Richard v. Schaukal: Die Idee Österreichs

V o r b e m e r k u n g   d e r   S c h r i f t l e i t u n g: Die Zollunion Deutschland-Österreich ist verboten worden. Sie wäre auch in der Form der ersten Pläne kaum durchzuführen gewesen, denn zu verschieden sind die Verhältnisse und Lebensbedingungen der österreichischen Volkswirtschaft von der reichsdeutschen. Aber auch sonst wäre eine bloß auf das Nationale gestellte Union, selbst wenn sie eine politische würde, keine Lösung. Die Endlösung des deutschen bzw. österreichischen Problems ist nicht ein Nationalstaat mit unmöglicher Grenzgestaltung, die Endlösung heißt: das föderierte Mitteleuropa. Und je mehr heute von der Weltpolitik Gräben aufgerissen werden zwischen Deutschland und Österreich, um so mehr mag letzteres Vorarbeit für das künftige Mitteleuropa leisten durch Ausbau von Beziehungen vor allem mit seinen bisherigen engeren Weggenossen im Rahmen der altösterreichischen Monarchie. Das ist wohl der tiefere Sinn des folgenden Bekenntnisses eines hervorragenden Dichters und Denkers von Österreich.


    Der Österreicher, der als österreichischer Mensch seiner Herkunft und Natur gemäß fühlt und denkt, muß vor allem einen „Anschluß“ wünschen: den an seine Vergangenheit, die Österreich heißt, also an das Landgebiet, das ihn in Wechselwirkung seit Jahrhunderten bestimmt hat. Österreich, das von den schlecht beratenen Siegern in den Friedensverträgen auf das grausamste verstümmelt worden ist, aber in seiner Hilflosigkeit die zähe Lebenskraft seines Selbstvertrauens bewahrt hat, muß wieder zu sich selbst auferstehen als das vielfarbige, vielstimmige Reich der Mitte, zu dem es sein Schicksal ausersehen hat. Seine Entwicklung, die seine Geschichte ausmacht, war nichts weniger als Willkür, sondern gesetzmäßiges Wachstum aus den eigenen weitverzweigten Wurzeln. Diese Entwicklung ist gewaltsam unterbrochen worden, aber ihren Sinn kann Willkür nicht Lügen strafen. Daß sich die in der Monarchie vereinigten Völker, die kurzsichtige Regierungs- und Verwaltungsanschauung nach dem zerstörerischen Freiheitstaumel des Jahres 1848 durch ungeschickte Versuche gegeneinander getrieben statt wieder zusammengebracht hatte, auf den Trümmern des Reiches selbständig gemacht haben, ist mitnichten ein dauerndes Hindernis wohlbedachten, weil dem auseinandergerissenen Ganzen zuträglichen Zusammenschlusses. Die äußere Form ist fast gleichgültig: es kommt auf die innere Gestalt an, die sich in der Vereinigung ausdrückt. Um die Donau und ihre Nebenflüsse hat sich ein Gefüge zu erneuern, das in seiner Vielfalt eine Einheit bildet. Künstliche Schranken zwischen den zusammenstrebenden Teilen sind widersinnig. Die Alpen und ihre südlichen Ausläufer sind ein Ganzes, ebenso wie das von Randgebirgen abgegrenzte böhmisch-mährische Becken zum österreichischen Strom als ein Ganzes herniedergeht, wie die ungarische Tiefebene von diesem Strom aus bis an ihre Berge als ein Ganzes verbreitet. Und die Völker, die in diesem Mittelraum – man mag ihn bis an die „Vorlande“, die schwäbische Alp, den Bodensee erstrecken – seit mehr als einem Jahrtausend sich zusammenfanden, haben, ebenso wie der Boden, den sie besiedelten, seinen natürlichen Verlauf zeigt, sich von einander nicht gesondert, sind in einander über-, in einander aufgegangen. Es ist ein österreichisches Volk entstanden, in das der Österreicher, unbefangen sich selbst darangebend, wohl auch den Ungarn aufnimmt, der sich dagegen sträubt. Die Ostmark ist aus dem Herzogtum Bayern als Siedlung hervorgegangen. Als Rudolf von Habsburg, schwäbischer Herkunft, den Przemysliden Ottokar besiegt und sein gewaltiges Reich zur Grundlage der österreichischen Hausmacht bestellt hatte, ist das Österreich entstanden, von dem es am Ausgang des Mittelalters hieß, es werde zuletzt in der Welt sein. Viele Kronen hat sein Herrscher in seinem „großen Titel“ vereinigt. Der Weltkrieg hat sie zerschlagen. Aber was sie versinnlichten in ihrem stolzen Gefüge, die Zusammengehörigkeit des Zusammenhangenden [sic], in einander Verwachsenen und Verschlungenen, das hat er im Gedächtnis der Überlebenden nicht zu tilgen vermocht. In der Vergangenheit besitzt der Österreicher sein Vater- und Mutterland: daß er wieder erwerbe, was sein bleibt, hofft er von der Zukunft. Denn die Wandlungen der Geschichte können, was als Idee wirklich ist, verwischen und verdunkeln, nicht auslöschen.

In: Schönere Zukunft. Nr. 2, 11.10.1931, S. 30-31.

Fritz Rosenfeld: In den Tiefen der Erde V.

  • Franz Jung: „Die Eroberung der Maschinen.“ Malik-Verlag, Berlin.
  • Hermynia Zur Mühlen: „Licht.“ See-Verlag, Konstanz.
  • Concha Espina: „Das Metall der Tote.“ Verlag W. B. Mörlin, Berlin.
  • Hans Kaltneker: „Das Bergwerk.“ Donau-Verlag, Leipzig und Wien.

Franz Jungs unter Bergarbeitern spielender Romans „Die Eroberung der Maschinen“ ist in Stil und Inhalt gleich eigenartig. In kurzen, abgehackten Sätzen wird eine recht unklare Geschichte erzählt, die keine handelnden Einzelpersonen hat. Die Masse ist Trägerin des Geschehens. Eine derartige Gestaltung ließe sich wohl durchführen, wenn die Willensäußerung der agierenden Menge in Bildern gezeigt würde. Durch die ganz unbildhaften trockenen Berichte von Vorgängen wird der Roman aber farblos und eindrucksarm, entfernt sich vom Kunstwerk zur theoretischen Abhandlung. Will ein Dichter seine Gedanken in einem Roman vorbringen, so kann er nicht darüber hinweg, sie in Handlung umzusetzen. Er muß Vorgänge erfinden, die die Einbildungskraft des Lesers anregen, die dieser sich „vor“zustellen vermag. Abstrahiert der Autor aber von jedem vorstellbaren Geschehnis, bringt er nur den sachlichen Extrakt des Ereignisses in der Art einer Zeitungsnotiz: Das und das ist da und dort geschehen, so ergibt sich ein auf gemeinverständliche Basis gestellter theoretisches Buch, das an sich ganz interessant sein mag, aber ein Unding wird, wenn es den Titel „Roman“ beansprucht. Die wenigen Vorgänge, die das innere Geschehen des Romans verdeutlichen sollen, sind aneinandergereihte Belanglosigkeiten, nüchterne Tatsachenfeststellungen. Dichtung ist ganz etwas anders. Auch der Stil des Buches ist, wie der aller Werke Jungs, ungenießbar. Explosive, geballte Sätze, sind als Ausdruck der Hast unseres Erlebens in der Literatur unserer Tage längst heimisch geworden. Aber keine Sprachballung entschuldigt es, daß ein Arbeiter (nicht in Dialektnachahmung, sondern in der Erzählung des Autors), „auf Arbeit“ geht. Neben falschen Telegrammsätzen stehen dann wieder lange, schlecht gebaute, unverständliche Perioden, die das Lesen des Buches zur Qual machen.

            Ohne jedes Sprach- oder Gestaltungsexperiment hat die treffliche Sinclair-Übersetzerin Hermynia Zur Mühlen einen Bergarbeiterroman „Licht“ geschrieben., der (wohl vom Standpunkt des Kommunismus) das Problem der Bewußtseinserweckung des Proletariers behandelt. Mit erstaunlicher dichterischer Kraft führt Hermynia Zur Mühlen ihr Thema durch, belebt sie den Gang der Handlung durch viele Episoden, die oft tiefmenschlich gefühlte, an sich runde Einzelbilder von Proletarierschicksalen bieten. Der Einfluß des großen amerikanischen Schriftstellers, den sie verdeutscht, erweist sich vor allem in dem stark positiven Zug ihres Werkes. Sinclair war ja einer der ersten, die mit dem sozialen Roman älteren Schlages, bei dem der Aufruhr stets mit der blanken Waffe niedergeworfen wird, aufräumten und in der richtigen Erkenntnis, daß es zweideutig ist, die Sieghaftigkeit der Die durch physische Gewalt scheinbar abzuschwächen, den zuversichtlichen Ausgang an Stelle der Niederlage zu setzen. Die Dichterin bringt wohl (das bedingt die Wahl des Themas) inhaltlich nichts Neues, aber sie formt den bekannten Stoff in schlichter, markiger Sprache.

            In eine uns neue, mit Naturwundern gesegnete, aber von der Profitgier der besitzenden Klasse zur Hölle gewandelte Welt führt uns die spanische Dichterin Concha Espina in ihrem Roman „Das Metall der Toten“. Die Handlung des Werkes verbindet erfundene Liebesverwicklungen und Eifersuchtstragödien mit historischen Geschehnissen. Diese sind: Ursachen, Entstehung und Verlauf einer Erhebung gegen die Ausbeutergesellschaft. Der groß angelegte Streik führt zwar nicht zum Sieg, endet aber mit der Auswanderung der Bergsklaven, die es vorziehen, in der Fremde ihr Bort zu verdienen, als in der Heimat für fremde Herren (die Kupferminen von Riotinto in Südspanien, die der Schauplatz des Romans sind, gehören englischen und deutschen Gesellschaften) zu roboten. Die gewaltige Summe aus erdichteten und tatsächlichen Begebenheiten ist aber letzten Endes nur der Anlaß zur Entfaltung eines Stils, der durch die gewiß nicht unbedeutenden Hemmungen der Übersetzung hindurch seine Eigenart und seinen Reiz bewahrt. Als Ganzes genommen trägt das Werk wohl alles an sich, was Dichtung geben kann: Beschreibung, Handlung, Menschenzeichnung, Problemgestaltung. Die knappen, gehaltreichen Schilderungen des Landes erinnern zuweilen an Martin Andersen Nexös „Sonnentage“, haben aber vor der Reisebeschreibung des dänischen Arbeiterdichters von Vorzug voraus, daß eine Einheimische hier spricht, die nicht nur das äußere Bild, sondern vor allem die Seele des Landes sieht. Und diese Milieuzeichnung ist für uns von größter Wichtigkeit, weil wir nur von ihr aus so manchen Charakterzug der Personen, so manches Geschehnis verstehen können. Der Stolz, eine Eigenschaft, die für das spanische Volk längst sprichwörtlich geworden, ist eine günstige Grundlage für die Ausbreitung der revolutionären Befreiungsideen, das südländische Temperament aber treibt gleichzeitig zum Extrem, zum unbedachten Drauflosschlagen, zur Gewalt, führt den spanischen Proletarier leicht ins kommunistische Lager. Von der radikalen Seite sind die Vorgänge gesehen und geschildert. Seitenhiebe auf die Sozialisten finden hier ihre Begründung. Neben dieser Neigung zum brutalen Radikalismus läuft eine religiöse Inbrunst und Hingabe, ein uns ganz fremder Fanatismus, der seine Ursachen in der jahrhundertelangen Pfaffenherrschaft hat, der aber den Arbeiter nicht im mindesten von seiner revolutionär-klassenbewußten Gesinnung abhält. Kommunistische Überzeugung und religiöser Fanatismus gehen hier Hand in Hand. Die Schilderung dieser durchaus wahren, wirklichkeitsgetreu gesehenen Verhältnisse erfordert eingehende, aufmerksame Lektüre. Zu diesen interessanten Charakterzügen, die das ganze Volk betreffen, kommt die Lebendigkeit der vorgeführten Einzelmenschen, deren Gestaltung durch und durch auf das Seelische eingestellt ist. Leidenschaften flammen auf, Versuchungen werden überwunden, die Eifersucht reißt zu Verbrechen hin, Menschenherzen verbluten. Hunger und Liebe, die beiden Urkräfte allen menschlichen Handelns, bestimmen Gefühl und Tat dieser unverbrauchten, unvergifteten Elementarmenschen, die mir ihrem fieberhaften Wechsel von Glücksekstase und Verzweiflung, Liebe und Haß, Begeisterung und Ernüchterung, zähe Vorkämpfer im Ringen um ihr Menschenrecht werden, wenn das Saatkorn der Aufklärung in ihre Seele gelangt ist. Als Hintergrund der Vorgänge entrollen sich Bilder von schauriger Farbenpracht, wird eine Landschaft gezeigt, die in ihrem romantischen Zauber, ihrer unirdischen Schönheit dem Wesen der Menschen, die sie bewohnen, entspricht.

