wird hart und finster: der Wind und die Kälte und der Hunger, die so gemein im Magen herumbohrt und keine fünf Minuten Ruhe gibt, und jetzt auch noch dies Weibsbild, das der Teufel holen mag. Ueberhaupt – sind doch alle anders. Als ob das keine Gemeinheit gewesen ist: ha ja doch dieser verfluchte Hund gestern abend Pfeffer in den Schnaps geschüttet. Na, er machte gleich einen richtigen Schluck – wie soll man das denn auch sofort merken – und dann, wie die Hölle hat das in der Gurgel gebrannt. Hunde…
Auf einmal spürte Josef den Kopf des Mädchens auf seiner Schulter. Sie hüstelte noch einmal und war dann still.
Einen Augenblick blieb Josef ganz erstaunt, regungslos sitzen. Dann kehrten seine Gedanken langsam zur Wirklichkeit zurück. Einige Minuten vergehen. Die Nebelwände scheinen vor allen Seiten zusammenzurücken, immer näher und näher, drohend und unerbittlich Hilflos, verlassen lehnt das Mädchen an Josef, als wäre es ein kleines Kind, das bei ihm Schutz sucht, und er schaut sie bloß an und rührt sich nicht.
*
Da begann das Mädchen zu schnarchen – leise, allmählich lauter.
Und plötzlich, ganz unvermittelt stieg eine übermächtige, wilde Wut gegen dies Mädchen in Josef auf. Was hat sich auch dies Weib so an ihn anzulehnen! Soll sie sich wen anderen dazu aussuchen, soll nach Hause gehen, wenn sie besoffen ist!
Durch eine rasche Wendung befreite er mit einem Fluch seine Schulter von der Last.
Das Mädchen schlug verschlafen die Augen auf, sah ihn verständnislos an – und wieder fiel ihr Kopf auf Josefs Schulter.
Noch einmal dasselbe Spiel.
„Schau, daß du weiterkommst!“ gröhlte Josef heiser. „Hast du gehört, du sollst schau’n, daß du weiterkommst!“ Josef gab ihr einen leichten Stoß in die Seite. Doch sie, müde und erfroren, hob jetzt nicht einmal die Augen, knurrte was Unverständliches und – schnarchte weiter. Pfeifend stieß ihr Atem durch die zerrissene Lunge.
Dies pfeifende Röcheln brachte Josef vollends zur Raserei: Bei dieser Kälte muß man sich das gefallen lassen! Nichts Warmes im Magen, und die schläft da wie in Mutters Schoß!
Josef will aufstehen – da hält er sie wie eine Puppe im Arm. Einige Sekunden starrt er sie verständnislos an und starrt noch, als etwas ihm selbst Fremdes wie eine rote, heiße Flamme in ihm hochschlägt. Seine Augen, ganz klein geworden, flackern in wilder Gier. „Bist ja ein ganz feines Frauenzimmer!“ schnaubt er zwischen den Zähnen hervor und spürt, wie sich ihr Fleisch durch die feine Bluse zwischen seine Finger drängt, weich und nachgiebig. Da wirft er sie zu Boden und sich wie ein hungriges Tier über sie…
*
Und dann – in der nächsten Minute – stürzt alles ein. Noch presst er sie an sich und weiß plötzlich, daß sie gar keinen Widerstand geleistet hat, und daß er etwas Lebloses im Arm hält. Da packt ihn das Grauen, huscht ihm wie eine kalte Schlange über den Rücken. In seinen weit aufgerissenen Augen spiegelt sich der schmutzige Himmel, der über dem Wald hängt. Mit einem Ruck springt er auf. Der Rausch ist verflogen. Scheppernd vor Kälte schlagen ihm die Zähne aufeinander.
Entstanden: 1918 (handschriftlicher Vermerk im Nachlass, PHK)
In: Arbeiter-Zeitung, 28.12.1923, S. 5-6.
Leo Lania: Der Feldherr als Aesthet (1924)
In einem kleinen Hotel im Berliner Westen machte ich seine Bekanntschaft. Ganz zufällig. Der Mann fiel mir auf: Ein Hüne. Scharf geschnitztes Gesicht, vorspringende Backenknochen, breiter Mund mit vollen Lippen – der Typus eines slawischen Bauern. Doch der runde, kahlgeschorene Schädel, ein gewisser lauernder Ausdruck in den harten Augen, die sich plötzlich verschleiern und dann so rührend träumerisch ins Leere blicken, unbeherrschte, hastige Bewegungen, vor allem dies eigentümlich Gespannte in seinem Wesen – er sieht wie ein entlaufener Sträfling aus, dachte ich unwillkürlich. Das ist Majakowski, der bedeutendste Vertreter des russischen Futurismus, einer der Großen der jüngsten russischen Dichtkunst, „das gewaltige Talent“, wie ihn Alexander Block genannt hat. Wir kommen ins Gespräch. Und dann sitzen wir oben in seinem Hotelzimmer und debattieren über die neue Kunst, über Rußland und die Revolution.
„Haben Sie Trotzkis letztes Werk über die russische Literatur gelesen?“ Majakowski weist auf ein dickes, zerlesenes Buch, das auf dem Tische liegt.
„Ich habe es gelesen. Allerdings nur einen Auszug, der vor kurzem in deutscher Uebersetzung erschienen ist. (Trotzki: Literatur und Revolution. Verlag für Literatur und Politik, Wien.) Ein ganz eigenartiges, ein erstaunliches Buch. Erstaunlich in doppelter Hinsicht: Wegen der Person des Verfassers und wegen des Stoffes, der hier in einer neuen Art behandelt wird.
*
Trotzki, der Schöpfer der Roten Armee, als Aesthet? Manch einer wird wohl mit gemischten Gefühlen dies Büchlein in die Hand nehmen. Und wird nach wenigen Seiten völlig im Banne dieser einzigartigen Persönlichkeit stehen. Denn in keiner seiner zahlreichen historischen und nationalökonomischen, seiner militärischen und marxistisch theoretischen Schriften tritt uns das innerste Wesen Trotzkis so klar entgegen. Welche Energie, welche Arbeitskraft muß diesen Menschen auszeichnen, der auf einem der exponiertesten Posten der russischen Revolution, im Drang der Politik und der auftreibenden Tagesarbeit, die schon an die physischen Kräfte der Führer übermenschliche Anforderungen gestellt hat, noch Zeit und die innere Bereitschaft findet, um sich so völlig in kulturelle und literarische Probleme zu vertiefen. Trotzkis Buch räumt mit den Thesen und Edikten der zünftlerischen revolutionären Literaturhistoriker auf. „Das Proletariat wird die Schaffung einer neuen, das heißt sozialistischen Kultur und Literatur in Angriff nehmen können, nicht mit Laboratoriumsmethoden auf der Grundlage unserer jetzigen Armut, Knappheit und Unwissenheit, sondern durch weit ausholende, gesellschaftlich wirtschaftliche und kulturfördernde Methoden. Die Kunst braucht Wohlleben, bedarf des Ueberflusses. Dazu gehört, daß die Hochöfen heißer glühen, die Räder rascher surren, die Schiffchen flinker tanzen, die Schulen besser arbeiten… Es ist grundfalsch, der bürgerlichen Kultur und der bürgerlichen Kunst die proletarische Kultur und die proletarische Kunst entgegenzustellen…
Denen, die das Ultraradikale, den Appell zum Bruch mit der Vergangenheit und zur Liquidation der Tradition erschallen lassen, antwortet Trotzki sehr fein: „Die Arbeiterklasse hat es nicht nötig und kann mit der literarischen Tradition brechen, denn sie schmachtet nicht in den Fesseln der Tradition. Sie kennt die alte Literatur nicht, die muß sie erst kennen lernen, sie muß erst Puschkin noch erfassen, ihn aufsaugen und ihn dann auch überwinden. In der übertriebenen futuristischen Ablehnung der Vergangenheit steckt ein Nihilismus der Boheme, aber kein proletarischer Revolutionalismus.“