            Ein Drama „Das Bergwerk“ des jüngst verstorbenen Wieners Hans Kaltneker, das anläßlich der tausendsten Wiener Arbeitervorstellung aufgeführt wurde, läßt sich in seinen Motiven auf mannigfache Vorbilder zurückverfolgen. Es ist nicht anzunehmen, daß der Dichter die lange Reihe von Bergarbeiterromanen, die wir hier durchbesprochen haben, kannte. Die frapante Ähnlichkeit mit Jansons „Im Dunkel“, Sinclairs „König Kohle“ und della Grazies „Schlagende Wetter“ erklärt sich aus der geringen Zahl von Möglichkeiten, die der Bergarbeiterberuf dem gestaltenden Künstler bietet. Wenn es sich um ein Drama handelt, engt sich der Kreis der Situationen von selbst auf die wenigen dramatisch brauchbaren ein: die Frauen harren beim Schachteingang verzweifelt der verschütteten Männer und fordern Öffnung der Grube. Oder: die eingeschlossenen Arbeiter werden vor Hunger zum Tier, schänden im Ansturm des Selbsterhaltungstriebes ihr Menschentum. Der Grundgedanke dieses Dramas klingt an Tollers „Masse Mensch“ an. Das Individuum entfesselt den Aufruhr und schreckt dann vor der Tat zurück, wird als Hindernis empfunden und deshalb beseitigt. Der heiße Atem tiefer Menschlichkeit, der uns aus dem Werk entgegenschlägt, verscheucht jedoch die Erinnerungen an formale und inhaltliche Vorbilder. Ein Dichter, den der Tod nur allzufrüh dahinraffte, hat eine Dichtung geschaffen, die als Drama viele technische Fehler aufweist, aber des ehrlichen und kraftvoll begeisterten Willens halber, der in ihr ist, nicht vergessen werden darf.

In: Bildungsarbeit, Nr. 7/8, 1922, S. 66-67.

Edwin Rollett: Artur Schnitzler

            Es ist nicht die Zugehörigkeit zu einer literarischen Partei oder Schule, die dazu veranlaßt, heute an Artur Schnitzlers 60. Geburtstag mit jener Achtung zu erinnern, die ein arbeits- und erfolgreiches Menschenleben beanspruchen darf. Er gehört in keine Gruppe, ist Individuum, Einzelerscheinung, Spezialität und war auch nie etwas anders. Trotz seines Ranges in der zeitgenössischen Literatur war er nie einer der Bannerträger, die ihren eigenen Ruhm laut in die Welt posaunen und, um ihm größeren Nachdruck zu verleihen, eine Schar von Nachahmern an sich anschließen. Selbst als Junge, Aufstrebender zählte er keiner Schule zu.

            Von den Naturalisten, seinen Altersgenossen, hat der junge Schnitzler wohl einiges angenommen. Manche ihrer Programmpunkte mußten ihm als naturwissenschaftlich gebildetem Arzt und Arztessohn entweder im Blute sitzen oder, wenn sie von außen kamen, besonders nahegehen. Aber er blieb doch dieser Richtung gegenüber immer in Reserve. Eine Landschaft in einer Schnitzlerschen Dichtung gehört zu den Seltenheiten, und spielt sie einmal hinein wie im „Weiten Land“, so ist sie durch das Auge des Hochtouristen gesehen, dem der Nervenkitzel des Kletterwegs mehr zählt als die Fernsicht vom Gipfel. Auch Gestalten aus dem Volke, wie der blinde Geronimo und sein Bruder, sind wohl größtenteils vom Standpunkte dessen betrachtet, der im Wagen an ihnen vorüberfährt. Ebenso kann Schnitzler den Schattenseiten des Lebens nichts abgewinnen. Die Dämmerung lockt ihn mehr. Für Häßlichkeit vollends empfindet er nicht die geringste Vorliebe – gerade das Gegenteil. Grazie, Schönheit, Gleichgewicht sind ihm auch für die Formung des kranken Zustandes unerläßliche Erfordernisse. Es gibt sozusagen salonfähige oder poetische Krankheiten und nur für solche scheinen Schnitzlers Gestalten empfänglich zu sein. Dabei taucht auch immer wieder ein merkwürdiges Verständnis auf, etwa für das Mädchen, das angesichts des kranken Geliebten Abscheu, für die Tochter, die vor der Pflege der todkranken Mutter Ekel empfindet. Und tritt der Tod – in den melancholischen Dichtungen Schnitzlers ein sehr häufiger Gast – in seiner ganzen Unerbittlichkeit in den anmutigen Reigen seiner Gestalten, so weiß auch er sich stets wohlgesittet zu benehmen. Ein Dolchstoß, ein Giftbecher, ein Schlaganfall, ein Sturz vom Pferde oder ein Pistolenschuß ritterlicher Ehrenrettung.

            Auch den sozialen Problemen ist Schnitzler meistens aus dem Wege gegangen. An manchen Stellen in „Freiwild“, in der „Hirtenflöte“, in der „Liebelei“ klingen wohl verwandte Töne mit, verstummen aber sehr rasch wieder. Selbst in „Professor Bernhardi“, der am stärksten auf diese Seite zuneigt, ist das soziale Element nicht Thema. Und Schnitzlers personenreichstes und vielleicht persönlichstes Werk, der Roman „Der Weg ins Freie“, bringt die politischen Anklänge, wie Fremdkörper in eine psychologische Novelle eingefaßt, nur nebenbei. So kann es denn begegnen, daß Dichtungen, die scheinbar eine Tendenz beinhalten, wie „Märchen“, „Freiwild“ oder „Das Vermächtnis“, eigentlich deren zwei in sich bergen. Nur im „Leutnant Gustl“ ist die einzige angeschlagene Linie nicht verlassen. Fraglich bleibt es bei diesem vielumstrittenen Werke allerdings, ob der Autor auf die darin liegende Tendenz besonders Gewicht gelegt, ob ihn nicht ausschließlich die interessante Situation dazu getrieben, „zu fassen, zu formen, zu bewahren“. Der Wert dieser außergewöhnlichen Seelenstudie liegt natürlich in keinem versteckten Hintergedanken, sondern ausschließlich in ihrer Psychologie und ihrer Form.

            Das gilt nicht nur für sie allein. Das ganze Schaffen Schnitzlers kann aus diesen zwei Perspektiven am deutlichsten und richtigsten betrachtet werden. Ein Psychologe ersten Ranges mit ungewöhnlich feinem Organ für die subtilen Vorgänge des Seelenlebens spricht aus allen seinen Werken. Ein Forscher, den die unscheinbaren und bedeutungslosen Vorgänge ebenso, ja mehr reizen als die augenfälligen. Psychologische Kleinkunst sind die sieben Erlebnisse des „Anatol-Zyklus“; Fein beobachtete und exakt analysierte Symptome eines Falles, manchmal bis zur Alltäglichkeit unbedeutend. Und doch präpariert die sorgsame Dichterhand trefflich das Edelmetall des psychologischen Gehaltes heraus. Lieber noch sind ihm freilich die Aparten, ungewöhnlichen, überraschenden Verknotungen des inneren Erlebnisses. Das blinde Mädchen, das eine Erinnerung an entschwundenes Glück in den Tod jagt, die Virtuosin der Verstellungskunst, die gerade durch das Schwinden jeder Gefahr zum Geständnis getrieben wird, das sind typische Beispiele von Schnitzlers Lieblingsstoffen. Daneben zieht ihn das Gebiet der unklaren Seelenzustände mit großer Macht an. Ja selbst der hypnotische Schlafzustand ist mit in das Gesichtsfeld einbezogen, und einmal gelangt der Dichter sogar bis in die Gefilde der Magie und schwarzen Kunst.

            Mit der Vorliebe Schnitzlers für solche Dämmerzustände und seiner alles umfassenden Zweifelsucht, die den Tod als einzige und letzte Wahrheit bestehen läßt, hängt es wohl zusammen, daß viele seiner psychologischen Knoten nicht zur Gänze gelöst oder mit einem kühnen Schwerthieb zerhauen werden, sondern daß er lieber, wo das Gewirre nicht mit zarten Händen zu lösen geht, melancholisch lächelnd einen ungelösten Rest zurückläßt. Besonders in seinem Roman findet doch eigentlich keine der suchenden Gestalten den „Weg ins Freie“ wirklich. Und das „Zwischenspiel“, dieses Scherzo mit melancholischen Unterstimmen, bringt seine Personen auch in der letzten Szene nicht aus dem Dilemma heraus, das die erste einleitete. Wohl ist aus den merkwürdigen Verschlingungen manche nachdenkliche Perspektive eröffnet; eine Lösung aber, die ihm selbst zweifelhaft und nebensächlich erscheinen würde, verschmäht der Dichter. „Denn das ist das Charakteristische aller Übergangsepochen, daß Verwicklungen, die für die nächste Generation vielleicht gar nicht mehr existieren werden, tragisch enden müssen, wenn ein leidlich anständiger Mensch hineingerät.“

            Die Erkenntnis der Kompliziertheit aller Lebensvorgänge hat Schnitzler zu sehr durchdrungen, als daß er seinen Dichterberuf als Priesteramt auffassen könnte. Viel eher denkt er sich seine Sendung so wie die des Wundermannes Paracelsus, der eine Welt des Wahns ebenbürtig neben die der Wirklichkeit stellt und die dazwischenliegenden Grenzen schwinden macht. „Ich lasse den Vorhang aufgehen, wenn es anfängt, amüsant zu werden, und lasse ihn fallen in dem Augenblick, wo ich recht habe.“ Ein Puppenspiel ist es in dem die Personen der Bühne und die des Publikums in gleicher Weise an den unsichtbaren Drähten hängen, der Dichter selbst mit ihnen.

            Die Vereinigung solcher geistiger Elemente zu einem abgerundeten Werk hat Schnitzler in einer ihm nach Herkunft und Heimat geläufigen Form vollzogen. Aus der Keimzelle des Wiener Feuilletons sind ihm die stärksten formalen Impulse zugekommen, in der Kulturatmosphäre großstädtischen Gesellschafts- und Salonlebens sind sie gediehen. Der unübertroffene Plauderton seiner Novelletten, deren lyrisch-musikalische Unterstimme wohl auch ein wenig vom allgemeinen, zum Erstarken der Lyrik drängenden Zug zeitgenössischer Literatur beinflußt ist, die genaue abwägende Berechnung der Sprachelemente, die dann doch in ihrer Gesamtheit den Eindruck des Ungezwungenen, Improvisierten macht, das sind die Elemente der vornehmen, durch französische Schule gegangenen Wiener Feuilletonistik. Naturgemäß mußten der dramatischen Wirksamkeit dieser Dichtungsweise gewisse Hemmungen entgegenstehen. Die breite Geste des Theaters verträgt sich schlecht mit solch feinen Formelementen. Das Ringen um die dramatische Gestalt ist denn auch in der Frühzeit Schnitzlers deutlich zu erkennen. Dem „Märchen“ haften unstreitig gewisse papierene Qualitäten an, die „Liebelei“ versuchte in einem ersten Entwurf, sich den Gesetzen des Volksstückes anzupassen, und erst eine ganz besondere Ausgestaltung aller im Rahmen seiner Technik gelegenen Möglichkeiten brachte den vollständigen Sieg über die Bühne. Unterstützt war die Eroberung des Theaters zum voraus durch das ausgesprochene Talent Schnitzlers, Interessantes zu finden, und durch seine glückliche Hand, die alles interessant zu machen verstand. Die geistreich-prickelnde Konversation der höchsten Gesellschaftsklassen, in der aus graziös unbedeutendem Getändel mit einem Male durch eine Zuspitzung eine blitzartig erhellende Perspektive auf Bedeutendes fällt, das Ineinanderschlingen schlagfertiger Aperçus die wechselvolle Beleuchtung eines Gegenstandes, der, fingerfertig hin- und hergewendet, den Nervenkitzel gedanklichen Flackerfeuers erzeugt, die Freude am geistreichen Paradoxon, der Hang zum leicht Exotischen, alle diese Elemente der Saloncauserie hat Schnitzler der Bühne dienstbar zu machen verstanden.

            Das große Geschehen spiegelt sich wider, aber vollzieht sich selten wirklich, so wenig wie Napoleon im „Jungen Medardus“ die Bühne betritt. Der Reiz des intimen Seelenvorganges steht überall im Vordertreffen und verschleiert auch in den dramatischen Historien den Schritt der Geschichte. Moderne Inhalte hüllen sich in das Kostüm vergangener Zeiten, und so erwächst auch die bestrickende und verwirrende Farbensinfonie des merkwürdigsten Werkes in Schnitzlers reichem Schaffen, die romantische Umdichtung der todgeweihten Stadt Bologna, in deren Mitte das Rätsel Beatrice wandelt. Geheimnisvoll, abgründig, ungewußt, ein Symbol für Schnitzlers ganze Dichtung, geht sie ihren Weg in unbegreiflichen Verschlingungen, doch dem Innersten ihrer Seele gehorchend, vor der alle großen Ereignisse gleich gelten gegenüber dem Diktat ihrer Weiblichkeit. Solcherart bietet sie vielleicht den letzten Schlüssel zu Schnitzlers Absicht, die er am deutlichsten ein andermal, im „Weiten Land“, bekannt hat: „Wenn man Zeit hat und in der Laune ist, baut man Fabriken, erobert Länder, schreibt Sinfonien, wird Millionär, aber glaubt mir, das ist doch nur Nebensache, die Hauptsache seid Ihr! – Ihr! – Ihr!“ Ein aufhellenderes Zitat findet sich bei ihm kaum wieder.

            Als Dichter des Weibes von Paracelsus‘ Zeiten über Casanova in die Salons der modernen Großstadt, als Gestalter der ganzen Stufenskala von Liebesmöglichkeiten und Liebeszweifeln, als Rätselkünder mehr denn als Rätsellöser darf Schnitzler gelten. Als einer, der die Kunde vom weiten Land der Seele vermehrt und bereichert hat, schürft und baut der Sechzigjährige weiter, graziös, apart, kultiviert, wie er es stets getan.

In: Wiener Zeitung, 13.5.1922, S. 2-3.

Richard von Kralik: Kulturpolitische Exkurse

 […]

Kultur und Barbarei.

Kultur ist Tradition. Aufgeben der Tradition ist Barbarei. Die „Wilden“ haben keine oder wenig Tradition. Die große einheitliche Kultur beruht auf der zusammenhängenden Tradition von Homer an durch das ganze Griechentum und Römertum bis ins Christentum hinein. Gefährliche Auswüchse der Tradition wurden immer durch „Wiedergeburten“ oder Regenerationen, Restaurationen, Restitutionen, „Reformationen“ im richtigen Sinne auf die richtige Bahn der Tradition zurückgelenkt. Ich meine etwa die Reform von Cluny usw., nicht die des Luther-Jahrhunderts. Selbst das Wort und der Begriff „Revolution“ bedeutet, richtig gefaßt, die Umwälzung zum Ausgangspunkt zurück. Kultur ist Konservatismus in diesem Sinn. Fortschrittlichkeit ist Entfernung von der Kultur. Darum hat der Syllabus von 1864 schon im Sinne der Kultur sehr recht, wenn er den prinzipiellen Fortschritt, den „Progressus“ als Irrtum verdammt. Fortschrittlicher Katholizismus z. B. wäre das Fortschreiten, das Hinwegschreiten aus dem tatsächlichen Katholizismus zu einer neuen Sektierung. Luther war in dieser Bedeutung ein fortschrittlicher Katholik, denn er bildete sich ein, reiner katholisch werden zu müssen, „integraler“ als der Papst. Wir kirchlichen Katholiken sind zufrieden, genau so katholisch sein zu können wie der Papst. Seinerzeit wollte das „Junge Deutschland“ über Goethe und Schiller hinausgehen; unser Grillparzer hat mit Recht gesagt, es wäre schon viel, schon genug geleistet, dort stehen bleiben zu können, wo Schiller und Goethe stand. Impressionisten, Expressionisten dachten neue Standpunkte in der Kunst einnehmen zu können; Nazarener, Präraffaeliten verstanden es besser, wenn sie versuchten, zum Heil der gefährdeten Kultur an die wunderbare Kunst der Vorzeit anzuknüpfen. Grillparzers Prinzip hat sich bewährt. Es ist das Prinzip der immerfort neu und doch gleich Entzückendes schaffenden, und darum unerschöpflichen Natur.

Großstadt und Kultur.

Ich schätze sehr die Heimatkunst, die Heimatkultur, die Dialektdichtung, die so mannigfaltig, köstliche Provinzkultur. Ich bin selbst auf dem Land, im Urwald geboren, dann in der Landstadt Linz aufgewachsen. Mein Herz hat sich immer erweitert, wenn ich durch die Gassen Innsbrucks, über die Grazer Plätze, durch Klagenfurt und Villach schreiten konnte, aber je älter ich wurde, um so deutlicher mußte ich einsehen, daß ein Schaffen in größerem Stil, eine nationale Kunst, eine freierer Wissenschaft nur in der Großstadt möglich ist. Schon die Athener haben erkannt und es ausgesprochen, daß ein Themistokles, Aristides nicht in einem ländlichen Dorf zur vollen Entfaltung gekommen wären. Das ist ja für den Politiker, den großen Staatsmann selbstverständlich, aber auch der Mann stiller geistiger Arbeit findet nur in der Großstadt heutzutage den Nährboden seiner Ideen. Vor mehr als 100 Jahren konnte eine „Allgemeine Zeitung“ in Augsburg, der alten Reichsstadt, erscheinen; bald ward ihr aber selbst die Übersiedlung in die bayrische Hauptstadt zu einem nur unzulänglichen Vorteil. Augsburg, München, und andere Mittelstädte haben für die Kultur ihre unleugbare, unersetzliche Bedeutung; aber eine Weltanschauung im Sinne der großen Weltgeschichte können sie nicht so leicht schaffen, wie Großstädte mit ihrem weiteren traditionsreichen Gesichtskreis, ihren wissenschaftlichen und staatlichen Instituten. Kant, der wohl eine Weltansicht erarbeitet hatte, rühmt dafür sein Königsberg, das vielleicht zu seiner Zeit im geistigen Sinn mehr Weltstadt war als Berlin. Auf die Einwohnerzahl kommt es ja gewiß nicht an: New York ist doch nur eine große Handelsbude. Ohne andern bedeutenden Städten zu nahe zu treten, möchte ich doch meine Überzeugung nicht verhehlen, daß man z. B. von Wien aus größere Kulturpolitik treiben kann als etwa von Tripstrill.

Poesie und Politik.

Die nahe Verwandtschaft von Poesie und Politik kann nicht stark und oft genug betont werden. Die altgriechische Staatskunst beruhte zumeist auf Poesie. Homer wurde sowohl von Lykurg wie von Solon als festeste Stütze der hellenischen Staatswesen anerkannt. Die Vorlesung oder Rezitation der Homerischen Gedichte von Staatswegen zu festen Zeiten galt wohl in Sparta wie in Athen als ein Fundament des den Staat tragenden Nationalgefühls. In gleicher tiefer Erkenntnis ließ Augustus durch Vergil das römische Staatsepos, die Aeneis, verfassen, durch Ovid den staatlichen Festkalender (die Fasten) dichterisch besingen, durch Horaz seine Taten und die Feste des Staates in Oden verherrlichen. Karl der Große zeigte dieselbe politische Einsicht durch seinen Auftrag, die deutschen Heldensagen zu sammeln und zu erhalten. Im gleichen Sinne habe ich vor 20 Jahren mein „Deutsches Götter- und Heldenbuch“ abgeschlossen und herausgegeben, und noch vorherein Prinz Eugen-Epos, nicht bloß als Spielerei zum Zeitvertreib, sondern auch als eigensten Ausdruck gesamtnationalen Geistes und Zusammenfassung einer nationalen Arbeit von 14 Jahrhunderten (seit Theoderich dem Großen). Ich bin der Überzeugung, daß die Freiheitskriege von 1813 bis 1815 nicht so glänzend ausgegangen wären, wenn sie nicht die Poesie der Zeit als sieghaften Genius hinter sich und vor sich gehabt hätten – der Freiherr von Stein hat das selber als führender Politiker der Zeit zugestanden. Andrerseits scheint mir der Mißerfolg des Weltkrieges bereits durch das skandalöse, rein negativ gehaltene Festspiel G. Hauptmanns von 1913 sozusagen mitbedingt. Schlechte oder gute Poesie, echte oder Antipoesie wirkt sich in aller Politik aus. Was ist denn der Kommunismus seit St. Simon und Fourier, seit Marx und Lassalle anderes als eine Abirrung der allen Seelen notwendigen Poesie auf eine falsche Bahn? So muß und kann uns nur echte Poesie auf rechten Wegen auch der Politik einer schöneren Zukunft zuführen.

[…]

In: Schönere Zukunft I, 1925, S. 3-5.

Richard Wagner: Theaterkritik und Bildungsarbeit

Wenn man die Theaterkritiken unserer Arbeiterblätter liest, könnte man mitunter leicht in Zweifel geraten, ob man eine proletarische oder eine bürgerliche Zeitung in der Hand hat. So völlig gleichartig sind oft Inhalt und Ton der Besprechung. Erst ein Blick in die Aufsätze „über dem Strich“ bringt wieder Klärung. Ist hier nicht ein innerer Bruch in der Geistigkeit der Arbeiterpresse? „Über dem Strich“ klar betonter geistiger Klassenkampf – „unter dem Strich“ im Feuilleton, in den Kunst- und Wissenschaftsrubriken „neutrale“, klassenentrückte Abhandlungen? Gibt es nur in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft den unentwegten Klassenkampf, nicht aber in Kunst, Wissenschaft und all dem sonstigen „Kulturellen“? Ist nicht alles in dieser kapitalistischen Welt klassenhaft und daher zum Kampf herausfordernd? Man könnte zunächst die allgemein formale Frage aufwerfen, welche innere Berechtigung für das Proletariat die bürgerlich-journalistische Einteilung der Welt in eine Über dem Strich und eine unter dem Strich habe. Ob sich darin nicht nur die bourgeoise Vorstellung von der Zweiteiligkeit der Welt, von der profitjagenden Hetze des Alltags und der schlemmerhaften Behaglichkeit des abendlichen Genusses spiegle? Unter dem Strich des Tages zieht man den Geschäftsrock aus und kleidet sich in den schöngeistigen Smoking des Feuilletons.

Und man könnte weiter fragen, warum den die bourgeoise Übung, gerade das Theater als den unentbehrlichsten Gegenstand der kulturellen Besprechungen zu betrachten, auch für Arbeiterblät[t]er maßgebend sein müsse, ob hier auch jedes Theaterstück mit allen seinen Schauspielern, Regisseuren, Theatermalern usw. gut oder schlecht, auf jeden Fall aber besprochen werden müsse, gleichgültig, ob es an sich bedeutend oder töricht und im besonderen für die Arbeiterschaft wichtig oder belanglos ist; und weiter, ob nicht die regelmäßige, eingehende Berichterstattung über Arbeitervorträge und neue sozialistische Schriften von weit größer Wichtigkeit wäre; und schließlich, ob das Theater – sehen wir die Gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Tatsachen des Tages wie sie sind – eine größere Rolle im Leben der Massen, also des Proletariats, spielt als das Kino, und ob daher die sehr eingehende, regelmäßige Besprechung der Kinostücke, natürlich vom Standpunkt proletarischer Erziehungsarbeit aus, nicht ebenso wichtig wäre, damit den Massen die Augen nicht nur für den einmal wöchentlichen oder monatlichen Theaterbesuch, sondern auch für die Gefahr der tagtäglichen geistigen und materiellen Kinoverelendung geöffnet werden.

Aber selbst angenommen – obwohl das Gegenteil zweifellos ist – daß die Theaterbesprechungen den Raum in den Arbeiterblättern einnehmen müssen, den sie heute haben, und zugegeben, daß die Besprechungen bestimmter, vornehmer, bürgerlicher Theater, wie etwa des Wiener Bürgtheaters, unbedingt den Umfang eines ganzen, ausgewachsenen Feuilletons haben müssen, sei das neue Stück für die Arbeiter noch so gleichgültig – die Theaterkritik ist Bildungsarbeit und darum muß die Frage einmal zur Diskussion gestellt werden, ob die Theaterbesprechungen in den Arbeiterblättern die selbe Aufgabe haben wie in den bürgerlichen Zeitungen, ob sie daher gleichartig oder nur ähnlich oder nicht etwas ganz anders sein müssen.

Heute ist die Theaterkritik der Arbeiterblätter vielfach „neutrale“ Einführung der Arbeiter in das bürgerliche Theater. Aber erfühlt sie damit ihre Aufgabe? Oder trägt sie damit – trotz bester Absichten und sicher ungewollt – nicht noch zur Verbürgerlichung des Proletariats bei? Die proletarische Zeitung ist eines der wichtigsten und wirksamsten Kampf – und zugleich Bildungsmittel der Arbeiterschaft. Ihre Aufgabe ist geistiger Klassenkampf nach außen und sozialistisch-proletarische Bildungsarbeit nach innen, ist ringen gegen die Kräfteeinwirkung der feindlichen Klassen und ringen um die Kräfteentfaltung der Klassenangehörigen. Da die gesamte bürgerlich-

kapitalistische Kultur in all ihren Teilen und Ausstrahlungen Klassenkultur ist, muß die proletarische Presse in all ihren Rubriken ständig in oppositioneller Kampfstellung gegen sie stehen – dort, wo die bürgerliche Kultur Werte schafft, diese unter Anerkennung der Leistung auf ihren Klassencharakter untersuchen und ihn hinter allen Verhüllungen durch Kunst und Wissenschaft und Unterhaltung aufzeigen. Die proletarische Theaterkritik darf nicht nur ästhetische Untersuchung, sie muß zugleich soziologische Studie sein und dies in ganz gründlicher Weise, weil der ästhetische Gehalt jedes Kunstwerkes in den Gesellschaftsverhältnissen unlösbar verwurzelt ist, die zumindest zum großen Teil die Geistigkeit eines Künstlers, eines Kunstwerkes und der Kunstempfangenden bestimmen.