Aus dieser Einstellung der wahren Achtung vor jeder schöpferischen Kulturleistung kommt dann Trotzki zu seiner Forderung der Duldsamkeit: „Das Gebiet der Kunst ist nicht das Feld, wo die Partei zu kommandieren berufen ist.“ Das soll nun nicht heißen, daß Trotzki der Ansicht ist, die Regierung, bzw. die regierende Partei der Bolschewiki habe sich jeder Einmischung und jeder kritischen Stellungnahme in Fragen der Kunst zu enthalten und dürfe keine Kulturpolitik treiben: „Es ist vollkommen klar, daß auch auf dem Gebiete der Kunst die Partei nicht einen einzigen Tag dem liberalen Prinzip: laisser faire – laisser passer, frönen darf. Die ganze Frage besteht nur darin, in welchem Punkte die Einmischung beginnen soll und wo ihre Grenzen sind. Trotzki sieht viel klarer und schärfer als so manche ‚Berufenen’ die Schwierigkeiten, die Kompliziertheit der Probleme. Dieser Dogmatiker verleugnet nie, daß er ein Realpolitiker ist. Er ist nicht nur ein Meister im dialektischen Denken, sondern auch ein Beobachter von verblüffender Schärfe […] Mit leichter Ironie, mit einer milden Skepsis lächelt er über jene, die da glauben, die neue kommunistische Kunst gebrauchsfertig in einer Retorte erzeugen zu können. Er blickt um sich und sieht Ansätze, tastende Versuche, mehr oder weniger gelungene Experimente – keine Erfüllung. Und was den ‚Proletkult’ betrifft, so sind solche Ausdrücke wie ‚proletarische Kultur’ und ‚proletarische Literatur’ gefährlich, weil sie die Zukunft der Kultur fiktiv in den engen Rahmen des Heute hineinzwängen, die Perspektiven verfälschen, – den sehr gefährlichen Dünkel kleiner Kreise kultivieren. Wir wollen vereinbaren, daß ‚Proletkult’ soviel bedeutet wie ‚proletarischer Kulturismus’, das heißt, den zähen Kampf um die Hebung des kulturellen Niveaus der Arbeiterklasse.
[…]
Was aber diese proletarische Literatur betrifft – so sind das literarische Werke begabter oder talentierter Proletarier, aber keineswegs proletarische Literatur. Und Trotzki warnt davor, „mit großen Worten zu spielen. Es ist nicht wahr, daß es einen proletarischen Stil gibt. Wo ist er? Zweifellos, selbst farblose und schwache, sprachlich unbeholfene Gedichte können den Weg des politischen Wachstums eines Dichters und einer Klasse markieren und dadurch eine unermeßliche kultursymptomatische Bedeutung haben. Aber schwache Gedichte – bilden noch keine proletarische Dichtung, denn sie sind überhaupt noch keine Dichtkunst. Auf dem Gebiete der Kunst hat eben das Proletariat noch kein Kulturmilieu geschaffen, während die bürgerliche Intelligenz ein solches Milieu – ein gutes oder schlechtes – besitzt. Also? Lernen! Man muß lernen, wenn auch die Lehrzeit – notgedrungen beim Feind – nicht ganz ungefährlich ist. Man muß lernen!“
*
Und Majakowski? Er lächelt: „O, er hat mit vielem recht, der gute Trotzki. Obwohl er ein gefährlicher ‚Rechtler’ ist.“
In: Prager Tagblatt, 9.7.1924, S. 3.
Otto Bauer: Hoppla, wir leben! (1928)
Ernst Tollers „Hoppla, wir leben!“ – das ist die Tragödie des Sozialismus in der bürgerlichen Revolution.