Daß besonders die leichtere Theaterware des kapitalistischen Kunstmarktes, die nur auf greifbaren Profit ausgeht und diesen daher mit allen Mitteln bedenkenlos sucht, oft auch versteckt oder ziemlich offen konterrevolutionäre und proletarierfeindliche Absichten verfolgt, weiß jeder von uns. Hier müßte die proletarische Kritik, die kapitalistische Kunst- und Unterhaltungsindustrie in jedem einzelnen Fall in ihrer wahren Bedeutung vollkommen beleuchten als geistige Schädigung des kämpfenden Proletariats, das dafür noch Millionen seiner sauer erworbenen Lohnkronen jährlich bezahlen muß. Es dürften der landläufige, blödsinnige Schwank und die mit gelungener Absicht völlig entgeisterte Operette nicht nur von oben her ästhetisch abgetan, sondern sie müßten in ihren soziologischen Wurzeln und Auswirkungen immer und immer wieder bloßgelegt werden. Und es dürften alle die kleinbürgerlichen, großbürgerlichen, ja vielfach noch mittelalterlich-feudalen Ideologismen nicht ästhetisch verklärt, sondern durch allen ästhetischen Schein hindurch als geist-und blutsaugende Gespenster entlarvt werden.

Dann, meine ich, wird die proletarische Theaterkritik erst ihre Aufgabe als proletarisches Bildungsmittel ganz erfüllen, die Kluft zwischen der Welt über und unter dem Strich wird verschüttet und – es wird noch Raum werden, dem Arbeiter außerdem Weg zum bürgerlichen Theater noch den Weg zum sozialistischen Buch und den selbstmörderischen Abweg zum Ausbeutungskino mit Erfolg zu zeugen.

Proletarische Theaterkritik muß sozialistische Bildungsarbeit sein. Sozialistische Bildungsarbeit aber ist immer auch Klassenkampf.

In: Bildungsarbeit, Nr. 7-8, 1923, S. 62.

Richard v. Schaukal: Studentenrecht und Judenfrage. Tatsachen und Grundsätzliches

In Österreich geht gegenwärtig ein Kampf um das Studentenrecht, welches durch das Bedürfnis studentischer Selbstverwaltung notwendig gemacht wird. Dabei wird eine Gliederung auf volksbürgerlicher Grundlage angestrebt, da nur homogene Gruppen arbeitsfähig erscheinen; da andererseits die Studentenschaft in Österreich insoferne recht vielgestaltig ist, als an einzelnen Hochschulen beinahe zwei Drittel der Studentenschaft Nichtösterreicher sind und an allen Hochschulen die Zahl der Nichtdeutschen verhältnismäßig sehr groß ist. Gegen solche Gliederung der Studenten nach volksbürgerlichen Gesichtspunkten läuft nun das Judentum Sturm, weil seine Studentenkreise sich in einer eigenen Gruppe zu organisieren hätten, wobei die übermäßig starke Position des Judentums im Vergleich zu seinem Zahlenanteil an der Bevölkerungsziffer allzu sichtbar in Erscheinung treten würde. Das zum Verständnis der folgenden Darlegungen. Wir geben sie wieder als das beachtenswerte Bekenntnis einer berühmten Schriftstellerpersönlichkeit, ohne die dabei gebotene Behandlung der Judenfrage als erschöpfend zu betrachten.

                                                                               Die Schriftleitung.

Der Sturmlauf der jüdischen Presse gegen das durch ein Gesetz zu erneuernde Studentenrecht hat begonnen. „Zweierlei Volk in Österreich“ überschreibt die „Neue Freie Presse“ einen Leitartikelsatz, der sich nicht entblödet, von „einer künstlichen Scheidewand“ zu verkünden, die zwischen Angehörigen des deutschen Volkes 1 aufgerichtet werden solle, und zu erwägen, daß „sich die ganze Aktion gegen die jüdischen Angehörigen des deutschen Volkes richtet, jedenfalls gegen jenen Teil, der sich durch Erziehung, Erlebnis und Schicksal mit der deutschen Nation untrennbar verbunden fühlt“. (Der andere Teil sind offenbar die Zionisten, also die Juden, die so ehrlich sind, sich als Juden, als Angehörige des jüdischen Volkes zu bekennen.) Die „Wiener Sonn- und Montagszeitung“ bringt gar einen – von der „Neuen Freien Presse“ alsbald übernommenen – Aufruf, der mit Riesenbuchstaben „Ein Hitler-Gesetz in Österreich“ in drohende Aussicht stellt und gegen den „schmachvollen Entwurf des neuen Studentenrechtes“ in bunter Reihe Sozialdemokraten und Landbund, den Kardinalfürsterzbischof von Wien, die „tonangebenden“ Christlichsozialen, den Altbundeskanzler Dr. Seipel, Minister Dr. Dollfuß als „den Führer der katholischen Studentenschaft“, „das freiheitliche Bürgertum“, Kanzler und Vizekanzler und endlich gar die Mütter, ja den Friedensvertrag von Saint-Germain nebst den Staatsgrundgesetzen und der Moral  zu Hilfe ruft gegen „freche Hakenkreuzbuben“.

„Wir sind unter keiner Bedingung geneigt, von unserer Forderung“ – „daß diese Studentenordnung …endgültig verschwinden muß“ – „abzugehen, und wir werden, auch wenn das Haus in Trümmern gehen sollte, niemals zulassen, daß dieser Entwurf zum Gesetz erhoben wird.“ Ein „Kupon“ ist angeschlossen, der um Unterschriften zum „Protest gegen ein auf dem Rassenprinzip aufgebautes Studentenrecht“ wirbt.

Die Juden fühlen sich, wie man aus diesen Drohungen ersieht, trotz ihren Jammer- und Hilferufen sehr stark und rechnen mit der leisetreterischen Feigheit, die sie uns so hat über den Kopf wachsen lassen. Wer den Dreyfushandel in der aktenmäßigen Darstellung von Henri Dutrait-Crozon („Précis de l’Affaire Dreyfus“, Edition définitive. Paris, Nouvelle Librairie Nationale 1924) gelesen hat, wer sich an Hilsner und Halsmann erinnert, wer die Schnitzler-Apotheose und eben erst die lächerliche Stephan Zweig-Huldigung über sich hat ergehen lassen, ja wer nur einen Blick ins tägliche „führende“ Blatt wirft, um dort Finanz- und Kunstwelt, Geschäft und Vergnügen, Bildung und Erziehung von Juden beherrscht, verwaltet und nach ihrem Bild erstellt zu sehen, der kann sich nicht mehr darüber wundern, daß man im Lager der Weltüberwinder diese herausfordernde Sprache führt. Worum handelt es sich? Daß die „Deutsche Studentenschaft“, richtiger und deutlicher gesagt, die nach Abstammung und überlieferter Kultur dem deutschen Volk zuzuzählende Studentenschaft, ihre Volkszugehörigkeit zu bewußtem Volkstum zu erbilden, dieses ihr Volkstum in gemeinsamer Arbeit zu pflegen und zu stärken, befugt und in der Lage sei. Dasselbe Recht soll allen anderen Volksgemeinschaften auf akademischen Boden zustehen. „Reinliche Scheidung“, jawohl: klare, aller Vermischung und Verwischung sich widersetzende Gestalt ist das sittlich-ernste und notwendige Ziel des „Studentenrechts“. Sittlich-ernst, denn es geht um die Selbsterhaltung des dem Menschen bestimmenden leiblich-seelischen Erbes; notwendig, denn dieses// Erbe ist bedroht. Von wem bedroht? Von den „jüdischen Angehörigen“ nicht des „deutschen Volkes“ – das ist ein Widersinn und eine bewußte Falschmeldung – sondern der „Nation“, das ist der durch Bekenntnis zu deutschen Sprache und Staatsbürgertum in einem der zwei deutschen Staaten, dem deutschen Reich und dem österreichischen Bundesstaat als „Staatsvolk“, richtiger als Staatsbevölkerung festgestellten „Einheimischen“. Die Überflutung der Hochschule druch den stetigen Zustrom nicht so sehr von „Ausländern“ wie von einheimischen Juden ist eine nicht zu bestreitende Tatsache. Ich habe seit dem Kriege durch viele Jahre an der philosophischen  Fakultät der Wiener Universität als Hörer verschiedener Fächer, insbesondere der alten und der neueren Sprachen, den Vormittag verbracht, zwei meiner Kinder haben innerhalb dieser Zeit ihre akademischen Studien, in Jus und Philosophie, vollendet. Ich spreche also aus Erfahrung, nicht vom Hörensagen. Es gibt zumal auf dem Gebiete der Literaturgeschichte, Vorlesungen, in denen die jüdischen Besucher, in auffallender Weise die jüdische Weiblichkeit, überwiegen. Ähnlich ist es in der Rechtswissenschaft bestellt, und daß die medizinische Fakultät  schon seit geraumer Zeit ein ausgesprochen jüdisches Gepräge zeigt, ist bekannt. Wer die Gegend der Hochschule für Welthandel betritt, erhält schon auf der Gasse denselben, man darf wohl sagen, „befremdenden“ Eindruck. Ja, es ist nicht zu leugnen, daß das massenhafte Auftreten von Juden – wie auf akademischen Boden so an allen Stätten der Erholung und der Unterhaltung, Badeanstalten und Badeorten, Theatern, Konzertsälen, Tanzräumen, Kaffeehäusern, Hotels – auf den Nichtjuden, der sich zwischen seinen Wänden in eine fremdartige und nicht eben einnehmende Welt verschlagen dünkt, mehr als peinlich, daß es bedrohlich wirkt. Mag er Erwägungen darüber anstellen, daß diese bereits als Verjudung zu bezeichnende Inanspruchnahme eines großen, ja des im Bereiche städtischen Daseins größeren Teils des Verkehrslebens, der öffentlichen  Geselligkeit vor fünfzig, ja noch vor dreißig Jahren nicht als möglich gegolten hätte, daß das Emporkommen der Juden aus einer bescheidenen Teilnahme am allgemeinen Zustand zu solcher den Anblick dieses Zustands verwandelnden Ausbreitung einem Wohlwollen, einer Nachsicht, einer Duldung zu Lasten geschrieben werden müsse, die es sich nicht verhehlen können,  ausgenützt, mißbraucht worden zu sein; mag er, nachdenklich, dem Geist einer empfindsamen und verwaschenen „Menschlichkeit“ , wie sie seit den bürgerlichen Revolutionen allenthalben eben die Juden im Munde führen, die Schuld beimessen an einer nachgerade unausstehlichen Vorherrschaft freisinnig-aufklärerischer Wendungen, denen sich, eingeschüchtert, die Kenntnis- und Urteilslosigkeit der Halbgebildeten allzu leichtgläubig unterworfen hatte; mag er sich, ohne solche Betrachtungen anzustellen, nur dem Eindruck hingeben einer ebenso aufdringlichen wie abstoßenden Menge, wie sie ihm allüberall als der zu Erwerb und Genuß durch Anlage, Trieb und Gelegenheit bevorrechtete Stock seiner Mitmenschen entgegenwogt; er fühlt sich an den Rand unbefangenen Gehabens geschoben, ja aus seinen vertrauten Grenzen gedrängt, um die Heimat betrogen durch eine rücksichtslos ihrer Begehrlichkeit fröhnende Schar, die er, unwillig über die Unbilde solcher Behelligung, grollend über seine Wehrlosigkeit gegenüber der geschlossen vorstoßenden, zähen und geschmeidigen Körperlichkeit der Eindringlinge, unwillkürlich als seinen Feind empfindet.2

Das ist die Lage, die die „Judenfrage“ geschaffen hat, eine der wichtigsten, vielleicht die wichtigste Frage unserer Zeit, der Welt des 20. Jahrhunderts. Der Jude hat die Herrschaft über die europäische Gesellschaft angetreten, der jüdische Geist – der Inbegriff des wühlenden Intellektualismus, der zersetzenden Kritik, zugleich der hemmungslosen Sinnlichkeit und Stofflichkeit – verseucht das schlecht verteidigte, diesem Geist in vielen Vorwerken bereits ausgelieferte Abendland. Es gilt, ihm, dem unersättlichen, zerstörungslustigen, Einhalt zu tun, wo man ihm noch aus ungetrübter Besinnung Widerstand zu leisten fähig ist. Das ist vor allem dort der Fall, wo ungebrochene Jugendlichkeit, wahrhaftiges Selbstbewußtsein des zu sich selbst Wachsenden gedeihen: in der Studentenschaft. Man lasse sie nicht durch übelangebrachte Bedenken wehleidiger „Gerechtigkeit“ – die  Juden berufen sie immer nur für ihre Zwecke –, gar durch die von haßerfüllten Schreiern heuchlerisch beschworenen „Grundsätze der Religion“, der „Moral“ am klar erkannten Ziel irre machen. Es handelt sich hier nicht um Religion und „Konfession“, nicht um Nachbarlichkeit, Gastrecht und wie die Schlagworte sonst lauten mögen, es handelt sich nicht – eine freche, kniffige Bezichtigung – um einen Verstoß gegen die sogenannten Friedensverträge: es handelt sich um die eigene Haut, um die eigene Seele, um das unzweifelhafte Recht, auf eigenem Boden zu stehen, in ihm wurzeln zu dürfen, sich ihn nicht unter den eigenen Füßen wegziehen zu lassen, es handelt sich darum, die Zukunft, die düstere Zukunft auszuharren, zu retten, was noch zu retten ist an erbeigentümlicher Art, an volks- und stammestreuer Geistigkeit, kurz an dem, was einen Staat, soll er nicht eine Karawanserei vorstellen, ausmacht: ein sich aus sich selbst erneuerndes, in Boden, Blut und hergebrachter – bei uns also der christlichen – Kultur dauerndes  Staatsvolk.