Die Münchener Räterepublik ist zusammengebrochen. Sechs Revolutionäre, zum Tode verurteilt, harren im Gefängnis seit zehn Tagen der Hinrichtung. Als ihnen nach zehn Tagen grauenvollen Wartens die Begnadigung verkündet wird, wird einer von ihnen, Karl Thomas, wahnsinnig. Acht Jahre verbringt Thomas im Irrenhaus. Nach acht Jahren wird er aus dem Irrenhaus entlassen. Er hat das Entstehen der Welt, in die er entlassen wird, die allmähliche Stabilisierung des Kapitalismus, die allmähliche Restauration der Bourgeoisie, das allmähliche Schwinden des revolutionären Enthusiasmus nicht miterlebt. Noch voll der Stimmung von 1919, gerät er in die Welt von 1927.
Jazz-Band-Klänge. Lebemänner mit aufgeputzten Weibern. Wer denkt noch an die Millionen Toten des Krieges, wer noch an die Gefallenen und Gefangenen der Revolution, wer noch an die gestorbenen, begrabenen Hoffnungen großer Tage? Die Jazz-Band jubelt: „Hoppla, wir leben!“
Karl Thomas erträgt die Welt nicht, in die er sich plötzlich hineingeschleudert sieht. Und zur Verkörperung all des Widerlichen, all des Unerträglichen dieser Welt wird ihm Wilhelm Kilman, der sozialdemokratische Minister.
Wilhelm Kilman, der Kampfgenosse von 1919. Wilhelm Kilman, der damals, vor acht Jahren mit ihm zum Tode verurteilt worden ist, in derselben Zelle mit ihm zehn Tage lang des Todes geharrt hat. Wilhelm Kilman ist jetzt Minister. Er speist abends mit Bankdirektoren und gibt tags im Auftrage der Bankdirektoren den Befehl, Arbeiterstreiks niederzuwerfen.
Karl Thomas greift zum Revolver, um Wilhelm Kilman zu töten.
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Die bürgerliche Revolution kann die Königsgewalt nur besiegen, indem sie die breiten plebejischen Volksmassen ihre Schlachten schlagen läßt. Aber wenn erst der revolutionäre Enthusiasmus plebejischer Volksmassen das absolutistisch-feudale Regime hinweggefegt hat, dann wirft die Bourgeoisie die Volksmassen nieder und monopolisiert die Früchte ihrer Siege für sich. Das ist das Entwicklungsgesetz jeder bürgerlichen Revolution.
So haben in der großen englischen Revolution des 17. Jahrhunderts die in dem siegreichen Revolutionsheer vereinigten Bauern und Handwerker das Parlament auseinanderjagen, den König auf das Schafott schicken müssen, um den Absolutismus unmöglich zu machen für immer. Aber wenn die Kämpfer des Revolutionsheeres glaubten, ihre Siege würden das Gemeinwesen der Heiligen, das neue Israel begründen, so war in Wirklichkeit ihre Diktatur nur eine vorübergehende Phase in dem großen revolutionären Prozeß, dessen schließliches Resultat die Konstitution von 1688, die gemeinsame Herrschaft der Grundaristokratie und der Geldaristokratie, der Privilegierten des Blutes und der Privilegierten des Goldes war.
So haben in der großen Französischen Revolution des 18. Jahrhunderts die Kleinbürger und Arbeiter von Paris den König und alle Fraktionen der Bourgeoisie nacheinander zur Guillotine schicken müssen, um mit eisernem Besen alle Überbleibsel des Feudalismus hinwegzufegen. Aber wenn die Sansculotten von 1792 und 1973, wenn ihre Nachfahren, die Pariser Arbeiter vom Februar bis zum Juni 1848 und vom September 1870 bis zum Mai 1871 immer wieder glaubten, das Reich wahrer „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ aufzurichten, so war das wirkliche Resultat ihrer Kämpfe nichts als die Republik der Bourgeoisie.
Ganz ebenso haben 1918/19 nur die Arbeiter das Kaisertum der Hohenzollern und der Habsburger stürzen, nur sie die republikanische Neuordnung Mitteleuropas erzwingen und gegen die reaktionären Gefahren ihrer ersten Anfänge schützen können. Aber wenn die Arbeiterklasse im Enthusiasmus des Revolutionsjahres glaubte, damit ihre Republik, die sozialistische Republik, aufrichten zu können, so blieb das objektive Resultat der Revolution abermals weit zurück hinter den subjektiven Zielen der Revolutionäre, war ihr objektives Resultat nichts als die Bourgeois-Republik.
Tollers Karl Thomas hat die achtjährige Entwicklung, deren Ergebnis sich schließlich in der Bourgeois-Republik stabilisiert hat, nicht miterlebt. Er wird plötzlich, noch voll der subjektiven Illusionen der Revolutionskämpfer, an das objektive Resultat der Revolution geschleudert. Darum sieht er in dem Geschehen dieser acht Jahre nichts als Niederlage, nichts als Reaktion.
Aber wie die kapitalistische Entwicklung selbst, deren Resultat sie ist, ist auch die bürgerliche Revolution zwieschlächtigen Charakters. Was, gemessen an den Hoffnungen der Revolutionskämpfer, als Reaktion erscheint, das ist, an dem durch Revolution gestürzten alten Regime gemessen, dennoch ein gewaltiger geschichtlicher Fortschritt.
Haben in der Monarchie die Dynastie, die Generalität, die Bürokratie nur mit der Oberschicht des Grund-, Bank- und Industrieadels die Herrschaft geteilt, so herrscht in der Republik die Gesamtheit der Bourgeoisie. War in der Monarchie die Oberschicht der Bourgeoisie hinter ihren Privilegien gegen das Volk verschanzt, so kann in der Republik die Gesamtheit der Bourgeoisie nur herrschen, solange sie die Mehrheit des Volkes unter ihrem geistigen Einfluß zu erhalten vermag. Sie kann dies um so schwerer, da die Republik einerseits alle Fraktionen der Bourgeoisie zur Herrschaft beruft und damit vor dem Volke demaskiert, andererseits die Aktionsmöglichkeiten des Proletariats gewaltig erweitert und damit die in ihm schlummernden geistigen Kräfte weckt und entwickelt. So entwickelt die demokratische Herrschaft der Bourgeoisie selbst die Voraussetzungen ihres Sturzes. War die Revolution des Proletariats, aus der die Bourgeois-Republik hervorgegangen ist, nur die letzte Phase der bürgerlichen Revolution, so ist diese bürgerliche Revolution doch nur eine Phase in der Entwicklung des Proletariats zur Eroberung der Macht.
Sieht der proletarische Revolutionär von 1918/19 in der Befestigung der Bourgeois-Republik die Niederlage seiner Hoffnungen, so sehen die durch die Revolution gestürzten privilegierten Klassen der Monarchie in der Befestigung der Republik die Besiegelung der Niederlage ihrer Privilegien. Karl Thomas haßt Wilhelm Kilman, weil er, der Sozialist, der herrschenden Bourgeoisie dient. Die Junker hassen denselben Wilhelm Kilman, weil er, dem noch „der Prolet aus allen Ritzen stinkt“, sich anmaßt zu regieren, wo vordem zu regieren ihr Privileg war. Als Karl Thomas zum Revolver greift, um Wilhelm Kilman zu töten, kommt ihm ein völkischer Mörder zuvor. Sein Schuß streckt den republikanischen Minister nieder.
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Toller stellt in Karl Thomas‘ Geschichte sein eigenes Schicksal dar. Noch allzusehr Karl Thomas, steht er noch nicht über seinen Gestalten. So sieht er Wilhelm Kilman zu sehr mit Karl Thomas‘ Augen.
Sehen wir ihn mit Tollers-Thomas‘ Augen, so erscheint Wilhelm Kilman schon in der Revolution als Feigling, schon im Gefängnis als ein Verräter, in seiner Ministerzeit aber als ein den Verlockungen kapitalistischer Korruption erliegender Parvenü.