In: Schönere Zukunft, Nr. 13, 27.12.1931, S. 303-304.


Vgl. dazu den Originalartikel, der hier von Schaukal tendenziös zusammengefasst und kommentiert wird: Neue Freie Presse, 13.12.1931, S. 1.


  1. Alle kursiv gesetzten Textstellen sind im Original gesperrt gedruckt und somit eigens hervorgehoben.
  2. Jeder, der jüdische Freunde hat – ich bekenne mich gern, treu und dankbar für ihre Anhänglichkeit, zu einer Reihe bewährter jüdischer  Jugendgenossen, ebenso wie  ich mich gern, treu und dankbar bekenne zu einer Reihe jüdischer und ‚halbjüdischer‘ Schöpfer, Denker und Künstler, Montaigne, Proust, Bizet, Marées, Offenbach, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Cézanne, Altenberg, Kraus – , jeder, der jüdische Freunde und schätzbare Bekannte hat, weiß, unterscheidend zwischen dem einzelnen und der Gesamtheit, zwischen den eben als einzelne in der Gemeinschaft von Erziehung, Gepflogenheit, Erinnerung aufgegangenen alteingesessenen Angehörigen dieses von uns grundverschiedenen Volkes und dem als Ganzes seine Verschiedenheit, seine Gegensätzlichkeit nur um so stärker betonende Volke selbst, daß es sich bei der unvermeidlichen, der aufgenötigten Auseinandersetzung mit dem Judentum als Fremdkörper um Ideen, Grundgefühle und Grundsätze, um Weltanschauungs- und Machtfragen, nicht aber darum handelt, ob einem im besonderen Fall etwa ein Jude oder ‚Judenstämmling‘ – was bei der Beharrlichkeit des jüdischen Blutes dasselbe deutet – aus triftigen Gründen und ehrlichen Empfindungen angenehmer, lieber sei als so mancher sei es rasseloser oder rassereiner ‚Arier‘. Auch wird kein Unbefangener leugnen, daß dem jüdischen Volke neben unleidlichen in hohem Grade Eigenschaften zumal der Vernunft zugutekommen, die es vor anderen auszeichnet. Was wir als jüdisch erachten und bekämpfen, ist ein Verhalten und  Zusammenhalten, das sich, auch in scheinbarer Anlehnung, immer wieder auf unverkennbare Weise gegen uns und unsere Selbstbestimmung kehrt. – Man lese, was die „Neue Freie Presse“ im Leitaufsatze vom 13.12.31 gegen die „widerwärtige Sophistik“ der Verteidiger des Studentenrechtes auf volksbürgerlicher Grundlage ins Treffen führt bei „Bestrebungen, die auf eine Monopolisierung des Deutschtums hinausläuft (sic, statt = „laufen“) in den Händen der Rassenjünglinge…“ Es sollen nach der N.F.P. alle „Mißliebigen“ aus der (deutschen) „Studentennation“ ausgeschlossen werden, „auch wenn sie sich aus vollem Herzen und nach ihrer ganzen Gemütsverfassung zum Deutschtum bekennen“. Unter den Beispielen, welche Bekenner, lebten sie heute, von dieser Gewalttat betroffen würden, marschiert an erster Stelle „der Dichter der Loreley“ auf, „der Schöpfer des neuen Stils der deutschen Sprache (!), Heinrich Heine…Wann wäre wohl das Wort Sophistik besser angebracht als  bei der Beschwörung dieses Kronzeugen für deutsche „Gemütsverfassung“!

A.F.S [Adalbert F. Seligmann]: Die Frau als Künstlerin.  

(Zur Ausstellung im Hagenbund.).

Der Weltkongreß der Frauen, der in diesen Tagen wohl an tausend seiner Mitglieder und Gäste in unserer Stadt versammelt, hat wie ein warmer Frühlingsregen auch auf dem bei uns sonst nicht allzu ergiebigen Boden der bildenden Kunst – ergiebig im materiellen Sinn! – ganze Pflanzungen aufsprießen lassen. Da ist zunächst eine Ausstellung in den Terrassensälen der Neuen Hofburg, von der Gruppe „Wiener Frauenkunst“ veranstaltet – der Bericht darüber ist eben erschienen -, die das Ewig-Weibliche in seinen radikal modernen Spielarten vorführt; dann die von der Vereinigung bildender Künstlerinnen Oesterreichs in den Räumen des Hagenbund (1. Zedlitzgasse 6) unter dem Titel „Zwei Jahrhunderte Kunst der Frau in Oesterreich“ kürzlich eröffnete, die auch höchst interessante Blicke in die Vergangenheit tun läßt. Bald soll auch im Theseustempel (Volksgarten) eine Nachlaßausstellung der Bildhauerin Anna Margarethe Schindler eröffnet werden, auf die man gespannt sein darf, denn die kürzlich in jungen Jahren Verstorbene war ohne Zweifel eine der stärksten Begabungen, die in letzter Zeit hervorgetreten sind. Auch auf eine bescheidene, rasch improvisierte Schulausstellung der „Wiener Frauenakademie“ (1. Bäckerstraße 1) darf hingewiesen werden, weil aus dieser vor einem Menschenalter gegründeten Anstalt zahlreiche namhafte Künstlerinnen hervorgegangen sind, die wir in den beiden eben genannten Ausstellungen vertreten finden. Schließlich mag man auch die prächtige Maria-Theresia-Ausstellung in Schönbrunn damit in einen gewissen Zusammenhang bringen, da in ihr das Wirken einer der genialsten Frauen, die jemals gelebt haben, auf imposante Weise vor Augen geführt wird.

            Naturgemäß drängt sich hier die Frage auf: Haben die in den erwähnten Kunstausstellungen gezeigten Werke etwas Gemeinsames, das man als das spezifisch Weibliche in der Kunst bezeichnen könnte? In dieser Hinsicht sind die Antworten lehrreich, die auf eine, von den Veranstalterinnen der „Wiener Frauenkunst – Ausstellung“ an zahlreiche Persönlichkeiten gerichtete Rundfrage: „Wie sieht die Frau?“ eingelaufen, im Katalog dieser Ausstellung abgedruckt erscheinen. Während hier sonderbarerweise die Aueßerungen einiger Kunstgelehrten nur ganz vage und allgemeine, zum Teil ins Abstrakt – Nebelhafte sich verlierende Ansichten wiedergeben, sind es zwei Frauen, Marianne Hainisch und Rosa Mayreder, die sich am präzisesten fassen und meines Erachtens in der Hauptsache den Nagel auf den Kopf treffen. Beide sagen kurz und bündig, daß die künstlerisch veranlagte Frau nicht als Geschlechtswesen, sondern als Individuum ficht. „Je höher die Begabung, desto weniger machen sich die spezifischen Geschlechtseigenschaften geltend. Ich könnte nicht sagen,“ fährt Rosa Mayreder fort, „inwiefern die Werke der Rosa Bonheur, der Tina Blau, der Käthe Kollwitz, der Feodorowna Ries“ – wir zitieren nur einige der von ihr angeführten Namen – „spezifisch weiblich gesehen sind. Früher einmal hat man das spezifisch Weibliche in der Neigung zur minutiösen Durchbildung, zum Miniaturhaften, in der Vorliebe für das Detail erkennen wollen – aber da müßte man die meisten Zeitgenossen Waldmüllers“ – und diesem selbst, fügen wir hinzu! – „die Männlichkeit aberkennen … Die größte Verherrlichung der Mutterschaft in der Malerei, die Darstellung der Madonna, stammt nicht von Frauen“, usw. Auch Maler A.D. Goltz und der Schreiber dieser Zeilen haben in ihren Antworten Aehnliches, wenn auch nicht so scharf formuliert, gesagt. Es ist ja auch einleuchtend genug! Begegnen wir doch im Leben nur zu oft Männern, die eigentlich alte Weiber sind und Frauen, die die Hosen anhaben; in der Kunst sogar solchen, von denen das letztere auch im wörtlichen Sinne gegolten hat, wie etwa von Rosa Bonheur, von George Sand und auch von einer gelegentlich dieser Ausstellung für die weitere Oeffentlichkeit neuentdeckten Wiener Künstlerin, Hermine Gartner, die in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gelebt hat. Da in den sechziger Jahren den Frauen das Kopieren in der Akademie nicht gestattet war, zog sie Männerkleidung an und behielt diese auch später bei. Im Katalog der „Zwei-Jahrhundert-Ausstellung“ wird ihr abenteuerlicher Lebenslauf und ihr tragisches Ende kurz geschildert. Ihr ausgestelltes Selbstporträt ist eine vortreffliche Arbeit, die aber keineswegs besonders „männlich“ anmutet.

            So viel scheint sicher – von einem gewissen Qualitätsniveau an spielt das „Weibliche“ oder „Männliche“ keine Rolle mehr. Wenn man sich im Mittelsaal der Ausstellung im Hagenbund umsieht, wird man vielleicht an den Werken aus dem achtzehnten und der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, also an den Porträts der Carriera, der Angelika Kauffmann (5, 6), der Vigee-Lebrun (9), an den Blumenstücken der Pauline Koudelka-Schmerling (11), den Miniaturen der Henriette v. Brevillier (29)  – wir haben gleich die besten Stücke mit ihren Nummern bezeichnet – das Glatte, Gefällige, dem Auge Schmeichelnde als „weiblich“ bezeichnen wollen; doch darf man nicht vergessen, daß zu jener Zeit die Bilder der Grassi und Lampi, der F. X. Petter und anderer Blumenmaler, die Aquarellporträts von Johann Ender usw. auf das heute keineswegs „männlicher“ wirken. Das lag eben in der Zeit. Vor einem Gemälde, wie es die wundervolle Praterlandschaft der Tina Blau (36) ist, denkt man überhaupt nicht daran, ob es ein Mann oder eine Frau geschaffen hat. Das Bild ist nahezu fünfzig Jahre alt, zur selben Zeit entstanden, wie die große Praterlandschaft, die im Belvedere hängt, und wirkt in seiner unglaublichen, mit den einfachsten und ehrlichsten Mitteln erzielten Lichtfülle als sei es eben von der Staffelei gekommen. Seinerzeit wurde diese Malerei nur von wenigen ganz nach Verdienst gewürdigt, und ich glaube, die bescheidene Künstlerin selbst war sich nicht klar darüber, was sie da eigentlich geleistet hatte. Als das erwähnte große Praterbild – es dürfte im Jahre 1881 gewesen sein – zur Ausstellung im Künstlerhaus eingereicht wurde, wäre es bei einem Haar zurückgewiesen worden. Es war so rücksichtslos hell und farbig, daß es zu den anderen Bildern absolut nicht passen wollte und überall ein „Loch in die Wand“ riß. Damals legte sich Makart ins Mittel und erklärte der Jury, dies sei das beste Bild der ganzen Ausstellung; so erhielt es schließlich sogar einen besonders guten Platz und schon im folgenden Jahr im Pariser Salon die mention honorable.

            Denkt man, wie gesagt, vor den Bildern der Blau gar nicht daran, ob ihr Schöpfer ein Mann oder eine Frau gewesen, so möchte vor denen ihrer bedeutendsten Rivalin, Olga Wisinger-Florian (es sind drei Werke von ihr im ersten Seitenraum linkt ausgestellt), jeder, der ihre Signatur nicht kennt, darauf wetten, daß ein Mann sie gemalt habe. Sie sind mit einer so draufgängerischen Verwegenheit hingespachtelt, daß niemand eine zarte Frauenhand darin erkennen würde. Schade, daß nichts aus ihrer früheren Zeit hier zu sehen ist, keines von den reizenden, ganz dünn und delikat gemalten Feldblumenstücken mit Schmetterlingen und dunklem Grund! Der Katalog tut ihr ein wenig unrecht, wenn er sie nur „als Blumenmalerin geschätzt“ sein läßt, und wenn die Selige wüßte, daß besagter Katalog von ihren Auszeichnungen nur zwei anführt und verschweigt, daß sie Officier de l’Academie gewesen, so würde sie sich im Grab umdrehen, denn sie hielt etwas auf solche Dinge! Die unheimlich groß gewachsene, fabelhaft häßliche, aber höchst geistreiche, amüsante und redegewandte Frau war als Künstlerin vielseitiger, beweglicher, virtuoser als Tina Blau (wenn mir die letztere gleichwohl als die bedeutendere Individualität erscheint), auch stand sie beständig im Mittelpunkt eines regen geselligen Großstadtlebens, während Tina Blau – zum Teil auch ihrer Schwerhörigkeit halber – nur ungern unter Menschen ging, besonders seitdem sie nach einer siebenjährigen, aber überaus glücklichen Ehe Witwe geworden war. Im Menschlichen wie im Künstlerischen zwei Gegensätze, wie man sie ausgeprägter wohl selten antreffen wird.