Aber wäre Wilhelm Kilman ein Schuft, dann wäre das ein Einzelfall ohne allgemeines Interesse. Ins Allgemeine hebt sich uns der Fall Wilhelm Kilman erst dann, wenn wir uns ihn als redlichen Sozialdemokraten vorstellen, der als Minister der bürgerlichen Republik der Arbeiterklasse ehrlich zu dienen bemüht ist.
Er ist in die Regierung eingetreten, um die Republik gegen monarchistische Reaktionäre und faschistische Gegenrevolutionäre zu verteidigen. Aber die Republik die er verteidigen will, ist schon zur Bourgeois-Republik geworden. Er arbeitet, um die Arbeiterklasse gegen den Druck der Arbeitslosigkeit zu schützen, ob dem Wiederaufbau der Wirtschaft. Aber die Wirtschaft, die er aufzubauen sich müht, ist eine kapitalistische Wirtschaft. Er kann die bürgerliche Republik nicht verteidigen und die kapitalistische Wirtschaft nicht aufbauen ohne Einvernehmen mit der Bourgeoisie und nicht, ohne in schroffe Gegensätze zu geraten mit Proletariern, die sich gegen die Bourgeois-Herrschaft in Staat und Wirtschaft auflehnen. So wird er, trotz ehrlichstem Wollen, der Arbeiterklasse zu dienen, zum Verbündeten der Bourgeoisie gegen einzelne Schichten der Arbeiterklasse. So entstehen die Wilhelm Kilman.
In einer Zeit der Revolution, der gewaltigen Machtentfaltung des Proletariats, des realen Gleichgewichts der Klassenkräfte, kann der sozialdemokratische Minister wirklich, auf die drohenden Kräfte der Arbeiterklasse gestützt, dem Kapital wesentliche Machtpositionen abringen. Ferdinand Hanusch ist nicht zu einem Wilhelm Kilman geworden. In einer Zeit der rückläufigen Bewegung, in der Phase der Stabilisierung des Kapitalismus, die, wer immer sie leite, unabwendbar auf Kosten des Proletariats erfolgt, gerät der sozialdemokratische Minister unweigerlich in Gegensatz gegen breite Proletarierschichten und muß darum wider Willen zu einem Wilhelm Kilman werden.
Dürfen, können, sollen Sozialdemokraten in eine Koalitionsregierung eintreten? Sie dürfen es nur dann, wenn das Proletariat so stark ist, daß kein sozialdemokratischer Minister zu einem Wilhelm Kilmann werden muß, wenn die sozialdemokratischen Minister in der Regierung eine Wirksamkeit zu entfalten vermögen, die keinen Karl Thomas zur Auflehnung zwingt.
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Karl Thomas und Wilhelm Kilman – das sind die beiden entgegengesetzten Pole des Sozialismus der Nachkriegszeit. Dort der Revolutionär, der sich nicht zu finden vermag in den eintönigen Alltag, der der Revolution gefolgt ist; da der Staatsmann, dem in der Alltagsarbeit der revolutionäre Glaube verloren gegangen ist.
Aber zwischen beide hat Ernst Toller den Proletarier Albert Kroll gestellt, den alten unerschütterlichen Genossen, der ein Held war im Barrikadenkampf und ein Held geblieben ist in der schlichten Pflichterfüllung des Alltags.
Ein Epos, ein Roman könnte an Albert Kroll mehr zeigen, als das Drama zeigen kann: die gewaltige geistige Entwicklung des Proletariats der Nachkriegszeit unter dem Einfluß der Revolutionserlebnisse, der verkürzten Arbeitslosigkeit, der vervielfachten Wirksamkeit im Betriebsrat, in der Gemeindeverwaltung, in den Organisationen. Nicht diese innere Entwicklung, aber die durch alle geschichtliche Situationen fortwirkende Beharrlichkeit proletarischer Gesinnung zeigt Toller an Albert Kroll.
Er donnert dem Revolutionär zu, der sich in den Heroismus schlichter Pflichterfüllung im Alltag nicht finden kann: „Du möchtest, daß um deinetwillen die Welt ein ewiges Feuerwerk sei, mit Raketen und Leuchtkugeln und Schlachtengetöse. Du bist der Feigling, nicht ich.“ Aber wenn er weiß, daß die Zeiten andere geworden sind und darum auch die Pflichten, so bleibt er doch der alte, unerschütterlich gläubige Proletarier, der mit der triumphierenden Bourgeoisie nicht paktiert und sich ihr nicht beugt und seine Gewißheit, sie schließlich dennoch zu besiegen, nicht verliert: „Man muß sehen lernen und sich dennoch nicht unterbekommen lassen.“
In der Tat, das ist es: „Sehen lernen.“ Ohne alle Illusionen verstehen, daß die Revolutionsphase vorbei, der Kapitalismus stabilisiert, aus unserer Republik die Bourgeois-Republik geworden ist. „Und sich dennoch nicht unterbekommen lassen.“ Das heißt: sich darum nicht abfinden lassen mit einem warmen Plätzchen am Herde der Bourgeoisie, sondern die alten Kämpfer gegen sie bleiben. Denn waren unsere Taten nur eine vorübergehende Phase in einer ihrem Ergebnis nach bürgerlichen Revolution, so ist die bürgerliche Revolution doch nur eine Phase auf unserem Wege zu unserem Ziele.
In: Der Kampf, Jänner 1928, H. 1, S. 1-4.
Paul Stefan: Gustav Mahler in der Literatur (1921)
Nicht davon soll hier gesprochen werden, daß die Gestalt eines Gustav Mahler in dem Musiker von Wassermanns „Gänsemädchen“ erkannt wurde und daß, nach anderen, sogar der Johann Christoph gewisse Züge Mahlers verraten soll; daß ein Roman „Die vierte Galerie“ den dämonischen Einfluß Mahlers auf eine jüngere Generation schilderte, und daß eines der schönsten lyrisch-hymnischen Gedichte, die Frauen je gelangen, seine fünfte Symphonie nachzugestalten versucht. Auch von den Gedichten Mahlers kann nicht die Rede sein, die er zum größten Teil selber vernichtet hat, und nicht von seinen Briefen, die, ein Schatz von Ausbrüchen und Erleuchtungen, nunmehr, soweit sie sich zunächst dazu eignen, zur Veröffentlichung vorbereitet werden (durch Frau Alma Maria Mahler bei Tal). Was für diese Blätter allein in Betracht kommt, sind die Spuren, die Mahlers Arbeit in den Studien und Schriften von Interpreten und Gegnern gezogen hat.
Es gab eine Zeit der grenzenlosen Vereinsamung für Mahler, in der er nach einem Hörer, nach einem Menschen schrie. Er fand kaum keinen, und wer ihm auch nur ein wenig Aufmerksamkeit schenkte, persönlich oder schriftlich, wurde von ihm aufs rührendste bedankt. Darum verdienen die Steinitzer, J. B. Foerster, Batka, Seidel, Marschalk und einige andere Musiker und Schriftsteller dieser Jahre mit ihren Versuchen um die früheste Erkenntnis Mahlers noch heute unsere Beachtung. Sie sind die Vorläufer zahlreicher Aufsätze und Betrachtungen besonders von Wiener Kritikern, denen sich allmählich Autoren aller Länder und Sprachen anschlossen. Eine Sammlung von Zeitungsausschnitten über Mahler, die ich seinerzeit begann, wäre heute kaum noch von einem Privaten unterzubringen. Gar manche von diesen Aufsätzen würden es verdienen, aufbewahrt und studiert zu werden; ich erinnere allein an die von Julius Korngold, deren Sammlung verschiedentlich angeregt wurde.