            Die enorme technische Bravour der späteren Wisingerschen Malerei erregte vor fünfundzwanzig, dreißig Jahren das größte Aufsehen, gelegentlich sogar Widerspruch! Heute haben sich die Maßstäbe verändert. Man sieht in dieser Ausstellung eine große Zahl von Arbeiten, die gerade in dieser Hinsicht sehr weit gehen und dabei – was ja die Hauptsache ist – auch qualitativ vortrefflich sind. So etwa – wir gehen in der vom Katalog angezeigten Richtung durch die Säle – das breit hingestrichene Männerporträt von Friederike v. Koch (98), die „lettische Bäuerin“ (107) von Therese Mór, ein Bild das in eine öffentliche Galerie gehört, den alle Zufälligkeiten virtuoser Aquarelltechnik ausnützenden „Spaniel“ von Vilma Friedrich (109), die koloristisch brillanten Blumenstücke von Marie Magyar (151, 153), die meisterhaften Hundebilder von Norbertine Breßlern-Roth (164, 166, 167), einer der stärksten Individualitäten unter den lebenden österreichischen Malerinnen (die sich nur davor hüten muß, in Manier zu verfallen!), das wuchtige Vernis-Mou-Blatt von Pepi Weixlgärtner (200), die geradezu ungestüm hingeworfenen Schneebilder der hochbegabten Katharina Wallner (220, 222), die freilich in ihrer exzessiven Art schon an die äußerste Grenze gehen und denen ich darum manche frühere Arbeiten der Künstlerin vorziehen möchte; die monumental gesehenen Figurenstudien und das großzügig einfache Pastellporträt von Johanna Kampmann-Freund; unter den Plastiken die imposante Halbfigur des Grafen Wilczek von Feodorowna Ries (Saal II), ein Werk, das hier durch die zerstreute Beleuchtung und das Material (getönter Gips) nicht so zur Geltung kommt wie in Bronze an seinem Standort vor dem Haus der Rettungsgesellschaft; die wundervolle „Schreitende“ von Anna M. Schindler (Saal V), und die leider etwas zu tief placierte Marmorfigur der verstorbenen Nora Exner, an herbe italienische Renaissanceplastiken gemahnend. Alle die genannten und noch manche andere in dieser Ausstellung gezeigten Werke, die zu erwähnen uns hier der Raum fehlt, enthalten auch nicht die Spur irgendwelcher Süßlichkeit, Glätte oder gefälligen Oberflächlichkeit. Auch dies ist ein Zeichen der Zeit. Für die künstlerisch schaffende Frau von heute fallen zahllose psychische – und sogar physische! – Hemmungen weg, die noch vor dreißig Jahren wirksam waren. Ja, in extrem modernen Ausstellungen von Frauenkunst finden wir den Ausdruck dieses Freiheitsgefühles oft zur forcierten und innerlich hohlen Kraftmeierei ausgeartet.

            Es wäre darum ganz falsch, anzunehmen, daß eine losgeherische oder brutale Skizzenhaftigkeit an sich schon etwas „männliches“ an sich habe. Wir brauchen da nur an Jan van Eyck, Memling, Dürer, Holbein, Terboch, Ingres zu denken, um uns klar darüber zu werden, daß auch die subtilste Durchbildung, die feinste Detailmalerei nicht den Eindruck des Weiblichen oder sagen wir noch bezeichnender, des Frauenzimmerhaften zu machen braucht. Es kommt eben auch hier wieder nur auf die Qualität an! Erreicht diese eine besonders hohe Stufe, so denkt niemand mehr an solche Unterscheidungen. Auch dafür bringt die hier besprochene Ausstellung einige charakteristische Beispiele: im Mittelsaale das Obststilleben der Rosalie Amon (13), so gut wie ein Waldmüller, im Seitenraum I, links das winzige Stilleben von Camilla Friedländer (67), das in Komposition und Haltung freier, daher sozusagen „männlicher“ wirkt als die ähnlichen noch heute gut bezahlten Bildchen von Max Schödl; ferner die geradezu mikroskopisch durch-geführten Tierstudien von Hilde Gräfin Vitzthum gebornen Goldschmidt (IV, 112 bis 114), die nicht nur als technische Leistungen stupend sind, sondern ein Einfühlen in die Natur verraten, wie es in dieser Intensität nur ganz selten zu finden ist. Auch der mit der Feder gezeichnete Männerkopf von Martha E. Fössel (123) oder die Pflanzenstudien von Mila v. Luttich (121) wären etwa noch auszuführen und nochmals auf das schon erwähnte Blumenbild der Baronin Koudelka (Mittelsaal, Nr. 11) aufmerksam zu machen, eine Arbeit, die kurzweg als Meisterstück bezeichnet werden muß. Hier sei auch noch auf das Mädchenbildnis (VII, 206) von Luise Fränkel-Hahn hingewiesen, ein Kniestück, das, obwohl lebensgroß, mit einer an die Quattrocentisten erinnernden Subtilität aller Details durchgeführt, doch nichts an Lebendigkeit und Bewegung verloren hat.

            Werke dieser Art müssen besonders hervorgehoben werden, weil sie gerade bei vielen sogenannten „Fachleuten“ heute auf vollkommenes Unverständnis stoßen, ein Unverständnis, das erstaunlich wäre, wüßte man nicht, daß diese Sorte von Kennern Bilder nicht mit dem Sehorgan, sondern mit dem Literaturorgan betrachtet und dort wo sie ihr reichlicher Fremdwörtervorrat im Stiche läßt, nichts mit dem Kunstwerk – und mit sich – anzufangen weiß.

(Ein Schlußartikel folgt.)

In: Neue Freie Presse (Morgenblatt.), 30.5.1930, S. 1-3.

Felix Salten: Motordefekt

            Neulich fuhr jemand, den ich kenne, in einer Autodroschke nach Hause und hatte dann mit dem Chauffeur ein kurzes, aber bezeichnendes Gespräch. Eigentlich darf sich dieser Jemand das Autofahren ja nicht erlauben. Allein er kann dem Leichtsinn nun einmal nicht lassen, er denkt zu oft: was soll das schlechte Leben nützen? er wohnt außerdem in einer entlegenen Gegend, und so erlaubt er sich trotzdem immer wieder, was ihm die ernste Ueberlegung, die er nicht hat, und die Einnahmen, die er gleichfalls nicht hat, verbieten müßten. Es war Nacht. Der Wagen vollführte seltsame Hopser, geriet etliche Male, wenn er um die Ecke biegen wollte, mit den Rädern auf den Bürgersteig, drohte jeden Augenblick stehen zu bleiben, ruckte und stieß wieder vorwärts; kurz, es war alles, was man will, nur kein Vergnügen.

            Am Ziel erkundigte sich mein Jemand, ob der Motor defekt sei. „Oh nein,“ kam die Antwort, „dem Motor fehlt einstweilen noch gar nichts. Defekt bin bloß ich. Wir werden ja sehen, wie lange der Motor mich aushält..“ Das klang anders als der hemdärmelige Dialekt, den man sonst bei solchen Gelegenheiten hört. Es war die Sprache eines gebildeten Menschen. Der Fahrgast stand verwirrt und sagte: „Komisch.“ Doch er wurde belehrt. „Was wollen Sie, mein Herr,“ sprach der Autolenker resigniert, „das ganze Leben ist komisch. Ich bin erst drei Wochen Chauffeur. Und diesen Wagen da habe ich heute nacht zum erstenmal. Da weiß ich noch nicht recht Bescheid damit. Tja,“ setzte er hinzu und hatte offenbar das Bedürfnis, sich mitzuteilen, „ich fahr‘ immer in der Nacht. Bei Tag schähm‘ ich mich. Denn ich bin akademischer Maler!“

            Was muß dieser Mann für Entbehrungen durchgemacht, wie viel Kummer, welche Fehlschläge mag er gehabt, wie viel teure Illusionen mag er bestattet haben, ehe er den tapferen Entschluß faßte, Chauffeur zu werden, um das tägliche Brot zu verdienen. Nicht alle Künstler sind so resolut, wie dieser Mann, der es vorzieht, sich des Nachts mit einem Motor herumzuschlagen, statt Leinwand um Leinwand zu bepinseln, die keiner kauft. Nicht alle Künstler, die hungern, geben so entschieden einen Beruf auf, den sie einst hoffnungsvoll, schaffensfreudig, begeistert und opfermutig erwählten. Nicht alle können das. Viele sind zu alt, viele sind zu zart, viele glauben zu fest an sich und ihre Erdensendung. Und viele sagen sich, daß die Konkurrenz in allen anderen Erwerbszweigen, die ihnen außerdem fremd sein müßten, ohnehin schwer auszuhalten wäre; daß die allgemeine Arbeitslosigkeit es aussichtslos scheinen lasse, irgendein Plätzchen, und sei es das bescheidenste, zu erobern. Aber allen Künstlern geht es furchtbar. Den berühmten wird es hart genug, sich zu halten. Die Namenlosen hungern. Sie hungern ohne Unterschied des Talents. Die Fähigen genau so wie die Nichtskönner. Die Hypermodernen ebenso wie die zu Kompromissen Erbötigen. Die Maler, die Zeichner, die Bildhauer, besonders die Bildhauer hungern. Es ist ein Jammer.

            Manchmal schreibt einer von ihnen dem Unterrichtsminister einen offenen Brief. Dann richtet ein anderer wieder ein offenes Sendschreiben an den Finanzminister. Dann wenden sie sich an die Stadt Wien. Oder sie erlassen einen Aufruf. Lauter Notschreie, lauter Hilferufe. Sie verhallen auch nicht ungehört. Jeder ist erschüttert. Aber die Not besteht fort, weil die Hilfe ungenügend ist. Sie kann wohl auch kaum ausreichen, diese Hilfe. Denn der österreichische Staat ist klein und arm. Außerdem wird es niemals ganz gelingen, Künstlern zu helfen, denen geholfen werden soll.

            Als während des Krieges die Kunstfürsorge gegründet wurde, flüsterten erfahrene Männer einander zu, dieses gutgemeinte Unternehmen werde mehr Schaden anrichten, als Nutzen schaffen. Flüsterten. Denn damals konnte man Wahrheiten nicht laut aussprechen. Auch heute noch ist es, wie übrigens immer, eine riskante Sache um solche Wahrheiten. Die Meinung, die damals im Flüstertone umging, war, man werde Unterstützung niemandem verweigern können, auch jenen nicht, die schon in Friedenstagen durch ihre Talentlosigkeit zum Darben verurteilt blieben. Die Unterstützung jedoch hindere die Unfähigen an der Selbsterkenntnis, halte sie auf immer fest in dem Künstlerberuf, der für sie doch verfehlt sei, legitimiere sie fälschlich darin. Zeitlebens würden sich diese Unzulänglichen als Vollwertige fühlen, würden sich und anderen zeitlebens beweisen, daß sie echte Künstler sind, denn sie haben ja doch den Beistand der Kunstfürsorge gefunden. Der beste, der unwiederbringlich geeignete Moment, so hieß es, eine Zwangsauslese unter den viel zu vielen Malern und Bildhauern herbeizuführen und den Beruf von hoffnungslosen Mitläufern zu entlasten, dieser erziehlich kostbare Moment werde durch die Kunstfürsorge versäumt und vereitelt. Mag sein, daß es mit diesen Bedenken soweit seine Richtigkeit hat. Möglicherweise hätte der oder jener den Pinsel, ein anderer das Modellierholz weggelegt, um zum eigenen Heil ein nützliches Gewerbe zu ergreifen. Ich glaube nicht daran.

            Diese Wahrheit existiert im Grunde doch nur als eine theoretische. In die Praxis wäre sie kaum umzusetzen gewesen. Nur vereinzelte Fälle, wenn sie sich ereigneten, könnten uns als Ausnahmen gelten, durch welche die Regel bestätigt wird. Denn niemand glaubt so fest, so eigensinnig, so unbelehrbar an sein Talent, wie der Talentlose. Kein Meister hat die ruhige Selbstsicherheit, die dem Dilettanten verliehen ist. Weit eher lässt sich ein Kaukasier einreden, er sei ein Kongoneger, als ein Nichtskönner zu überzeugen wäre, daß er nichts kann. Es ist leicht, ein Genie in seinem Selbstvertrauen zu erschüttern, ihm sein Schaffen zu verleiden, aber es bleibt ganz unmöglich einen Stümper in der Freude am eigenen Ich zu stören, ihm die Arbeitslust auch nur für eine Stunde zu trüben. Diese Euphorie hat die Natur ihren Stiefkindern des Geistes nun einmal geschenkt und man muß sich damit abfinden. Es handelt sich auch gar nicht um diese armen Teufel, so peinlich es sein mag, daß auch sie sich an die Schüssel drängen und mitzuessen begehren. Das Traurige, das Wichtige an diesen traurigen Zuständen: die Schüssel ist leer. Leer selbst für die Besten.

            Nicht bloß den heutigen Künstlern geht es schlecht. Der Kunst selber ergeht es heute so übel wie niemals vorher. Daß die Künstler jetzt so hart um das bißchen Dasein ringen müssen, liegt nur zum geringen Teil an den flauen wirtschaftlichen Verhältnissen. Niemand hat Geld. Das stimmt freilich. Aber es ist, andererseits und zum Donnerwetter, doch wieder nicht so ganz richtig. Die Leute haben Geld für alles, was sie erheitert, was sie aufregt, was ihnen gespanntes Interesse abgewinnt, was sie überrascht, verblüfft oder sie als ein Wunder erhebt. Die wirtschaftlichen Zustände sind niederträchtig. Die Geschäfte gehen erbärmlich. Die Verarmung steigt. Wahr! wahr! Dennoch bleibt es ebenso wahr, daß die Theater nie dagewesene Serienerfolge hatten, wenn sie nur das rechte Stück aufführten. Die Kinos werden gestürmt, wenn ein guter Film zu sehen ist. Ein Fußballmatch bringt an einem einzigen Nachmittag mehr Einnahmen als ein täglich ausverkauftes Theater in einer Woche. Und beim Derby gibt es am Totalisateur einen Milliardenumsatz. In dieser angeblich ruinierten Stadt wächst die Anzahl der Automobile binnen zwei kurzen Jahren um zehntausend, gar nicht zu reden von den fahrenden Kochtöpfen, den Motorrädern, die sich wie die Feldmäuse vermehren. Die Kunst aber geht vergebens nach Brot! Sie schreit, sie bittet, sie jammert nach Brot. Und niemand findet sich, der ihr ein Stückchen darreicht.

            So wenig Sinn für die Kunst wie heute scheint es noch nie zuvor gegeben zu haben. Es ist ja schon nicht viel Sinn für die Dichtung vorhanden und nicht übermäßig viel für Musik. Was der Dichtung an Aufmerksamkeit gewidmet war, haben die Sketches, die Revuen weggenommen. Und die Filme. Was der Musik geblieben ist, haben die Jazzorchester verschlungen. Selbst der Film muß sich zur Wehr setzen. Schon früher hat sich im Kino kein Mensch um den Autor eines Films gekümmert. Nur um die Filmstars, um die weiblichen und männlichen, ging der Wettlauf aller Huldigungen. Jetzt aber beginnen Filme zu erscheinen, in denen die Einzelpersönlichkeit ausgelöscht ist, wie der „Panzerkreuzer Potemkin“, und sie zeigen Meisterleistungen von einer neuen, atemraubenden Art. Es kommen Filme, in denen überhaupt kein Mensch mehr auftritt. Nur Tiere sieht man und ist hingerissen. „Das Blumenwunder“, das in der „Urania“ gezeigt wird, bringt nur Blumen, kein einziges Tier. Und die Menschen, die ab und zu darin auftauchen, stören bloß, gehören nicht dazu, verderben den ungeheueren Eindruck, indem sie ihn banalisieren und in Kitsch verwandeln. Eine neue, ungeahnte, an ergreifenden, spannenden, erhabenen Momenten überreichte Welt öffnet sich da unseren Blicken. Eine Welt, die ganz unverbraucht ist. Geheimnisse, die wir nur ahnten, bieten sich entschleiert dar. Wie mächtig ist die Wirkung, die ein Tier ausübt. Jeder Schmetterling, der aus der Puppe bricht und seine Flügel breitet, jede kleine Schlange, die aus dem Ei schlüpft, spielt Jannings und Henny Porten und Douglas Fairbanks und Charlie Chaplin an die Wand. Mächtiger noch sind die Blumen, die wir nun blühen, ist das Gras, das wir jetzt wachsen sehen. Eine Schlingpflanze, die in der Luft nach Halt tastet, Fliederdolden, die sich prangend erschließen, Zyklamen, die ihre Knospen öffnen und ihre Blütenblätter zurückschlagen, Kakteen, die ihre blühenden Triebe emporjagen und welkend niedersinken lassen, Sonnenblumen, die sich strahlend auftun, dazu das rhythmische Atmen der Blätter, der Sträucher und Gräser,.. keine Tragödie kann diese Kraft des Eindrucks erreichen, kein Bildwerk dies Entzücken und diese Nachdenklichkeit geben. Der Photographie, der es ja schon gelungen ist, Hunderte von Aufnahmen in der Sekunde zu machen und die rasend schnellsten Begebnisse des Daseins in beschauliche Sichtbarkeit zu zerlegen, der Photographie glückte es hier, die Bewegung von vier, von acht Stunden in eine Sekunde der ### zu pressen. Damit hat sie das Leben, das Wachsen, das Werden, beinahe könnte man sagen, das Bewußtsein der ganzen Pflanzenwelt für unser Auge sichtbar, für unsere Seele begreiflich werden lassen.

            Die photographische Technik ist den bildenden Künsten nicht hold. Der Kampf begann, da vor mehr als dreißig Jahren die Kodak-Kamera über die ganze Welt verbreitet wurde. Damals mußten in den illustrierten Blättern die Spezialzeichner der Momentaufnahme weichen und sehr viele, sehr begabte Künstler wurden brotlos. Der Projektionsapparat wird manchen Maler aus den Theatern vertreiben. Und die neuen Errungenschaften der Photographie scheinen eine Epoche einzuleiten, in der die Malerei noch weniger Boden haben wird als bisher. Aber es ist ja nicht die Photographie allein, von der die bildenden Künstler verdrängt werden.

            Alle Kunst ist seit zehn Jahren durch die Wirklichkeit übertroffen, überholt, übertrumpft. Alle Kunst ist seit zehn Jahren von der Wirklichkeit glatt an die Wand gespielt worden. Die Wirklichkeit hat Ereignisse gebracht, Tragödien, Grotesken, Dramen zum Schluchzen und Lustspiele zum Wälzen,.. kein Künstler mag bessere ersinnen. Die Wirklichkeit hat Gestalten erschaffen, Helden und Dulder, Hanswurste und Schurken, wie sie niemals die Phantasie eines Dichters, Malers oder Bildhauers gebar. Während dieses selben Dezenniums hat die Technik Märchen in reales Leben verwandelt, hat nie Geträumtes plötzlich fertig vor die überwältigte Menschheit hingepflanzt. Was man vor drei Tagen noch nicht zu denken wagte, was man ehegestern für unmöglich hielt, gestern noch verlachte, ist heute wirklich und wahrhaft geworden und gehört morgen schon zum selbstverständlichen Alltag. Der Rekord ist das Zeichen und die Parole dieser Gegenwart. Die Höchstleistung allein gilt im orkanartigen Vorwärtsstürzen dieser Welt. Wenn in den Zeiten so vieler Wunder der Ereignisse, der Technik, der Wissenschaft die bildende Kunst zurückstehen muß, ist das eine natürliche Folge und kann nicht wundernehmen.

            Die bildenden Künste sind nicht bloß an die Wand gespielt wie die Dichtung und die Musik, sie sind nicht bloß zurückgedrängt wie alle Kunst überhaupt, vom Sturm der Ereignisse und vom Sturmschritt der Technik. Wie jede höchste Betätigung der menschlichen Seele, sind die bildenden Künste, inmitten dieser zertrümmerten, dieser jung erstehenden Welt zertrümmert und werden langsam wie die junge Welt neu entstehen. Keine Kunst, also auch keine bildende, hat die Geschehnisse der letzten Dezenniums bewältigt, verarbeitet, gemeistert und ein Werk geschaffen, das etwas Endgültiges, etwas Gipfelhaftes bedeuten und darin diese Fülle an Geschehen über sich selbst hinaus erhoben würde.

            Doch die Künstler wollen leben. Und es ist wichtig, daß sie leben, daß sie arbeiten, daß sie hoffen können, streben, wirken. Es ist eine Schande, daß sie hungern! Und es ist ein furchtbarer Schaden. Nicht nur für sie, für die unmittelbar Betroffenen. Für die ganze ethische und kulturelle Verfassung eines Volkes. Man kann unmöglich mit allen Organen des Volkes, mit allen Berufen, die es gibt, in der Gegenwart und in der Zukunft leben, indessen gerade diejenigen, die das Herz er Nation darstellen, die Künstler, verelenden, verhungern und absterben. Eines Tages wird man verstehen und erkennen, daß man nur Fußballer hat, die ein Jahr lang berühmt waren, nur Schnelläufer, Skifahrer oder Wettschwimmer, denen die Popularität einer Saison zuteil wurde, daß man aber ganz arm, bettelarm an geistiger Leistung geworden ist. Unsere Bauten von heute verlangen nicht mehr den Schmuck gemeißelter oder in Bronze gegossenen Figuren. Aber Parks und Plätze, Gärten und Zimmer können Brunnen gebrauchen, Denksäulen, Statuen und Büsten. Man könnte die Freskomalerei wieder beleben, nicht in fürstlicher Großartigkeit, doch in bescheidenen, erschwinglichen Dimensionen. Geschäftsbilder wären zu malen, Sportplatzbilder. Unendlich viel ließe sich tun. Man soll wenigstens etwas beginnen, ehe die zahlreichen Talente, die in unserer Mitte leben, kaput gehen. Vielleicht könnte die Regierung so etwas wie die Initiative ergreifen. Sie hat neben manchen weniger begabten noch viele tüchtige Beamte. Sie kann Künstlerhilfstage veranstalten. Es ist keine Schande, wenn an einem Tag im Jahr in allen Städten, auf allen Straßen für die Kunst gesammelt wird. Schlimmer, wenn jeden Tag die Künstler Hunger leiden. Sie kann die Fußballer veranlassen, ein Match im Jahr für die Künstler zu spielen. Das wäre eine ausgiebige Hilfe. Alles muß geschehen, um zu verhüten, daß die Zukunft eines als Anklägerin dieser Gegenwart sich erhebt.

In: Neue Freie Presse, 13.6.1926, S. 1-3.

Kurt Sonnenfeld: Russische Gegenwartskunst

„Die Kunst der Zeit“, sagt Fritz Karpfen in seinem soeben erschienenen geistvollen Buch über die russische Gegenwartskunst (Verlag Literaria Wien), „ist Emporstreben, Sturm, Aufschrei, Empörung, Umsturz, Revolution.“ Nun, das war echte Kunst wohl immer, und darum ist auch jeder wahre Künstler, weil er, über den konventionellen Bindungen stehend, nur den Gesetzen seines innersten Wesens gehorcht, ein Revolutionär.

Der Expressionismus, die gegenstandslose Ausdruckskunst, hält sich für besonders radikal, weil ihre Kunstwerke nicht Wiedergabe des Geschauten, sondern Wiedergabe des gefühlsmäßig, traumhaft Erlebten sind. Ein Schulbeispiel für den Expressionismus in seinen letzten Konsequenzen ist der russische Maler Wassili Kandinski. Er ist der Erfinder des Abstrakten in der Malerei. Er fand und schuf das Ungegenständliche, um das Gegenständliche künstlerisch lebendig darzustellen. Die Farben allein sind sein Ausdrucksgebiet, mit ihnen, nur mit ihnen drückt er das aus, was er sagen will. Er malt alle Empfindungen, Geschehnisse, Modelle nur in der Farbe, ohne gegenständliche Form. Freilich darf sich nur ein großer Künstler diesen Superlativ der Eigenwilligkeit gestatten. Was bei Kandinski eigenartig wirkt, das wirkt bei seinen Nachäffern, die einfach Farbenkleckse auf die Leinwand patzen und diese Pinselei als den Ausdruck ihrer seelischen Erlebnisse bezeichnen, als frecher, geistloser Schwindel.

Es ist überaus erfreulich, dass Fritz Karpfen, der in seiner Gesinnung den radikalsten Strömungen nahe steht, von allen Entartungserscheinungen des künstlerischen Radikalismus so deutlich abrückt. Seine harten Worte über den Dadaismus (der in Sowjetrußland, wo man sich für alle gewagten Experimente und Verstiegenheiten interessiert, besonders üppig gedeiht) kann jeder unterschreiben.

Rußland ist heute das Land der „Ismen“. Nun wäre es aber durchaus unangebracht, über diese geistige Zerklüftung zu spotten, da eben diese Sektiererei, dieser Partikularismus Zeichen der Kraft und Aktivität sind. Aber diese künstlerischen Sekten entwickeln sich nicht durch, sondern gegen den Bolschewismus, da dieser bekanntlich für Vielfältigkeit kein Verständnis aufbringt und alles in seine Uniform zwängen will. Auch auf künstlerischem Gebiet erweist sich das rote Zarat als ebenso engherzig wie das weiße Zarat.

Mit Recht wendet sich Karpfen auch gegen den falsch angewendeten russischen „Proletkult“. Ein so herrliches Ziel es auch ist, die Kunst zum Gemeingut des Volkes zu machen und die Genialität, die im Volke schlummert, zum Leben zu erwecken – die Wege, auf denen der Bolschewismus dieses Ziel anstrebt, führen in die Irre. Es wurde der ungeheuerliche Fehler begangen, Menschen zu Künstlern handwerksmäßig erziehen zu wollen. Statt aus der Masse der Arbeiter die Begnadeten auszusuchen und diesen, nur diesen, den Weg zu ihrem Künstlertum zu ermöglichen, will man in Schulen ganz einfach alle, die sich melden, zu Künstlern herandrillen. Es ist Bedingung, daß nur Industriearbeiter in den Proletkult Aufnahme finden. So will man eine neue Kunstepoche schaffen, die aus den Herzen der neuen Zeit, den Fabriken, entsteht. Ödester Dilettantismus ist die Folge. Aber schon strebt diese Richtung aus gesundem Instinkt nach ganz anderen Zielen. Das Kunstgewerbe meldet sich in dieser Gruppe und hier mag wohl das Erreichbare sein. Denn die russische Volkskunst, die Bauernkunst insbesondere, hat köstliche Kleinodien als ursprüngliche Nationalkunst hervorgebracht.