Sehr bald beschäftigten sich auch Bücher mit Mahler, zunächst kleine Schriften, wie die von Schiedermaier und des Ostpreußen E. O. Nodnagel Studie „Jenseits von Wagner und Liszt“. 1905 begegnet uns ein bekannter Name: Richard Specht gibt in der Broschürensammlung „Moderne Geister“ ein Heftchen über Mahler heraus, das die ersten Daten und ersten Erläuterungen von Werken gab. Drei Jahre später folgte eine (heute gleichfalls vergriffene) polemische Schrift von Paul Stefan: „Gustav Mahlers Erbe“, die die Summe von Mahlers Wiener Opernwirksamkeit zog und ihrem Verfasser außer Zustimmung und Widerspruch auch eine Gegenschrift (von Paul Stauber) zuzog. Abermals zwei Jahre später, 1910, gab Stefan, zum fünfzigsten Geburtstag Mahlers, „Widmungen“ von Zeitgenossen an Gustav Mahler heraus, mit Beiträgen von Gerhart Hauptmann, Bahr, Pfitzner, Bittner, Oskar Fried, Stephan Zweig, Romain Rolland und vielen anderen Künstlern, mit Rodins Mahlerbüste geschmückt; auch dieses Buch ist vergriffen. Zu gleicher Zeit erschein in dem gleichen Münchner Verlag von Reinhard Piper, einem begeisterten Verehrer Mahlers, die erste Biographie dieses Meisters von Paul Stefan, als einführende Studie gedacht. Das Buch ist wiederholt, zuletzt 1920, in immer neuer Gestalt erschienen und 1912 ins Englische übersetzt worden (1913 in Amerika verlegt); eine vorbereitete Übersetzung ins Französische vereitelte der Krieg. Auch die „Chronik der Jahre 1903 – 11“, die Stefan unter dem Titel „Das Grab in Wien“ 1913 erscheinen ließ, schildert nochmals das „Milieu“ der Mahler-Zeit.
1913 erschien eine eingehende Würdigung des Wesens und der Werke von Specht, zunächst mit vielen Bildern, in den folgenden zahlreichen Auflagen mit bloßem Text; Specht hatte mittlerweile auch die sehr verbreiteten ausgezeichneten Analysen der einzelnen Symphonien verfaßt. An die Bücher von Specht und Stefan reihte sich bald darauf eines von Guido Adler, dem Ordinarius der Musikwissenschaft an der Wiener Universität. Adler, ein Jugendfreund Mahlers, brachte besonders neues biographisches Material bei. Artur Neißer schrieb eine kurze zusammenfassende Arbeit für Reclams Universalbibliothek.
Abermals neue Ausblicke waren der großen Monographie von Paul Bekker („Gustav Mahlers Symphonien“) zu danken, Erweiterungen des in seiner Schrift „Die Symphonien von Beethoven bis Mahler“ in den Grundsätzen Angedeuteten. Bekkers Buch, im Frühjahr 1921 verlegt, ist vorläufig das jüngste Werk über Mahler. Bruno Walter und Friedrich Loehr, Jugendfreunde Mahlers, bereiten ein neues vor.
Auch in fremden Sprachen ist über unsern Meister mancherlei gesagt worden, besonders Kluges von William Ritter, einem französischen Schweizer. Gelegentlich des Amsterdamer Mahler-Festes (1920) ist als Programmbuch eine schöne Studie von Doktor C. Rudolf Mengelberg in holländischer Sprache erschienen, nicht das einzige literarische Ergebnis der Mahler-Pflege in Holland: je ein Buch von Herman Rutters und von C. van Wessem beschäftigen sich mit Mahler.
Bei alledem darf man sich nicht verhehlen, daß für Mahlers Werk und für die Erforschung seines Lebens noch allerhand Arbeit übrigbliebe, und daß insbesondere eine ausführliche Biographie einmal auf nicht geringe Schwierigkeiten treffen wird. Das Material ist groß und weithin verstreut.
Hoffentlich gelingt die Arbeit des Sammelns dennoch irgendwie, irgendwann, irgendwem.
In: Moderne Welt, H. 7, 1921–22, S. 8-9.