Eine wichtige Rolle spielt in Rußland gegenwärtig die Maschinenkunst, die Richtung Wladimir Tatlins, der Tatlinismus, bei dem, wie Umansky sagt, das Bild als solches tot ist; dem Dreidimensionalen ist es zu eng auf der Bildfläche, neue Probleme fordern zu ihrer Lösung reichere technische Mittel. Die Kunst der Maschine mit ihrer Konstruktion und Logik, ihrem Rhythmus, ihren Bestandteilen, ihrem Material, ihrem metaphysischen Geist findet keine Art von Material der Kunst unwürdig. Holz, Glas, Papier, Blech, Eisen, Schrauben, Nägel, elektrische Armatur, gläserne Splitter – alles das wird zu rechtmäßigen der neuen Kunstsprache erklärt und deren neue Grammatik und Aesthetik fordert vom Künstler weitere handwerksmäßige technische Ausbildung und einen engeren Bund mit der Maschine… Das ist der Tatlinismus, der Snobs und Nichtkönnern Gelegenheit zu Stümpereien, aber Künstler wie Archipenko Gelegenheit zu bleibenden Kunstwerden geboten hat. Es kommt eben durchaus nicht auf die Kunstrichtung, sondern immer nur auf den Künstler an.

Der leidenschaftliche Kampf, der in Rußland, wo die Hungersnot herrscht, um neue künstlerische Ausdrucksformen gekämpft wird, wirkt rührend. Jedenfalls ist der Russe ein ungleich geistigerer Mensch als etwa der Wiener; denn während es in Wien immer nur die gleichen, leider völlig sinnlosen Gesprächsthemen über die Teuerung und über die Schieber gibt, vermag man sich in Rußland, wo die Not ungleich ärger ist als bei uns, über künstlerische Fragen glühend zu erregen. Die russische Geistigkeit konnte weder durch das Zarentum, noch durch den Bolschewismus zerstört werden.

Fritz Karpfen verdient aufrichtigen Dank für sein ungemein geistvolles und mit prächtigen Abbildungen geschmücktes Buch, dem er eine Reihe weiterer Bücher über die Gegenwartskunst der anderen Länder folgen lassen wird.

In: Neues Wiener Journal, 23.1.1922, S. 8.S

Felix Salten: „Der Zauberberg.“

Roman von Thomas Mann. – S. Fischer Verlag, Berlin.

Das ist nun allerdings ein ganz ungewöhnliches Werk.

Einmal, weil es Thomas Mann zum Verfasser hat, der heute als der Erste unter den deutschen Erzählern gilt. Ferner, weil dieser Roman zwölfhundert Buchseiten füllt, was eine starke Leistung für den Autor ebenso wie für den Leser bedeutet. Besonders aber, weil alle Geschehnisse sich da zwischen Lungenkranken zutragen, abseits von der Welt der Gesunden, in einem Sanatorium zu Davos.

Dieser Schweizer Höhenort ist der „Zauberberg“. Ein junger Mann erklimmt ihn eines Sommertages, nur für drei Wochen, nur um seinen Vetter zu besuchen, der schon monatelang hier oben weilt und sich kuriert. Aber der junge Mann bleibt nun gleichfalls auf dem Zauberberg, nicht bloß drei Wochen, sondern an die sieben Jahre. Erst als der Krieg ausbricht, im August 1914, eilt er zu Tal, kehrt heim in die Welt der Gesunden, die nun so schwer erkrankt ist und in Fieberparoxysmen erbebt.

Wahrscheinlich ist er heute tot, der brave Hans Castorp, entweder gefallen oder den Strapazen erlegen. Thomas Mann gibt über Leben oder Sterben dieses jungen Mannes keinen Bescheid, aber er läßt nur wenig Hoffnung. Hans Castorp stammt aus einer Hamburger Senatorenfamilie, ebenso wie sein Vetter Joachim Ziemßen. Er ist ein netter, inwendig reiner, sympathischer Durchschnittsmensch, lernbegierig, duldsam, angenehm gesellig, wenn auch gehalten und maßvoll. Joachim Ziemßen, der Offizier werden will, wenn er geheilt ist, stellt die Ergänzung von Hans Castorps Wesen vor. Er hat noch viel mehr „innere Zucht“, noch viel mehr Schweigsamkeit und birgt unter straffer Haltung zartes, schamvolles Empfinden. Es ist wahrscheinlich die Absicht Thomas Manns, an diesen beiden jungen Leuten den Typus des deutschen Bürgers zu schildern, geteilt in zwei Spalten, in eine zivilistische und eine militärische, im ganzen jedoch von einheitlicher Art: anständig, unpolitisch, naiv und, wenngleich nicht hervorragend, so doch hinlänglich geistig. Merkwürdig bleibt, daß Joachim Ziemßen, der sich’s so aus ganzer Seele gewünscht hat, Offizier zu werden, noch im Frieden auf dem Zauberberg stirbt, indessen Hans Castorp, der immer friedlich gedacht hat, diesem Zwölfhundert-Seiten-Roman als bewaffneter Krieger entschreitet, um in den Kampf zu ziehen.

Man wird nun fragen, was in den sieben Jahren Sanatorium an Ereignissen eigentlich vorgehe, daß zwei exemplarisch umfangreiche Bände damit gefüllt werden. Die Matrosen in den Romanen des Kapitän Marryat, in diesen schnurrigen Romanen, die vor drei, vier Generationen das Entzücken aller Knaben waren, der jungen wie der erwachsenen, die Matrosen also forderten darum einen Kameraden zum Erzählen seiner Abenteuer regelmäßig mit den Worten auf: „Nun, so spinne dein Garn.“ Und der also Herausgeforderte fing seine Geschichte regelmäßig mit den Worten an: „Ach was … es ist eine lange Gasse, die keine Wendung hat.“ Diese Erinnerung aus fernen Jugendtagen kommt mir jetzt wieder in den Sinn. Thomas Mann hier sein Garn gesponnen, gelassen, ausführlicher noch und reifer, selbstverständlich, als in seinem Erstlingsroman „Die Buddenbrooks“. Und es ist richtig eine lange Gasse geworden, die keine Wendung hat. Was in den sieben Jahren, die Hans Castorp auf dem Zauberberg verbringt, vorgeht, ist Menschentum. Auch in all der Zeit, die vor diesen sieben Jahren liegt, wie in der Zeit, die nachher abrollen wird, geht immer Menschentum vor. Nicht mehr und nicht weniger, nicht gewöhnlicher und nicht außerordentlicher als es in diesen beiden Bänden verzeichnet steht. Damit rückt jedoch die Kunst des Erzählers ganz dicht an die Wirklichkeit, fügt sich ihr vollkommen ein und überragt sie trotzdem. Es ist ein Stück poetisch durchleuchteten Menschtums, das ein helles Glänzen sanft um sich her verbreitet.

Die Ereignisse zu wiederholen, bleibt eigentlich überflüssig und wird beinahe unmöglich. Hans Castorp sieht viele junge Menschen sterben, qualvoll die einen, in Euphorie und schmerzlos die anderen. Auch Joachim Ziemßen, sein Vetter, stirbt sanft, nach einem kurzen Aufenthalt in der Heimat, während dessen es ihm gelingt, Leutnant zu werden und sich total zu ruinieren. Viele Menschen lernt Hans Castorp kennen und sie sind alle durch ihre Krankheit, durch die beständige Todesnähe gelöster, freier, menschlicher als die Normalen. Da ist Settembrini, der eine Art letzten Ritter der bürgerlichen Revolution vorstellt. Dann Elia Naphta, ein Vorkämpfer der Protestantischen Revolution, der sich in einem seltsamen Duell, das er mit Settembrini hat, selber tötet. Da ist Clawdia Chauchat, die reizvolle Russin, die Hans Castorp lange schwärmerisch liebt und die ein einziges Mal sein eigen wird. Da ist Peeperkorn, der königliche Holländer, der so viel Macht über den Willen der anderen besitzt, der die schöne Clawdia als Geliebte besitzt und der Selbstmord verübt, da er seine Manneskraft schwinden fühlt. Die Aerzte sind da, Hofrat Behrens mit seiner massiven Sachlichkeit; sein Assistent, Dr. Korowski [recte: Krokowski], der Vorträge über die Liebe hält und offenbar von Freuds Lehre beeindruckt ist, bis er endlich mit Medien und Séancen ganz auf die Seite von Schrenk-Notzing fällt. Ein Schwarm von Schicksalen und Gestalten zieht langsam vorüber. Alle von einer unerhörten Plastik, alle von einer fabelhaften Lebendigkeit, einprägsam und vorstellbar. Denn wie bei Homer jede Figur immer mit ihren malenden, merkzeichnenden Attributen genannt wird, so daß sie sich der Phantasie einstempelt, wie da Odysseus immer der Listenreiche heißt, Hektor beständig der Helmbuschumflatterte, Juno die Anhängige usw., so gibt Thomas Mann die gleichen bezeichnenden Merkmale, mit denen er sie bei ihrem ersten Erscheinen geschildert hat, jedesmal wieder, so oft sie erscheint.

Es ist nicht zu leugnen, daß er seine Geschöpfe alle, ohne Ausnahme, ein wenig von oben herab behandelt; ungemein sorgfältig, meisterhaft im formenden Zugreifen, aber doch von oben herab, wie ein Souverän, oder wie ein Großmeister der Arzneikunde, was ja die Dichtkunst auf ihre Art auch ist. Er hat, wie ja ein großer Arzt auch, so viele Menschen dem Dunkeln entrissen, hat so viele Menschen ins Dunkle stürzen gesehen, daß er kein Aufhebens mehr davon macht. Sein Ton ist ruhig, harmonisch kühl, ohne jede Sentimentalität, und von einer pikanten ironischen Untermalung fast immer durchschimmert. Spricht er, was oft geschieht, persönlich, oder redet er, ganz im Stil der großen alten Erzähler, den Leser geradezu an, dann wird seine reine Objektivität fast schmerzhaft deutlich und ein Distanzhalten wird erkennbar, das ebenfalls beinahe schmerzhaft wirkt. Manchmal, sehr selten, dringt Wärme in seinen Ton. Der Reiz, den er dadurch gewinnt, ist unbeschreiblich stark, und an der Intensität solcher Stellen fühlt man, was es mit seiner Objektivität und mit seinem Distanzhalten für eine Bewandtnis hat.

Gespräche breiten sich in diesem Roman so ausführlich, so gelassen hinströmend, daß man die nur mit den ruhig fließenden Dialogen im „Stechlin“ vergleichen kann, wie ja Thomas Mann so manche Wesensähnlichkeit mit Theodor Fontane besitzt, als dessen Fortsetzer und Vollstrecker man ihn ansprechen darf. Was diese Zeit bewegt und beschäftigt, wird in den Gesprächen erörtert, die man auf dem Zauberberg führt. Demokratie und Monarchismus, Probleme des Liebeslebens, Sternkunde, Sozialwissenschaft und sehr viel Tuberkulose. Es ist zu sagen, daß diese gründliche Beschäftigung mit den Zuständen tuberkulöser Erkrankungen, mit Fieberkurven, Sputum, Bazillentabletten, Injektionen, chirurgischen Eingriffen, Todeskämpfen und Sterbestunden, daß alle diese fabelhaft eindringlichen und wunderbar plastischen Schilderungen im Anfang Grauen, ja Entsetzen erregen. Das Empfinden, das man von der hinfälligen Gebrechlichkeit den menschlichen Körpers erhält, das Bewußtsein der vielen Gefahren, das in einem wachgerüttelt wird, ist so alarmierend, daß ich mich während der Lektüre des ersten Bandes hypochondrischer Anfälle nur mühsam erwehren konnte. Und es bleibt bis zum Schluß des Romanes im Leser ein fortdauerndes, leises Erstaunen, daß es überhaupt noch gesunde Menschen auf der Welt gibt.

In den Jahren, in denen er sich dem Fünfziger nähert, den er binnen wenigen Monaten erreichen wird, in diesen entscheidenden Jahren hat Thomas Mann das Werk gearbeitet, das für sein ganzes Schaffen entscheidend und charakteristisch bleibt. Er hat im Brennspiegel des abgesonderten und engen Krankendaseins die Fülle der Menschlichkeit eingefangen, hat am Rand des Todes den großen Reichtum des Lebens entstehen lassen. Man kann diesen Roman, der gar kein Tempo der Handlung, dafür aber einen starken Pulsschlag der Gedanken und ein großes Tempo an Lebensweisheit hat, nicht so rasch durchfliegen wie irgendein Unterhaltungsbuch. Aber man wird den „Zauberberg“ in vielen stillen Stunde mit Ergriffenheit, mit Zustimmung und Widerständen lesen und wird ihn, aufgewühlt und erregt, wie man ihn schließlich aus der Hand legt, mit allen Einwänden und mit aller Bewunderung, die man ihm entgegenbringt, niemals wieder vergessen können.

In: Neue Freie Presse, 7.12.1924, S. 1-3.